Читать книгу Ein Sommer in der Normandie - Nadine Roux - Страница 4
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Оглавление„Camille, dein letzter Roman war ein Splatter. Ein lupenreiner Splatter. Kannst du vielleicht jetzt etwas… Angenehmeres schreiben?“
Die April-Sonne fiel in Bérénice Cléments Büro, hier in dem verglasten Kasten in La Défense. Man konnte weit über Paris schauen und unter ihnen auf die Grande Arche aus Marmor, Glas und Beton. Was für eine Verschwendung, dachte sich Camille jedes Mal, wenn sie hier war. Und hässlich noch dazu.
„Hörst du mir zu, Camille?“, fragte Bérénice und stellte fest, dass das nicht der Fall war. Was war nur los mit dieser Frau? Hoffentlich wurde sie nicht krank oder gab die Schriftstellerei auf, denn sie war eine Goldgrube für den Verlag, und dass Bérénice ihre Lektorin war, öffnete dieser wohl noch auf Jahre sämtliche Karrieretüren. „Ich sagte, dass L’amertume ein Splatter ist. Du hast ordentlich gemetzelt. Aber in Paris gibt es ja auch so viele unliebsame Menschen, nicht wahr?“ Sie lachte kurz auf, eines dieser gefälligen und selbstverliebten Gesten, die offenbar zur festen Gesprächsregel wurden. Camille hasste es.
„Gemetzel? Finde ich nicht“, sagte sie daher nur kurz angebunden und verschränkte die Arme vor der Brust.
Bérénice wurde ernst und strich sich eine Strähne ihres kurzen braunen Bobs aus dem Gesicht, als sie sich auf den Tisch stützte. „Camille, darin sind nicht weniger als zwölf Leichen und alles Männer. Ahnst du nicht, was die Leute von dir denken?“
„Das ist mir gleich. Außerdem ist es eigentlich nur eine Leiche.“
„Ja, vermutlich. Alle zwölf sehen aus wie Marc Laffont. Weiß er davon?“
„Nein, er liest nichts von mir.“
Bérénice Clément nickte und Camille wusste nicht, ob sie ihren Gesichtsausdruck als Erleichterung oder Bedauern deuten sollte. Aber bevor sie sich entscheiden konnte, war der Anflug eines Gefühls bei Bérénice verschwunden und sie war wieder ganz Profi.
„Jedenfalls möchten wir, dass du als Nächstes etwas Angenehmeres schreibst. Einen Krimi, natürlich, aber mit… farbenfroheren Seiten, wenn du weißt, was ich meine. Dein Debüt, L’affiche, war herausragend und unheimlich kreativ. Von L’abîme ganz zu schweigen. Das Périgord – ein Traum! Die Leute mögen Regio-Krimis, wir kommen ja fast mit dem Druck nicht hinterher.“ Bérénice lächelte Camille an und es sollte sie ermutigen. Die sah aber nur ihre Pferdezähne und wollte am liebsten das Gespräch schnell beenden und verschwinden.
„Also nichts über Paris, ja?“ Camille wollte nur raus aus diesem Büro. Niemand hier sollte merken, dass sie nicht mal eine Idee im Kopf hatte für ein neues Buch und sie hatte, seitdem sie L’amertume beendet hatte, kein Wort mehr geschrieben. Das Buch war vor ein paar Wochen erschienen und sie gab Interviews und Lesungen und ging in Talkshows, auf Messen und zu Literaturdîners. Aber geschrieben hatte sie nicht mehr. Es kam ihr vor, als sei sie mit ihrem Werk über Bitterkeit gewissermaßen an ein Ende gekommen und es machte sie depressiv. Sie konnte jetzt unmöglich ein Buch mit „farbenfroheren Seiten“ schreiben. Und das auch noch als Krimi. Sie hätte am liebsten laut aufgelacht, aber auch dazu war sie zu niedergeschlagen.
„Nein, nichts über Paris. Die Leute wollen Urlaub in den Köpfen. Und natürlich eine klitztekleine Leiche und ein bisschen Blut. Du weißt schon.“ Wieder bestaunte Camille den Überbiss ihrer Lektorin und musste auch noch zusehen, wie ihre Oberlippe am ausladenden Zahnfleisch kaum merklich hängenblieb, als sie den Mund schloss.
Camille antwortete nichts, denn eine Frage hatte ihr Gegenüber ja nicht gestellt und daher genoss sie das Unbehagen derer, die auf ein „Du weißt schon“ eine Antwort erhalten möchten.
„Wie dem auch sei. Überleg dir was. Fahr diesen Sommer ans Meer, etwa auf die Île de Ré, dazu hatten wir noch nichts, oder fahr in die Normandie, meinetwegen…“
„… Habe ich mich vertan? Bin ich hier in einem Reisebüro gelandet?“, fiel Camille ihr ins Wort und musste wieder ein nervöses Lachen von Bérénice ertragen.
„Glaub mir, wenn die Leute, die deine Bücher lesen, auch noch bei uns Reisen buchen würden, befände sich hinter dieser Tür dort drüben nicht der Flur, sondern ein Geldspeicher.“ Jetzt reichte es ihr auch. Warum war Camille Brochard nur eine so anstrengende Person? Da blieb ihr nur, sie mit Zuckerbrot und Peitsche des Raumes zu verweisen. Es war alles gesagt, ein paar Minuten länger und diese Frau würde ihr noch eine kreative Pause aus den Rippen leiern. Ein Glück, dass sie endlich aufstand.
„In die Normandie, ja?“ Camille schien einen Moment lang nachgedacht zu haben und das machte Bérénice stutzig.
„Ganz wie du willst. Normandie wäre super.“
„Ich melde mich, wenn ich fertig bin“, sagte Camille noch und wollte gehen, wie immer ohne eine Abschiedsformel, denn sie hasste Floskeln.
Doch Bérénice war noch etwas eingefallen: „Denkst du an deine Termine im Juli? Du weißt schon, die Vorabsichtung des Films und dann die Medientermine? Ich schicke dir den Ablaufplan noch zu.“
Camille hatte nicht das geringste Interesse, die TV-Verfilmung von L’affiche zu sehen und mit dem Produzenten zusammen in einem schummrigen kleinen Kino zu sitzen, bei Champagner und Häppchen. Sie hatte nicht vor, gefällig zu sein, ganz und gar nicht. Ihr lag auch nichts an Zeitverschwendung, sie könnte ihm gleich jetzt eine SMS schicken und sagen, dass ihr der Film am Hintern vorbeigehe. Aber das konnte Probleme schaffen, die sie nicht wollte. Denn so sehr ihr vieles gleichgültig war, sie verdiente gerne Geld. Und der Verkauf der Filmrechte hatte ihr einiges eingebracht, sodass sie nichts dagegen hatte, wenn jemand auch aus den anderen Romanen Filme machen wollte. Es stand ihr also bevor, zumindest nicht zu unfreundlich zu sein und sich dem Terminplan von Mademoiselle Clément zu fügen. Nun gut, bis Juli war noch viel Zeit und zwei Wochen Film gucken, Interviews geben und sich fotografieren zu lassen war nicht das Schlimmste der Welt, schon gar nicht, wenn man an einer Schreibblockade litt und wenn zu Hause ein Mann saß, der nicht wusste, dass sie bereits wusste, was er heute Abend machen würde.
„Ich habe heute Abend eine Lesung in Saint-Germain-en-Laye und schlafe im Hotel. Du weißt ja, ich fahre nicht gerne im Taxi zurück“, hatte Marc beim Frühstück gesagt, das sie heute eher aus Versehen gemeinsam eingenommen hatten. Camille schnitt ihm ein Stück Baguette auf und legte es ihm auf den Teller. Sie hasste es, wenn er das machte und dabei Krümel auf dem Tisch hinterließ.
„Soll ich dich abholen?“ Ihre Frage verwirrte ihn und seine Augen weiteten sich ein Stück.
„Nein nein, nicht nötig. Danke, Chérie.“
Camille stierte ihn mit eisigem Blick an und sah mit Vergnügen zu, wie er sich wand. „Ich wusste gar nichts von deiner Lesung, sie steht nicht in deinem Plan.“
„Nun… es ist eine private Lesung. Du weißt ja, in Saint-Germain kommt denen das Geld aus den Ohren und ein gebildeter Gönner hätte mich gerne bei einem kleinen Dîner als Überraschungsgast dabei.“ Diese Erklärung hatte er geradezu heruntergerattert und fügte dann langsam hinzu: „Camille, ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mich selber um meine Termine kümmere. Du machst das ganz großartig, auf jeden Fall, aber ich bekomme es auch selber hin.“
Oh ja, seine privaten Lesungen würde er selber organisieren können, dessen war sie sich sicher. Aber was den Rest anging, würde er versagen. Er nutzte ihre Kontakte, er lebte eine Karriere, die er ihr zu verdanken hatte und sie wollte zumindest dafür sorgen, dass er nicht ganz als brotloser Künstler allabendlich in einer der Kneipen am Montmartre versackte, das würde auch ein schlechtes Licht auf sie werfen. Also hatte sie dafür gesorgt, dass er regelmäßiger veröffentlichte und Interviews und Lesungen bekam. Seine Privatveranstaltungen stießen ihr jedoch bitter auf.
„Mach das“, sagte sie nur gleichgültig. Sie hatte ihm und sich selber genug Unbehagen bereitet und wollte nicht durchblicken lassen, dass sie alles wusste. Noch nicht.
Da er selber als anspruchsvoller Literat natürlich keinen Wagen besaß, hatte er sich in letzter Zeit hin und wieder ihren geborgt, um zu Veranstaltungen zu fahren oder Freunde zu treffen, wie er ganz beiläufig mitgeteilt hatte. Und hinterher konnte Camille nicht anders, als zu denken „Alle Achtung!“, wenn sie in ihrem BMW lange Haare unterschiedlicher Farbe fand. Bei den ersten „Veranstaltungen“ kurz nach ihrer Hochzeit waren es blonde, dann zweimal rote und Weihnachten letzten Jahres braune gewesen. Und seitdem immer nur die immer gleichen braunen, eher kurzen glatten Haare. An einer Ecke des Ledersitzes fand sie Spuren von abgeplatztem Nagellack und sie bildete sich auch ein, das Parfum zu riechen. Wut spürte sie nie, aber durchaus Verwunderung für seine… Aktivität und – sie konnte es nicht verneinen – ihre eigene Bitterkeit. Dabei hatte sie selber ihren Teil dazu beigetragen, dass es soweit gekommen war und im Geiste lachte sie bitter auf, wenn sich der Gedanke in ihrem Hinterkopf formte, dass er angefangen hatte.
Es war ein sonniger und windstiller Nachmittag, der die Sonne durch den Dunst der Stadt filterte und Paris in ein weiches Licht tauchte. Der Park unterhalb der Sacré-Cœur grünte und blühte und ließ es geduldig geschehen, dass sich Scharen von Touristen hinauf zur Basilika schleppten und nach unzähligen Fotos und Selfies mit dämlichen Posen wieder hinunter. Aufdringliche Souvenirverkäufer schüttelten Ketten, an denen Mini-Eiffeltürme klapperten. Camille kannte diesen Platz nur zu gut und er war ihr am liebsten, wenn niemand mehr hier war. Spätabends oder manchmal in der Nacht kam sie her und blickte auf das Lichtermeer von Paris, am liebsten bei Eiseskälte im Winter, wenn absolut niemand dort war. Nicht, weil man sie hätte erkennen können, sondern weil sie gerne alleine war, wenn sie herkam. Sie setzte sich dann auf die oberste Stufe und schaute lange, sehr lange zu, wie sich die Lichter unter ihr wanden und mit der Zeit immer mehr erloschen. Paris, die Stadt des Lichts.
An diesem Nachmittag aber konnte sie nicht damit rechnen, allein zu sein und sie hatte auch nicht vor, auf dem kleinen Platz zu verweilen.
„Six Euros, s’il vous plaît“, sagte die lustlose Kassiererin hinter der Glasscheibe. Camille schob ihr drei Münzen zu und erhielt eine kleine Karte, auf deren Rückseite ein Bild der Sacré-Cœur war. Sie besaß bereits unzählige dieser Eintrittskarten für die Kuppel und manchmal überlegte sie, ob sie damit vielleicht die Wände des Gäste-WCs tapezieren sollte, denn eigentlich wusste sie nicht, warum sie sie aufhob. Camille war froh, dass nur wenige der Touristen auf dem Vorplatz nach 237 Stufen durch den Park noch die Kondition hatten, die dreihundert Stufen zur Kuppel hinaufzulaufen. Um achtzehn Uhr schloss sie außerdem, beides Faktoren, die sie guthieß. Als sie selber die Stufen durch den dunklen Turm bewältigt hatte und hinaus ins Freie trat, empfing sie jener Ausblick, den sie so sehr liebte und den sie gerade heute brauchte. Freiheit über den Dächern von Paris, weit oberhalb der Stadt. An diesem Aprilnachmittag war nur ein japanisches Pärchen in Sichtweite, ansonsten hatte sie den engen Weg unter der schmalen Arkade für sich. Ein Taubenpärchen saß auf der Brüstung, die sie entlangstreifte und immer wieder ihren Kopf zwischen den Steinpfeilern nach draußen in die Sonne hielt. Von hier oben sah Paris ganz flach aus und nur der Eiffelturm und der Tour Montparnasse stachen heraus, von Dunst umhüllt. Unter sich verfolgte sie mit den Augen die langen Schneisen, die Georges-Eugène Haussmann im 19. Jahrhundert in das Häusermeer schlagen ließ.
Camille ging einmal um die Kuppel herum und setzte dabei langsam einen Fuß vor den anderen, die Hände in den Taschen, den Blick unbestimmt auf den Horizont geheftet. Als sie einmal stehenblieb und auf das Gewusel der Menschen auf dem Vorplatz schaute und auf die Symmetrie der Gärten dahinter, musste sich zurückdenken an den ersten Abend, an dem sie mit Marc hergekommen war.
Es war im Januar gewesen, ein halbes Jahr, nachdem Magali sie zu seinem Eisstand im Schlossgarten von Fontainebleau geschleppt hatte. Nach dem 14. Juli, an dem sie sich das Feuerwerk gemeinsam angesehen hatten, hatten sie sich noch ein paar Mal auf einen Kaffee getroffen und über Literatur und Kultur gesprochen, oder besser: gestritten. Marc hatte Spaß daran, Camille zu provozieren und zu ihrem eigenen Ärgernis gelang es ihm und noch viel schlimmer: Es war sein unverschämtes Lächeln, das sie jedes Mal entschädigte. Dennoch ging sie stets allein nach Hause und Marc fuhr mit dem Spätzug zurück nach Fontainebleau. Damals hatte es ihm noch nichts ausgemacht, nachts mitten durch die Stadt nach Hause zu fahren, dachte Camille nun bitter und schnipste einen Baguettekrümel, den irgendjemand auf der Brüstung hinterlassen hatte, in die Tiefe.
Ende Januar hatten sie also wieder in dem Bistro gesessen, in dem sie mit Magali und Laurent am 14. Juli gewesen waren und schließlich zog Marc sie in eine Bar um die Ecke, wo es dunkel und laut war. Am Tresen ließ er ihr Cocktails bringen, die sie noch nie probiert hatte, denn sie mochte den Stil nicht, den Cocktails implizieren. Lockerheit, Überraschung, Kreativität. Aber jetzt ließ sie es geschehen. Draußen war es kalt und es begann zu schneien. In der Bar geschah es also, dass Camille sich betrank und ihre Wangen schmerzten, weil Marc ein Lachen nach dem anderen aus ihr herauskitzelte. Sie ließ alles geschehen, wenn sie nur selber immer wieder auf seine schönen Zähne schauen konnte, wenn er lachte und auf die Geste, das Béret hin und her zu schieben und wieder verwegen schief in Position zu bringen. Sie schaute nur zu gerne in seine haselnussbraunen Augen und vergaß darüber, wie kalt ihre eigenen waren, obwohl er sie Edelsteine nannte.
Als sie die Bar verließen, stützten sie sich gegenseitig, aus Trunkenheit und weil der Schnee mittlerweile einige Zentimeter hoch in den Straßen lag. Es war menschenleer am Montmartre jenseits der Straßen, in denen die Bars lagen. Abwechselnd rutschten sie beide aus und fingen sich wieder, aneinander haltend.
„Ich glaube, heute kann ich nicht mehr mit der Bahn nach Hause fahren. Da lande ich ja in Montargis“, sagte Marc, formte mit den Händen ein Kopfkissen und bettete seinen Kopf andeutungsweise darauf, bevor er wieder lachte.
Natürlich sagte sie: „Du schläfst bei mir“ und zog ihn durch den Park hoch zur Sacré-Cœur. Er fragte gar nicht, wo sie wohnte, denn er schien es bereits zu wissen. Auf halber Strecke schaute er sich plötzlich um, so als habe er etwas Seltsames bemerkt.
„Was ist?“, wunderte sich Camille und blieb mit ihm stehen.
„Mir ist, als war da was“, sagte er, aber dann gingen sie schweigend langsam weiter. Camille hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, ihre Augen suchten wild in der Dunkelheit nach der Bewegung, die sie gerade noch zu sehen geglaubt hatte. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Nur wenige Sekunden später stand ein großer dunkelhäutiger Mann vor ihnen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Camille sah ihn erst in dem Augenblick, in dem er ihr die Handtasche entriss und damit fortlief. Sie erstarrte und riss die Augen weit auf. Aller Schwindel, den der Alkohol verursacht hatte, war von einem Moment auf den nächsten fort, auch bei Marc, der geistesgegenwärtig loslief, dem Dieb hinterher.
„Hey!“, brüllte er nur immer wieder und tatsächlich erreichte er den bulligen Mann einige Stufen weiter oben. Er packte ihn erst am Arm, fiel dann hin und griff im Fallen nach seinen Beinen. Beide landeten der Länge nach im Schnee auf der Treppe, doch der Angreifer rappelte sich ohne eine Wort sofort wieder auf und lief weg. Schon bald war er außer Sicht. Marc drehte sich auf den Rücken und setzte sich nach ein paar Momenten des Verschnaufens in den Schnee auf eine Stufe. Er winkte mit ihrer Handtasche, die er zurückerobert hatte und wartete, bis Camille zu ihm kam. Aber sie kam nicht. Camille stand nach wie vor wie angewurzelt, regungslos, erstarrt dort, wo man ihr die Tasche entrissen hatte und schaute ins Leere.
Nach einer Weile stand Marc auf, klopfte sich den Schnee von den Klamotten und ging auf sie zu. „Ich hab sie wieder, schau!“
Aber Camille schwieg nur. Als er sich ihr näherte, sah er, wie sie stumm weinte.
„Aber Chérie, du brauchst doch nicht weinen. Ich war doch da, es ist alles gut.“ Er griff sanft unter ihre Arme, die ihr schlaff am Körper hingen und schlang seine eigenen um ihre schmale Taille. „Camille, es wird alles gut. Ich war da und ich werde es immer sein, wenn du willst. Ich bin schneller als jeder blöde Dieb und schlage alle in die Flucht, die dir etwas Böses wollen“, flüsterte er ins Ohr aber hörte von ihr nur ein Schluchzen. Dann legte sie zögerlich ihre Hände auf seine Schultern und lehnte schließlich auch den Kopf an. Er war ja kaum größer als sie.
Nach einer Weile löste er sich ein bisschen von ihr und schaute ihr in die Augen, wischte die Tränen auf ihren Wangen fort. Dann nahm er ihre Lippen zwischen seine.
Lange standen sie dort im Schnee, der auf sie herabfiel und auf die Lichter von Paris zu ihren Füßen. Kein Laut drang hinauf zu ihnen, alles war stumm und still.
„Mein Vater starb bei einem Überfall“, sagte Camille schließlich, als sie glaubte, dass ihre Stimme nicht mehr tränenerstickt sein würde. „Wir wohnten hier gleich um die Ecke. Als ich achtzehn war, auf der Rue de Clignancourt, passierte es. Jemand entriss ihm die Geldbörse, als er uns ein Eis kaufen wollte, mein Vater lief hinterher, aber er fiel hin und dann blieb er einfach liegen.“ Die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen, ihre Stimme wurde hoch und dünn. „Er blieb dort einfach liegen und bewegte sich nicht mehr. Ich rannte zu ihm, aber er starrte mich nur aus leeren Augen an, in die Blut lief.“
Marc drückte sie fester.
„Ich kann das nicht vergessen, es ist jeden Tag da, jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Er war mein Ein und Alles, ich hatte niemanden außer ihn, niemanden.“
„Scht!“, machte Marc und legte ihr einen Zeigefinger auf die Lippen. „Es ist vorbei und es passiert nie wieder, dafür werde ich sorgen. Gehen wir jetzt nach Hause.“ Er küsste sie erneut und schweigend stiegen sie die letzten Stufen hinauf in Richtung der Rue Mueller, wo Camille damals wohnte. Der Schnee fiel weiter und nach der Nacht, in der sie sich das erste Mal geliebt hatten, hatte er ganz Paris bedeckt.
„Excuse me, photo please?“ Das japanische Touristenpärchen holte Camille aus ihren Erinnerungen und drückte ihr ein Smartphone in die Hand. Die beiden postierten sich zwischen Eiffelturm und der sinkenden Sonne. Gleichgültig drückte Camille auf den Auslöser und reichte ihnen das Telefon zurück. „Thank you very much“, bedankten sie sich und machten sich diskret rar, so wie alle, die hier oben einander trafen. Sich rar machen, sich ausweichen, das war es auch, was Camille und Marc einander taten und das schon seit zwei Jahren, seit ihrer Hochzeit. Zuvor hatten sie ein schönes Jahr zusammen verbracht. Schon im März nach der Nacht im Schnee war Marc bei ihr eingezogen und im Mai mietete Camille jene große Wohnung in der Nachbarschaft, die sie noch heute bewohnten. Ihr war bewusst gewesen, dass Marc ihr auf der Tasche hing, von Anfang an, und sie hatte es geschehen lassen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er völlig abgebrannt war, als er sie fragte, ob sie nicht zusammen wohnen wollten. Es war Winter und Marc daher ohne seinen Saisonjob als Eisverkäufer im Schlossgarten von Fontainebleau. Er nannte es: Sich ganz auf das Schreiben konzentrieren. Für Camille war es schlicht arbeitslos sein. Sie hatte nur wenig Verständnis und einiges an Spott übrig für die zahlreichen Schriftsteller, Künstler und Blogger, die in Paris versuchen, sich über Wasser zu halten und tagsüber mit Latte Macchiato und Laptop die Cafés belegten. Die Bohème des digitalen Zeitalters.
Camille teilte Frankreich in zwei Teile: Jene, die ihre Bücher gelesen hatten, und jene, die es nicht hatten. Sobald sie jemand ansprach, der sie kannte, fragte sie nur, ob er ihre Bücher gelesen habe. Marc gehörte von Anfang an zu jenen, die das nicht hatten. Es überraschte Camille selbst, wie wenig ihr das ausmachte. Es verletzte sie nicht und Marc selbst schien nichts daran zu finden, keinerlei Interesse für ihr Werk und ihre Arbeit aufzubringen. Camille musste es zugeben, sie war ihm schlicht verfallen. Nie forderte er sie zum Reden auf oder versuchte hinter ihre Fassade zu dringen: Er riss sie ein, wann er wollte. Camille ließ sich von Marc in Bars schleppen und mit billigem Alkohol abfüllen, sie ließ es geschehen, wenn er einfach Spaß haben wollte mit ihr und niemals sprachen sie über ihre Familien, ihre Geschichte und die Wunden, die die Vergangenheit gerissen hatte. Mit Marc fühlte Camille sich lebendig und sie genoss jegliche Oberflächlichkeiten, die er zu bieten hatte. Gleichzeitig kratzte er nie an ihrer. Sie war La Brochard wann sie wollte, er stellte keinerlei Fragen. Sie konnte ihn intellektuell zerquetschen wann sie wollte, er merkte es nicht einmal. Der wichtigste Grund aber, um ihn nicht mehr gehen zu lassen, war die Tatsache, dass er sie hatte weinen sehen. Er hatte für zwei kurze Momente in ihre Seele geblickt, was ihn zu einem Zeugen machte, den man nicht aus den Augen verlieren durfte: Er hatte gemerkt, dass er ihr gefiel, schon damals in Fontainebleau und am 14. Juli und dann in jener Januarnacht, als sie dem ersten Menschen außer Magali einen Teil ihrer Familiengeschichte erzählt hatte.
Fünf Monate lang schrieb Camille nichts, sondern ließ sich nur mit Marc durch Paris treiben. An einem Abend schlichen sie sich als provenzalische Touristen auf den Eiffelturm. Marc besorgte Karten für den Treppenaufgang. Er machte sich einen Spaß daraus, mit vermeintlich provenzalischem Akzent zu fragen: „Ça coûte combieng? Sept Öro?“ Dann liefen sie die Treppen hoch, links an den langsamen Touristen vorbei und immer „Attention!“ rufend, als gäbe es tatsächlich einen Notfall. Camille trug eine Jeans mit Loch am Knie, die er ihr gerade gekauft hatte und ein einfaches, gestreiftes T-Shirt. Eine große Sonnenbrille. Niemand erkannte sie, sie erkannte sich selber nicht. Wie sie atemlos auf der ersten Plattform ankamen und sie sich selber ausgelassen lachten hörte, als Marc sich vor den Touristen auf den Boden legte und aus lauter Erschöpfung theatralisch alle Viere von sich streckte. Niemals hatte Camille sich mehr wie ein Vogel gefühlt als an jenem Abend dort oben, auf Paris blickend und mit Schmetterlingen im Bauch. Die untergehende Sonne ließ die Seine zu einem goldenen Band werden und tünchte das Häusermeer orange und schließlich lila und blau. Immer mehr Lichter erzitterten wie Glühwürmchen auf dem Teppich der Stadt und Marc und Camille standen lange dort und ließen sich verzaubern.
Im Frühsommer machten sie ganz früh morgens einen Spaziergang im Quartier Saint-Martin, das Camille nur selten besuchte. Noch schlief die Stadt und der Canal floss ruhig und stetig dahin, überspannt von zahlreichen Metallbrücken zwischen den Platanen. Er hatte sie gebeten, ihr rotes Sommerkleid zu tragen, ihr aber nicht verraten wozu. Ein bisschen seltsam kam es ihr schon vor, morgens so durch das 11. Arrondissement zu schleichen. An einer Schleuse blieb er stehen und holte aus seiner Hosentasche eine Handvoll flacher Kieselsteine. Camille verstand nicht. Dann summte er die Melodie von Comptine d’un autre été von Yann Tiersen und flüsterte: „Bitte, sei einmal Amélie für mich.“
Sie sah an sich herunter, auf die Steine, die er ihr in die Hand drückte und entdeckte das Leuchten in seinen Augen, die Bitte, die darin lag. Dann zog er seine Kamera aus der Fototasche und begann sie zu fotografieren. Camille in rotem Kleid vor grünen Platanen, die sich im Wasser des Canal St. Martin spiegelten. Sie erfüllte ihm seinen Wunsch und schlich sich auf die Mitte der Schleuse. Unablässlich klickte die Fotokamera und Marc murmelte „Wunderschön“, konnte sich nicht entscheiden, ob er sie lieber so ansah oder durch die Linse seiner Kamera, um das von ihm inszenierte Wunder festzuhalten. Camille ließ Steine flitschen und sah ihnen nach. Zweimal, dreimal sprangen sie über das dunkle Wasser und versanken dann beinahe lautlos. „Wunderschön“, hörte sie erneut und blickte Marc direkt an. Sie tat, was sie noch nie zuvor getan hatte: Sie lächelte in die Kamera.
Eines trüben aber warmen Abends kurz darauf saßen sie an der Pointe de l’Île Saint-Louis und ließen die Beine über die Kaimauer baumeln, so wie viele Verliebte das an diesem Ort taten, wenn das Wetter nicht gerade trübe war. Jetzt waren sie ganz allein dort. Marc und Camille setzten sich auf eine Plastiktüte und schauten zu, wie die Seine die Insel umfloss und wie immer mehr Lichter die Fenster der prächtigen Gebäude auf der anderen Seite, der Île de la Cité, erleuchteten. An trüben Abenden verglühte Paris nicht orange im schwindenden Tageslicht, sondern blau. Sie saßen unter der Laterne, die die zwei Liebenden später in ihren Lichtkegel hob, bis schließlich die Sonne ganz untergegangen war und sich das schwarze Tuch der Nacht über die Stadt gelegt hatte.
„Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich drei Jahre alt war“, sagte Marc unvermittelt. Er starrte nur auf das dunkle Wasser der Seine. „Mein Vater war schon fünfzig und meine Mutter erst dreißig, als ich geboren wurde. Ihre Beziehung hielt nicht lange.“ Er machte eine Pause, aber Camille wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte diese Geschichte gar nicht hören. Sie wollte keine Melancholie an ihm sehen. Aber er fuhr fort: „Ich lebte bei ihr, bis ich achtzehn wurde. Am Tag meines Geburtstags packte ich meine Sachen und zog zu einem Freund. Es war schon lange nicht mehr gutgegangen, ich kam mit ihrem neuen Mann nie klar und musste einfach raus. Danach hatten wir nie wieder Kontakt. Vor zwei Jahren zog sie weg und ich weiß nicht einmal wohin.“
Camille räusperte sich, denn irgendetwas musste sie nun sagen, irgendeinen Kommentar geben. Ihre Hände waren schwitzig und sie hoffte, dass das hier gleich vorbei war. „Aber mit deinem Vater hast du dich gut verstanden? Nach deinem Studium hast du ja bei ihm gewohnt.“
Nun schaute er sie kurz an, Ärger lag in seinem Ausdruck. „Ich rede von meiner Mutter, wie kommst du jetzt auf meinen Vater?“
Für einen Moment war Stille, sie hatte ihn offenbar verärgert. Einen wunden Punkt getroffen. Wäre sie nicht so verliebt, sondern an diesem Abend La Brochard gewesen, hätte sie das ausgenutzt. Aber in jenen Monaten war sie weit davon entfernt. Schließlich erklärte er von sich aus, dass ihn sein Vater immer überstrahlt hatte. Als er klein gewesen war, hatte er ihn an den Wochenenden besucht und oft waren sie auf Jahrmärkte und Spielplätze gegangen und sein Vater sei immer mittendrin gewesen. Ein Clown, der Kinder anzog. „Am Ende stand ich immer alleine da und mein Vater war umringt von fremden Kindern, mit denen er Faxen machte oder denen er Käfer und Blumen zeigte und Geschichten erfand. Ich verstand später auch, warum meine Mutter ihn anziehend gefunden hatte, obwohl er fast schon ein alter Mann gewesen war, als sie sich trafen. Er hat diese… Magie, weißt du?“ Es fiel im schwer, dieses Wort auszusprechen, seine Lippen kräuselten sich als verursachte es ihm Ekel. „Ich wollte ihn nicht teilen, ich wollte, dass er nur mich lieb hatte und nicht alle Kinder. Er war ja mein Vater, verstehst du?“
„Du hast seinen Charme geerbt“, versuchte Camille es mit einem Kompliment, um ihn aus seinen dunklen Gedanken zu holen, die sie gar nicht hören wollte. Marc lachte bitter auf.
„Wenigstens das. Und ich kann mich vor den Frauenherzen gar nicht retten, wie er.“
Nun war es an Camille, über seinen Scherz zu lachen, aber es blieb ihr irgendwie im Halse stecken. Sie mochte es nicht, wenn er mit der Bedienung im Café flirtete und wenn er auf der Straße den Frauen nachsah. Und sie mochte die Leute nicht, mit denen er sich umgab. Vor hundert Jahren hätte man diese Gesellschaft verächtlich Halbwelt genannt, dachte sie. Heute war es chic. Ihr gefiel nicht, wie er seine Freunde zu Partys in ihrer Wohnung einlud, wenn sie nicht da war. Sie wusste es, weil sie einmal von einer Lesereise zu früh nach Hause gekommen war. Natürlich wohnte er bei ihr und konnte empfangen wen er wollte, zwang sie sich zu denken. Aber im Grunde war es ihre Wohnung und sie bezahlte auch ohne ihr Wissen für den Champagner und das Bier - in dieser Kombination - , die dort flossen. Sie fand es zwei Jahre später heraus, nach ihrer Hochzeit, als sie ein Schmuckstück vermisste, das sich eigentlich in ihrer Schatulle hätte befinden sollen.
„Wenn ich meinen Vorschuss bekommen habe, kaufe ich dir eine neue Kette“, hatte Marc nur gesagt und keine weitere Antwort gegeben, ihr auch nicht in die Augen gesehen. Da wusste sie Bescheid.
In jenem Frühsommer aber, an dem Abend auf der Île Saint-Louis, hatte sie davon keinen blassen Schimmer. Auch nicht, als sie später am Abend in der neuen Wohnung am Montmartre noch ein paar Kartons in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer ausräumte. Sie hatte vergessen, dass jener darunter war, in der sich die Box befand, die sie später ganz oben in ihrem Büro aufbewahrte und jeden Blick darauf vermied. An diesem Abend aber fiel sie ihr überraschend in die Hände und sie ließ sie vor Schreck fallen. Noch schlimmer erging es ihr, als der Deckel aufsprang und der Inhalt hinausfiel. Marc kam in dem Moment herein, in dem sämtliche Fotos und Steine, getrocknete Blumen und Muscheln auf dem Parkett verteilt lagen. Camille war erstarrt und versuchte gar nicht, alles so schnell wie möglich zusammenzupacken und wieder zu verschließen. Auf ihrem Gesicht spielte Entsetzen sein Spiel und verzerrte ihren Mund und ihre Augenbrauen. Dann flossen die ersten Tränen und Camille zitterte. Vor ihr lag ihre Kindheit zerstreut, alles was ihr geblieben war und sie hatte es vorgezogen, sie gut zu verschließen und vor sich selber zu verbergen. Nun drängte sie sich ein zweites Mal nach dem Abend im Schnee in ihr Leben und in die Gegenwart und wieder war Marc dabei.
„Camille“, sagte er nur zärtlich, setzte sich zu ihr auf den Boden, nachdem er die Fotos und Muscheln zusammengesammelt und zurück in die Box gelegt hatte. Er nahm sie in den Arm und wiegte sie hin und her. Nach einer Weile ging es ihr besser und er sah ihr in die Augen. „Camille, du bist so schön, wenn du weinst. Deine Augen glitzern wie die einer trauernden Madonna“, sagte er ernst und er meinte es auch so, das konnte sie sehen. Sie hasste es, dass er sie ausgerechnet in den Momenten, in denen sie sich selber am meisten hasste, am meisten liebte und sie wusste, dass das fatal werden würde. Aber jetzt konnte sie nicht anders als sich in seinen Armen zu vergraben und ihre Tränen an seinem Hemd zu trocknen, das nach Tabak und Waschpulver roch.
In dem Moment fiel Marcs Blick auf eines der Fotos in der Box. Es zeigte Camille als kleines Mädchen auf dem Arm ihres Vaters, das stand unter dem Bild in gestochen scharfer Schrift. Der Mann hatte ein strahlendes, leicht schiefes Lächeln, wilde braune Locken und haselnussfarbene Augen.
„Willst du mich heiraten, Camille?“, fragte er und für einen Moment setzte sein Herzschlag aus, bis sie langsam nickte und sich dann kommentarlos aus seinen Armen löste.