Читать книгу Schmutzige Hoffnungen - Myron Bünnagel - Страница 3
I.
ОглавлениеDie Flamme tanzte im Wind und fand Schutz hinter vorgehaltener Hand. Sie schälte kräftige, lange Finger aus der Nacht, dann ein Gesicht. Dunkles Haar und ebensolche Augen, Kohlenstücke, in denen sich das Licht spiegelte. Eine lange Nase und ein dünnlippiger Mund, der eine Zigarette hielt. Das Feuer griff nach Papier und Tabak, hinterließ einen roten Lichtpunkt, ehe es unter einer schnellen Handbewegung erlosch. Der Mann war nunmehr ein vager Umriss in der Dunkelheit, die brennende Zigarette sein winziges Auge.
Die Bahnhofsuhr in seinem Rücken schlug Elf. Eine Folge leiser, unmelodischer Töne, die an den Klagelaut eines eingesperrten Tieres erinnerte. Das Licht, das matt durch die Glastür der kleinen Schalterhalle fiel, erlosch und nahm ein weiteres Stück Helligkeit fort.
Der Mann wartete. Die einzige Bewegung an ihm ging von seinem Arm aus, als er gelegentlich die Asche der Zigarette auf den Boden rieseln ließ. Dabei blickte er die lange Straße entlang, die das Städtchen teilte. Sie war leer, kein Mensch unterwegs. Einzig in wenigen Fenstern brannte noch Licht, als wären darin unruhige Seelen gefangen, die sich weigerten, wie der Rest des Ortes in todesähnlichen Schlaf zu versinken.
Mit einem leisen Seufzen schnippte er seine Zigarette fort. Der Glutpunkt beschrieb einen Bogen, tanzte in einem Funkenregen über den Asphalt und verlosch langsam. Er zündete sich eine neue an. Seine Augen folgten der Hauptstraße in die andere Richtung, aber nach wenigen Metern gab das Städtchen auf und überließ die Asphaltlinie einer weiten Ebene.
Nach einiger Zeit tauchte in der Dunkelheit ein Augenpaar auf. Zwei gelbe Punkte, die träge heranwuchsen und schließlich mit ihrem Lichtkegel die Nacht zerschnitten. Der Wagen kam heran, seine Scheinwerfer tasteten über die Fassaden der Häuser, offenbarten einen Friseurladen und ein Eisenwarengeschäft, die Fenster wie blicklose Augen, zogen den wartenden Mann für einen kurzen Moment aus der Finsternis, um dann zum Stehen zu kommen. Der Motor erstarb und die Wagentür wurde aufgestoßen. Es war ein behäbiger Pick-up, so mit Staub bedeckt, dass es selbst in der Schwärze der Nacht zu erkennen war.
Eine Gestalt hievte sich aus der Fahrerkabine, keuchend und leise fluchend. Dann flammte eine Taschenlampe auf und ihr Strahl glitt wie ein großer Bruder des Glutpunktes über den Asphalt, zuckte für einen Augenblick wild hin und her, bis er die Füße des Wartenden fand und sich langsam daran emporzog. Schwere, zerkratzte Schuhe, eine saubere, aber keineswegs neue braune Hose, ein grauer Rollkragenpullover über einem kräftigen Oberkörper. Bevor der gleißende Strahl das Gesicht erreichte, verharrte er.
„Ray Corbin?“, fragte eine krächzende Stimme hinter der Taschenlampe.
„Der bin ich.“
Der Lichtkegel richtete sich in den mondlosen Himmel und der Fahrer brachte sein Gesicht in den Kreis der Helligkeit. Dabei trat er einen Schritt vor und reichte dem anderen die Hand. „Freut mich, Mr. Corbin.“ Sie schüttelten sich die Hände. „Ich bin Tony Hull. Ira Reed bat mich, Sie abzuholen.“ Die Haut des Mannes war bleich und glänzte vor Schweiß. Seine spitze Nase stach aus dem schmalen Gesicht hervor. Die Augen lagen wie verängstigte Tiere tief in ihren Höhlen. „Tut mir leid, dass es später geworden ist, habe mir wohl den Magen verdorben. Jedenfalls musste ich anhalten und mir die Seele aus dem Leib kotzen.“ Tony grinste, aber es bereitete ihm Mühe. „Ist das Ihr Gepäck?“ Der Lichtstrahl der Taschenlampe fing den großen Lederkoffer und eine zerbeulte, abgewetzte Reisetasche ein. „Schmeißen Sie es hinten drauf und wir machen uns auf den Weg.“
Der Mann namens Ray hob seine Sachen auf und trug sie zum Wagen hinüber. Die Ladefläche des Pick-ups war leer und er legte den Koffer sorgfältig darauf ab. Dann kletterte er hinauf, bemüht, seine Hose nicht zu verschmutzen, und zurrte das Gepäckstück mit einem Riemen an der Rückwand der Fahrerkabine fest. Tony folgte seinen Bewegungen mit der Taschenlampe. „Was Zerbrechliches drin?“, fragte er und wischte sich über die Stirn.
„Mmh“, antwortete Ray nur, kletterte von der Ladefläche und warf seine Reisetasche achtlos hinauf.
„Dann mal los. Ira wird sich Sorgen machen.“ Tony schob sich hinter das Lenkrad und zog ächzend die Tür zu. Ray ging langsam um den Wagen herum, blickte einen Augenblick die Hauptstraße hinunter und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Der Pick-up setzte sich murrend in Bewegung. Sie wendeten und fuhren langsam aus der Stadt hinaus. Das Licht der Scheinwerfer glitt erneut über die geschlossenen Geschäfte, die wirkten, als würden sie nie wieder öffnen, dann tastete es sich die Straße entlang, fraß sich langsam durch die Dunkelheit. Sie passierten das Ortsschild mit der Aufschrift Auf Wiedersehen in Dodge City darauf. Vor ihnen lag eine schier endlose Weite, die sich in der Ferne untrennbar mit dem Nachthimmel vereinte. Große Reklametafeln tauchten aus der Dunkelheit auf, fein säuberlich neben der Straße aufgereiht. Eine Frau wiegte ein lachendes Baby im Arm und strahlte eine Waschmittelpackung an. Eine überdimensionale Katze räkelte sich vor einer Dose Katzenfutter. Eine Schale mit unappetitlichen Fleischbrocken stand daneben. Schließlich ein pausbäckiger Mann, einen Teller mit Steak und Bratkartoffeln vor sich. Der Werbeschriftzug lief ihm quer über den lichten Schädel. Dann wieder die Nacht und die Monotonie der Straße.
„Stört es Sie, wenn ich rauche, Mr. Hull?“
„Nein, keineswegs. Machen Sie nur. Und nennen Sie mich Tony.“ Er saß zusammengesunken hinter dem Lenkrad und starrte in die Finsternis hinaus.
Ray zündete sich eine Zigarette an und stieß genüsslich den Rauch aus. Durch das geöffnete Fenster drang kühler Fahrtwind herein. „Sagen Sie Ray zu mir. Wie weit ist es noch, Tony?“
„Etwa dreißig Meilen. Waren Sie schon mal in Ashland?“
„Nein.“
„Da haben Sie nicht viel verpasst, Ray. Es gibt da eigentlich nichts, nur ein bisschen Landwirtschaft.“
„Und Öl.“
Tony sah ihn merkwürdig von der Seite an. „Es gab hier mal Öl. In den Dreißigern. Aber seitdem die Quellen nichts mehr abgeworfen haben, ist die Gegend wie ausgestorben.“
Sie schwiegen einige Zeit. In der Dunkelheit konnte Ray nur die mit dicken Gras und knotigem Heidekraut bewachsenen Ebenen ausmachen. „Auf der linken Seite liegen die Ausläufer der Red Hills.“
Ray schnippte seine Zigarette aus dem Fenster und zündete sich eine neue an. „Wollen Sie auch eine, Tony?“
Der andere schüttelte den Kopf: „Würde gerne eine paffen, wenn nur der Magen nicht so schlimm wäre. Außerdem mag es Ira nicht, wenn ich rauche. Im Haus sind Glimmstängel verboten.“
„Immer noch nicht besser?“
„Nein, ich habe das Gefühl, dass mir jemand die Magenwände perforiert.“
„Klingt nicht gut. Wenn Sie wollen, fahre ich.“
„Danke, ist schon besser als auf der Hinfahrt. Habe wohl das falsche Ende vom Braten erwischt. Eine Mütze voll Schlaf und ich … HIMMEL!“ Tonys Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, als er erschrocken auf die Straße blickte. Seine Hände rissen am Lenkrad. Der Pick-up wankte bedenklich und sprang auf die Gegenfahrbahn. Er trat kräftig auf die Bremsen und der Wagen kam zum Stehen. „Verflucht!“
„War ein Hund oder so was“, sagte Ray und wischte sich Zigarettenasche von der Hose.
„Hab ich mich erschrocken! Wir wären fast im Graben gelandet.“ Tony wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Nein, war kein Hund. Eher ein Fuchs. Von den Biestern gibt es hier eine Menge.“
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
„Ein Fuchs? Soso …“, bemerkte Ray leise und lächelte, ohne dass der Fahrer es bemerkte.
„Nicht mehr lange und wir sind da.“ In der Dunkelheit tauchten nun die unförmigen Umrisse der Red Hills auf. „Vor uns liegt Ashland. Ein Achthundert-Seelen-Kaff. Schimpft sich Stadt, aber außer einer Tankstelle, einer Bar, einem miesen Hotel und einem Krämerladen gibt es hier nicht viel. Sie werden es lieben, Ray.“
Einzelne, schüchterne Lichter tauchten vor ihnen auf. Ashland, Kansas – Population 850, hieß es in weißen Lettern auf einem wackligen, von rotem Staub bedeckten Holzschild. Auch hier teilte eine breite Straße den Ort, der in seiner nächtlichen Leblosigkeit an eine Filmkulisse erinnerte. Sie fuhren an den Häusern vorbei, aber Ray interessierte sich kaum dafür.
Vier Meilen hinter dem Städtchen bogen sie von der Straße in einen Feldweg ab. Der Pick-up rumpelte über die unebene Fahrbahn und zog eine Staubwolke hinter sich her. Nach einigen Metern tauchte ein Wall hoher Bäume links und rechts der Zufahrt auf. Sie fuhren durch ein weißes Holztor und sahen das Haus. Das gesamte Erdgeschoss war hell erleuchtet und auf der breiten Veranda glomm eine große Laterne.
Mit knirschenden Rädern kam der Wagen hinter einem gepflegten, schwarzweißen Packard zum Stehen.
„Da sind wir“, seufzte Tony und stieß die Wagentür auf.
Ray stieg aus und reckte die Arme.
Von einer Hollywood-Schaukel auf der Veranda beobachteten ihn zwei Personen.
Während Tony die Ladefläche öffnete, sagte er: „Das sind Cora, die kleine Reed, und ihr Freund Donald. Hier haben Sie schon alle sehnsüchtig erwartet.“
Bevor sie zum Haus hinübergingen, nahm der neue Gast noch einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, eher sie auf dem Boden austrat. „Dann los“, meinte er. Gemeinsam stiegen sie die drei Stufen zur Veranda hinauf.
In der Dunkelheit wirkte das Haus sehr einladend. Es sah sauber und gepflegt aus, der Anstrich schien nur ein paar Wochen alt zu sein.
„Gefällt es Ihnen?“, fragte Tony.
„Hübsch.“
„Habe es selbst gestrichen. Ist eine von diesen neuen Farben, besonders witterungsbeständig.“ Er tätschelte liebevoll einen weißen Stützbalken.
Im Licht der Laterne nahm Ray seinen Fahrer genauer in Augenschein. Tony trug einen hellen Anzug und glänzende Schuhe. Seine Haltung war gerade, aber sein schmaler Kopf pendelte unruhig auf dem dünnen Hals hin und her. Er sah noch immer kränklich aus, fahle Haut und Schweiß auf der Stirn, aber dennoch war er auf eine bestimmte Weise attraktiv. Ein charmanter Zug um seine Augen und ein schnelles Lächeln unter dem dünnen Schnurrbart.
Ray stellte seinen Koffer neben der Eingangstür ab. Die Blumen vor der Veranda verströmten einen schweren Duft.
Die beiden Personen waren von der Schaukel aufgestanden und kamen herüber. „Hallo, Tony. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Eine spöttische, melodische Mädchenstimme, klar und gewinnend. Ray blickte ihre Besitzerin automatisch an. Sie reichte ihm bis zur Brust, hatte rotblondes, glattes Haar, das im Lampenschein zu glühen schien, und sehr helle, blaue Augen, die wirkten, als läge ein Schleier darüber. Ihr Gesicht war hübsch, noch voller jugendlicher Unschuld, die sich zu handfester Schönheit auswachsen würde. Ihre Stimme perlte über ihre ebenmäßigen Lippen. Sie trug ein dunkles Kleid, das von einem Gürtel tailliert wurde.
Tony verharrte einen winzigen Moment, als träfe ihn ihr Spott wie glühende Nadeln, aber dann richtete er sich auf und antwortete brüsk: „Ich habe mir den Magen verdorben und musste unterwegs anhalten.“ Sie lachte, nur kurz, aber der Laut schien sich noch einen Augenblick länger in der zwischen Blumenduft und Sommerschwüle aufzuhalten, ehe er verklang. „Lass gut sein, Cora“, entgegnete er müde. Seine Zunge glitt über die ausgetrockneten Lippen. „Mr. Ray Corbin, dies ist Ms. Cora Reed und das hier ist Mr. Donald March von der March-Ranch nebenan.“
Cora hielt ihm eine kühle Hand hin und Ray ergriff sie langsam. Sie war so klein und zierlich, dass sich seine kräftigen, gebräunten Finger wie eine Bärenfalle darum schlossen. Die Berührung dauerte etwas länger als üblich gewesen wäre. „Freut mich, Ms. Reed.“
„Sie sind Vaters Freund, nicht wahr? Ich erinnere mich an Sie.“ In ihr spöttisches Lächeln schlich sich ein Anflug von Wärme.
„Ja, früher nannten Sie mich Onkel Ray und hatten eine helle Freude daran, mir an den Ohren zu ziehen.“
„Daran erinnere ich mich nicht“, sagte sie mit übertriebener Unschuld. Ihre Finger lösten sich zögernd voneinander. Er wollte die Kühle ihrer Haut nicht verlieren.
Donald March ergriff seine Hand und schüttelte sie enthusiastisch. Er war ein gut gebauter Junge mit einem glatten Gesicht, einer breiten Nase und trägen Augen, die sich kaum zu bewegen schienen. Er trug eine dunkle Anzughose, ein weißes Hemd und einen hellbraunen Pullover darüber. „Freut mich, Mr. Corbin. Ich habe Photographien von Ihnen gesehen, aus dem Krieg.“
Ray nickte höflich, aber er spürte, dass Cora ihn noch immer ansah.
Tony stöhnte: „Ihr entschuldigt mich, aber mein Magen … Ich werde Ira sagen, dass Sie da sind, Ray.“ Er presste eine Hand auf den Mund, die andere auf den Bauch und stolperte ins Haus.
Die drei verbliebenen Personen schwiegen einige Zeit. Ray blickte in die Dunkelheit hinaus, aber aus den Augenwinkeln betrachtete er das Mädchen.
Donald schlenderte zu einem kleinen Tisch vor der Schaukel und fragte: „Wollen Sie ein Glas Limonade? Das Eis ist leider geschmolzen, aber sie ist noch kühl.“ Mit der Linken schwenkte er ein halbvolles Glas.
Ray schüttelte den Kopf: „Danke, nein.“
Cora nahm den Blick von der Tür, durch die der kranke Tony verschwunden war und lächelte zögerlich, als ließen sich die Gedanken nur mühsam aus ihrem Kopf verscheuchen. „Sie sehen anders aus ohne die Uniform.“
„Ich trage schon lange keine mehr.“
„In Vaters altem Arbeitszimmer hängen ein paar Bilder, aber alle zeigen Sie nur als Soldat, Mr. Corbin.“
Donald trat zu ihnen, trank einen tiefen Schluck und leckte sich über die Lippen. „Ira meinte, Sie wären im Krieg schwer verwundet worden?“
Ray nickte und legte eine Hand an seine linke Seite, kurz oberhalb der Hüfte. „Das war in Frankreich, ’44. Ein deutscher Heckenschütze hat mich durchlöchert.“
Cora sah ihn mit ihren verschleierten blauen Augen an: „Vater hat Ihnen das Leben gerettet, stimmt es?“
„Ja. Er war ein tapferer Mann, Ihr Vater.“
Über das Gesicht der jungen Frau huschte ein Schatten. Ray überlegte und versuchte sich an Coras Alter zu erinnern. Wenn er sich nicht täuschte, musste sie neunzehn oder zwanzig sein.
„Zwanzig“, lachte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Der Schatten war aus ihrem Gesicht verschwunden, aber eine dauerhafte Andeutung davon blieb in ihren Augen bestehen. Ein Splitter aus Trauer, Enttäuschung oder Verbitterung im klaren Blau.
Etwas stach ihn in den Nacken und Ray schlug danach. Als er seine Hand betrachtete, war ein wenig Blut an seinen Fingern. „Verdammte Viecher“, knurrte er.
„Die Mücken sind dieses Jahr eine Plage. Aber mir macht das nichts, sie stechen mich nicht.“ Donald reichte ihm ein Taschentuch.
Cora knuffte dem Jungen in den Arm: „Das liegt daran, dass du selbst eine Mücke bist, Donny. Eine große, starke Mücke, die mir ins Netz gegangen ist.“
Er errötete heftig und warf Ray einen hastigen Blick zu: „Lass das, Cora.“ Ein Hund trottete die Treppenstufen hinauf. Es war ein Dalmatiner, mit zwei großen Flecken auf der Schnauze. Er schnupperte kurz an Ray, dann legte er sich vor Donalds Füße. „Und das ist Dot“, verkündete er stolz und tätschelte dem Tier den Kopf.
Die Tür zur Veranda öffnete sich. Ein helles Rechteck fiel auf den hölzernen Boden. Und darin zeichnete sich die Silhouette einer Frau ab. Ray betrachtete erst den Schatten, der einen Augenblick lang dalag wie gemalt, dann sah er die Besitzerin an, um sich zu vergewissern, dass der Umriss auf dem Boden kein bloßes Schattenspiel war. Das Auffälligste an Ira Reed war ihr ausgeprägter Busen, dessen Kontur noch durch ihren kleinen Wuchs hervorgehoben wurde. Das dunkelgrüne Kleid schien an seine Grenzen gelangt zu sein und spannte bedenklich darüber. Der Rest ihres Körpers war wohlproportioniert, rund und fest. Ihr Gesicht war blass, mit einigen Sommersprossen auf der Nase und blondem, vollem Haar, das sich in halblangen Locken über ihre Ohren und Stirn ergoss. Ihre Augen waren grün, mit Sprenkeln durchsetzt.
„Mr. Corbin.“ Sie hielt sie ihm in einer zierlichen Geste die Hand hin. Ihre Haut war warm und weich.
„Mrs. … Reed.“ Eine winzige Pause zwischen beiden Worten.
Ira Reed bemerkte sie, legte für einen Augenblick die Stirn in Falten, um sofort darauf verstehend zu lächeln. „Nennen Sie mich Ira, das ist vielleicht besser.“
Ray fing ihr Lächeln auf und erwiderte es: „Gern.“
„Kommen Sie ins Haus. Sie sind sicherlich müde von der Reise.“ Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen.
„Mein Gepäck …“
„Tony wird sich schon darum kümmern. Sind Sie hungrig?“
„Kaum. Ich habe während der Zugfahrt im Speisewagen gegessen.“ Er ging an ihr vorbei ins Haus, so dicht, dass er sie beinahe berührt hätte. Dabei streifte ihn ein Duft, der an frische Pfirsiche erinnerte.
Der Flur war hellgelb tapeziert. Eine weiße Holztreppe führte nach oben, vier Türen zweigten in andere Räumlichkeiten ab. An den Wänden hingen Gemälde von Wildvögeln, Flugstudien.
„Es ist schon spät. Ich glaube, es ist das Beste, wenn sich Donald jetzt verabschiedet.“ Ira wandte sich an Cora.
Ray konnte förmlich spüren, wie das Mädchen zu einer Entgegnung ansetzte, diese aber nicht aussprach. Er war sich sicher, dass ihr Blick auf seinem Rücken ruhte. „Ist gut, Ira. Wir wollen uns nur verabschieden.“ Die Wärme, die eben noch in ihren Worten gelegen hatte, war einer eisigen Kälte gewichen.
„In Ordnung. Aber nicht zu lange.“ Die blonde Frau schloss die Tür und lehnte sich für einen Moment dagegen. Ray beobachtete sie. Schuldbewusst zuckte sie mit den Schultern und setzte wieder ihr Lächeln auf. „Das ist nicht so einfach zwischen Cora und mir, wie Sie sich vielleicht denken können, Ray.“
„Ich habe nie Kinder großgezogen“, antwortete er.
Sie seufzte. Dann stieß sie sich ab und kam auf ihn zu. Ihr Gang war weich, ihre Hüften wiegten sich ganz sachte im Takt einer nur ihr zugänglichen Musik. „Wollen Sie sich frisch machen? Oder lieber gleich zu Bett gehen?“ Ihre grünen Augen musterten neugierig sein Gesicht.
Ray brauchte einen Moment, bis er antworten konnte. Wieder stieg ihm ihr Duft in die Nase. „Ich bin noch nicht müde. Aber für etwas Wasser und Seife wäre ich dankbar.“
„Das können Sie gerne haben. Und nicht nur das. Ich habe Ihnen das Gästezimmer herrichten lassen. Zudem steht in der Küche noch etwas kalter Braten.“ Sie ging an ihm vorbei und stieg die Treppe hinauf. „Kommen Sie mit, Ray.“
Er folgte ihr langsam. Beinahe zwangsläufig legte sich sein Blick auf ihre Beine, deren weiße Haut unter dem grünen Stoff hervorschaute. Und auf ihre Fesseln über den glänzenden, schwarzen Schuhen. Als sie die oberste Stufe erreichte, sah sie sich nach ihm um und schenkte ihm ein Lächeln. In ihren Augen glitzerte es.
„Das Bad ist hier. Ein Handtuch und Seife liegen auf der Anrichte.“ Sie öffnete eine Tür und winkte ihn in ein geräumiges Badezimmer. Hellgrüne Fliesen, eine gusseiserne Wanne auf Löwenfüßen, ein schwerer, brauner Tisch mit eingelassener Waschschüssel und ein mannshoher Spiegel gegenüber dem Eingang.
„Ich warte unten auf Sie, Ray.“ Wieder klang es, als bette sie seinen Namen auf ihrer Zunge. Dann schloss sie die Tür.
Sein Ebenbild im Spiegel warf ihm einen fragenden Blick zu. Er zuckte die Schultern und ließ kaltes Wasser in die Schüssel laufen. Er erinnerte sich daran, dass Jasper Reed viel Geld dafür ausgegeben hatte, fließendes Wasser und Strom in dieses Haus zu kriegen. Nach den Schützengräben in Frankreich hatte sich Jasper geschworen, niemals mehr einen Tag lang ungewaschen zu bleiben. Ray wusch Hände und Gesicht und versuchte sich seinen Freund in diesem Badezimmer vorzustellen. Es fiel ihm schwer. Sieben Jahre verwischten die Bilder in seinem Kopf. Er ließ die Hände im kalten Wasser und legte die Stirn gegen das kühle Glas des Fensters über dem Waschbecken.
Die Anstrengungen der Reise machten sich bemerkbar. Als wäre er zu Fuß die Jahre bis vor dem Krieg zurückgegangen, um festzustellen, dass es das Damals nicht mehr gab. Erinnerungen an Jasper und Eve stiegen in ihm auf, aber sie blieben unscharf, wie ein schlechter Film, und stumm. Er konnte keinen Ton dazu finden, keinen Klang und kein Gefühl dazu.
Von draußen hörte er Stimmen. Worte, die in seine Gedanken sickerten und ihm die unsteten Bilder unweigerlich entgleiten ließen. Lautlos öffnete er das Fenster einen Spalt weit und blickte hinaus. In der Dunkelheit glomm das Licht der Veranda, aber das Fenster lag zur östlichen Seite des Hauses, so dass er Cora und Donald nicht sehen konnte.
„… keine Lust auf deine ewige Eifersucht, Donald!“
„Ich und eifersüchtig? Ja, vielleicht. Aber ich habe auch allen Grund dazu. Du schmeißt dich an jedes Hosenbein, das vorbeikommt.“
„Du bist gemein. Und es stimmt nicht. Er ist ein alter Freund der Familie.“
„Das bedeutet nicht, dass du ihm schöne Augen machen musst.“ Donalds Worte waren voller Wut.
„Ich habe nun einmal schöne Augen, weißt du. Und wenn hier einer eifersüchtig sein darf, dann ich. Es kommt mir nämlich so vor, als würdest du diesen elenden Köter mehr lieben als mich.“
„Dot ist kein Köter! Das nimmst du sofort zurück.“
Die Stimmen schwiegen einige Zeit.
Ray trocknete sich die Hände ab und wartete.
„Vielleicht habe ich etwas überreagiert, Cora. Er ist natürlich nur ein alter Freund. Tut mir leid. Aber du weißt ja, wie ich bin. Der Gedanke, dass du andere Männer …“ Er stockte.
Coras Antwort war weich und einschmeichelnd: „Schon okay, Donny. Sei wieder lieb mit mir. Komm her. So ist es gut.“
„Cora …“, aber der Satz erstarb.
Ray stellte sich vor, wie die beiden eng umschlungen auf der Schaukel saßen. Der Gedanke gefiel ihm aus irgendeinem Grund nicht und er schloss das Fenster, um nach unten zu gehen.
Mit schnellen Schritten stieg er die Treppe hinab. Ira Reed wartete im hinteren Teil des Flurs auf ihn. Neben ihr hing ein Gemälde, auf dem sich zwei Wildgänse im Flug befanden. Prächtige Tiere, die Köpfe anmutig ausgestreckt und die Flügel ausgebreitet. Sie sah ihn an: „Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Ray?“
Er nickte. „Danke.“
„Und Sie wollen wirklich nichts essen? Nicht mal eine Kleinigkeit?“
„Nein, danke.“
Ihr Lächeln war sanft, verstehend. Die Sommersprossen auf ihrer Nase waren kaum zu erkennen. „Dann gehen wir am besten ins Arbeitszimmer.“ Mit diesen Worten öffnete sie eine Tür und lud ihn ein, ihr zu folgen. „Tony lässt sich entschuldigen. Sein Magen macht ihm Probleme. Er hat sich bereits hingelegt.“ Das Zimmer, das sie betraten, war geräumig. Zwei Fenster gingen auf den Garten hinaus, ein großer Schreibtisch nahm die Mitte des Raumes ein. Ein schwerer Ledersessel dahinter. An der linken Wand standen zwei mäßig gefüllte Bücherregale, an der rechten hingen eine lange Reihe gerahmter Photographien.
„Schließen Sie die Tür, Ray“, sagte sie und ging zum Schreibtisch hinüber.
Neben dem Eingang hing eine große, vergilbte Landkarte. Red Hills stand in der Legende. Ray studierte sie aufmerksam.
„Ein Teil davon gehört uns.“
Er nickte und besah sich die Aufnahmen. Schwarzweiße Erinnerungen, manche abgegriffen und zerknickt. Es waren etliche von ihm darunter, alle aus seiner Zeit als Soldat. Ray allein, gemeinsam mit Jasper Reed oder anderen Kameraden. Ein Bild von ihm kurz nach seiner Verwundung, sein Körper eingehüllt in weiße Laken, eine Flasche Schnaps auf dem Nachttisch neben dem Krankenhausbett. Die anderen Bilder zeigten zumeist Jasper, als Jäger oder mit Fremden. Gelegentlich ein Photo von Eve Reed, einer hübschen, dunkelhaarigen Person. An fünf Stellen zeichneten sich jedoch nur die Umrisse der Bilderrahmen an der Wand ab. Jemand hatte sie fortgenommen.
Ira stand mit einem Mal neben ihm, ihre Schulter streifte seinen Arm und ihr Duft stieg ihm wieder entgegen. „Jasper hat große Stücke auf Sie gehalten.“
„Ich nicht weniger von ihm. Hätten wir ihn nicht zurückgehalten, dann hätte er die Deutschen im Alleingang aufgerieben.“
Sie schluckte. „Zum Schluss nicht mehr.“
Ray schwieg betreten, den Blick auf die Photographien gerichtet, ohne sie zu sehen. „Es tut mir leid, Ira. Ich wünschte, ich hätte bei ihm sein können.“
Ihre Schultern zuckten, als würde sie weinen, aber ihre Augen blieben trocken. „Es war besser so. Sie hätten ihm auch nicht helfen können. Niemand konnte das. Dem Krebs war es egal, dass er ein Kriegsheld war.“
„Er war für mich da, als ich beinahe gestorben wäre. Es wäre das Mindeste gewesen, in seinen letzten Stunden bei ihm zu sein.“
Sie schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich keine Vorwürfe, Ray. Jasper war so stolz, er hätte nicht gewollt, dass Sie ihn so sehen.“
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Impuls, sie zu umarmen, durchzuckte ihn. Aber er schaffte es nicht, die Arme zu heben, sie hingen schlaff an seiner Seite. „Ich war an seinem Grab auf dem Veteranenfriedhof in Fort Riley, bevor ich herkam.“
Ira zuckte die Schultern: „Ich war seit der Beerdigung nicht mehr da. Es ist nur ein dummes Holzkreuz und hat nichts mit ihm zu tun.“ Ihre Hand berührte eine Aufnahme, strich nachdenklich über das Glas. „Dieses Bild hat er geliebt.“
„Das war Ende ’46 in Paris. Sehen Sie, dort hinten kann man ein Stück vom Eiffelturm erkennen.“ Jasper, ein kräftiger Mann mit einem fröhlichen Gesicht, in der Uniform eines Oberst, und Ray, einige Jahre jünger als sein Freund, ein lachender Sergeant, posierten Arm in Arm vor einem kleinen Laden. Jeder von beiden hielt zwei Weinflaschen in den Händen, weitere standen auf den Pflastersteinen vor ihnen. „Wir sollten ein deutsches Waffenlager ausheben, aber unser Informant hatte sich geirrt. Statt auf die Waffen, stießen wir auf einen zugemauerten Keller voller Weinflaschen. Es wurde ein ziemlich feuchter Abend für unsere Truppe.“
Ira lachte leise und die trübe Stimmung war verschwunden. „Jasper meinte, Sie hätten einen Großteil des Fundes im Alleingang vernichtet.“
Ray wedelte abwehrend mit den Händen: „Vielleicht. Ich kann mich an den Ausgang der Nacht nicht mehr erinnern. Aber Jasper war nicht der Typ, der sich seinen Beuteanteil entgehen ließ.“
Sie gingen zum Schreibtisch hinüber, auf dem Landkarten und Papiere lagen. Ira blieb neben ihm und sah ihn lange an. „Danke, dass Sie gekommen sind, Ray.“ Er hielt ihren Blick in seinem. „Ich wüsste nicht, wer uns ansonsten hätte helfen können.“
„Ich schulde es Jasper. Und auch wenn es nicht so wäre, bin ich froh, gekommen zu sein.“
Ein zaghaftes Lächeln strich über ihr Gesicht. „Meinen Sie, wir haben eine Chance?“
Er zuckte die Schultern: „Ich muss erst die Karten sehen, das Land und dann ein paar Gesteinsproben nehmen, ehe ich etwas sagen kann.“
„Jasper war sich sicher.“
„Er hatte immer einen guten Riecher, was Geschäfte anging, vielleicht hat er sich nicht getäuscht.“
„Die Karten sind hier, in den Schubladen sind noch mehr. Er hat in den letzten Monaten alles zusammengesucht, was er auftreiben konnte. Er wusste, dass Sie kommen würden.“
„In Ordnung. Ich werde sie mir morgen ansehen.“
„Und dann fahren wir raus.“
Er nickte.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Gästezimmer, Ray.“ Gemeinsam gingen sie nach oben, die Helligkeit war bereits aus dem Haus verschwunden. „Es ist schrecklich spät“, sagte Ira und ging vor ihm die Treppe hinauf. Langsam, geschmeidig.
„Da ist mein Zimmer, direkt neben Ihrem, Ray. Und gegenüber das von Cora.“ Sie führte ihn den Flur entlang. Hellblaue Tapete, gleichfarbige, weiche Teppiche und die Flugstudien von Wildvögeln an den Wänden. „Hier.“ Sie öffnete die Tür in ein großes Zimmer. An der Wand stand ein Doppelbett, gegenüber davon ein wuchtiger Schrank aus dunklem Holz. Ein rostroter Teppich und kleine Landschaftsbilder in verzierten Rahmen rundeten das Ambiente ab. „Ist es in Ordnung?“, fragte Ira.
Ray trat an ihr vorbei, streifte ihren Duft und sah sich kurz um. „Ja, ausgezeichnet.“
Sein Gepäck stand vor dem Bett.
„Schlafen Sie gut, Ray.“ Sie lächelte ihn an, ehe sie die Tür schloss.
„Sie auch, Ira.“
Dann war er allein und lauschte auf ihre sich entfernenden Schritte. Ohne Licht zu machen, entpackte er seine Reisetasche und sortierte die Habseligkeiten im Schrank ein. Als letztes zog er ein sorgsam verschnürtes Bündel hervor.
Er trat ans Fenster und blickte hinaus, während er langsam, ohne hinzusehen, die Schnür löste und das Tuch auseinander schlug. Zwischen dem weißen, mit Ölflecken verunzierten Stoff schimmerte das mattdunkle Metall eines Revolvers. Es war eine große, schwere Waffe, die er einen Augenblick lang in der Hand wog, um sie dann wieder ins Tuch einzuwickeln. Das verschnürte Bündel verbarg er sorgfältig auf dem Schrank.
Dann zog er sich aus und legte sich schlafen.