Читать книгу DIE DODERER-GASSE - Nadja Bucher - Страница 8

WOHNHAUSANLAGE DER GEMEINDE WIEN, ERBAUT IN DEN JAHREN 1971 BIS 1973

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Das war es also, wohin es mich verschlagen hatte. Nach Herrschaftshäusern, Villen und Stadtpalais war ich im Gemeindebau gelandet. Eine Übelkeit versuchte aufzusteigen, und da es nicht mein Körper sein konnte, der Rebellion ankündigte, lag die Vermutung nahe, meine Trübsal schlüge sich auf Maries Magen. Ihre wachsende Unruhe bestätigte mir, dass mein ästhetisches Empfinden sowie stilistische Werturteile für sie Geltung hatten. Der Konnex zwischen uns – und erstmals dachte ich an ein wir bei Marie und mir –, unsere Verbindung würde mir ein Einwirken auf dieses unfertige Wesen ermöglichen.

Plötzlich überholten Kinder den Wagen, riefen einander Unverständliches zu. Sie sahen gewöhnlich aus, wirkten ein wenig gestutzt, in ihren Anlagen gehemmt, als wären sie vor einsetzender Entwicklung bereits ausgebremst worden. All das erhaschte ich durch beiläufigen Blick, da sie direkt am Ausguck des Wagens vorüberliefen. Vorzeitig abgestumpfte Kinder mit platten Nasen, kurzen Hälsen und mehrfach geflickter, über Generationen von Geschwistern abgetragener Gebrauchskleidung. Ein grauenerregendes Fluidum umgab diese Bagage, von denen bereits in ihrem zarten Alter Beängstigendes ausging.

Maries Kopf wurde schwerer, auch ihre Augenlider sanken immer öfter hinab, was meine Beobachtungen behinderte. Ich schloss daraus, dass das Rumpeln des Kinderwagens sie einschläferte, was wohl der Absicht der Mutter entsprach. Ich wünschte, Marie hielte noch ein Weilchen durch, um mir längere Aussicht zu gewähren. Ihr fiel der Kopf auf den Polster, aber sie mühte sich, anrückendem Schlaf zu widerstehen. Mit aller Kraft brachte sie ihr Haupt wieder hoch, riss ihre Augen auf, verschaffte mir Ausblick. Und der Aufwand lohnte sich. Wir näherten uns einer Kreuzung, ich sah ein Straßenschild. Es durchzuckte mich. Doderergasse, las ich ab.

Doderergasse!

Stolz und Entrüstung fuhren in mich wie ein heißer Blitz, dem man auszuweichen sucht, aber der dennoch trifft, weil man zielstrebig verfolgt worden war, er es auf einen abgesehen hatte. Dieser freudlose Ort am Ende von Wien war zweifelsohne nach mir benannt worden. Ich war geschmeichelt, aber in noch größerem Maße beleidigt. Namensgeber für eine solche Gasse? Doderergasse – ein Gässchen?! Dessen Bewohner mit Sicherheit nicht wussten, wer oder was ein Doderer war. Eine Frechheit, die mir post mortem angetan worden war, als hätten all die sträflichen Vernachlässigungen zu Lebzeiten nicht genügt.

Aber da hinein in diesen gemischt-gefühligen Moment dämmerte mir, dass es kein bloßer Zufall sein konnte. Ich, neugeboren in einer nach mir benannten Gasse, auf engstem Raum in Lebensgemeinschaft mit einem Mädchen. Dahinter musste sich Absicht verbergen. Sollte Marie mein Anfang sein? Meine Möglichkeit, ein neues Leben zu verwirklichen? Könnte ich aus ihr allein mein neues Dasein gebären? Ich wollte tiefer sinken, eindringen, hinuntersteigen zum Boden dieses Gedankens, aber Marie schlief ein und mein Bewusstsein pausierte.

FRÜHSOMMERLICHE HITZE DRÜCKTE durchs offene Fenster ins Kinderzimmer. Der dünne Vorhang war zwecks leichteren Luftaustauschs zur Seite gerückt worden und schwang schwach aus, zu müde für heftigere Exaltationen. Wer sich hingegen wach und unbeeindruckt von jedweder Temperatur zeigte, war Marie. Sie zog sich an den Holzstäben des Gitterbetts hoch, ein Kunststück, das ihr bereits seit einigen Tagen gelang und welches ich maßgeblich als Resultat meiner beharrlichen Unterweisungen betrachtete.

Auf wackeligen Beinen stand sie im Bett, wippte kräftig auf und ab, sodass ihre schwere Stoffwindel etappenweise abwärts rutschte, was dem Kind zufriedenstes Lachen entlockte und mich mit zunehmender Geruchsbelästigung quälte. Marie blickte an sich herab, bemaß den von ihrer Windel zurückgelegten Weg, den sie mit weiteren Hüpfern zu vergrößern trachtete. Natürlich hätte ich sie von ihrem fragwürdigen Vergnügen abbringen und zu geistreicherer Tätigkeit hinleiten können, doch galt es, Marie bei Laune zu halten, sonst würde sie künftige Mitarbeit verweigern, worauf unmäßig viel Zeit für die Rückeroberung ihrer Bereitschaft aufgewendet werden müsste. Daher unterdrückte ich meine Übelkeit, die ohnehin nur noch überkommene Konvention sein konnte, und überließ Marie ihrer kindlichen Freude über die neu entdeckte Wirkmacht ihres Tuns. Ich lenkte mich mit der Betrachtung des trägen Vorhangs ab, versuchte Sonnenverlauf und Wolkenbildung unter Beobachtung zu halten und gönnte mir zwischenzeitlich einige abfällige Bemerkungen zur Wanddekoration, die zweifelsfrei eine wenig zu empfehlende Geschmacksrichtung anzeigte, einschließlich einiger Mutmaßungen über Maries Eltern, die jene Entgleisung zu verantworten hatten.

Animiert von meinem Werturteil, widmete auch Marie der Tapete nähere Beachtung. Mit einer Hand klammerte sie sich zwecks gesicherter Stabilität am Gitterstab fest, die andere streckte sie aus und berührte die Wand, respektive die sich darauf befindliche Tapezierung. Ihr entkam ein Laut höchsten Entzückens. Zusätzlich meinte sie: »Da«, und klatschte ihre Handfläche auf die grafisch reduzierte Wiedergabe von gelb-braunen Blumen. Einige Male wiederholte sich dieser Vorgang, dann hielt Marie inne und ertastete mit ausgestrecktem Zeigefinger den Zusammenstoß zweier Tapetenbahnen. Andächtig in ihre Arbeit versunken, fuhr ihr kleiner Finger die Papierkante ab und fand eine geeignete Stelle, an der sie ihren Fingernagel ansetzte und am Papier kletzelte, als wollte sie die darauf abgebildete Blume pflücken. Kaum war ihr gelungen, einen Teil der Papierblume zu lockern, nahm sie das Stück zwischen Zeigefinger und Daumen und zog sachte daran. Ich war von der Präzision ihrer Fingerfertigkeit und in weit größerem Maße von der mühelosen Ablösbarkeit des Tapetenstreifens überrascht. Auch Marie war davon angetan. Sie stand mit weit geöffnetem Mund im Gitterbett, die volle Windel auf Höhe der Knie, die eine Hand am Haltegriff, in der anderen die zwischen ihr und der Wand aufgespannte Blumentapete. Je stärker sie daran zog, desto größer wurde der Teil. »Da«, meinte sie, was zweifellos meine Einschätzung der Lage bestätigte. »Da«, lachte sie nochmals über die Tapete. Schon schlug ihre Freude in Unmut um. Denn je mehr sie daran zerrte, desto länger wurde das Stück, umso schwieriger gestaltete sich dessen Handhabung.

Ich gab ihr zu bedenken, dass alles auf den Winkel ankomme. Sie stand zu nahe an der Wand. Ein Zurückweichen war ihr nicht möglich, ein Ablassen von der wirklich grässlichen Tapete widerstrebte ihr. Ich wirkte auf Marie ein, allein es wirkte nicht. Sie verlegte sich auf das ihr probat scheinende Mittel des sirenenartigen Geschreis, welches prompt die Mutter ins Zimmer rief. Mich sprach aus dieser Szene unser gemeinsamer ästhetischer Nenner an, der eine Basis bildete, auf die ich bauen wollte. Ich spürte, sie vertraute meinem Geschmacksurteil, wenn auch bei holpriger, oft zögerlicher Übernahme.

Einige Wochen später saß Marie mitten im Kinderzimmer auf dem Töpfchen. Die Mutter stand am Resopaltisch, über den sie ein dickes Tuch gelegt und somit zum Bügeltisch umfunktioniert hatte. Sie führte das Bügeleisen den Ärmel eines Männerhemds entlang, machte dabei routinierte Bewegungen, um letzte Fältchen zu glätten. Jedes Mal, wenn sie das Eisen beiseitestellte, zischte Dampf aus an der Unterseite befindlichen Löchern, wie aus den Nüstern eines erbosten Drachens. Marie hielt vom Töpfchen aus die Vorgänge am Bügeltisch unter Observation. Wärme und Feuchtigkeit hingen wie eine Glocke im Zimmer. Die Abendnachrichten dudelten aus dem Radio. Der Mutter sonst so geordnetes Haar war durch den Dampf aufgelöst, ihr Gesicht von Hitze und Anstrengung gerötet. Ich spürte, wie die drückende Wärmeglocke Marie angenehm war, wie sie es genoss, aus den Bewegungen ihrer Mutter mit dampfendem Bügeleisen einen Rhythmus auszumachen. Die wiederkehrenden Zischlaute, das Glucksen der im Wasserbehälter umherschwappenden Flüssigkeit, das Hintergrundrauschen des Radios, das alles lullte Marie ein, dass ich fürchtete, sie fiele in Schlummer und von ihrem Topf.

Ich muss dabei erneut auf das unerfreuliche Gebiet der Hygiene eingehen, denn obwohl ich bereits weit über ein halbes Jahr in Maries Körper lebte, hatte ich mich noch nicht an dessen Unzulänglichkeiten gewöhnt. Es störte mich frappant, dass sie nach wie vor auf Windeln angewiesen war, ja mehr noch, kreidete ich mir Maries Unvermögen höchstpersönlich an. Schon längst hätte sie mit mir als intimstem Mitbewohner vollständige Kontrolle über ihre Körperfunktionen erlangen müssen. Mich beschämte, dass Marie noch nicht stubenrein war. Während der Prozedur des Töpfchensitzens haderte ich mit meinen bisherigen Erfolgen. Wäre Marie ein normales Kind gewesen, gehörten ihre Entwicklungsstufen und der Umgang mit ihren Exkrementen ebenfalls zur Sphäre der Normalität. Aber mit mir als ständigem Begleiter hätte sie erheblich reifer sein, die Phase der Selbstbesudelung längst hinter sich lassen und sich der Sehnsucht nach dem Geruch des Lavendelwassers zuneigen müssen. Stattdessen saß sie sehr entspannt in dampfender Atmosphäre, die Latzhose mit Apfel-Aufnäher schoppte sich um ihre Beine, ihr nackter Po hatte sich im Töpfchen festgesaugt. Den Daumen im Mund befingerte sie jüngst dort eingezogene Milchzähne. Die Mutter richtete das Wort an sie, ich hörte nicht hin, war auch ich vom Dampfe leicht benebelt. Ich merkte, wie Marie etwas zurückbrabbelte und sich anschickte, sich zu erheben. Dabei stützte sie sich mit beiden Händen auf dem Boden ab, reckte ihr nacktes Hinterteil in die Höhe, was einen lauten Plopp erzeugte und ein Odeur freisetzte, das einer noch nicht einmal Einjährigen nicht zuzutrauen war. Sie richtete sich auf und wollte nichts eiliger tun, als ihr Erzeugnis einer eingehenden Prüfung samt Tiefenbohrung zu unterziehen.

Ich wurde inwendig laut, was Marie ein wenig stocken ließ. Das Ploppen musste die Mutter alarmiert haben, jedenfalls hatte sie sich von ihrem Bügeltisch gelöst und war auf Marie losgestürzt. Sie hielt Marie erfolgreich von obangezeigtem Plan ab, lobte sie über vollbrachtes Produkt und ging mit ihr ins Badezimmer. Nach Abschluss der Reinigung lachte Marie, da sie ganz so wie ich zur Sauberkeit neigte und froh war, wenn ihre Malheurs beseitigt wurden. Sie setzte sich auf den Fliesenboden des Badezimmers, schlüpfte in ihre Unterhose, fand sogar in die Latzhosenbeine. Ja, ich konnte stolz sein, die Fortschritte der letzten Monate waren gewaltig. Meine Unzufriedenheit und latente Ungeduld mussten sich aus anderer Quelle speisen.

Marie wackelte an der Hand ihrer Mutter vom Bad durchs Vorzimmer dem Kinderzimmer entgegen. Da traf mich die Erkenntnis wie jene Faust, die sprichwörtlich ums Auge kreist, um dann und wann zuzuschlagen. Ich war in den vergangenen Monaten nach anfänglicher Orientierungslosigkeit und Akklimatisierung derart intensiv mit Marie beschäftigt gewesen, dass ich mich und mein Ziel aus dem Visier verloren hatte. Dennoch fühlte ich unentwegt dessen Existenz, wenn auch unter schwerem, schwarzem Samt verborgen.

Kaum im Zimmer, eilte Marie ihrem Töpfchen zu, eine Berührung mit diesem wusste die Mutter zu verhindern. Und da geschah eine innere Verschiebung in mir. Die einzelnen Teile, deren ich bisher ansichtig geworden war, ergaben plötzlich Sinn.

Meine Wiedergeburt, das wurde mir in diesem unscheinbaren Moment bewusst, konnte nur einen Zweck haben. Am Ende meines ersten Lebens hatte ich meinen Roman No. 7/III unfertig zurücklassen müssen. Das Fragment, so erkannte ich nun, sollte in meinem neuen Leben wieder aufgenommen werden. Ja, allein aus diesem zweiten Leben würde R7/III möglich. Ich musste zum Unvollendeten zurückkehren und meine Arbeit fortsetzen, zum Abschluss bringen.

Wie ein Gestirn, ein neu eingefangener Mond ging dieses Leben jetzt auf. Meine Neugeburt in Marie war dazu bestimmt, mein Opus magnum zu vollenden. Und hierfür würde ich ihr meinen Willen aufoktroyieren.

DIE DODERER-GASSE

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