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Kapitel 4

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Lustlos zappte Jamie durch die Fernsehprogramme, ohne wirklich wahrzunehmen, was da über den Bildschirm flimmerte, als die Haustür geöffnet wurde.

»Hi Max!«

Zack und Jemma waren zurück.

»Hallo ihr zwei. Wie waren die Fahrstunden?«

»Meine war perfekt. Und Jem hat nur noch zwei Laternen und einen Mülleimer mitgenommen, also eine deutliche Verbesserung zum letzten Mal.«

»Du fieser Mistkerl! Als ob! Wer musste denn bitte beim rückwärts Einparken gleich zweimal korrigieren, während ich schon beim ersten Mal absolut perfekt stand?«

»Ein blindes Huhn findet halt ab und an auch mal den Rückwärtsgang.«

»Kann ich das als positives Zwischenresümee auf dem Weg zu eurer Fahrerlaubnis abspeichern?«

»Yep, aber so was von.«

»Wirst du zum Essen bleiben? Oder verbringst du den Abend mit deinen Eltern?«

Ein Seufzen. »Nein, meine Erzeuger haben irgendein Geschäftsessen mit einem neuen Kunden. Und ich hab keine Lust, drüben im Haus alleine rumzusitzen, also bleib ich hier, wenn das okay ist.«

»Natürlich ist es das. Jamie meinte schon, dass ich dich beim Abendessen mit einplanen soll. Es gibt Hühnchen. Robert wird in einer Dreiviertelstunde hier sein, wenn es im U-Bahn-Netz zu keinen nennenswerten Ausfällen kommt.«

»Cool. Ist Ned noch hier?«

»Nein. Er und Jamie haben sich gestritten und er ist gegangen.«

Jamie verdrehte die Augen. Wenn man Max nicht den Befehl zu schweigen gab, war er ein fürchterliches Plappermaul.

»Hey!« Zack und Jemma kamen aus dem Küchenbereich zu ihm herüber.

»Hey.« Jamie wischte sich über die Augen und machte sich auf das Unvermeidbare gefasst.

»Du hattest Zoff mit Ned?« Zack ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen. »Warum?«

»Keine Ahnung. Er ist total ausgerastet«, knurrte Jamie. »Dabei hab ich es nur gut gemeint.«

»Was ist denn passiert?« Jemma warf Schultasche und Jacke aufs Sofa und hockte sich auf den Couchtisch.

Jamie seufzte. »Ich glaube, Ned ist dabei, sich in Charlie zu vergucken, und ich hab ihm gesagt, dass er es lassen soll.« Er hielt inne, als er sah, dass Zack und Jemma ihn ungläubig anstarrten. »Was denn? Kommt schon! Ausgerechnet Charlie? Sie ist ja wohl kaum die Richtige für ihn.«

»Nicht wirklich, oder?«

Das Blitzen in den Augen seiner Schwester verhieß nichts Gutes, daher schaltete Jamie sofort in den Verteidigungsmodus. »Hey, es ist ja völlig in Ordnung, dass Charlie mit jedem rumflirtet und einen Kerl nach dem anderen hat, aber so was kann Ned sich eben nicht so einfach leisten!«

Jemmas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Das hast du ihm hoffentlich nicht so gesagt.«

»Doch, natürlich! Wenn er seinen Biokörper geheim halten will, dann stimmt das ja wohl auch!«

»Mann, Jamie!« Jemma sprang vom Tisch auf und fuhr sich durch die Haare. »Manchmal bist du so ein verdammter Vollidiot!«

»Was?! Warum? Ich will nur nicht, dass Charlie ihm wehtut!«

»Hallo?! Spinnst du?« Jemma funkelte ihn an und stemmte ihre Hände in die Seiten. »Charlie ist deine Freundin! Solltest du sie da nicht besser kennen?«

»Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie mit Jungs nur ziemlich locker Spaß haben will!«, schoss Jamie zurück. »Und ich glaube nicht, dass so jemand die Richtige für Ned ist!«

»So jemand?!« Jemma ballte die Fäuste und atmete tief durch, um nicht endgültig auszurasten. »Du tust hier gerade so, als ob Charlie ein oberflächliches Miststück wäre! Kleiner Realitätscheck, Brüderchen: Das ist sie nicht! Sie mag Ned! Sie findet ihn spannend und interessant und eben einfach mal total anders als die Ewig-gute-Laune-Typen, mit denen sie sich bisher immer abgegeben hat. Und sie würde ihn gern besser kennenlernen, weil sie denkt, dass viel mehr in ihm steckt, als er die Welt bisher sehen lässt.«

Überrumpelt sah Jamie sie an.

»Ja, da staunst du, was?«, knurrte Jemma giftig. »Ob Charlie und Ned die Richtigen füreinander sind? Keine Ahnung! Aber da haben wir uns nicht einzumischen. Das müssen die beiden für sich herausfinden. Das Einzige, was wir tun sollten, ist uns für Ned zu freuen. Mann, er ist dein Freund! Du weißt doch ganz genau, dass ihm das Fühlen in seinem neuen Körper schwerfällt und dass er Berührungen immer noch nur schlecht einschätzen kann. Was glaubst du, wie wichtig es für ihn da ist, dass seine Seele so was wie Verliebtsein für ein Mädchen empfinden kann?« Wieder strich sie sich aufgebracht die Haare aus der Stirn. »Und du solltest froh sein, dass er sich ausgerechnet Charlie ausgesucht hat. Wenn er ihr wirklich sein Geheimnis anvertraut, würde sie ihn niemals verraten und es weitererzählen! Völlig egal, ob aus den beiden was wird oder nicht. Mensch, du kennst sie doch! Hat sie dich fallen lassen, als du plötzlich im Rollstuhl gesessen hast? Nein! Im Gegenteil: Sie hat jedem, der auch nur ansatzweise blöd in deine Richtung geguckt hat, die Hölle heißgemacht! Warum glaubst du also, dass sie für Ned nicht die Richtige sein könnte?«

Jamie schluckte und fühlte sich ziemlich unangespitzt in den Boden gerammt. Er wollte etwas sagen, doch Jemma wischte seinen Versuch nur ungeduldig beiseite.

»Nein, weißt du was? Spar’s dir!« Sie packte Jacke und Schultasche. »Ich bin jetzt gerade zu wütend auf dich, um dir zuzuhören.« Ohne ihren Zwilling noch eines Blickes zu würdigen, stiefelte sie zur Treppe und verschwand in den ersten Stock.

»Na toll.« Schmollend stützte Jamie die Ellbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht zwischen den Armen. Er hasste es, wenn Jem so sauer auf ihn war, dass sie nicht mehr mit ihm reden wollte. Vorsichtig wagte er einen Blick zu Zack, der sich bisher aus der Standpauke herausgehalten hatte. »Los, sag schon was.«

Zack seufzte, schenkte ihm aber ein kleines Lächeln. »Was soll ich denn sagen? Dass du Mist gebaut hast? Ich glaube, viel deutlicher als Jem könnte ich dir das auch nicht ins Gewissen brennen.«

»Danke! Ich glaube, ich wiederhol mich, aber ich hab es nur gut gemeint!«

»Ja, das weiß ich.« Zack nahm Jamies Hand. »Aber bei Ned kam es eben nicht so an.«

»Aber –« Jamie brach ab, als er Zacks hochgezogene Augenbraue sah.

»Hey, überrascht es dich wirklich, dass Ned wütend auf dich ist, wenn du ihm sagst, was er tun und lassen soll? Du hasst es doch auch wie die Pest, wenn jemand dich bevormunden will und dir sagt, was richtig und falsch für dich ist.«

Jamie biss sich auf die Unterlippe. Dann zog er seine Hand aus Zacks, presste seine Handballen gegen die Augen und atmete tief durch. »Okay. Aber was ist, wenn Ned sich wirklich in Charlie verliebt? Und wenn sie ihm dann nach ein paar Wochen das Herz bricht, weil sie ihn zu langweilig findet und sich lieber wieder einen anderen Kerl sucht? Denkst du, das wäre gut für ihn? Nach allem, was er durchgemacht hat? Nachdem ihn seine tollen alten Freunde während seiner Krankheit fallen gelassen haben? Denkst du echt, da sollte er sich jetzt in ein Mädchen verlieben, bei dem Liebeskummer praktisch vorprogrammiert ist?«

Zack stöhnte. »Jamie, es ist süß, dass du dir solche Gedanken um ihn machst, aber das ist nicht deine Baustelle. Diese beschissenen Was-Wenn-Szenarios, die du dir so gerne ausdenkst, sind schon verdammt anstrengend, wenn du sie für dich oder uns beide durchspielst. Mach es nicht auch noch bei anderen. Du würdest es doch auch hassen, wenn sich jemand in dein Leben einmischt, nur weil er sich irgendeine negative Zukunft zurechtgesponnen hat.«

Jamie verzog das Gesicht und schwieg. Schließlich seufzte er, wischte sich noch einmal über die Augen und warf einen unglücklichen Blick über die Schulter in Richtung Treppe.

Aufmunternd strich Zack ihm über den Rücken. »Keine Sorge, Jem kriegt sich schon wieder ein. Charlie ist ihre beste Freundin und auf die lässt sie so schnell nichts kommen. Aber sie hasst es, sich mit dir zu streiten. Also warte einfach, bis sie sich wieder abgeregt hat, und dann rede noch mal mit ihr.« Er stemmte sich vom Sofa hoch und schnappte sich Jacke und Schultasche. »Und die Sache mit Ned kriegst du morgen sicher auch wieder eingerenkt.«

Jamie sah zu ihm auf. »Wo gehst du hin?«

»Nach oben, mich umziehen. Ich muss dringend aus der Uniform raus. Und vielleicht krieg ich noch Französisch erledigt, bevor es Essen gibt.«

Die Haustür ging auf und wieder zu.

»Nein, Ray! Du kannst mir den gleichen Sermon jetzt noch fünf Mal erzählen, ich werde meine Meinung nicht ändern.«

Sein Dad war zurück. Und er schien auch keinen besonders entspannten Tag zu haben.

»Nein! Tut mir leid! … Nein, das wusstest du vorher. … Das ist nicht mein Problem. Wenn –« Robert tauchte im Wohnbereich auf, warf seine Tasche in einen der Sessel am Kamin und nickte seinem Sohn kurz zu. »Hör zu, Ray –« Entnervt rollte er mit den Augen, als er am anderen Ende der Leitung schon wieder unterbrochen wurde. Kurzerhand legte Robert das Smartphone auf den Kaminsims und ließ Ray unbeachtet weiterreden, während er sich in aller Ruhe Schal und Mantel auszog, die Krawatte ablegte und durch seine dunkelblonden Haare wuschelte.

Grinsend hob Jamie den Daumen.

Robert schnitt ihm eine Grimasse, nahm das Telefon wieder an sich, hörte für einen kurzen Moment zu, hatte dann aber offensichtlich endgültig genug. »Okay, Ray, Schluss! Ich bin jetzt zu Hause und habe Feierabend. … Ja, genau. … Nein!« Er warf einen beschwörenden Blick an die Decke, atmete tief durch und massierte seine Nasenwurzel. »Nein, ich werde meine Meinung bis morgen sicher nicht ändern. Und jetzt lege ich auf. Schönen Feierabend!« Mit einem Schnauben warf er das Telefon zu den anderen Sachen auf den Sessel.

»Ärger in der Kanzlei?«

Robert ließ sich neben seinem Sohn aufs Sofa fallen und rieb sich müde übers Gesicht. »Mit einem der Bosse. Unterschiedliche Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit.«

»Bei eurem Mordprozess?«

Seufzend lehnte Robert den Kopf gegen die Sofalehne und schloss für einen Moment die Augen. »Totschlag. Ray will die Verteidigung auf Totschlag aufbauen.«

»Aber das willst du nicht?«

Robert öffnete die Augen wieder. »Du weißt, dass ich mit dir nicht darüber reden darf.«

Jamie zuckte mit den Schultern. »Wenn du es mir nicht sagst, höre ich es in den Medien doch sowieso.«

»Erinnere mich bloß nicht daran …«, stöhnte sein Dad.

Abbot, Barnes & Finch, die Anwaltskanzlei, in der Robert arbeitete, war eine der renommiertesten Kanzleien Londons. Richard Huntley, ein einflussreicher Politiker aus dem House of Lords des britischen Parlaments, hatte Raymond Finch, einen der Namenspartner, engagiert, nachdem Huntleys Sohn wegen Vergewaltigung und Ermordung einer Stripperin verhaftet worden war. Für die Medien war eine solche Anklage ein gefundenes Fressen, auf das sie sich nur allzu gerne stürzten, und Robert war dankbar, dass er neben Ray Finch nur zweiter Anwalt sein musste und so dem größten Medienspektakel entkommen konnte.

»Warum gibst du den Fall nicht einfach ab?«, fragte Jamie. »Ist doch total ätzend, einen Kerl verteidigen zu müssen, der ein Mädchen vergewaltigt und umgebracht hat.«

Robert seufzte. »Ich bin kein Seniorpartner. Ich kann mir meine Fälle nicht immer aussuchen.«

»Dein Tee.« Max war mit einer dampfenden Tasse aus der Küche herübergekommen. »Schwarz und stark. Wie immer.«

»Danke Max. Du bist der Beste.«

»Sehr gern geschehen. Das Abendessen ist in einer halben Stunde fertig.«

»Fantastisch.« Robert nahm einen Schluck, während Max zurück in die Küche verschwand.

»Warum wechselst du dann nicht einfach zur Staatsanwaltschaft?«, nahm Jamie ihr Gespräch wieder auf. »Da kannst du Verbrecher anklagen, statt sie zu verteidigen.«

»Ich verteidige aber lieber.« Robert fuhr sich durch die Haare und machte seiner akkuraten Anwaltsfrisur damit endgültig den Garaus. »Menschen sind nicht perfekt. Sie machen Fehler und Dummheiten, aber wenn sie die bereuen, verdienen sie einen fairen Prozess und jemanden, der eine zweite Chance für sie herausschlägt, findest du nicht?«

Jamie zuckte mit den Schultern und schwieg.

»Was?«, hakte Robert nach. »Denkst du nicht, dass Menschen eine zweite Chance verdienen?«

Jamie presste die Kiefer aufeinander. »Wenn du jemanden verteidigen müsstest, der einen Menschen getötet und einen anderen zum Krüppel gemacht hat, weil er sich besoffen hinters Steuer gesetzt hat, hätte der auch eine zweite Chance verdient?«

Robert sah ihn ernst an. »So einen Fall dürfte ich wegen Befangenheit gar nicht übernehmen.«

Jamie schnaubte verächtlich. »Das ist keine richtige Antwort, Dad.«

»Doch, Jamie, das ist es. Manchmal ist man an einer Sache zu nah dran, um ein objektives Urteil fällen zu können. Dann muss man die Entscheidung anderen überlassen und darauf bauen, dass sie richtig urteilen werden, weil man selbst es einfach nicht kann.«

Jamie schüttelte den Kopf und Robert merkte, dass sein Sohn damit nicht zufrieden war. Seufzend fuhr er sich über die Augen.

»Okay, wenn du eine klarere Antwort von mir hören willst: Ich denke, jemand, der unter Alkoholeinfluss einen Unfall verursacht und dabei Menschen tötet oder schwer verletzt, verdient eine harte Strafe – aber auch eine zweite Chance, wenn er bereut, was er getan hat, und keine Gefahr besteht, dass er so etwas noch einmal tun wird.«

Wieder presste Jamie die Kiefer aufeinander und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Robert legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, dass das schwer für dich ist, aber du wolltest meine Antwort und ich lüge dich nicht an«, sagte er sanft. »Und ich erwarte ganz sicher nicht von dir, dass du das genauso siehst. Ich kann dir nur sagen, dass der Mann, der schuld an eurem Unfall ist, zutiefst bereut, was er getan hat. Er ist kein Monster. Er ist ein Familienvater und hat zwei kleine Töchter, die gerade mal halb so alt sind wie du und Jemma, und er –«

»Aber das macht die Tatsache, dass er sich besoffen hinters Steuer gesetzt hat, doch nur noch unverzeihlicher!« Aufgebracht schüttelte Jamie den Kopf. »Er hat ja nicht nur das Leben anderer, sondern auch sein eigenes in Gefahr gebracht und seine Mädchen müssen jetzt ohne ihren Vater aufwachsen, weil er im Knast sitzt! Wenn man seine Familie liebt, dann macht man so einen Scheiß einfach nicht!« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich wäre ein ganz mieser Verteidiger.«

Robert drückte seinem Sohn die Schulter. »Du bist in diesem Fall selbst betroffen, deshalb kannst du gar nicht objektiv sein. Aber die Fälle liegen ja nicht immer so. Manchmal werden Menschen völlig zu Unrecht beschuldigt und dann brauchen sie jemanden, der ihnen hilft, damit sie nicht unschuldig im Gefängnis landen.«

Jamie schnaubte wenig überzeugt. »Ja, mag sein. Aber dieser Ian Huntley ist nicht unschuldig, oder? In den Nachrichten hieß es, dass sie DNA-Spuren gefunden haben.«

Robert musterte ihn kurz, respektierte aber den abrupten Themenwechsel und sah seinen Sohn nur bedeutungsvoll an.

Jamie rollte mit den Augen. »Ja, schon gut, ich weiß: Du darfst darüber nicht reden.«

»Kluger Junge.« Neckend strubbelte Robert ihm durch die Haare und nahm dann einen Schluck von seinem Tee. »Ich glaube, wir zwei sollten uns ohnehin lieber über eine ganz andere Sache unterhalten. Dein medizinisches Gutachten ist nämlich heute Nachmittag bei mir eingegangen.«

Stöhnend verbarg Jamie sein Gesicht in den Händen. »Ja, ich hab die E-Mail auch bekommen. Und nein, darüber müssen wir nicht noch mal reden. Das Gutachten ändert gar nichts.«

»Aber damit hast du jetzt die offizielle Bestätigung dafür, dass du dir viel zu viele Gedanken machst. Deine Blutwerte sind in Ordnung, deine Medikamente sind sehr gut eingestellt und die Belastungsprüfung hast du auch locker bestanden. Bei normaler körperlicher Anstrengung ist mittlerweile zu über neunzig Prozent ausgeschlossen, dass spontane Muskelkrämpfe bei dir auftreten. Damit spricht nichts dagegen, dass du mit Jemma und Zack den Führerschein machst.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Nein. Zu zehn Prozent bin ich hundertprozentig eine Gefahr im Straßenverkehr und ich werde ganz sicher nicht riskieren, dass ich einen Unfall baue, wenn doch mal ein Krampfanfall auftritt.«

Robert seufzte. »Ich kann verstehen, dass du davor Angst hast, aber du hast seit über einem halben Jahr keinen Anfall mehr gehabt. Und seit dem Sommer haben sich deine Motorik und deine Ausdauer enorm verbessert und deine Muskulatur ist viel kräftiger geworden. Du brauchst den Rollstuhl jetzt gar nicht mehr und dein Risiko für Anfälle ist nicht höher als bei einem Diabetiker, der am Steuer Unterzucker bekommen könnte.«

»Das ist mir egal. Ich muss damit leben, wenn ich jemandem das antue, was dieser Scheißkerl Mum und mir angetan hat. Und das riskiere ich nicht. Ich weiß, du hast es mit dem Gutachten gut gemeint, aber ich will den Führerschein nicht machen. Ich hab Max, der mich fahren kann, und Zack und Jem können es ja auch bald. Ich will nicht selbst fahren und ich will das Thema jetzt auch nicht noch tausend Mal durchkauen. Bitte. Okay?«

»Natürlich ist das okay. Es ist allein deine Entscheidung.«

»Danke.« Jamie rang sich ein kleines Lächeln ab und sein Dad drückte ihm die Schulter.

»Jon hat mir übrigens auch geschrieben, was ihr zwei in der Physio in den letzten Wochen erreicht habt.«

Jetzt lächelte Jamie richtig.

»Wann willst du es Jem und Zack sagen?«

»Wenn ich soweit bin.«

»Ich hoffe, du weißt, wie stolz ich auf dich bin.« Liebevoll wuschelte Robert seinem Sohn durch die Haare, doch als er merkte, wie verlegen Jamie war, wechselte er gutmütig das Thema. »Und? Was gibt’s hier sonst Neues? Wo ist Jem?«

»Oben. Zack auch.«

Roberts gute Laune verflüchtigte sich und er schüttelte verärgert den Kopf. »Haben Trish und Greg ihn also schon wieder versetzt, ja?«

»Wundert dich das?«

Robert schnaubte. »Ich wünschte, es wäre so.« Er nahm einen letzten Schluck Tee und stellte die Tasse auf den Couchtisch. Dann runzelte er die Stirn. »Wolltest du heute nicht eigentlich mit Ned lernen? Ist er schon weg?«

»Ja«, stöhnte Jamie. Er hatte keine große Lust, seinem Dad von dem Streit zu erzählen, aber wenn Jem gleich beim Essen weiterhin wütend auf ihn war und nicht mit ihm reden wollte, würde sein Vater ohnehin wissen wollen, was los war, also brachte er es lieber gleich hinter sich. »Wir haben uns gestritten.«

»Oh.« Robert musterte ihn überrascht. »Schlimm?«

Missmutig zuckte Jamie mit den Schultern. »Es reicht dafür, dass ich jetzt offiziell für ihn und Jem das größte Arschloch der Nation bin.«

Robert zog die Augenbrauen hoch. »Wow. Der ganzen Nation? Na, da hast du ja offensichtlich ganze Arbeit geleistet, mein Sohn.« Er klopfte Jamie spaßhaft auf die Schulter.

»Nicht witzig!«

Robert lächelte. »Willst du es mir erzählen?«

»Damit du mir dann auch noch sagst, dass ich ein Arschloch bin?«

Sein Dad verzog das Gesicht. »Du weißt, dass ich dieses Wort nicht mag, also stehen die Chancen gut, dass du es dir von mir nicht einfängst. Und ich bin ein verdammt guter Anwalt. Du könntest mich als Verteidiger engagieren.« Er grinste vielsagend. »Da ich weiß, was ich dir an Taschengeld zahle, geb ich dir auch Familienrabatt. Und ich akzeptiere Ratenzahlungen.«

Jamie verdrehte die Augen. »Wie wär’s denn mit pro bono?«

»Du meinst, ich soll deinen Fall kostenlos und aus reiner Herzensgüte übernehmen?« Robert lachte. »Na, dafür höre ich mir erst mal an, was genau du verbrochen hast. Also, fang an. Mach es kurz und schonungslos.«

Jamie atmete tief durch und tat genau das.

»Ich wollte ihm ganz bestimmt nicht Charlie miesmachen, weil ich sauer wegen der Geheimhaltung bin«, endete er schließlich und strich sich verdrossen durch die Haare. »Klar nerven die blöden Kommentare! Aber selbst wenn die anderen wüssten, dass Ned in einem Biokörper lebt, würden sie mich doch trotzdem fragen, warum ich mich noch mit meiner kaputten Wirbelsäule herumquäle. Oder mir unterstellen, dass ich mein Handicap behalten will, weil ich so wahnsinnig auf deren Rücksichtnahme oder irgendwelche beschissenen Sonderbehandlungen stehe!« Er schnaubte verächtlich und vergrub den Kopf in den Armen.

Seufzend strich Robert ihm über den Rücken.

Nachdem Edward Dunnington im Sommer mit der bahnbrechenden Entwicklung der Bioroboter an die Öffentlichkeit gegangen war, hatte Jamie seinem Vater mit Neds Einverständnis anvertraut, dass nicht nur Angus McLean, sondern eben auch Ned in einem künstlichen Körper lebte. Natürlich war Robert froh, dass Ned auf diese Weise überlebt hatte – und ihm war auch klar, was diese Biokörper für Jamie bedeuten konnten: ein Leben ohne Muskelschmerzen und ohne Angst vor plötzlichen Krämpfen und Lähmungserscheinungen. Ohne tägliche Medikamente, die die Auswirkungen seiner Rückenmarkverletzung zwar lindern konnten, sie aber nie beseitigen würden. Dafür ließen die Nebenwirkungen seinen Sohn viel zu oft mit Appetitlosigkeit, Übelkeit und Magenschmerzen kämpfen und hatten ihm einen BMI von nur noch knapp sechzehn beschert. Ein neuer Körper konnte für Jamie ein Leben ohne Behinderung bedeuten, für die er immer wieder abschätzige Blicke und dumme Kommentare einstecken musste. Und nicht nur das: Anscheinend erwartete man jetzt auch noch eine Rechtfertigung von ihm, weil er trotz seiner Beeinträchtigung das Leben in seinem eigenen Körper mehr schätzte als einen makellosen Hightechroboter.

Jamie hatte ihm erzählt, dass er bei den Dunningtons einen der Bioroboter hatte ausprobieren dürfen, sich in dem fremden Körper aber nicht wohlgefühlt hatte. Und dafür war Robert dankbar, denn auch wenn er an Ned sah, wie unglaublich lebensecht die Biokörper waren, war er sich nicht sicher, ob er seinen eigenen Sohn darin sehen wollte.

»Es ging mir kein bisschen um die bescheuerte Geheimhaltung!«, schimpfte Jamie unter seinen Armen hervor und raufte sich die Haare. »Ich würde ja wahrscheinlich nur noch mehr dämliche Kommentare und Fragen kassieren, wenn alle Welt wüsste, dass einer meiner besten Freunde in einem Bioroboter lebt, ich das aber nicht will! Also ist es ja auch für mich besser, wenn keiner von Ned weiß. Mir ging es echt nur darum, dass er sich bei Charlie keine falschen Hoffnungen macht und enttäuscht wird. Ich hab es einfach nur gut gemeint! Ist das denn wirklich so verdammt schlimm?!«

Jemma stand oben an der Treppe und kaute betreten auf ihrer Unterlippe herum. Sie hatte mit Zack ihre Hausaufgaben erledigt und jetzt eigentlich noch mal mit Jamie reden wollen. Ihre Wut auf ihn war zwar noch nicht verraucht, aber sie hasste es, sich mit ihm zu streiten. Und ein bisschen nagte auch das schlechte Gewissen an ihr, weil sie ihm nicht zugehört hatte. Jedenfalls nicht so, wie ihr Dad es gerade tat. Sie wollte die Treppe hinuntergehen, doch Zack hielt sie am Arm zurück und schüttelte stumm den Kopf. Sie runzelte die Stirn, ließ sich aber von ihm mitziehen, als er sich auf die oberste Stufe hockte.

Unten im Wohnzimmer fuhr Robert sich über die Augen. »Die Zeit nach dem Unfall war fürchterlich.«

Irritiert drehte Jamie sich zu ihm um. Dieser verdammte Unfall, der so schrecklich viel verändert hatte, war zwar sicher kein Tabuthema in seiner Familie, aber sonderlich gern sprach er darüber auch nicht. Sie hatten das Thema vorhin schon mehr als nur gestreift und Jamie hatte keine Ahnung, warum sein Dad jetzt noch mal damit anfing.

»Deine Mum war tot. Du lagst im Koma. Dann die schlimmen Wochen im Krankenhaus, als du begreifen musstest, dass dein Leben von nun an völlig anders sein wird; die Reha, die dir unglaublich viel abverlangt hat – diese Zeit war entsetzlich. Für uns alle. Besonders für dich. Aber auch für Jem. Sie hatte ihre Mum verloren und zwei unerträgliche Wochen lang hatte sie furchtbare Angst, dich auch noch zu verlieren. Und als du dann endlich wach warst, hat sie mit dir gelitten, als auch sie begreifen musste, was mit dir los ist.«

Erneut wischte Robert sich über die Augen, als könnte er damit auch die Erinnerungen verwischen und so vielleicht ein bisschen erträglicher machen. »Ich weiß nicht, wie viele Nächte Charlie in dieser Zeit hier verbracht hat und für Jem da war, wenn sie sich in den Schlaf geweint hat. Charlie ist ein unglaublich positiver Mensch. Sie hat Jem immer wieder aufgefangen, ihr Mut gemacht oder sie einfach weinen lassen. Und sie hat ihr in der Schule den Rücken freigehalten, wenn eure Mitschüler zu neugierig waren und Jem das nicht ertragen konnte.«

Jamie schluckte, als ihm klar wurde, warum Jemma vorhin so auf ihn losgegangen war.

»Ich hab davon nichts mitbekommen«, murmelte er bekümmert. »Klar wusste ich, dass es euch auch beschissen ging, aber ich hab überhaupt nicht mitgekriegt, was hier zu Hause los war. Wie sehr Mum hier gefehlt hat. Wie schlimm die Beerdigung war.« Seine Stimme klang plötzlich rau. Er atmete tief durch und sah dann wieder zu seinem Dad. »Warum hat Jem mir nie gesagt, wie dreckig es ihr ging?«

Robert lächelte traurig und strich ihm über den Rücken. »Hast du ihr gesagt, wie oft du dich im Krankenhaus oder in der Reha in den Schlaf geweint hast?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Aber sie hat es offensichtlich auch so gewusst, oder nicht? Dann hätte ich auch merken müssen, wie mies es ihr ging. Wir sind Zwillinge!«

Robert grub seine Finger in Jamies Schulter und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Jamie. Das Leben hatte dich verdammt hart angerempelt und damit musstest du erst mal klarkommen. Dass du deshalb keinen Kopf dafür hattest, was hier zu Hause oder bei deinen Freunden los war, daraus macht dir ganz sicher niemand einen Vorwurf. Jem schon gar nicht. Oder Zack. Selbst Charlie würde das nicht tun.« Robert lächelte und knuffte ihm sanft in den Rücken. »Obwohl sie dir vermutlich ziemlich in den Hintern treten würde, wenn sie wüsste, dass du denkst, sie könnte für Ned nicht gut sein.«

Jamie verzog das Gesicht. »Ja, vermutlich. Und das ja offensichtlich auch zu Recht.« Stöhnend verbarg er sein Gesicht wieder in den Armen.

»Aber das muss sie ja nicht unbedingt erfahren.«

Überrascht wandten die beiden sich um, als sie Jemmas Stimme von der Treppe hörten.

»Wie lange seid ihr zwei denn schon da oben?«, fragte Robert mit hochgezogener Augenbraue, als Jemma und Zack die Stufen hinunterkamen.

»Lange genug.« Zack grinste schief.

Schmunzelnd schüttelte Robert den Kopf. »Warum wundert mich das jetzt nicht?« Er stand von der Couch auf und zwinkerte Jamie zu. »Ich denke, die Sache kriegst du auch ohne Anwalt geregelt. Also verbuchen wir das hier als kleines Vater-Sohn-Gespräch, dann kann ich mir nämlich den lästigen Schreibkram mit der Rechnung sparen.«

Jamie musste grinsen. »Danke, Dad.«

Robert strubbelte ihm durchs Haar, dann raffte er seine Sachen zusammen und ging zur Treppe. Er gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn und legte Zack eine Hand auf die Schulter.

»Tut mir leid, dass deine Eltern es mal wieder vermasseln.« Er seufzte. »Ich werde nie begreifen, warum die beiden nicht sehen, was sie sich bei dir entgehen lassen.«

»Danke«, murmelte Zack verlegen, doch Robert schüttelte bloß den Kopf.

»Dafür nicht.« Er zog Zack kurz an sich und klopfte ihm väterlich auf den Rücken. Dann wandte er sich noch einmal zu seinen Zwillingen um. »In zehn Minuten erwarte ich heile Welt am Esstisch! Wie ihr zwei das hinkriegt, ist mir völlig egal, aber gönnt mir ein bisschen Familienharmonie. Schlachtfelder hab ich in der Kanzlei momentan nämlich schon mehr als genug.«

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