Читать книгу DIE DODERER-GASSE - Nadja Bucher - Страница 6

I. ZUR WELT KOMMEN

Оглавление

GRELLES LICHT BLENDETE MICH. Noch nie erlebtes Schmerzausmaß. Atemnot, die den Brustkorb einschnürt. Was blenden mich diese Idioten denn so? Todespanik. Etwas war nicht, wie es meinem Empfinden nach hätte sein sollen.

Erinnerungen stiegen heran, als blätterte ich durch ein Familienalbum mit sepiafarbenen Fotos. Ich als kleiner Junge im Wintermantel, im Hintergrunde unser Haus in der Prein. Als Schüler in kurzen Hosen zwischen Vater und Mutter vor der Stadtwohnung. Dieser Mann trübte die Freude meiner Kindheit, eigentlich meines gesamten Lebens, er gab wahrlich keinen Anlass zu Heiterkeit. Als Jüngling in der Uniform des k.u.k. Dragoner-Offiziers, die Hand lässig am Säbelknauf. Erster Weltkrieg. Sibirische Kriegsgefangenschaft, Schreibanfänge, schöne Zeit. Ich in meiner unrühmlichen Zwischenkriegszeit. Dann die noch größere Dummheit mit dem Zweiten Weltkrieg, lange Missachtung, fehlender Erfolg.

Als Sechzigjähriger, Porträt eines Schriftstellers mit Pfeife im Mund, hohe Stirn, verbliebene Haare streng gescheitelt. Zerfurchtes Gesicht. Positionierung vor Bücherwand an Schreibtisch, der übervoll von Schriften ist, unterstreicht den Intellekt. Immer Hemd und Anzug, nie Hosenträger, manchmal Überzieher, schwungvoll geöffnet. Pfeife und Trenchcoat gehören zu mir, dem Kopfarbeiter, wie Fliege und Borsalino, erst später wurden daraus Accessoires für Kriminalbeamte. Auf wenigen Fotos lache ich. Heiterkeit steht diametral zu tiefgründigen Gedanken. Der Literat legt seine breite Stirn in Falten, reckt sein Kinn vor und denkt. Er beliebt in seinem Tun zu sitzen, was sich nachträglich auf seine Körperhaltung auswirkt. Aber er nimmt alle gesundheitlichen Opfer für sein Werk in Kauf: Schreiknötchen, Raucherlunge, Darmkrebs.

Nach langer Dunkelheit öffneten sich Augen. Schon wieder blendete gleißendes Licht. Ich versuchte den verschwommenen Blick abzuwenden. Es misslang. Ich war schmerzendem Weiß ausgesetzt. War wie gefangen in beengter Bewegungslosigkeit. Was war mit mir geschehen? Weshalb schaltete niemand die Operationslampe ab?

Ich erwachte erneut und sah klarer. Mein Blick fokussierte auf einfallendes Tageslicht an weißem Plafond, gelb-braune Farbflecken hoben sich seitlich daraus hervor, gehörten dem floralen Muster einer Tapete an, deren Hässlichkeit überbordend war. Ich hätte mich abgewendet, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Ich trat und trampelte in mich selbst eingeschlossen, spürte einen Körper zappeln, war jedoch dumpf gelähmt.

In unmittelbarer Nähe sah ich hölzerne Gitterstäbe, davor Hände, die ungeschickt in mein Gesichtsfeld wedelten. Sie waren winzig. Dazu vernahm ich glucksende Laute, die sehr junge Menschen abzusondern belieben. Langsam sickerte eine fatale Ahnung in mich ein, wonach mich keine Operation in mein altes Leben zurückgeholt hatte. Doch dies war kein geradliniges Denken, sondern wegen eingeschränkter geistiger Tätigkeit lediglich changierende Vermutung, die jenem Zustand beim Erwachen aus ernst zu nehmendem Rausche ähnelte.

Ich verortete mich rücklings auf dem Boden eines Gitterbetts.

»Marie, meine kleine Prinzessin, bist du hungrig?«, beugte sich eine junge Frau freudestrahlend über mich. Sie hatte ihr platinblondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Hier musste ein Irrtum vorliegen. Vieles war ich geheißen worden, doch weder Marie noch Prinzessin. Die glückliche Frau hob mich zu sich empor, setzte einen Kuss auf die Stirn, die sich nicht wie meine anfühlte, strich über die Backe, berührte mich allerdings nicht. Ihr Lächeln verstärkte sich noch. Kurz sah ich eine Brustwarze aufblitzen, dann schwanden mir die Sinne.

Als sich mir das nächste Mal Augen öffneten, bot sich ein vertrautes Bild. Weißer Plafond, braun-gelbe Blumentapete, hölzerne Gitterstäbe. Der Gesamteindruck drängte mir die gedankliche Verknüpfung von Kinderzimmer mit Gefängnis auf, was in Anbetracht so mancher Kindheit eine legitime, in meinem Fall jedoch keine rein metaphorische war. Ich befand mich tatsächlich in Gefangenschaft, war eingesperrt im Körper eines Menschen namens Marie. Dieser Argwohn erstand nicht aus scharfen Überlegungen, wie überhaupt Präzision nach neuerlicher Bewusstwerdung nicht allzu viel wog. Auch richtete sich mein Zeitempfinden nach keinem exakten Chronometer. Zeit ist nach dem Tode in höchstem Grad persönlich, ihre Wahrnehmung abgelöst, ja befreit von jedweder Messung. Vielmehr glich die Trennung von Dahindämmern und Wirklichkeit dem Waten in weichem Schlick, bei welchem scheinbar aus dem Nichts diffuse Gefühle aufwallten, die beständig zwischen Orientierungslosigkeit und Hoffnung schwankten, meist jedoch enttäuscht wurden.

Aus diesem Dusel filterte ich, dass Marie ein Neugeborenes war und sich altersadäquat verhielt. Die freudestrahlende, wasserstoffperoxidblonde Frau mit spendabler Brust musste zweifelsohne ihre Mutter sein, deren Gesicht schon wieder über mir erschien, was Maries Strampeln verstärkte und Quieken auslöste. Ich nützte die Gelegenheit und machte mit kräftigen Rufen auf mich aufmerksam, stellte mich namentlich vor, gab Mutmaßungen bezüglich meines Aufenthaltsorts im Kinde an, ja trug alle bisherigen Erkenntnisse meiner jüngsten Vergangenheit zusammen und gab sie der Mutter preis. Ich tat alles in meiner Macht Stehende, um in Kontakt mit dieser Frau zu treten.

»Marie, mein Schätzchen«, antwortete sie, was mich zu der Schlussfolgerung zwang, dass sie mich weder gehört noch wahrgenommen hatte, daher in Unkenntnis über meine Existenz war. Ein erschütterndes Gutachten mit betrüblichen Prognosen für meine Zukunft. Sofern es mir nicht gelingen würde, mit und durch Marie zu sprechen, gäbe es für mich keine Chance, mit der Außenwelt in Austausch zu gelangen.

»Ja, komm her, mein süßer Schatz«, sagte die Mutter und hob Marie hoch, küsste sie und legte sie an ihre Schulter. In dieser Position war es mir möglich, den Raum besser zu überblicken. Seine Reize waren bescheiden. Das Gitterbett stand an der Wand neben der Tür. Ein dunkelbrauner Einbaukasten zog sich über die Längsseite des Zimmers. Gegenüber der Tür war ein doppelflügeliges Fenster, davor hing ein dünner, bodenlanger Vorhang. Braunes Sofa mit Samtbezug und passendem Fauteuil standen über Eck im Raum, ein schmuckloser Esstisch mit Resopalplatte befand sich wie eingeschoben daneben, als hätte man nirgendwo sonst Platz für ihn gefunden. Die Möblierung zeugte weniger von Geschmack als von Zweckmäßigkeit.

Die Mutter stellte sich vor das Fenster und wippte sachte, gleichzeitig flüsterte sie ihrer Tochter Nettigkeiten zu. Ich erhaschte einen Blick ins Freie, der mich mit tiefstem Grauen erfüllte. Seitlich und gegenüber spannten sich achtstöckige Häuserfronten auf, verstellten mir Fensterreihen in geometrischer Gleichmäßigkeit jegliche Sicht auf Horizont. Straßenverläufe, wie ich sie einst kannte, existierten hier nicht. Lediglich Gehwege zogen sich rechtwinkelig über einen begrünten Hof, der zu einer Seite hin offen war, in eine Wiese auslief, die an ein Wäldchen grenzte, welches erst unlängst gepflanzt worden sein dürfte. Die Stämmchen erweckten einen schockierend mickrigen Eindruck. Weiter entfernt taten sich Agrarflächen auf.

An welch vergessenen Flecken am Ende der Welt war ich geraten? In eine menschenansammelnde Riesenburg, wo sich idente Fenster an idente Hauszeilen reihten, Stiegen genannt, wie Schilder neben den Eingangstoren verrieten. Ich konnte die fortlaufende Bezifferung ablesen. Kasernen waren nach ähnlichem Baukasten-Stil entworfen und mir ähnlich verhasst. Wie sollte sich ein denkender, fühlender Mensch hier zurechtfinden?

Marie begann zu weinen, mir verschwamm die Aussicht. Sogleich schob sich wieder der Busen samt Brustwarze ins Bild. Marie verweigerte das Nahrungsangebot. Die Mutter hatte sich vom Fenster abgewandt und setzte ihren Stillversuch auf dem Sofa fort. Marie steigerte ihren Ausdruck des Missbehagens. Für mich waren ihre Laute in angeschlagener Lautstärke ein an das Unerträgliche heranreichender Schmerz. Kein Gedanke war bei diesem Krach zu fassen. Maries Schreie, ihre Tränen, lösten das Zimmer, die Mutter, die Welt rundum auf. Sie schrie mit solcher Intensität, ich merkte, wie sich der Innendruck ihres Kopfs erhöhte. Deutlich spürte ich ihr Strampeln; wie sich ihr Körper verkrampfte und durchbog. Immense Kraft steckte in diesem kleinen Menschen. Die Mutter trug sie aus dem Zimmer, redete beruhigend auf sie ein, allein Marie setzte ihr Crescendo fort. Aus Maries unter Tränen stehenden Augen sah ich einen Mann näher kommen und erkor ihn sofort zu ihrem Vater aus. Durch vibrierende Trommelfelle hörte ich seine Ratschläge. Er nahm das Kind nicht in den Arm, was von der Mutter zwar angeboten, aber von ihm abgewehrt wurde. Sie solle den Kindsbauch streicheln, bemerkte er. Die Mutter tat, wie ihr geheißen, klappte zudem das Kind, welches sie an Nacken und Beinen hielt, zusammen und wieder auseinander. Sanft, vorsichtig und wiederholt, bis die Gärgase, welche sich offensichtlich in Maries Körperinnerem angesammelt hatten, lautstark entwichen.

Für mich war diese Episode gleichrangig mit der Brustwarzenfütterung eine untragbar gênante, wie man sich vorstellen kann. Selbstverständlich konnte ich alle Schuld von mir weisen, dennoch war ich von Maries körperlichen Unzulänglichkeiten peinlich berührt. Es war nicht nur Ekel, der sich zwischen mich und sie schob, sondern auch Furcht, diesen und ähnlichen Widrigkeiten für lange Zeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Bestialischer Gestank verbreitete sich um das Kind, folglich auch um mich, der ich gewohnt war, im frischen Duft von Eau de Lavande zu wandeln. Reflexartig schnappte ich nach Luft, was jedoch folgenlos blieb. Marie atmete unbeeindruckt weiter. Ihre olfaktorischen, wie alle übrigen Sinne, waren noch unvollständig ausgebildet.

Die Mutter trug sie ins Bad, legte sie auf eine Wickeldecke, die über die Waschmaschine gebreitet war. Während sie den Blick nicht von ihrer Tochter nahm, ließ sie Wasser in einen pastellfarbenen Trog ein. Sobald Maries Windel gelockert wurde, steigerte sich die Duftnote. Ich konnte diesem Treiben nichts entgegnen, außer einen Modus operandi finden, der in einer gewissen integren Absonderung lag, um die Angelegenheit halbwegs würdevoll zu überstehen. Marie wurde von der Mutter auf den Bauch gedreht und behutsam in die Wanne abgesenkt. Dabei achtete die Mutter darauf, Maries Kopf oberhalb des Badewassers, ihren Körper davon bedeckt zu halten. Ich spürte wohlige Wärme, aber auf seltsam indirekte Art. Es war nicht mein eigener Körper, der ins Wasser getaucht wurde, ich befand mich lediglich in einem solchen. Was ich folglich wahrnahm, war nicht die Temperatur des Badewassers, sondern Maries innere Körperwärme, oder präziser, ihre innere Wonne. Ich spürte sozusagen ihr Wohlgefühl, was ihre Gluckser und Quietscher unmissverständlich artikulierten.

Dieser Erfahrung leitete ich einen Konnex zwischen Marie und mir ab. Ihr Befinden musste sich reziprok auf meine Gemütsverfassung auswirken. Denn hatte ich mich während ihrer Schreiattacke elend gefühlt, erfasste mich nun beste Laune. Der Weg aus den vollen Windeln, befürchtete ich sofort, würde sich als kein kurzweiliger gestalten, sondern zeichnete sich als zähe, in viele kleine und kleinste Teilschritte untergliederte Langstrecke ab, deren erste Etappe es wäre, generelles Vorhandensein sowie Reichweite meiner Einflussnahme abzuschätzen.

DIE DODERER-GASSE

Подняться наверх