Читать книгу Ein Sommer in der Normandie - Nadine Roux - Страница 3
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Оглавление„Bonsoir, Chérie!“ rief Marc, als er die Wohnung betrat. Es hallte durch den Flur bis in das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer, in dem Camille saß und in der aktuellen Ausgabe von Le Point blätterte. „Chérie“ war eine Lüge, aber das „Bonsoir“ meinte er durchaus ernst, das wusste Camille. Immerhin stritten sie selten, was jedoch Camille zu verdanken war. Sie gewann jeden Streit. Marc ging ihr also aus dem Weg und begnügte sich damit, freundlich zu sein und Gewohnheiten zu frönen.
„Bonsoir, Marc.“ Camille schaute nicht auf. Sie hockte in einer Ecke des großen weißen Sofas und hielt in der freien Hand eine Tasse Ingwertee. Marc hatte ein kleines Büro nicht weit von ihrer Wohnung gemietet. Er brauchte die Trennung von Beruflichem und Privatem und konnte nur arbeiten, wenn er nicht bei Camille zu Hause war. Sein kreativer Fluss floss eher gemächlich, aber das war für ihn selber ein Zeichen von Anspruch und Qualität. Es konnte durchaus vorkommen, dass er einen Tag in seinem Büro – das er Atelier nannte – verbrachte und gerade einmal drei Sätze schrieb. Gerne verwies er dabei auf James Joyce, und Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag gebaut. Er lachte immer, wenn er sein langsames Arbeitstempo erklärte und das hatte etwas Sympathisches, aber im Grunde meinte er es sehr ernst. Ein Wunder, dass er es geschafft hatte, im letzten Jahr seinen neuen Roman zu veröffentlichen, seinen dritten überhaupt erst. Ein dünnes, schmales Büchlein über die Kunst der Erinnerung.
„Ein bisschen wie bei der Madeleine von Marcel Proust, nur dass hier eine Tasse Kaffee aus Tansania meine Erinnerung angeregt hat.“ Immer, wenn er der Presse diesen Satz sagte, zwinkerte er, denn ihm gegenüber saßen überwiegend Journalistinnen. So war die Branche eben, die Kultur, mit Ausnahme der Hochkultur, war den Frauen überlassen und Marc war das absolut recht. Und häufig hatten sie ihn auch noch auf den geringen Umfang und die trotzdem atmosphärische Dichte seines Werkes angesprochen. Marc hatte diese Bemerkung erwartet und stets antwortete er: „Es kommt nicht auf die Länge an.“ Wieder ein Zwinkern. Wie er das Erröten der Journalistinnen genoss!
Camille nahm den letzten Schluck Tee und stellte die Tasse zurück auf das Beistelltischchen, wie immer den Bodensatz mit den Schwebstoffen übriglassend. Sie wusste auch, dass Namira die Tasse morgen, in dem Glauben sie sei ganz leer, in den Geschirrspüler stellen würde und sich beim Umdrehen den Rest auf die Schürze kippen würde. Aber das war ihr ganz recht, denn wer nicht lernte musste eben erfahren. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen und Camille sah keinen Grund, sich nicht ein bisschen über die Missgeschicke anderer zu freuen.
„Bist du heute gut vorangekommen, Marc?“, fragte sie ihren Mann und sah ihn jetzt aus ihren durchdringend blauen Augen an. Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und legte beide Arme auf die Lehnen, als hätte er einen körperlich anstrengenden Tag gehabt.
„Vorankommen, was heißt das schon?“, seufzte er, „Das ganze Denken ist ein steter Fluss.“ Er schaute Camille an und zwar länger als gewöhnlich. Dann stand er auf. „Pardon, Chérie. Ich habe dich gar nicht richtig begrüßt.“ Er wollte ihr einen Kuss geben. Camille drehte sich weg und ließ sich auf die Wange küssen. So nicht, Monsieur. Auch heute nicht und am liebsten gar nicht mehr. Er verstand und ging in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Marc trank jeden Abend Kaffee, es machte ihm nichts aus, dass das Koffein ihn wach hielt, denn für gewöhnlich verbrachte er die Abende und manchmal auch die Nächte in der Bar um die Ecke oder rauchend und sich in Melancholie suhlend auf der Dachterrasse.
In den Jahren, in denen sich Camille und Marc schon kannten, hatte sie festgestellt, wie berechnend er sein konnte und tat alles dafür, dass er keinen Erfolg hatte. Marc war einer jener Menschen, die andere Menschen anzogen wie ein Magnet. Er hatte braune Locken, wie sie Frauen so gerne hatten, und trug stets einen modischen Hut und einen Dreitagebart, was ihn verwegen aussehen ließ. Um die Augen hatte er Lachfältchen und er beherrschte ein Lächeln, bei dem er den Kopf leicht schief legte, einen Finger an die Wange und dann nur einen Mundwinkel nach oben zog, wobei sich Grübchen bildeten. Auch Camille war diesem Lächeln verfallen, damals vor fast vier Jahren.
Camille war mit ihrer besten und einzigen Freundin Magali in Fontainebleau gewesen, ein beliebtes Ausflugsziel der Pariser am Wochenende. Sie waren in dem kühlen Wald spazieren gewesen und hatten anschließend ein Eis gegessen. Camille hatte gerade ihren dritten Roman erfolgreich veröffentlicht und auf der Straße erkannten sie immer mehr Leute, jedoch sprach sie niemals jemand an. Camille bemerkte aus den Augenwinkeln, wie hin und wieder jemand sein Fotohandy zückte und verstohlen auf den Auslöser drückte, wenn sie stehenblieb und sich etwa die Auslage eines Geschäftes ansah. Eine Mine verzog sie dabei nie und niemand fühlte sich ermutigt, sie anzusprechen.
An jenem Tag aber war sie gut gelaunt und Magali sowieso. Ihre Freundin war ein Sonnenschein von Person und hochschwanger gewesen. Wann immer sie sich trafen, und das war nicht allzu oft, obwohl Camille sie als beste Freundin bezeichnete, schwelgten sie in Erinnerungen an ihre Studienzeit an der Sorbonne.
„Erinnerst du dich, wie Jacqueline betrunken ihr Referat hielt? Das war so großartig. Sie wollte eigentlich über Flaubert sprechen, aber dann erzählte sie nur etwas von Apollinaire und seinen Alcools.“ Magali kicherte. Camille nicht, aber sie lächelte immerhin, denn Jacqueline hatte sich ihren Respekt verdient.
„Natürlich. Sie war hervorragend. Eine fantastische Idee, wie sie nur wenig Betrunkene je haben.“ Camille wusste, wovon sie sprach und die Erinnerung versetzte ihr einen Stich. Immer, wenn sie nicht an ihre Familie denken wollte, so wie an diesem sonnigen Tag, dann passierte es doch und riss sie in einen dunklen Abgrund aus Erinnerungen und Schwäche.
Magali stupste sie an. „Schau mal da rüber zu der Eisbude.“ Ihr Blick war an dem Eisverkäufer mit seiner schiefen weißen Mütze hängen geblieben, der gerade kunstvoll einem Kind eine Eiswaffel reichte und dann die Münze flippen ließ, die es ihm gab. „Ich glaube, du hast jetzt auch Lust auf Eis, Camille. Komm mit!“
Magali hievte sich hoch und stützte sich dabei auf Camilles Schultern.
„Ich möchte kein Eis“, sagte sie. Denn auch ihr war der Eisverkäufer nicht entgangen und sie wollte alles andere als ihm jetzt auch noch näherkommen, diesem Hallodri, diesem Zirkusclown. Aber ihre Freundin kannte sie nur zu gut, denn sie war auch in ihrer schwächsten Zeit an ihrer Seite gewesen. Damals, als sie noch über Gefühle sprach und gemeinsam mit Magali lachte, in jenen unbeschwerten Momenten, die sie sich gegönnt hatte. Aber da war sie jung und dumm, wenn auch niemand außer ihr selber das so gesehen hatte.
„Ich muss Eis essen, ich bin schwanger. Und wenn du mich nicht dorthin bringst, dann gehe ich eben alleine und der beau gosse wird sofort wissen, warum du mich nicht begleitet hast. Nicht so schüchtern!“ Magali watschelte los.
„Ich bin nicht schüchtern“, hatte Camille schwach protestiert und auch nur ganz leise. Immerhin waren sie hier in der Öffentlichkeit und sie eine erwachsene Frau und noch dazu eine erfolgreiche Schriftstellerin, man könnte sie überall erkennen. Was dachte sich Magali dabei, sie so bloßzustellen?
„Zwei Kugeln Vanille für meine Freundin und fünf Schokolade für mich!“, bestellte sie. Camille setzte ihre Sonnenbrille auf, das war alles unfassbar peinlich.
„Aber natürlich, gerne!“, lachte der Eisverkäufer und machte sich ans Werk. „Fünfmal Schokolade für die Flora von Botticelli und zweimal Vanille für Mademoiselle Brochard.“ Er reichte den Freundinnen mit Schwung und einer halben Verbeugung wie ein mittelalterlicher Diener ihre Bestellung.
„Die Flora ist blond, Sie haben ein schlechtes Gedächtnis. Haben Sie meine Bücher gelesen?“, fragte Camille ungerührt. Sie ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken, die Sonnenbrille und ihr Name gaben ihr Halt. Auch wenn es sie fast aus der Bahn warf, dass ausgerechnet dieser Typ sie erkannt hatte. Camille errötete nie, aber wäre sie nicht La Brochard gewesen, wäre das eine Situation gewesen, in der man hätte erröten können und sollen. In ihrem Eis steckte ein kleines Plastiklöffelchen in Form eines Herzen. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und viel zu alt für pubertäre Symbolik. Dieser unverschämte Eisverkäufer war aber kaum älter als sie und fand seine Idee offenbar unwiderstehlich.
„Fahren Sie morgen auch zum Feuerwerk nach Paris?“, fragte ihn Magali auch noch zu allem Überfluss, ohne dass er Camilles Frage beantwortet hatte. Am kommenden Tag war der 14. Juli und es war ein warmer Sommertag angesagt.
„Bis gerade eben hatte ich morgen noch nichts vor“, antwortete er ihr, schaute aber nur Camille an und lehnte sich nach vorn auf die Theke.
„Großartig! Camille kommt auch und ich bringe meinen Mann mit. Wir essen vorher noch etwas in der Rue des Abbesses und gehen dann hoch zur Sacré-Cœur. Auf dem Vorplatz hat man die beste Sicht. Treffen Sie uns um 19 Uhr vor der Post. Ich bin übrigens Magali.“
„Und ich bin Marc. Es wäre mir ein Vergnügen, Madame Magali und Mademoiselle Brochard.“
Camille ärgerte es, wie er sie Mademoiselle nannte. Ein einfaches Brochard hätte genügt, dieser unverschämte Kerl hatte überhaupt keinen Respekt. Unter keinen Umständen würde sie morgen bei der Verabredung auftauchen. Sie hasste Magali in diesem Moment und konnte gar nicht schnell genug wegkommen von der Eisbude, in der dieser Hansdampf vermutlich gleich der nächsten Mademoiselle einen Herzchenlöffel ins Eis steckte. Ihr Appetit war verdorben und sie entsorgte das Eis nach wenigen Happen in einen Mülleimer. Gleich würden Tauben angeflogen kommen und an der Waffel herumpicken und hoffentlich die Spuren ihrer Schwäche verwischen.
Natürlich war Camille am 14. Juli um neunzehn Uhr vor der Post an der Place des Abbesses erschienen. Der Eisverkäufer war bereits da und zum Glück auch Magali und ihr Mann Laurent. Beide waren lebenslustige Menschen und eine gute Begleitung und Camille war froh darüber, dass Schweigen nicht aufkam und sie auch nicht genötigt war mit diesem Dahergelaufenen zu sprechen. Sie bevorzugte es, ihn nur aus dem Augenwinkel zu beobachten und wenn es sein musste, ein professionelles Gespräch mit ihm zu führen. Ein Glück, dass er sich ebenfalls als Schriftsteller herausstellte. Auch er hatte gerade sein Studium abgeschlossen, allerdings an der Universität in Amiens, und war nun in seine Heimat Fontainebleau zurückgekehrt, wo sein Vater lebte. Etwas veröffentlicht hatte er noch nicht, er schrieb zu der Zeit noch an seinem Erstling. Camille und er unterhielten sich über Literatur und das Business.
„Wenn du davon leben willst, Marc, musst du etwas schreiben, was viele Menschen lesen. Auch in Frankreich wartet niemand auf den nächsten Jean-Paul Sartre. Schreiben ist Arbeit und Schriftsteller sein ein Beruf.“
Marc hatte aufgelacht und Camille dabei seine schönen, ebenmäßigen Zähne gezeigt. „Das mag sein. Aber ich brauche nicht viel. Einen Platz zum Schlafen und Luft und Liebe.“
Camille überhörte die letzte Bemerkung mit Absicht, aber sie fühlte Hitze in sich aufsteigen. Nun war sie doch in eine äußerst unangenehme Situation geraten und sie wünschte sich das Ende des Abends herbei. Dann würde sie eben wieder weglaufen, sie hatte damit kein Problem. Das war eine Art, Schwäche zu überwinden.
„Oder ich muss reich heiraten“, sagte Marc noch im Spaß und rückte seine Mütze so zurecht, dass sie ein bisschen schief saß und zu seinem unwiderstehlichen Lächeln passte.
Spitz bemerkte Camille: „Das wird dir wohl kaum möglich sein.“ Und es klang genauso scharf wie gewollt.
„Vermutlich“, antwortete Marc nur und schaute ihr tief in die Augen. Jetzt hatte Camille ein Eigentor geschossen und das erste Mal seit Jahren hatte sie beim Spielstand des Gesprächs in ihrem Kopf nicht die höhere Zahl an Treffern auf ihrer Seite.
Camille versuchte die Erinnerung an jenen 14. Juli zu verdrängen, als sie nun auf dem Sofa saß und noch immer in ihrer Zeitschrift blätterte, aber sich nicht konzentrieren konnte auf das, was sie dort eigentlich las. Mal wieder eine Regierungskrise, mal wieder Nicht-Neuigkeiten im Kampf gegen den IS und im Kulturteil nur Infos zu Blockbustern, die sie sich niemals ansehen würde.
„Ich fahre morgen zu Georges nach Fontainebleau“, sagte sie laut und hoffte, dass Marc sie in der Küche hören konnte. Es hallte in der beinahe leeren Wohnung mit den hohen Decken. „Soll ich deinem Vater etwas von dir ausrichten?“
Marc kam zurück ins Wohnzimmer und rührte in seiner Tasse Kaffee, während er Richtung Fenster ging und hinaussah. „Grüß ihn von mir und sag, dass ich an ihn denke“, sagte Marc tonlos.
„Du denkst nicht an ihn.“ Es war eine Feststellung und Camille brachte sie ebenso tonlos hervor. Marc könnte jetzt mit ihr streiten, aus der Haut fahren und ihr vorwerfen, wie herzlos sie selber war und wie grausam zu ihrem eigenen Ehemann, wie kalt und verbittert und geistig total verarmt. Er hatte ihr das alles schon mehrfach an den Kopf geworfen, aber es hatte ja doch keinen Sinn. Jede Diskussion war für Camille etwas zwischen Spiel und Krieg und sie gewann eben immer. Also zuckte er nur mit den Schultern und sagte nichts weiter. Er hoffte lediglich, dass sie nicht weiter in seinen Wunden bohrte.
„Denkst du an ihn, wie er langsam körperlich und geistig zerfällt und seine Persönlichkeit schwindet, während er im Seniorenheim sitzt und sich wünscht, seinen Sohn nochmal zu sehen?“ Sie tat es doch, in den Wunden bohren.
„Ja, daran denke ich.“ Marc hatte genug, nahm seine Tasse und verzog sich in sein Büro. Auch wenn er hier vermeintlich nicht schreiben konnte, ein Büro hatte er trotzdem. Die fünf Zimmer mussten irgendwie gefüllt werden und sowohl Camille als auch Marc brauchten dringend einen Rückzugsort. Das wurde ihm jetzt wieder einmal klar.
Camille und Marc besaßen ein Wochenendhaus in Fontainebleau, fünfzig Kilometer südöstlich von Paris. Eigentlich war es Camilles Haus, natürlich. Ein schönes Herrenhaus auf einer Lichtung im Wald, an einer schmalen, schlecht asphaltierten Straße, die sowieso nur von Wanderern genutzt wurde und an diesem Samstag von Camilles SUV-BMW, den Marc abfällig Flusspferd nannte. In der Tat waren SUV sehr bullige Autos und vom erhobenen Fahrersitz hatte man alles im Blick. Perfekt für Camille. Mit einem SUV bekam sie den Respekt, den Porschefahrer schon längst nicht mehr bekamen: Denen der Fußgänger auf den Zebrastreifen. An diesem Samstag aber fuhr Camille nicht schnell und auch nicht aggressiv, sondern eher gemächlich, fast nachdenklich. Es war ausnahmsweise ein sonniger Novembertag und die Luft klar und kühl. Als sie in die Straße zu ihrem Haus einbog, wirbelten letzte Herbstblätter durch die Luft und auf die Straße. Leise öffnete sich das elektrische Tor und sie fuhr hindurch, über helle Kieselsteine, die unter den Reifen knirschten. Dann stellte sie den Wagen vor dem Haus ab und blieb einen Moment darin sitzen. Wie friedlich es hier war, ein kleines Refugium, wobei es „klein“ nicht traf. In diesem Haus könnte sie eine Großfamilie und zwanzig Angestellte unterbringen. Aber sie hatte diesen Ort ganz für sich. Die langen Flure, die leeren Zimmer, das alte Mobiliar. Sie würde zunächst die Fensterläden öffnen und die kalte Luft hereinlassen und dann den großen Marmorkamin im Wohnzimmer anheizen. Schließlich würde sie sich in eine Decke eingewickelt in den alten Ohrensessel setzen und durch die großen Fenster hinaus in den Garten schauen. Zeit zum Durchatmen.
Georges erwartete sie am Nachmittag. Die Seniorenresidenz lag am anderen Ende von Fontainebleau, Richtung Seine und damit deutlich weniger idyllisch als Camilles Refugium. Aber Georges fühlte sich dort wohl, nachdem er vor einem Jahr dort eingezogen war. Es gab einen kleinen parkähnlichen Garten hinter der Residenz, in dem sie mit ihm und dem Rollator schon oft spazieren gewesen war. Ging es ihm gut, würde sie das auch heute tun. In der Sonne ist man immer weniger alt.
„Camille! Wie schön dich zu sehen“, begrüßte Georges sie und reckte seine Arme, um sich drücken zu lassen. Er hatte seine Schwiegertochter erkannt, also war heute einer der guten Tage. „Hast du mir wieder diese Macarons mitgebracht? Hier gibt es nie richtigen Kuchen. Das wäre wohl zu viel des Guten für die Alten“, sagte er und lächelte Camille an. Ihm fehlten bereits einige Zähne, aber er liebte Essen und hatte auch mit fünfundachtzig noch einen gesunden Appetit.
„Natürlich, Papa. Von Ladurée, den Besten der Stadt.“ Camille setzte eine Pappkartonbox vor ihm ab und zog sich einen Stuhl heran. Er hatte es schön in seinem Zimmer. An der Wand hingen Fotos seines alten Häuschens nicht weit von hier, dem einst üppigen Garten und seiner Familie. Auf einem Foto über seinem Bett grinste ein kleiner Junge mit Zahnlücke in die Kamera und hielt einen großen Mistkäfer auf der Handfläche. Wie einen Engel umrahmten braune Locken sein Gesicht.
„Ist das ein Freund von dir, Ladurée?“
„Nein“, lachte Camille. „Das ist ein Teesalon unweit der Place de la Concorde.“
„Ach, ich dachte schon, du kennst diesen Ladurée persönlich. Du kennst doch so viele Leute aus dem Fernsehen und in Paris. Jedenfalls hättest du ihm sagen können, dass ich Pistazie am liebsten mag.“ Georges steckte sich einen grünen Macaron in den Mund. Er biss nicht einmal ab und bewunderte dann die Crème und die leicht knusprige Kruste. So wie Camille es kannte in den Kreisen, die sie streifte, wenn sie Lesungen hielt, in TV-Shows ging oder einfach nur, wenn sie sich eine neue, sündhaft teure Uhr gönnte. Diese Leute waren überall und Camille hatte für sie nichts übrig. Bon chic, bon genre, BCBG nannte man sie in Paris. Sie selber hatte genug Geld, um dazu zu gehören, aber nicht genug Eitelkeit. Nein, dieser Mann vor ihr war ein wahrer Genießer der alten Schule, dachte sie und lächelte ihn an. Sie wünschte sich, sie könnte auch einfach zu Ladurée gehen, Tee und zwei Macarons bestellen und sie dann mit einem Bissen aufessen, ohne dass die Leute sie bemerkten und ohne dass unvorteilhafte Fotos im Internet oder in der Presse auftauchten. Immer musste sie Haltung bewahren und vor allem Angst einflößend sein. Hier bei Georges aber konnte sie einfach Camille sein.
Sie half ihrem Schwiegervater beim Anziehen der Jacke, legte ihm den grünen Kaschmirschal um, den sie ihm letzten Winter geschenkt hatte, und schob ihn in seinem Rollstuhl nach draußen. Heute war zwar ein guter Tag, aber wenn es dem Kopf gut ging, ging es meistens den Beinen schlecht oder umgekehrt. Aber der alte Mann nahm es mit Humor und ließ sich nur zu gerne von seiner hübschen Schwiegertochter durch den Park fahren. Camille machte es nichts aus, dass man sie hier erkannte und dass sie ein Lächeln auf den Lippen hatte. Von Senioren ging keinerlei Gefahr aus. Sie wunderten sich vielleicht, sie hier zu treffen, aber keiner hatte jemals Angst vor ihr oder schaute sie mit schiefem Blick an. Das war der Segen des Alters, man versöhnte sich mit der Welt und stellte nicht Fotos ins Internet.
Sie beobachteten, wie ein kleiner Windwirbel in einer Ecke Blätter in die Luft hob, sie kreisen und dann über den ganzen Park verstreut wieder fallen ließ. Dann erfasste der Wirbel eine Aloe in einem Beet vor ihnen und wirbelte schließlich auch Georges und Camille durchs Haar, das sie heute offen trug.
„Eine Windhose, Camille! Das ist ein Wunder, n’est-ce pas? Windstille und dann eine Windhose.“ Georges freute sich darüber und lachte. Er hatte immer ein Auge für die schönen Dinge. Sein Garten war ein Prachtwerk gewesen, ein Eden. Er sah die kleinen Details und freute sich an ihnen. Marc muss das auch gelernt haben, dachte Camille und erinnerte sich an das Foto über Georges‘ Bett. Wo ging es nur verloren?
Georges sagte eine Weile nichts und fragte dann: „Hast du eine Nachricht von meinem Sohn?“
„Er lässt dich grüßen und sagt, er denke an dich.“
„Das tut er nicht. Was macht er heute?“
Camille log niemals. Das brauchte sie auch nicht, denn Lügen waren immer dazu da, um jemandem zu gefallen oder ihn nicht zu verletzen. Beides Dinge, die La Brochard nicht interessierten. Auch für die Menschen, die sie mochte, machte sie keine Ausnahme. Es tat ihr aber sehr leid, dass sie Georges sagen musste, dass Marc heute in seinem Büro war und arbeitete.
„Er hätte auch kommen können, er ist doch Schriftsteller. Er hat Zeit, wann er will.“ Georges schlug mit einer Hand auf die Armlehne seines Rollstuhls. Camille nickte nur, aber dann fiel ihr ein, dass er das nicht sehen konnte.
„Ja“, sagte sie knapp. Als beide wieder schwiegen, musste Camille zurückdenken an ihre erste Begegnung mit Georges und warum er alles ein bisschen verändert hatte in ihrem Leben.
Camille hatte sich unwohl gefühlt an jenem Tag im Juni vor drei Jahren. Ihre Freizeit verbrachte sie fast ausschließlich vor ihrem Laptop, wie auch ihre Arbeitszeit. Nur dass sie in ihrer Freizeit auf Wikipedia surfte und sich dort von einem Link zum nächsten führen ließ. Eine der wenigen Situationen, in denen sie die Kontrolle abgab und sich einfach führen ließ durch den Dschungel an Informationen, die Magie des Wissens. Und mit Magali erinnerte sie sich hin und wieder daran, dass das Leben Spaß machte. Sie trafen sich meistens außerhalb von Paris, fuhren Fahrrad im Val d’Oise oder spazierten durch den Schlossgarten von Versailles, wo es hauptsächlich ausländische Touristen gab. Und nun war dieser Marc in ihrem Leben aufgetaucht und hatte es quasi ohne ihre Zustimmung durcheinandergewirbelt. Das heißt, leider hatte sie zugestimmt und das war der Fehler gewesen. Ein halbes Jahr hatte es gedauert, bis sie seine Familie kennenlernen sollte, die lediglich aus Georges bestand. Sie hatte keinen Grund darin gesehen, seine Familie kennenzulernen, denn ihr Verhältnis betraf schließlich nur sie zwei. Sie kannte seine Freunde nicht und sie hatte auch nicht vor, ihn in ihr Leben zu lassen und gleichzeitig in seines einzutauchen. Aber dann war es geschehen, sie waren plötzlich verlobt. Camille verdrängte die Erinnerung daran, als sie Georges durch den Park des Seniorenheims schob, so wie sie sie damals verdrängt hatte, als sie das erste Mal vor dem Tor zu seinem Häuschen in Fontainebleau gestanden hatte, mit Marc an ihrer Seite. Sie trug eine Sonnenbrille, die Haare zu einem Knoten gebunden und war angezogen wie immer, wenn sie aus dem Haus ging zu einem offiziellen Termin: Dunkelblaue Stoffhose, dunkelblauer Blazer, darunter ein weißes T-Shirt. Lediglich Sandalen mit Absatz trug sie als Zugeständnis, dass das hier kein Businesstermin war. Camille trug niemals eine Handtasche. Sie besaß einen dunkelbraunen Aktenkoffer, der mit Leder bezogen war. Erst als sie auch den edlen Metallfüllfederhalter in ihrer linken Brusttasche spürte, fühlte sie die Sicherheit, die sie jetzt brauchte.
Ein alter Mann öffnete die Tür und Camille hielt ihn zuerst für Marcs Großvater, er musste um die achtzig sein, Marc war aber erst einunddreißig.
„Papa, schön dich zu sehen“, sagte Marc und Camille wunderte sich. Er hatte nie über seinen Vater gesprochen. Georges umarmte und herzte seinen Sohn, aber zu Camille sagte er: „Ich kaufe heute keine Schuhbürsten, tut mir leid“, und ließ seinen Blick an ihr herab auf den Koffer schweifen.
„Aber das ist doch Camille, meine Verlobte!“, lachte Marc da.
„Weiß ich doch, mein Sohn, weiß ich doch. Kommen Sie herein, Mademoiselle Camille. Ich nehme Ihnen Ihren Koffer ab, schauen Sie, wir stellen ihn hier hinter die Tür, da ist es warm und trocken für das gute Köfferchen.“
Er zog ihr den Aktenkoffer aus der Hand. „Aber der ist ja federleicht, Mademoiselle! Haben Sie darin Luft und Liebe?“
Camille lächelte gequält und wollte nicht antworten, aber Marc tat das für sie. „Da sind nur Lippenstift, ein Spiegel und ihre Geldbörse drin. Eine typische Frauenhandtasche, sieht nur nicht so aus. Sie hat da so einen Tick, denk dir nichts dabei, Papa.“
Camille wollte nur weg. Sie war hier falsch, komplett falsch. Sie war hier falsch und sie war in ihrem Leben falsch. Sie wollte zurück nach Paris, an ihren Schreibtisch oder ihretwegen auch in eines dieser Interviews, die man ständig mit ihr führen wollte. Dort konnte sie La Brochard sein. Es wurde noch schlimmer, als Georges ihnen dreien Erdbeersirup in ein Duralex-Glas einschenkte und mit billigem Mineralwasser vom Carrefour aufgoss. Das war ihre Kindheit. Wie oft hatte sie mit ihrem Vater im Innenhof vor ihrer kleinen Wohnung gesessen und Sirup aus diesen Gläsern getrunken. Schlichte Gläser, die mittlerweile zum Nationalheiligtum Frankreichs geworden waren, weil wohl jeder sich mit ihnen an seine Kindheit erinnerte und wie man die Zahlen auf dem Glasboden verglich. Und dann sagte Marc auch noch zu allem Überfluss: „Ich habe eine Dreiundvierzig, und ihr?“
Camille kamen die Tränen. Wie dumm das eigentlich war, denn die Zahlen waren alles andere als magisch, sondern bezeichneten nur die Glasformen, in denen die Gläser geformt werden.
„Vierzig!“, rief Georges und blickte kurz darauf auf Camille, die sich nicht rührte und nur auf den Tisch starrte, in der Hoffnung, dass die Tränen nicht fließen würden. Georges nahm ihr das Glas aus der Hand und schaute darunter. „Fünfundvierzig. Camille lebt am längsten von uns dreien“, sagte er nur, aber ohne seinen Enthusiasmus von vor wenigen Sekunden. Er hatte bemerkt, dass mit Camille etwas nicht stimmte. Und überhaupt, irgendetwas stimmte wohl grundsätzlich mir ihr nicht, dachte er sich und musste das ändern.
Schweigend tranken sie noch ihren Sirup aus, dann holte Georges aus dem kleinen Wohnzimmer seine Lesebrille und ein Buch. Camille erkannte es sofort und war ein bisschen erleichtert, jetzt wohl über die Dinge sprechen zu können, von denen sie etwas verstand, ein fachliches Gespräch über ihren Roman zu führen, welcher es auch immer war. Aber Georges stellte sich nur neben sie und hielt das Buch neben ihr Gesicht. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah.
„Nicht bewegen!“, sagte er.
Camille zog die Augenbrauen zusammen, so wie sie es immer tat, wenn ihr unbehaglich war und sie etwas hasste. Doch bevor sie ihre Fassung wiedererlangen und protestieren konnte, hatte er das Buch schon wieder heruntergenommen und auf den Tisch gelegt.
„Passt genau“, sagte er nur. „Das sind Sie, Mademoiselle. Ich dachte mir, sie sehen ein bisschen anders aus als auf Ihren Büchern, aber das sind Sie ja wirklich.“
Hätte das jemand anderes als Georges gesagt, dem Vater des Mannes, den sie heiraten würde, hätte sie jetzt Stolz empfunden. Aber irgendwie fiel es ihr hier schwer, La Brochard zu sein und hart und abweisend. Denn sie wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Alte ihr das nicht durchgehen lassen würde. Er würde sich wiederum einen Spaß daraus machen, sie wie eine Nuss zu knacken und sie wusste, dass ihm das noch besser gelingen würde als seinem Sohn, und schon dort hatte es irgendwie geklappt, zumindest halb.
Außerdem brachte sie aus dem Konzept, dass er gar nichts weiter sagte. Er legte das Buch auf den Tisch und goss sich dann Wasser in sein Glas. Es war für Camille an der Zeit, die Kontrolle zurückzuerlangen.
„Haben Sie es gelesen?“, fragte sie, so wie sie es immer tat.
„Was gelesen?“
„Mein Buch, L’affiche, der Aushang. Es war mein Erstlingswerk. Es liegt hier auf dem Tisch.“ Gut, würde sie den alten Mann doch behandeln wie La Brochard Menschen behandelte, die schwer von Begriff waren und es nicht mit ihr aufnehmen konnten.
„Das da? Nein.“ Diese Antwort hatte sie nicht erwartet und sie schockierte sie. „Aber es ist gut. Das Burgund als Schauplatz, der Aushang eines angekündigten Mordes in einem Zirkuszelt. Wirklich gut, Mademoiselle. Sie sollten weiter schreiben.“ Er sagte es ohne Ironie und Spott. Es verwirrte Camille.
„Aber Sie haben es doch gar nicht gelesen, Monsieur Laffont!“
„Das muss ich doch auch nicht, um zu wissen, dass es gut ist. Ich weiß auch, dass Ihre Figuren plastisch und lebendig sind. Spielt es an der Côte d’Or oder weiter oben bei Chablis?“
„Bei Chablis“, antwortete Camille, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, noch irgendeine Frage von diesem unverschämten Alten zu beantworten.
„Chablis, ja.“, sagte er und schwieg einen Moment, während er in die Leere starrte. „Sehr gut, Chablis.“
Camille fasste sich wieder. „Nehmen Sie mich auf den Arm, Monsieur? Sie scheinen es doch gelesen zu haben, Sie kennen die Geschichte und die Figuren offenbar.“
„Nein, habe ich nicht. Ich mag keine Krimis. Ich habe das Buch wegen Ihnen, Marc hat es mir mitgebracht. Ich muss es nicht lesen, ich kann ein Buch auch besprechen, ohne dass ich es gelesen habe. Kennen Sie Ephraim Kishon? In einer Kurzgeschichte von ihm geht es genau darum, wie man ein Buch bespricht, ohne es gelesen zu haben. Das macht doch heute jeder so, n’est-ce pas? Wer liest denn noch Bücher?“
Er wollte sie provozieren, ganz klar, und sie wollte darauf nicht eingehen. Also sagte sie nur: „Aber den Kishon haben Sie ja anscheinend gelesen. Wenn Sie ihrer Linie wenigstens treu geblieben wären und auch nur so getan hätten, als hätten Sie Kishon gelesen!“
Da erstarrte Georges für einen Moment und dachte nach. Dann brach er in lautes Lachen aus.
„Sie haben recht, Camille, Sie haben recht! Ihr Verstand ist gestochen scharf, dabei sind Sie doch erst sechsundzwanzig! Gefällt mir, gefällt mir. Marc kann viel von Ihnen lernen.“ Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter und Camille sah, wie der gequält lächelte.
„Lasst uns doch in den Garten gehen, Papa. Zeig uns mal, was du alles gepflanzt hast“, versuchte Marc das Thema zu wechseln.
„Eine gute Idee! Aber ich kann euch nicht alles zeigen, was ich gepflanzt habe, dann seid ihr morgen noch hier. Und euch Städtern müsste man absolut alles erklären, ihr könnt ja nicht einmal eine Primel von einer Tulpe unterscheiden.“ An dieser Stelle lachte er erneut kurz auf. Als Marc erleichtert aufstehen wollte, drückte Georges ihn zurück auf seinen Stuhl.
„Du bleibst schön hier. Ich gehe mit Camille alleine.“
„Aber Papa…“, brachte Marc hervor und konnte dann nur verwirrt und kommentarlos zusehen, wie sein Vater seine Verlobte in den Garten entführte.
„Achtung, Tür quietscht!“, warnte er Camille, die ebenso verwirrt war wie Marc und sich ebenso unbehaglich fühlte. Georges war ihr nicht geheuer. Tatsächlich quietschte die Tür laut und eröffnete dann den Blick in ein Paradies, den Garten Eden, den Himmel auf Erden. Mehrere Rosenbögen umfassten den schmalen Kiespfad, Sonnenblumen standen höher als sie beide groß waren und neigten ihre Köpfe der gleißenden Lichtquelle entgegen. Eine dicke Hummel schleppte ihren schweren Körper von Blume zu Blume, offenbar benebelt vom Pollenrausch. Die Luft war süß und schwer. Camille erkannte Malven, Margeriten und rote Tulpen in den Beeten, sofern man sie als Beete bezeichnen konnte, denn eigentlich schien alles nur zu wuchern ohne Anfang und Ende. Sie lächelte in sich hinein, denn sie kannte sich besser mit Blumen aus, als Georges es dachte. Ihre Kindheit im Hinterhof machte es möglich. Georges führte sie weiter nach hinten in den kleinen, vollgestopften Garten, wo er Gemüse gepflanzt hatte und auch einiges an Obst. Ehe sie es sich versah, sagte er: „Mund auf!“ und steckte ihr eine süße Erdbeere in den Mund. Sie war sonnenwarm und zerging auf der Zunge. Das Licht blendete sie und außerdem war ihr warm, ihre Wangen mussten glühen. Sie hatte die Erdbeere kaum hinuntergeschluckt, als Georges ihr wieder etwas vor die Nase hielt, diesmal eine gelbe Himbeere, die noch viel mehr auf der Zunge zerging und gar nichts von der Säure der roten Himbeeren hatte. Diesmal schaffte sie es nicht zu kauen und zu schlucken, als Georges ihr mit dem nächsten „Mund auf!“ zwei Blaubeeren zuteilte und daraufhin gleich parfümsüße Walderdbeeren, die in kleinen Büscheln wuchsen.
„Georges!“, protestierte Camille mühsam, denn sie bekam kaum ein Wort heraus, ohne dass er mit neuen Köstlichkeiten vor ihrer Nase fuchtelte, die sich nun in ihrem Mund zu dem besten Obstsalat mischten, den sie je gekostet hatte. Darüber vergaß sie auch ganz, ihn „Monsieur Laffont“ zu nennen und es fiel ihr nicht einmal auf. Bei den Kirschen dann passierte es: Eine fiel auf ihr weißes T-Shirt und hinterließ sogleich einen dicken roten Fleck. Camille erstarrte.
„Huch!“, machte Georges nur, „Pardon.“ Er sah Camille in die Augen, als sie aufblickte. Sie wusste, dass ihr Mund mit Blaubeer- und Erdbeersaft verschmiert war und nun war auch noch ihr T-Shirt ruiniert. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Aber der Blick in Georges’ ruhige und weise Augen verriet, dass er für seinen Teil ganz genau wusste, was er getan hatte und Camille war in seine Falle geraten. Seine Menschlichkeits-Falle, wie er es später nennen sollte. Schließlich lachten beide, das heißt Georges lachte herzhaft und Camille konnte sich ein verlegenes Lächeln abringen, das ihre schönen weißen Zähne zeigte, zwischen denen nun kaum sichtbar, aber für Camille mehr als deutlich spürbar Himbeersamen klebten. Er hatte sie bloßgestellt, aber irgendwie befreit, von sich selber, von La Brochard.
„Mademoiselle Camille“, sagte Georges und ergriff ihre Schultern, „Ich lese zwar keine Bücher. Aber ich lese Menschen.“
Seit diesem ersten Treffen waren Camille und Georges also irgendwie Freunde und Camille fühlte sich in seiner Gegenwart zu Hause. Nun schob sie ihn durch den spätherbstlichen Park der Seniorenresidenz und fragte sich, wie viel Zeit sie wohl noch miteinander haben würden.
„Camille, schieb doch mal ein bisschen schneller“, sagte Georges plötzlich und richtete sich in seinem Rollstuhl auf. Dann strich er sich durch die Haare. „Da vorne ist das Mädchen, das mir gefällt.“
Irgendwie rührte es Camille und sie hatte auch keine Zeit, um Bitterkeit zu fühlen, wenn sie daran dachte, dass sein Sohn genauso ein Charmeur war. Das Mädchen war eine alte Dame, kaum jünger als er selber, und sie saß mit ihrer Familie auf einer Bank, den Gehstock angelehnt.
„Bonjour, Mademoiselle, bonjour!“, sagte Georges, als sie an ihnen vorbeifuhren und lupfte seinen Hut. Camille lächelte in sich hinein.
Am Abend zogen Wolken auf und dann gar ein Sturm, der den Wald durchrüttelte, als Camille wieder alleine in ihrem großen Herrenhaus saß. Morgen Abend würde sie nach Paris zurückfahren, zurück in ihr richtiges Leben, das sie so sehr hasste. Sie liebte das Schreiben und sie liebte auch, wie die Leute das mochten, was sie schrieb. Und irgendwie mochte sie auch La Brochard, aber im Grund hasste sie ihr Leben. Ein Glück, dass auch das zu La Brochard passte.
Aus Paris hatte sie nur einen Baguette-Rest vom Morgen mitgebracht und in der Speisekammer hier befand sich fast nichts als Wein, ein paar Flaschen Wasser und eine kleine Dose Foie Gras. Aber Camille wollte jetzt keine Foie Gras. Sie schürte das Feuer im Kamin und ging dann hinüber in den kalten Flur zu dem alten Telefon, das an der Wand hing und bereits vergilbt war. Sie wählte die Nummer des Pizzaservices, dessen Reklame sie heute Morgen im Briefkasten gefunden hatte. Sie überlegte kurz, ob sie sich als jemand anderes ausgeben sollte, ließ es dann aber. Camille Brochard bestellt undercover Pizza, wie geschmacklos, dachte sie sich. Auch ließ sie den Gedanken fallen, sich zumindest ein bisschen zu verkleiden, bevor der Lieferant klingelte. Eine Sonnenbrille wäre zu lächerlich, eine Perücke besaß sie nicht und ohne all das würde er sie sowieso erkennen, wenn er sie kannte. Wozu also? Und nicht nur das. War ihr nicht eigentlich alles egal? Natürlich hatte sie ihr Image, und billige Pizza zu bestellen gehörte nicht dazu, aber Lügen gehörten auch nicht dazu.
„Einmal Pizza au jambon für Madame Brochard!“, rief der Pizzajunge, als er von dem Liefermoped gestiegen und seine Wärmebox geöffnet hatte. Er parkte hinter Camilles BMW und das Bild belustigte sie irgendwie, er wirkte wie ein Fremdkörper hier in ihrem Vorgarten mit den Kieselsteinen und dem Brunnen.
„Merci“, sagte sie und hielt ihm zwanzig Euro vor die Nase. „Der Rest ist für Sie.“ Camille wollte die Tür gerade wieder schließen und sich freuen, dass alles glattgelaufen war. Aber entgegen ihrer Erwartung blieb der Junge dort stehen und starrte sie nur an. Ihr Blick verhärtete sich.
„Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Wurzeln geschlagen?“, spottete sie in eiskaltem Ton und schaute den armen Jungen mit seiner albernen Pizzalieferantenkluft von oben bis unten an.
„Nein nein, entschuldigen Sie!“ Er stolperte rückwärts die Treppe herunter und begab sich dann eilig zu seinem Moped.
„Hey!“, rief ihm Camille hinterher, bevor er aufsteigen und losfahren konnte. „Sagen Sie mir Ihren Namen!“, forderte sie ihn auf und es war keine Bitte.
„Luc Martini“ stotterte der Junge. „Aus Avon“, fügte er noch hinzu, obwohl sie gar nicht danach gefragt hatte.
„Ich werde ihn mir merken, Luc Martini“ sagte sie und blickte ihm finster nach.
Gefahr gebannt. Er würde niemandem erzählen, dass er Camille Brochard Pizza geliefert hatte. Doch nicht nur das war eine Erkenntnis, die sie gerade erlangt hatte. Selbst der kleine Pizzajunge kannte ihr Gesicht. Somit war es wohl offiziell: Sie war Frankreichs bekannteste Krimiautorin.