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Erinnerungen

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Es war ruhig, fast schon still, nur der Wind pfiff. Er wehte über meine kalte, weiße Haut, aber ich spürte ihn kaum. Er zerrte meine langen, schwarzen Haare nach hinten, presste mein T-Shirt an den Körper und ließ meine Sachen flattern. Der Wind versuchte mich von den Zinnen zu stoßen, mich in seine dunklen Tiefen zu reißen.

Aber ich stand ganz still da, die Arme ausgebreitet, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Nur mein Geruchssinn arbeitete. Er arbeitete gründlich, immer wieder saugte ich die kühle Nachtluft durch meine Nase ein, versuchte die verschiedenen Gerüche auseinander zu halten, sie in ihre Bestandteile zu zerlegen. Ich suchte einen bestimmten Geruch: Den Geruch, ihren Geruch.

Ihr Duft, so köstlich und verführerisch, so unwiderstehlich, dass es vor Verlangen tief in mir pochte und brannte.

Meine Kehle war eine Wüstenlandschaft, meine Zunge, mein Mund trocken, der restliche Körper glich einem Flammenmeer.

Verzweifelt versuchte ich ihren Geruch wiederzufinden. Warum nur hatte ich ihn verloren, weshalb ließ ich ihn ziehen, ich war doch schon so nah. Ich hätte nur nach ihr greifen, sie nur packen müssen. Dann würde ihr Duft bereits mir gehören, mir allein.

Ich würde ihn in mich aufsaugen, verschlingen, ihn einatmen. Mein Feuer wäre gelöscht.

Der Wind wurde plötzlich stärker, die verschiedenen Gerüche intensiver.

Da, endlich, wieder ein kleiner Fetzen von ihrem Duft. Lieblich und teuflisch zugleich. Ich ließ ihn nicht mehr los, hielt ihn in meiner Nase fest, versuchte die genaue Richtung zu bestimmen.

Westlich, fast am anderen Ende der Stadt. Ich roch sie wieder, ein eigenartiges Glücksgefühl schoss durch meinen Körper, ich wusste, wo sie sich befand.

Mein Kopf ruckte hoch und ich riss die Augen auf.

Lächelte, mein Feuer loderte kurz und heftig, es wollte gelöscht werden. Ich wollte, dass es gelöscht wird, mit ihrem herrlichen Duft und … Geschmack.

Ich ging einen Schritt nach vorne und fiel in die Tiefe, flog auf den harten Boden zu.

Der plötzliche Wind riss meine Haare hoch und zerrte an meinen Sachen. Das Rauschen und Pfeifen der Luft begleitete mich auf dem kurzen Weg nach unten.

Sanft landete ich auf den Füßen, ich stand noch nicht richtig, da sprintete ich bereits los, ihrem Duft entgegen.

Zu ihr und ihrem köstlichen, unwiderstehlichen Geruch, damit er mein Feuer löschte und mein Monster beruhigte.

Ich huschte lautlos durch die noch feuchten Straßen. An einer Bushaltestelle sah ich sie endlich auch mit meinen Augen.

Sie war wunderschön, blonde, glatte Haare, die zwischen den Schulterblättern endeten. Porzellangleiche Haut, ein schlanker Körper mit schier endlosen Beinen, die in Jeans steckten.

Ihr Duft, der mich magisch anzog, ließ sie auf mich wirken, als sei sie das schönste Geschöpf auf Erden.

Selbst für mich, als Mädchen, schien sie mir schöner, als jeder Engel zu sein.

Ich rannte auf sie zu, mitten im Lauf griff ich sie mir.

Sie hörte mich weder, noch sah sie mich. Mit einer Hand umfasste ich ihre Beine, mit der anderen ihre Schulter, gleichzeitig hielt ich ihr den Mund zu. Außer einen verschreckten Humpf konnte sie nichts mehr sagen.

Nur ihre Augen, diese wunderschönen blauen Augen, wurden immer größer und größer.

Mit meiner Beute im Arm stürmte ich durch den nächstgelegenen Hausdurchgang, dieser führte in einen schäbigen Hinterhof.

Genau der richtige Platz für mich.

Ich lächelte und spürte, wie sich mein süßes Opfer in meinen Armen windete.

Ich blickte ihr direkt in die, vor Schreck, weit aufgerissenen Augen, hörte wie ihr Blut rauschte. Ihr köstlicher, warmer Lebenssaft, er schoss förmlich durch ihre Adern.

Ein herrlicher Duft wehte zu mir hoch, betäubte meine Sinne, ließ mein inneres Monster jaulen und vor Gier laut schreien.

Mit der Hand bog ich ihren Kopf langsam nach hinten, nur so viel, dass ihr Hals in all seiner Schönheit vor mir entblößt lag. Unter der zarten Haut sah ich das Blut in ihren Adern pulsieren, es rauschte schneller, als ich es je für möglich hielt. Das war der schönste Anblick, den es für mich gab.

Langsam bewegte ich meinen Mund in Richtung ihres Halses.

In meinen Armen fing sie an, hektischer zu strampeln. Aber mit eisernem Griff hielt ich sie fest. Meine Beute war mir sicher, sie kam nicht mehr weg.

Weit öffnete ich meinen Mund und stellte mir schon vor, wie sie schmeckte, wie ihr heißes Blut durch meine Kehle lief und augenblicklich das Feuer in mir löschte.

Ich schlug ihr meine spitzen Zähne in den Hals.

Sie versteifte sich in meinem Arm.

Sofort schoss ein Strom von warmem, köstlichem Lebenssaft aus dem Mädchen. Meine Lippen umschlossen die Bisswunde und ich saugte das warme Blut in mich hinein.

Es spülte die Wüstenlandschaft in meiner Kehle fort und löschte das Feuer in meinem Innersten.

Sie schmeckte einfach köstlich.

Ich löste mich erst wieder von ihrem Hals, als sie fast leer war.

Ein letztes Mal schluckte ich, dann fuhr ich mit meiner Zunge über die zwei Einstichstellen an ihrem Hals, die meine Eckzähne hinterlassen hatten.

Sofort verschlossen sich die Wunden und ihre Haut sah so aus wie vorher. Rein, weiß und makellos.

Ich ließ sie einfach fallen.

Schwer plumpste sie auf den schmutzigen Boden.

Sie war jetzt nur noch eine leere Hülle für mich.

Ihr Duft, ihr ganz spezieller Geruch war verschwunden.

Ein bisschen hing er noch in der Luft, umgab mich, umkreiste und umschmeichelte mich. Aber ich hatte genug von ihr aufgesogen, ihre Überreste interessierten mich nicht mehr.

Ich lehnte meinen Kopf an die Wand und schloss die Augen. Ein lang gezogenes Stöhnen entglitt meiner Kehle.

Ich spürte deutlich, wie meine Zähne schrumpften, wie sie zu ihrer normalen Größe zurückkehrten.

Langsam öffnete ich die Augen, nun waren sie wieder braun, mit kleinen gelben Pünktchen, die wie Goldflitter aussahen.

Ein paar Stunden später stand ich auf der Brücke, die sich elegant über den Fluss spannte. Sie verband die rechte mit der linken Hälfte unserer Stadt.

Zyniker behaupteten, sie würde die arme mit der reichen Seite koppeln und ich war geneigt, ihnen zuzustimmen. Tatsächlich wurden auf der rechten Seite, also östlich, viel mehr schäbige Hochhäuser gebaut, als im westlichen Teil. In dem sich fast alle Geschäfte, Schulen und sonstige interessante Sehenswürdigkeiten, befanden.

Ich stand schon häufig mitten auf der Brücke und starrte in das dunkle, rauschende Wasser unter mir.

Es war heute Nacht nicht meine Aufgabe gewesen, der Blonden aufzulauern und sie zu töten. Mein eigentlicher Auftrag bestand in der Vernichtung eines Kinderschänders. Blondie kam mir nur dazwischen, sie war sozusagen, ein kleiner Unfall, ein klitzekleines Versehen.

Der vereinbarte Zeitpunkt zur Tötung des Kindermörders war längst verstrichen, meine Chance vertan.

Tief in mir drin regte sich etwas, das man vielleicht als schlechtes Gewissen bezeichnen konnte. Schuldgefühle darüber, dass in naher Zukunft erneut ein Kind den Tod finden würde. Indirekt wäre ich mit schuldig, da ich den Verbrecher laufen ließ.

Mitten in meine Überlegungen hinein, schlug plötzlich eine Hand, schwer auf meine Schulter. Ich zuckte erschreckt zusammen, entspannte mich aber sofort wieder, da ich wusste, es konnte nur einen geben, der mich und meine Lieblingsplätze genau kannte.

Es war Frank.

»Es ist schon spät, Frank«, murmelte ich, »was führt dich hier her?«

Ich lehnte meine Arme auf das eiserne Geländer der Brücke und starrte demonstrativ hinunter auf den dunklen Fluss und die um sich wirbelnden Strudel.

Er lachte kurz trocken. »Du meinst wohl, es ist bereits früh, Tascha.« Mit seinem Finger zeigte er knapp an meiner Nase vorbei in Richtung Osten. Ob ich wollte, oder nicht, ich folgte, mit den Augen, seinem ausgestreckten Finger.

Dort ging gerade zwischen den Hochhäusern die Sonne auf. Der Himmel wurde schon heller und die Wolkenkratzer hoben sich deutlich gegen das hellorange Firmament ab.

»Gleich geht die Sonne auf«, flüsterte Frank mit einer brüchigen Stimme. »Ein neuer Tag beginnt, Tascha. In deinem und auch in meinem Dasein.«

Ich erwiderte nichts, mir fiel keine Antwort ein, so starrte ich einfach wieder in die Fluten unter uns.

Frank lehnte sich in der gleichen Stellung gegen das Brückengeländer und blickte ebenfalls über den Fluss, auf dem sich der Sonnenaufgang glitzernd wiederspiegelte.

Seine Stimme zerriss die Stille.

»Warst du … jagen?«

Mir entging die kleine Kunstpause nicht. Ich warf ihm einen kalten Blick zu.

»Nein. Mir kam etwas dazwischen.«

Frank hob eine Augenbraue. »Dazwischen?«, fragte er ungläubig.

»Ja«, ich lachte kurz, »etwas Blondes.«

Sein Blick durchbohrte mich, ich sah erneut auf das dunkle Wasser, es hatte etwas Beruhigendes an sich.

»Tascha, wir alle haben schwache Momente, aber du …«

Ich wusste bereits, was er sagen wollte, noch bevor er es aussprach.

»Aber du … bestehst nur aus schwachen Momenten. Du musst dein Verlangen zügeln, du musst dich einfach dazu zwingen, so geht das nicht weiter.«

Er tippte mir mit dem Finger gegen die Schulter und ich sah zu ihm auf.

»Irgendwann, musst du die Konsequenzen für deine Taten tragen. Dann kann ich dir nicht mehr helfen. Ich werde ihnen recht geben und einen Schritt beiseitetreten um sie durchzulassen.« Seine Stimme war leise und eindringlich.

Er blickte über mich hinweg und fixierte irgendeinen Punkt am Horizont.

Es verfehlte seine Wirkung nicht. Ein leichtes Kribbeln stellte sich ein, es begann am Rücken und zog sich, in rasender Geschwindigkeit, über den Rest meines Körpers fort.

Er sah mir in die Augen.

»So ist es brav, mein Mädchen«, er lächelte selbstgefällig, »du solltest auch ein bisschen Angst haben.«

Ich hasste ihn dafür und mich noch viel mehr.

Vor allem aber verabscheute ich die Angst. Sie war schlecht, sie lähmte einen. Angst ließ einen nicht mehr richtig reagieren.

Ich fragte mich, ob er meinen Hass wohl auch so gut roch, wie meine Angst.

Das war aber anscheinend nicht der Fall.

Er beugte sich nach vorne und küsste mich sachte auf die Stirn. Abermals durchzuckte es mich wie ein Blitz und das Kribbeln stellte sich augenblicklich erneut ein. Es hatte nichts Angenehmes an sich, das war der reine Selbsterhaltungstrieb.

Abrupt drehte Frank sich um, er wollte scheinbar gehen, der Kloß in meinem Hals, begann sich langsam zu lösen, die Angst, die mein Herz schmerzhaft zusammen presste, ließ ein wenig lockerer.

Die Hände, vergraben in seiner leichten Jacke, entfernte er sich zwei Schritte, dann blieb er stehen.

Sofort drohte der Kloß meinen Hals zu sprengen und die kalte Hand mein Herz zu zerquetschen.

Frank machte sich nicht die Mühe sich umzudrehen.

»Denk an meine Worte, ich habe dich gewarnt.«

Zu keiner Antwort fähig, konnte ich nur stumm nicken. Das genügte ihm scheinbar und er schlenderte über die Brücke, in Richtung der reichen Seite.

Mit einem zittrigen Seufzer fiel auch die Furcht von mir ab, was blieb, war nur Wut und Hass, auf ihn und mich selbst.

Darauf, dass ich mich nicht beherrschen konnte und das ich mich damals dem Clan anschloss. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich jetzt ein freier Vampir, ich könnte tun und lassen was immer ich wollte. Niemandem müsste ich Rechenschaft ablegen, keiner würde mich fortwährend ausfragen.

Was gut und richtig, oder falsch und schlecht wäre, müsste ich selbst entscheiden.

Mein bester Freund, Josh, lebt genau nach diesen Prinzipien.

Meine Faust schlug gegen das Geländer. Genau diesen Freund werde ich jetzt aufsuchen. Ich sehnte mich nach einem freundlichen Gesicht, nach einem frechen Grinsen, nach jemandem, der mich verstand.

Ich ging über die Brücke, dem Sonnenaufgang entgegen.

Joshs Buchladen war von der Sorte: 24 Stunden geöffnet und hier bekommen Sie alles. Ein regelrechter Hexenladen war das und er lag im östlichen, dem ärmeren Teil unserer Stadt.

Ich machte mich auf den Weg.

Mein Wagen, ein 66er Mustang Convertible, stand noch bei mir zuhause in der Tiefgarage, so ging ich den ganzen Weg, zu Josh’ Hexenladen, zu Fuß.

Die Sonne war schon ein gutes Stück den Himmel hinaufgeklettert, als ich endlich vor Joshs Buchladen ankam.

Nur gut, dass uns Geschöpfe der Nacht die Helligkeit nichts ausmacht, dass wir nicht, wie in den unzähligen, lächerlichen Büchern und Filmen über uns, einfach zu Staub zerfallen.

Es bedarf schon einiger Anstrengungen, um einen Vampir, von diesem Dasein, ins nächste zu schicken.

Uns den Kopf abschlagen, das ist schon mal eine sehr gute und zuverlässige Möglichkeit. Feuer ist auch sehr effektiv.

Ein Genickbruch lähmt uns nur, für die Zeit, die unsere toten Körper brauchen, um die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Alle anderen Wunden verschließen sich innerhalb kürzester Zeit, Schmerzen können wir sehr gut ertragen.

Wir essen nicht, wir trinken nicht, es sei denn, es handelt sich um Blut, möglichst frisch aus der Vene.

Alternativ kann es auch aus der Konserve kommen.

Eine kleine Firma im östlichen Teil der Stadt spezialisierte sich darauf. Sie bezogen das Blut von verschiedenen Orten, Blutbanken, freiwillige Spender und wer weiß noch, woher.

Sie füllten es in schmale Konservenbüchsen, ähnlich einer Limo-Dose, ab und verkauften es an die Vampire in der Gegend.

Der Erlös aus dem Verkauf ging fast vollständig an den hohen Rat der Vampire, der Abfüller erhielt nur einen verschwindend geringen Teil für seine Arbeit.

Der hohe Rat aber gab das Geld an uns weiter, hat man je einen armen Vampir getroffen? Wir sind immer flüssig.

Je mehr Konservenblut wir konsumierten, umso mehr Geld konnte der Rat an uns verteilen.

So war allen geholfen: Den Menschen, da nicht mehr so viele von ihnen getötet wurden, und den Vampiren, sie brauchen nicht mehr jagen und es drohte keine Aufdeckung unserer Geheimnisse.

Somit waren alle glücklich, wenn auch die Blutsäcke, ohne etwas davon zu ahnen.

In Gedanken versunken betrachtete ich das Geschäft von außen. Die beiden Fenster, links und rechts der Eingangstür, waren verdunkelt. Es war nicht möglich, einen Blick in das Innere zu werfen.

Josh hatte auch keine Waren in den Fenstern ausgestellt, nur über der Tür prangte eine rote Leuchtreklame. Joshs Buchladen stand in verschnörkelter Neonschrift an der Wand. Tag und Nacht leuchtete sie, seit ich Josh kannte, erhellten die fünfzehn Zeichen den Eingangsbereich und tauchten ihn in ein schauriges, blutiges Licht.

So auch heute, schmunzelnd, über die Tatsache, dass man sich auf Josh scheinbar immer verlassen konnte, stieg ich die drei ausgetretenen Steinstufen empor und stieß die Tür zu seinem Laden auf.

Ein zartes Glöckchen ertönte, ein Schock für die Nase erwartete mich hinter der Tür.

Es roch nach … Nichts.

Das stimmte nicht ganz, es hing natürlich ein Geruch in der Luft, aber der war so gut wie Nichts wert.

Es roch nach Staub, trockener Luft und dem pergamentartigen Geruch eines Vampirs.

Josh stand hinter dem Verkaufstresen, auf seine Ellenbogen gestützt und blickte mir freundlich entgegen.

Josh gehörte noch nie zum Clan und wird es auch nie. Er und Frank konnten sich nicht leiden, es bestand sogar so etwas wie eine Todfeindschaft zwischen ihnen.

Gut für mich, so konnte ich mit Josh über Dinge sprechen, die nicht für die Ohren meines Mentors bestimmt waren.

»Hallo Natascha, schön dich zu sehen.« Josh grinste breit und sah, wie immer, einfach wunderschön aus.

»Was führt dich in mein Geschäft?«

Er kam hinter seinem Tresen hervor, trat an mich heran und umarmte mich. Abermals atmete ich diesen eigenartigen Papiergeruch ein.

Eigentlich müsste ich genauso riechen, wusste jedoch, dass es nicht so war.

Wie zur Bestätigung hielt Josh mich auf Armeslänge fest und blickte mich an.

»Du duftest immer noch genau so gut wie früher. Daran hat sich nichts geändert.« Er drückte mich wieder an sich.

»Das ist sehr schön.«

Ich hörte ihn seufzen und spürte, wie er tief einatmete.

Ich kannte Josh noch aus meiner Halbblutzeit, meistens traf ich ihn im Desmodus, ich war aber auch hin und wieder hier bei ihm im Buchladen. Niemals erzählte ich Frank davon.

Josh war ungefähr im gleichen Alter wie ich. Natürlich im menschlichen Alter, nicht das Alter als Vampir, da dürfte er mir so um die dreihundertachtzig Jahre voraus haben.

Er wollte mich damals immer von Frank weg locken, erzählte mir die schlimmsten Schandtaten über ihn. Sein Leben als freier Vampir versuchte er mir schmackhaft zu machen. Damals war ich aber noch von Frank abhängig und auch so fasziniert von ihm, dass ich nie auf Josh hörte.

Jetzt sah die ganze Sache anders aus, derzeitig beneidete ich ihn um sein Leben ohne Regeln.

Ich befreite mich sanft aus Joshs Umarmung und sah mich in seinem kleinen Geschäft um.

Ehrfurchtsvoll bestaunte ich jedes Stück in diesem regelrechten Hexenladen. Auch, da ich wusste, wie stolz Josh auf seine Sachen war. Zuerst erschlug einen die Vielfalt der Dinge nahezu, aber man gewöhnte sich daran.

Eine Wand von Joshs Laden nahm ein überdimensionales Regal ein, vollgestopft mit Büchern. Romane, Geschichten, Gedichte, Reiseführer, Hexenbücher und Bücher über Liebe, Tod und auch Vampire. Teils Neue, aber auch so alte Bücher, dass man meinen könnte, Josh hätte sie selbst aus den vergangenen Jahrhunderten seines Daseins mitgebracht.

Die Decke hing mit unzähligen Traumfängern und Lampions voll. Überall standen kleine, verzierte Tischchen, aus verschiedenen Zeitepochen. Waffen hingen an den Wänden verstreut. Gewehre, Pistolen, Schwerter und Säbel. Dazwischen, an goldenen Kordeln immer wieder Bilder und kleine Wandteppiche.

Überall stand, lag und hing etwas. Es war einem schlicht unmöglich, hier etwas Bestimmtes zu finden.

Wenn man nach was speziellen suchte, war es ratsam, Josh zu fragen, er kannte jeden seiner Gegenstände und auch die dazugehörigen Geschichten.

Fast schon zärtlich dirigierte Josh mich zu zwei altmodischen und abgewetzten Sesseln.

»Was kann ich denn für meine Süße tun?«, fragte er mit seidenweicher Stimme.

Lächelnd betrachtete ich ihn, seine blonden, zerzausten Haare, die blauen Augen, sein feines, glattes Gesicht. Er war eine wirklich hübsche Ausgabe eines Blutsaugers.

Sein Blick wurde intensiver, das Blau eine Spur dunkler. Verlegen fixierte ich einen Punkt vor mir, auf dem, mit alten Perserteppichen bedeckten, Boden. Ich wusste, dass Josh ein bisschen verliebt war, in mich, ich wusste es, da er es mir irgendwann, in einer schwachen Stunde, gestand.

Ich erwiderte seine Gefühle nicht, für mich war er nur der beste Freund, den man haben konnte. Das alles machte unser Verhältnis zu einer komplizierten und manchmal peinlichen Sache.

Sich seiner Wirkung auf mich voll bewusst, setzte er sich mir gegenüber in den Sessel. Völlig entspannt lehnte er sich, mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, zurück.

»Nun sag endlich, was kann ich für dich tun, Natascha?« Wieder diese seidenweiche Stimme, die mich erschauern ließ.

»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete ich und lächelte schief.

Joshs selbstgefälliges und wissendes Grinsen machte mich wütend, aber ich beherrschte mich.

»Du kommst also den weiten Weg hier in meinen bescheidenen Laden, um … was? Nichts zu wollen?« Ein verächtliches Schnauben kam aus seinem Mund.

»Das mag glauben, wer will«, umständlich stemmte er sich aus dem Sessel, »ich jedenfalls nicht.«

»Warte Josh«, beeilte ich mich zu erwidern, »ich will schon was von dir. Aber …«, erneut starrte ich betreten zu Boden.

»Aber?«, fragte er gedehnt.

Ich sah ihn von unten her an. »Aber es ist nichts Wichtiges. Ich war nur auf der Suche nach einem freundlichen Gesicht und vielleicht ein paar netten Worten.« Ich seufzte. »Nettere als ich die letzten Stunden gehört habe.«

Josh hob fragend eine Augenbraue, bis sie fast in seinen blonden Haaren verschwand.

Leise erzählte ich ihm von den vergangenen Stunden. Meiner verbotenen Jagd und meinem Treffen mit Frank.

Als ich meine kurze Geschichte beendete, seufzte Josh auf und nahm zart meine schmale Hand in seine.

»Warum tust du dir das nur an?«, fragte er und zeichnete dabei die feinen Linien auf meinem Handrücken nach.

»W-Was meinst du?«

»Na ja, die Jagd ist unsere Leidenschaft, wir sind wie Raubtiere, die werden auch unzufrieden mit der Zeit, wenn man sie nur mit totem Fleisch ernährt.«

Fragend sah ich Josh in die leuchtend blauen Augen.

»Du willst jagen, Süße. Das liegt dir im Blut. Du möchtest kein schlechtes Gewissen haben. Tja, und dann noch Frank, dieser verdammte Bastard, der meint alles beherrschen zu können und der Clan, mit seinen mehr als zweifelhaften Aufgaben. Das alles meinte ich. Also, ich frage nochmals: Warum zum Teufel tust du dir das alles an.«

»Ich … ich … ich weiß es nicht«, erwiderte ich zögernd.

»Das dachte ich mir schon«, murmelte Josh und lachte kurz.

»Bist du einen Vertrag mit Frank eingegangen?«, er sah mich lauernd an, »oder hast du einen Pakt mit dem Mistkerl geschlossen?«

Energisch schüttelte ich mit dem Kopf. »Nein. Nein natürlich nicht. Josh, wofür hältst du mich?«

»Es war nur ‘ne Frage«, seine Stimme ging in ein entschuldigendes Gemurmel über.

Ganz plötzlich strafften sich seine Schultern, mit einem Ruck stand er auf, in derselben Sekunde riss er mich aus dem Sessel hoch in seine Arme. Ich war viel zu erschrocken und erstaunt, dass ich zu einer Gegenwehr bereit wäre.

Seine kalten Arme lagen eng um meinen Körper, dicht an meinem Ohr hauchte er:

»Natascha, Süße, willst du nicht bei mir bleiben? Wir könnten Gefährten werden. Pfeif doch auf die ganze Kodex Sache. Bei mir … mit mir gäbe es ein Leben ohne die verdammten Regeln. Du könntest jagen wen und wann du willst. Es wäre auch ein Leben ohne schlechtes Gewissen.«

Ich lehnte meine Wange gegen seine eiskalte Schulter und dachte über seine Worte nach. Während Josh mir sacht übers Haar streichelte, kreisten meine Gedanken um die Möglichkeiten, die er mir soeben offenbarte.

Mit seinen kurzen Worten, öffnete er mir eine Welt, nach der ich mich insgeheim schon lange sehnte.

Ein Dasein ohne Regeln, ohne den Kodex und vor allem … ohne Frank.

»Bekomme ich noch eine Antwort, bevor ich alt und grau bin und am Krückstock gehe?« Joshs Stimme klang amüsiert, aber es schwang auch ein angespannter Ton darin.

Ich kicherte. »Sicher doch. Ich war nur in Gedanken versunken.« Sanft drückte ich ihn von mir und setzte mich behutsam zurück in den Sessel.

Er nahm mir gegenüber Platz. »Und deine Gedanken ergaben … Was?«

Ich holte tief Luft.

»Du hast völlig recht Josh. Die Zeit ist reif für Veränderungen. Aber ich werde, wenn ich erst den Clan verlassen habe, die Stadt wechseln müssen. Sie … ER wird hinter mir her sein und er wird verdammt wütend sein.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Vertrauensvoll legte mir Josh seine Hand aufs Knie. »Du wirst am besten hier bei mir bleiben, nur hier bist du sicher. Ich werde dich beschützen.«

Was er sagte, flößte mir Vertrauen ein, ich war tatsächlich bereit Frank und den Clan zu verlassen, um ein Dasein in Freiheit zu führen. Ich konnte es selbst nicht richtig glauben.

»Aber es geht noch nicht sofort«, sagte ich leise und beschwor sofort einen säuerlichen Gesichtsausdruck bei ihm hervor.

Ich beeilte mich weiter zusprechen.

»Ich werde noch einen Auftrag erledigen.«

Joshs Miene hellte sich wieder ein wenig auf.

»Einen?«, fragte er misstrauisch.

»Ja, nur einen einzigen. Ich verspreche es dir.«

»Nun gut, wenn es sich wirklich nur um einen Auftrag handelt, meine Süße.« Er stand auf und lächelte auf mich herab.

»So lange kann ich wohl noch warten, schließlich hoffe ich schon sehr lange auf eine Änderung deiner Sichtweise der Dinge.« Er drehte sich um und ging in Richtung seiner Theke.

Verwirrt erhob ich mich.

»D-Du wartest? W-wie lange denn sch-schon?«

»Willst du was trinken?« Er überhörte meine Frage und goss stattdessen Konservenblut in zwei Gläser.

»Nein danke. Beantworte bitte meine Frage, Josh.«

Er stand mit dem Rücken zu mir, aber ich sah, wie er in der Bewegung verharrte. Er drehte sich nicht um, als er leise meinte:

»Schon lange, Natascha. Schon verdammt lange.«

Josh stellte ein mit Blut gefülltes Glas in die Mikrowelle und schaltete sie ein, dann trafen sich unsere Blicke.

»Eigentlich schon, solange wir uns kennen.«

Ich schluckte und wusste keine Antwort darauf.

»Willst du wirklich nichts?«, fragte er lakonisch und zeigte auf die noch laufende Mikro.

Ich schüttelte mit dem Kopf. »Danke Josh, aber ich hatte schon genug.«

Ein schiefes Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

»Genug von … Was?«

Ich holte tief Luft. »Von allem. Und jetzt muss ich gehen. Heute Abend ist ein Treffen und da sollte ich ausgeruht sein.«

»Wie du meinst«, murmelte er und nahm das erwärmte Blut aus der Mikrowelle. Genüsslich hielt er es sich unter die Nase. Mit geschlossenen Augen zog er den Geruch des Blutes ein.

Ich spürte, wie sich mein Mund schmerzhaft zusammen zog, jetzt war es wirklich an der Zeit diesen Ort zu verlassen.

»Auf bald, Josh«, hauchte ich und drehte mich brüsk um.

»Bis bald… hoffe ich doch. Ich werde auf dich warten, meine Süße.«

Seine Worte kreisten in meinem Kopf. Den ganzen Weg, bis zu mir nach Hause, konnte ich an nichts anderes mehr denken, als nur an Joshs letzte Worte.

Bei mir angekommen, widerstand ich der Versuchung, mir eine Dose Blut zu erwärmen, ich wollte einfach so lange wie möglich damit warten. Zu köstlich war das echte, solange es noch in meinem Körper kreiste, schüttete ich keine gepanschte Blutmixtur darauf.

Ich wohnte in einem der vielen Hochhäuser, fast am Ende der Stadt. Im Obersten Stockwerk befand sich ein kleines Appartement mit großer Dachterrasse. Es bestand nur aus einem Zimmer: Dem Wohnzimmer.

Da wir Vampire nicht schlafen, benötigte ich auch kein Bett, falls ich das Bedürfnis hatte mich auszuruhen, legte ich mich einfach auf mein kleines Sofa. Ein Esstisch war ebenso wenig nötig, wie eine voll ausgestattete Küche. Eine kleine Küchenzeile mit Mikrowelle, ein Kühlschrank und Platz für ein paar Gläser genügten völlig für meine Bedürfnisse. In meinem winzigen Badezimmer war gerade Platz für eine Dusche und das Waschbecken, die Toilette diente mir nur als Sitzplatz.

Schwer plumpste ich auf das Sofa, warf einen Blick aus den großen Fenstern und dachte nach.

Ich bewohnte zwar den östlichen Teil der Stadt, aber meine Terrasse ging nach Westen hinaus, der untergehenden Sonne entgegen. So konnte ich nicht nur sehen, wie die Dunkelheit herauf kroch, auch den Fluss, die Brücke und den Bezirk der Reichen konnte ich ausmachen.

Ich überlegte, ob das wirklich so eine gute Idee war, mich nach dem nächsten Auftrag von Frank und dem Clan zu trennen. Was würde mich erwarten? Konnte ich wirklich hier in der Stadt bleiben, wie es mir Josh versicherte? Das kam vielleicht darauf an, wie ich mich vom Clan trennte, im Guten, oder im Schlechten. Wir werden sehen.

Ich lehnte meinen Kopf seufzend gegen die Lehne und schloss die Augen.

Als ich sie wieder öffnete und einen erneuten Blick aus meiner Terrassentür warf, stellte ich verwundert fest, dass ich die Sonne sah. Es musste also später Nachmittag sein.

Ich hatte mich den gesamten Tag ausgeruht, ohne die kleinste Störung.

Ich duschte ausgiebig und zog mich an.

Um achtzehn Uhr machte ich mich auf, zu Franks Haus. Er wohnte sehr weit draußen, außerhalb der Stadt. Das hieß, dass ich mein Auto nehmen musste.

Ich ging durch das Treppenhaus in die Tiefgarage,

Aufzüge machten mich nervös.

In ihnen konzentrierte sich die Luft, der Geruch der Menschen konnte nicht entweichen. Er stand förmlich in dem kleinen Raum, füllte ihn komplett aus, und war für mich kaum auszuhalten, besonders wenn der Geruchsträger noch mit mir zusammen eingeschlossen war. Auch wenn die Fahrt nur wenige Sekunden dauerte, konnte es für das Menschlein bedeuten, dass meine Zähne das Letzte war, was er in seinem Leben zu sehen und zu spüren bekam.

Um dieser schier unausweichlichen Tat aus dem Wege zu gehen, benutzte ich die Treppe.

In der Tiefgarage stank es nach Gummi, Benzin und Bremsstaub. Aber noch einige andere Gerüche mischten sich unter die Vorherrschenden.

Menschliche Gerüche, nach Hektik, Schweiß, Angst, und Streit.

Tief atmete ich ein und ging gelassen zu meinem Parkplatz mit der bezeichnenden Nummer 666.

Mein 66er Mustang stand neben einem anderen Wagen, aus dem, genau in dem Moment, einer der Mieter ausstieg. Ausgerechnet.

Das Verdeck war von meiner letzten Spritztour noch offen, somit konnte ich mich nicht schnell in meinem Wagen verschanzen. Es war aber auch zu bedauerlich.

Als ich an meinem Parkplatz ankam, stand der Mensch noch immer neben seinem Auto und sah zu mir herüber. Ich würdigte ihn keines Blickes, starrte stattdessen auf den roten Lack meines Flitzers, der matt in der Neonbeleuchtung glänzte.

Der Kerl umrundete meinen Wagen, kam schnellen Schrittes auf mich zu und sagte mit einer netten leisen Stimme.

»Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Ralph und Sie müssen Natascha sein.« Dabei streckte er mir seine Hand entgegen.

»Sie wohnen über mir«, setzte er lächelnd hinzu.

Ich blickte auf seine Hand und sah sein Blut durch die Adern pulsieren.

Unwillkürlich leckte ich mir über die Lippen, ergriff dennoch seine Hand und drückte sie flüchtig.

»Ja, kann sein«, gab ich zurück und schenkte ihm einen verlockenden Augenaufschlag.

»Ich hoffe, ich bin nicht zu laut und störe Sie und … «

Ein schneller Blick zu seinem Wagen, der sich als regelrechte Familienkutsche entpuppte. » … ihre Familie nicht. Ich bin leider ein Nachtmensch.«

Er ließ meine Hand los.

Schade. Zu gerne hätte ich ihn an mich gerissen und meine Zähne in seinen hübschen Hals versenkt. Für den Bruchteil einer Sekunde erwägte ich dieses Szenario, aber nur um es genauso schnell wieder zu verwerfen.

»Nein«, meinte er und wurde sichtlich verlegen.

»Ich lebe alleine … k-keine Familie. Den großen Wagen fahre ich nur, weil er mir … na ja, gefällt.«

Er wand sich förmlich vor Verlegenheit und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Und, nein, Sie sind nicht laut, ehrlich gesagt höre ich Sie gar nicht. Ich weiß nur das Sie über mir wohnen, von der letzten Versammlung, da … Sie waren zwar nicht da … aber … ich … eh …« Er geriet mit seiner Erklärung ins Trudeln, es war einfach zu köstlich.

Ich hörte mein helles Lachen von den Wänden und der niedrigen Decke der Tiefgarage abprallen

»Es ist schon gut«, beruhigte ich ihn, immer noch lachend. »Vielleicht begegnen wir uns ja noch einmal wieder, dann können Sie versuchen den Satz zu vollenden.«

Vor mich hin kichernd ging ich zu meinem Mustang und öffnete die Tür.

Ich warf einen letzten Blick zurück.

Er stand hinter meinem Wagen, die eine Hand in der Hosentasche, die andere schüchtern zu einem letzten Gruß erhoben.

»Na dann, auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal«, sagte er leise. Ich nickte ihm zu, schwang mich auf den Sitz und startete den Mustang. Der satte, tiefe Sound des 4,7 Liter, V8 Motors verursachte mir, wie immer, eine kurzes Kribbeln und meine Nackenhaare stellten sich auf.

Ich griff nach meiner Sonnenbrille und setzte sie auf, draußen schien noch kräftig die Sonne.

Als ich kurz in den Rückspiegel sah, stand der Kerl immer noch hinter meinem Wagen, die Hand zum Gruß erhoben.

Menschlein, dachte ich bei mir, wenn du jetzt nicht verschwindest, kann ich für nichts mehr garantieren. Dann wird dein Blut fließen, so oder so.

Ich drehte mich in meinem Sitz nach ihm um, schob meine Sonnenbrille in die Haare, blickte ihn an und hob fragend die Hand.

Er verstand und erwachte aus seiner Starre.

»O-oh«, hauchte er und trat endlich beiseite.

Ich fuhr meinen Roten aus der Parklücke, in Richtung Ausfahrt.

Endlich raus aus diesem stickigen Loch von Tiefgarage, wo sich der Geruch viel zu lange hielt. Wo er in einer brutalen Konzentration an den Wänden und der Decke wie eine Nebelschwade entlang schwebte.

Ich machte ein paar lange Atemzüge als ich endlich auf der Straße dahin fuhr, saugte die schöne und noch sehr warme Luft in mich ein.

Als ich bei Franks Haus ankam waren es noch zehn Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Ich war also fast pünktlich. Es stand noch kein anderer Wagen hier.

Ich parkte auf meinem Stammplatz, vor Franks Haus. Es gab keine unmittelbare Nachbarschaft und somit auch keine neugierigen Nasen, die sich an den Fenstern plattdrückten.

Langsam stieg ich die Stufen zur Eingangstür empor und klingelte. Frank öffnete mir fast augenblicklich, als hätte er hinter der Tür gelauert. Er begrüßte mich mit einer seidenweichen Stimme, die fast alle Vampire beherrschen.

»Tascha, wie schön das du da bist, komm bitte herein.«

Kaum wagte ich einen Schritt in seinen Flur, traf es mich auch schon wie eine Ohrfeige. Dieser alte Geruch, die anderen waren also schon da.

Erst kurz vor der Tür zum Wohnzimmer bemerkte ich, dass etwas anders war.

Ein feiner, leichter Duft, der sich nur ganz schwach von dem alten, pergamentartigen Geruch der Vampire abhob. Ich blickte Frank an und sagte grinsend.

»Oh, du hast Horsd’œuvre für uns?«

»Nein«, meinte er und seine Stimme wurde hart. »Lass die Finger und Zähne bei dir, Tascha, ich warne dich!«

Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse.

Frank stieß die Tür zum Wohnzimmer auf und ließ mich vorgehen.

Kaum einer beachtete mich, nur Thomas nickte mir kurz zu. Ich platzierte mich neben dem großen, offenen Kamin, den Frank tatsächlich anfeuerte. Die pure Nostalgie, im Hochsommer. Langsam wanderte mein Blick im Raum umher.

Fast tausend Jahre Vampirdasein saßen hier zusammen.

In der Mitte des Raumes stand ein kleiner niedriger Tisch und um ihn herum, im Halbkreis aufgestellt, sechs gemütliche Sessel die alle, bis auf einen, besetzt waren, mit Vampiren.

Ganz rechts saß Michael. Er war dreißig Jahre lang schon ein Vampir, bevor er 1774 offiziell starb. Er war ein evangelischer Geistlicher und Vampirforscher. Er tat viel für unsere Art und lenkte die Blutsäcke von unserer, früher doch sehr deutlichen Spur, ab. Er war damals auch einer der Vampire im hohen Rat, die zu jener Zeit die Clans der Vampire ins Leben riefen.

Neben ihm saß Richard der erst kurz vor seinem eigentlichen Tod 1812 verwandelt wurde. Auch ein ehemaliger Vampirforscher.

Dann kam Thomas, von dem ich wusste, das er 1724 in dem Dorf Kisolova in Bosnien die Vampirepidemien anführte, und ein regelrechtes Gemetzel unter den Einwohnern verursachte. Er war ganz nett und nicht so überheblich wie die anderen zwei.

Neben ihm saß Elisabeth, eine rothaarige Schönheit mit makelloser, weißer Haut, sie unterhielt sich angeregt mit Thomas. Von ihr wusste ich nicht viel, aber sie war mit Sicherheit auch aus dem 18. Jahrhundert.

Und schließlich Jeanie, das Teufelsweib. Ein echt fieser Blutsauger, dem ich noch nicht einmal im Dunklen begegnen mochte. Sie war die Spionin der Obrigkeit und dachte, keiner wüsste es. Natürlich wusste jeder davon und somit wurde sie gemieden wie die Pest. Wer mochte sich schon für jedes seiner Worte an höherer Stelle rechtfertigen müssen.

Der Sessel neben ihr war leer und ich bedauerte, dass ich nicht noch früher von zu Hause losgefahren war, dann hätte ich mir einen Platz in dieser Riege der Vampire aussuchen können. Ich hätte mich bestimmt nicht freiwillig neben Spionin Pestbeule gesetzt.

Franks Sessel stand an der Wand, gegenüber dem Halbkreis, und in dem Sessel neben Frank saß … ein Mensch.

Ein junger Kerl, von vielleicht fünfundzwanzig, ziemlich schlaksig, mit braunen, zerzausten Haaren und braunen Augen, die unruhig hin und her blickten.

Frank mutete uns ganz schon was zu. Ich zog die Luft durch die Nase ein

Nein, dachte ich und verdrehte die Augen zur Decke, er ist ein verdammtes Halbblut.

Ich sah Frank fragend in die Augen, der mir gerade eines seiner schönen Kristallgläser reichte. Darin bewegte sich sacht eine dunkelrote Flüssigkeit.

»Danke«, murmelte ich und deutete mit dem Kinn in Halbbluts Richtung. »Was soll das?«, flüsterte ich.

»Beruhige dich, das wirst du schon sehen«, gab er leise zurück. »Setz’ dich bitte.«

Ich verzog erneut das Gesicht und nahm Platz neben Spionin Pestbeule. Dabei rückte ich in dem Sessel so weit von ihr weg wie es nur ging. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja eine ansteckende Krankheit. Um mich abzulenken roch ich an dem Glas, das Frank mir gereicht hatte.

Hm, eine Konserve, dachte ich und stellte das Glas unberührt auf dem kleinen Tisch ab. Mit Sicherheit würde ich jetzt auf mein kleines Blondinchen kein Blut aus der Konserve kippen. So nötig hatte ich es auch wieder nicht.

Alle anderen Gläser waren bereits geleert und standen auf dem Tisch. Es sah merkwürdig aus, dass mein Glas als Einziges noch voll war. So nahm ich es wieder in die Hand und ließ meinen Finger sachte auf dem Rand des Glases gleiten.

Dabei blickte ich mir das Halbblut näher an.

Recht hübsch war er, nette Augen, unauffällig zog ich die Luft aus seiner Richtung ein. Roch herrlich der Junge, geradezu irre köstlich. Ich merkte, wie sich mein Mund zusammenzog und meine Zähne ihr Eigenleben aufnahmen. Erschrocken schloss ich meine Augen und kämpfte gegen die Empfindung an.

Dieses unheimliche Gefühl, sofort aufzuspringen und dem Jüngling meine Zähne in den Hals zu schlagen, um seinen köstlichen Duft in mich aufzusaugen.

Als hätte er meine Gedanken erraten räusperte sich Frank umständlich. Ich öffnete meine Augen und sah seinen Blick auf mir ruhen. Ich wich ihm aus und sah zum Kamin, in das Feuer.

Er räusperte sich erneut und blickte die anderen Vampire, einer nach dem anderen, an. Sein Glas war bereits geleert, dennoch hielt er es in seiner Hand

»Meine lieben Freunde«, seine Stimme faszinierte mich immer wieder aufs Neue.

»Uns steht wieder mal eine große Jagd bevor. Einige Individuen haben sich zusammengeschlossen und ein schändliches Verbrechen verübt.«

Ich ahnte, worauf er anspielte. Es war letzte Woche in allen Zeitungen: Ein mörderisches Blutbad, das ganz harmlos mit einem einfachen Bankraub und ein bisschen Geiselnahme ihren Anfang nahm. Nichts Besonderes eigentlich, aber irgendwann lief alles aus dem Ruder und die Bankräuber töteten ihre Geiseln einer nach dem anderen. In dem ganzen Chaos gelang es tatsächlich allen Tätern zu fliehen. Wie genau die das angestellt haben, war allen ein Rätsel.

Wie ich mir dachte, erzählte Frank gerade die ganze Story.

»Es sind derer vier Täter, die wir jetzt endlich ausmachten. Sie hatten sich mit der Beute getrennt, somit war es schwerer für uns, sie zu finden, es hat ein wenig gedauert.«

Na ja, eine Woche fand ich nicht lange, vor allem da die örtlichen Behörden immer noch vollkommen im Dunklen tappten.

»Michael wird einen übernehmen und Richard einen. Ich werde euch die nötigen Instruktionen gleich noch schriftlich übergeben.« Beide Angesprochenen nickten leicht mit ihren Köpfen.

»Tom und Elisabeth, ihr werdet zusammenarbeiten und euch über den dritten Bankräuber hermachen.«

Beide blickten erst sich gegenseitig und dann Frank erstaunt an. Zusammenarbeit, so etwas war schon lange nicht mehr vorgekommen. Aber sie würden gehorchen, wie wir alle. Franks Wort galt.

»Tascha«, ich zwinkerte kurz und holte schon mal tief Luft, um zu protestieren, falls Frank vorhatte mich mit Pestbeule Jeanie zusammen arbeiten zulassen.

»Du nimmst Justin mit.« Er deutete auf das Halbblut, der angespannt in dem Sessel neben ihm saß.

»Du wirst ihm jede Frage beantworten, erklärst ihm alles«, Frank blickte mir eindringlich in die Augen. »Zeigst ihm alles was er wissen muss, und … du beherrschst dich!« Sein Blick war starr und kalt.

»Klar, kein Problem«, antwortete ich ihm, »wo hast du die Unterlagen für mich?«

Plötzlich wollte ich so schnell wie möglich hier raus. Ich wollte die Luft draußen einatmen, hier drinnen war es zu stickig. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Was natürlich irrational war, da wir eigentlich gar nicht atmen müssen, es ist nur noch eine Art Reflex. Vampire können die Luft auch einfach anhalten, aber es ist ein zu seltsames Gefühl.

Ich stellte mein, immer noch volles Glas, geräuschvoll auf dem Tisch ab, stand auf und schnappte mir den braunen Umschlag, den Frank mir hinhielt.

Mit einem Blick auf das Halbblut sagte ich zu ihm:

»Ich warte im Auto auf dich.«

Dann drehte ich mich um und ging mit schnellen Schritten aus dem Raum.

Als ich die Haustür hinter mir schloss, musste ich mich dagegen lehnen und kurz durchatmen. Es war immer noch sehr warm draußen, aber alles war besser als diese abgestandene Luft in Franks Wohnzimmer, mit diesem alten, dumpfen Geruch, gepaart mit dem süßen, menschlichen.

Ich ging zu meinem Auto und wedelte mir mit dem Umschlag ein wenig Luft zu.

Die Sonne ging bald unter, dann umschlang uns wieder diese dunkle, satte Nacht.

Ich setzte mich in meinen Wagen und öffnete den Umschlag, um mir anzusehen, wer diese schöne Nacht nicht überlebt.

Alexej hieß er, 1980 geboren. Und heute wird sein letzter Tag sein, dachte ich fröhlich.

Es folgten die üblichen Schandtaten von Alexej und eine Beschreibung seiner Person. Es lag noch ein Foto bei und ein kleiner handgeschriebener Zettel, auf dem die Adresse und Uhrzeit stand. Seine Todeszeit: zwei Uhr morgens.

Schon wieder zwei Uhr, überlegte ich, und hoffte, dass das kein schlechtes Omen sei. Der Kinderschänder von gestern sollte um die gleiche Zeit den Tod finden.

Außerdem befand sich noch ein kleines Stückchen Stoff in dem Umschlag, meine Geruchsprobe. Ich roch an dem Fetzen, der aussah als stammte es von einer Jeans. Der Geruch, den ich einatmete, ja, in mich einsaugte, war nicht schlecht. Natürlich nicht so gut, wie Blondie von gestern, aber auch nicht schlecht. Leicht harzig, nach Nüssen, Holz und ein bisschen blumig. Aber so, das einem das Wasser im Mund zusammen lief.

Zum wiederholten Male wunderte ich mich darüber, wie die Oberen des Clan an diese detaillierten Informationen und an die Geruchsprobe kamen. Es gab immer noch einige Informationen, die mir Frank in meiner Halbblutzeit vorenthielt.

»Wo bleibt denn dieser Justin?«, sagte ich laut, »ich kann ja nicht die ganze Nacht hier vertrödeln.«

Genau in diesem Augenblick ging die Haustür auf und Frank trat, mit Justin zusammen, hinaus.

Ich sah, wie Justin mit weit aufgerissenen Augen hektisch auf Frank einredete. Ich lauschte.

»Ich will nicht mit ihr fahren, Frank. Hast du nicht gesehen, wie sie mich anstarrte da drin, mit ihren hungrigen Augen. Sie hat auch als einzige dieses Blut nicht getrunken, warum?« Seine Stimme überschlug sich fast vor Furcht.

»Frank, ich werde diese Nacht nicht überleben, wenn du mich mit ihr zusammen in dieses Auto steckst. Ich …«

»Jetzt hör schon auf«, unterbrach Frank ihn wütend und mit einem schnellen Seitenblick auf meinen Mustang. »Schließlich kann sie dich hören. Sie wird dir schon nichts tun. Ich vertraue ihr … und das solltest du auch. Du kannst viel von ihr lernen. Nun geh’ schon. Tascha wartet und eine Frau sollte man nicht warten lassen«, fügte er schmunzelnd hinzu.

Ich verdrehte die Augen gen Himmel

Was für eine Memme dieser Kerl, dachte ich bei mir.

Laut sagte ich: »Wenn du jetzt nicht bald einsteigst, fahre ich ohne dich. Komm, die Nacht ist noch jung und ich hab’ noch viel vor.« Dabei ließ ich zweimal kurz meine Augenbrauen in die Höhe schnellen und grinste überheblich. Selbst auf die Entfernung sah ich, wie Justin angestrengt schluckte.

Mit gesenktem Kopf kam er langsam auf mein Auto zu, er war jetzt schon kreidebleich. Als ich kurz zu Frank blickte, sah ich, dass er den Mund verzog und sich mit dem Finger langsam über den Hals fuhr. Ein altbekanntes Zeichen. Ich durfte dem Jungen nichts zu leide tun, sonst war ich dran.

Ich lächelte flüchtig.

Justin stieg endlich ein und schnallte sich blitzartig an. Dabei rückte er in seinem Sitz so weit von mir weg, wie es eben ging. Er war immer noch kreidebleich und stank nach Angst.

»Willkommen an Bord«, sagte ich freundlich, erntete aber nur ein gemurmeltes »Danke.«

Er senkte den Kopf wieder.

Na, das konnte ja heiter werden.

Ich seufzte und lenkte meinen Mustang in Richtung Stadt.

Langsam wurde es dämmrig, die Luft roch anders, nach Nacht, nach Dunkelheit, nach Sicherheit, nach Tod und Verderben … Das roch gut.

Unter mir rollten die Reifen gleichmäßig dahin und brachten mich immer näher an mein nächstes Opfer heran.

Wie wird es diesmal werden?

Wie wird es sein, meine Zähne in seinen Hals zu schlagen?

Wie wird sein warmes süßes Blut wohl schmecken?

Als wir in der Stadt ankamen, war es schon fast dunkel. Justin entspannte sich die ganze Fahrt über nicht. Er presste sich in seinen Sitz. Ich fragte mich, wie weit seine Verwandlung schon fortgeschritten war. Ich kann zwar besser riechen als ein Hund, aber den genauen Stand seiner Verwandlung wusste selbst ich nicht. Ich wusste nur, dass er noch kein Blut geschmeckt hatte. Also fragte ich ihn danach. Er schreckte kurz zusammen, als meine Stimme so plötzlich die Stille zerriss. Er antwortete mir aber erstaunlich ruhig und gelassen.

»Ich bin schon recht schnell«, er überlegte kurz, »und ich kann gut hören und riechen.«

Das war ja schon mal was. Somit stand er mir heute Nacht wenigstens nicht im Weg.

Obwohl ich die Antwort schon kannte, fragte ich ihn nach der Blutsaugersache.

»Hast du auch schon anderes Blut geschmeckt?«

»N-Nein«, antwortete er zögerlich.

Umso besser, dachte ich, dann gehört dieser Alexej heute Nacht mir ganz alleine. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Ich dachte darüber nach, was wir in den nächsten Stunden anstellen könnten. Da ich den Ort und die genaue Zeit kannte, hatte es keinen Sinn früher zuzuschlagen.

Ich überlegte, ob ich mit meinem Schüler eine Kleinigkeit trinken sollte. Mir fiel ein, wohin ich mit ihm gehen könnte. Wo er in Sicherheit vor anderen Vampiren war und andere Menschen vor mir nichts zu befürchten hatten.

»Justin, es ist noch früh, wir gehen einen Trinken bis die Zeit reif ist«, sagte ich und sah ihn an. »Was sagst du dazu?«

Er blickte unsicher zurück, seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Von mir aus«, meinte er gedehnt. Er hatte schöne Augen.

»Was ist los, vertraust du mir etwa nicht?« Er gab mir keine Antwort, warf mir nur einen verärgerten Seitenblick zu. Ich grinste vor mich hin.

Am Stadtrand befindet sich das Vergnügungsviertel und mittendrin gibt es eine Bar mit dem bezeichnenden Namen Desmodus. (Desmodus draculae ist der lateinische Name für eine, bereits ausgestorbene, Riesenvampirfledermaus Art)

In unseren Kreisen ist sie ein beliebter und bekannter Treffpunkt für Vampire und auch Halbblüter. Oberste Regel in diesem Etablissement: Hier wird Nichts und Niemand gebissen. Aber es gibt erstklassiges Konservenblut zu trinken und auch noch ein paar andere Köstlichkeiten.

Ich parkte etwas abseits vom Desmodus, da mein Wagen bekannt war und nicht jeder wissen musste, dass ich mich hier amüsierte, vor allem Frank nicht.

Einen Türsteher gab es nicht, dafür eine verschlossene Tür mit Klingel und Videoüberwachung.

Gelobt sei das Computerzeitalter.

»Wer begehrt Einlass?«, dröhnte es über die Gegensprechanlage, als Antwort auf mein doppeltes Klingelzeichen.

Schnell blickte ich die Straße rauf und runter, auf der Suche nach neugierigen Zuhörern, ehe ich antwortete:

»Ein Vampir mit Halbblut im Schlepptau.«

Statt einer Antwort summte es kurz und wir traten ein.

Im Foyer war es kalt

»Tascha«, begrüßte mich dröhnend der Herr und Meister über Klingel und Tür. »Lange nicht gesehen, das ist ja schön, dass du uns noch mal besuchst. Wie ich sehe«, meinte er mit einem Blick auf Justin, »züchtest du dir eine neue Dienerschaft heran.«

»Nein, der gehört Frank. Ich führe ihn nur ein bisschen Gassi.« Ich grinste breit.

»Ich habe einen Auftrag heute Nacht, aber die Zeit ist noch nicht reif. So habe ich gedacht, wir nehmen einen kleinen Drink. Welche Umgebung könnte passender sein als das Desmodus um ein junges Halbblut in unsere Welt einzuführen.«

»Da hast du recht, Tascha, na dann immer rein mit euch, viel Vergnügen. Und nicht vergessen: hier wird Nichts und Niemand gebissen!«

»Schon klar.«

Wir gingen durch die Doppeltür und befanden uns mit einem Mal in einer anderen Welt. Der Geruch, der uns entgegenschlug war wirklich atemberaubend. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass es Justin auch nicht anders erging. Er war erstaunt, mehr als das, eher schon hypnotisiert und augenblicklich berauscht.

Für das erste Mal hielt er sich aber erstaunlich gut.

Diese Geruchsvielfalt war kaum auszuhalten.

Es roch vorherrschend nach Blut, sehr viel Blut, dann dieser süße, feine Duft der Halbblüter und der staubige, alte Geruch der Vampire.

Ich war schon oft hier und bin trotzdem jedes Mal wieder aufs Neue berauscht von diesen verschiedenen Gerüchen.

Der Laden war nicht sehr groß. Es gab nur etwa zehn Tische mit je drei Stühlen, eine kleine Tanzfläche, aber dafür eine schier endlos lange Theke. Hinter der, wie immer, drei Barkeeper ihren Dienst verrichteten.

Ich ging mit Justin im Schlepptau in Richtung Theke.

»Was möchtest du trinken?«, fragte ich ihn.

»W-Was trinkt man denn hier so?«, gab er zögernd zurück

»Na ja, ich weiß schon was ich trinke, du kannst dir bestellen, was immer du möchtest. Eigentlich gibt es hier alles. Also, was darf es sein?«

»Eh, … ich hätte gerne ein Bier.«

Ich wartete an der Theke auf die Bedienung und blickte mich um. Ganz gut gefüllt heute Abend, fast alle Tische waren besetzt. Überall stand Konservenblut herum. Mal wieder mehr Vampire als Halbblute hier.

Ich sah jede Menge bekannte Gesichter unter den Vampiren. Früher, in meiner aufregenden Halbblutzeit, war ich oft mit Frank hier.

Es hatte schon was für sich, wenn man von einem der Oberen des Clans beschützt wurde. Auch wenn, laut der Tradition des Desmodus‘, hier Nichts und Niemand gebissen wird, gab es immer den einen oder anderen Blutrünstigen, der sich nicht an die Regeln hielt.

Die Bedienung kam, eine Vampirin, und fragte nach meinen Wünschen

»Ein Bier und was Leckeres«, gab ich meine Bestellung auf.

»Tascha, ich hab dich gar nicht erkannt. Komm lass dich drücken.« Sie umarmte mich ungeschickt über die Theke hinweg und drückte mir rechts und links einen Kuss auf die Wange.

»Mädchen. Gut siehst du wieder aus. Wie geht es dir?« Es klang so, als interessierte sie das wirklich.

»Gut, Bea, alles bestens. Und bei dir?«

»Prima. Und wer ist das? Gehört der etwa zu dir?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung in Justins Richtung.

»Das ist Justin, er gehört zu Frank und ich zeige ihm heute nur ein wenig die Stadt.«

»Aha. Ich bringe euch dann mal eure Getränke.«

Es dauerte nicht lange und sie kam mit einem eiskalten Bier für Justin und einer handwarmen Konserve für mich, wieder.

»Wohl bekomms.«

»Dank dir, Bea«.

Das ist schon was, Blut in Dosen. Es ist natürlich nicht mit dem Original, frisch aus der Vene, zu vergleichen, aber es kommt dem schon recht nahe.

Als ich noch über mein Dosenblut nachdachte, hatte Justin neben mir sein Bier schon in einem Zug geleert.

Gerade stellte er das Glas geräuschvoll auf die Theke. Wie aufs Stichwort erschien auch schon Bea, hob sein Glas an und fragte ob er noch Nachschub möchte.

So ging es ein paar Bierchen weiter und ich fragte mich, ob Justin wohl vorhatte sich hier und jetzt zu betrinken.

Ich war immer noch bei meiner ersten Konserve und hatte diese noch nicht mal halb leer.

Ich beugte mich zu ihm hin und flüsterte ihm eindringlich ins Ohr:

»Du erinnerst dich bitte, dass wir heute noch was vorhaben!«

»Ja, sicher. Ich hab nur Angst, ich könnte den Geschmack von Bier vergessen. Na ja, du weißt schon, wenn ich außer diesem Zeugs«, damit deutete er mit dem Finger auf meine Konserve, »nichts anderes mehr vertrage.«

Entschuldigend lächelte er mir zu und schlug die Augen nieder. »Aber erzähl das bitte nicht Frank.«

Er sah mich an, mit diesem bittenden Hundeblick, ich musste lachen

»So ganz scheinst du ja noch nicht bereit zu sein«, stellte ich amüsiert fest.

»Doch, doch«, entgegnete er und wechselte schnell das Thema. »Gibt es hier auch ein Klo? Ich müsste da mal.«

Ich nickte in die Richtung.

»Geradeaus hinter den Billardtischen rechts, ist ausgeschildert.«

Er ging davon und schwankte ein bisschen. Aber nur ein wenig, man bemerkte es kaum.

Fünf Minuten später kam er mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht wieder. Ich legte meine Stirn in Falten und sah ihn fragend an.

»Hast du was Lustiges gesehen, auf dem Klo?«

»Nein«, erwiderte er und lachte kurz. »Ich wusste ja gar nicht, dass die Mädchen hier so heiß sind.«

Irritiert blickte ich ihn an.

Da braute sich das Unheil auch schon zusammen.

Unruhe entstand bei den Billardtischen und ich sah mehrere Kerle, wie sie sich aufgeregt unterhielten. Einer deutete in unsere Richtung.

»Justin, was hast du getan?«, fragte ich ihn leise.

»Nichts, ein Mädchen ist kurz vor den Klos über mich hergefallen. Ich konnte mich noch nicht einmal wehren. Aber es war trotzdem ganz nett.« Er grinste über das ganze Gesicht wie eine zufriedene Katze.

Ich verdrehte meine Augen zur Decke.

Na toll, dachte ich noch, da stürmte einer der Kerle, ein wahrer Riese, auch schon auf uns zu, packte Justin am Kragen und hob ihn hoch, als wenn es gar nichts wäre.

Ich kannte ihn, ein Halbblut, aber kurz vor seiner endgültigen Verwandlung, so auch schon mit großen Kräften ausgestattet. Er gehörte zu der Sorte, die man auch dann nicht leiden konnte, wenn sie Vampire waren. Sie gehörten nie zum eigentlichen Clan dazu, schwammen immer gegen den Strom und waren eine echte Plage. Blutgierig und mordlüstern.

»Du Mistkerl«, brüllte der Riese Justin an, »du hast mein Mädchen angebaggert und abgeknutscht. Dafür wirst du jetzt bezahlen.« Er holte mit seiner Faust zu einem Schlag aus, der Justin sämtliche Knochen im Leib brechen wird.

Das konnte ich natürlich nicht zulassen, also ging ich dazwischen.

»Hey, beruhig dich mal! Lass ihn los, wir reden darüber. Ich wette, es handelt sich hier um ein blödes Missverständnis.«

Der Riese blickte mich wütend an.

»Ich will mich aber nicht beruhigen«, brüllte er lauthals und schlug mit der Faust, mit der er eben noch auf Justin eindreschen wollte, gegen meine Schulter.

Jeden anderen hätte es jetzt drei Meter nach hinten geschleudert. Aber ich blieb stehen und ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich diesem widerlichen Riesen meine Faust auf die Nase geboxt.

Das Blut spritzte nur so nach allen Seiten, überall sah man Köpfe herumfahren.

Die Köpfe der Vampire.

Frisches Blut ist immer gefragt und erregt schnell die Aufmerksamkeit. Aber was ich wollte, hatte ich erreicht, der Riese ließ Justin los und nicht nur das, er packte sich mit beiden Händen an die Nase und sank auf die Knie.

Blut lief zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte auf seine Beine. Ich starrte fasziniert darauf, wie die Tropfen sich auf seiner Hose zu immer größeren Seen formten.

»Die Schlampe hat mir die Nase gebrochen«, erklang es dumpf hinter den vorgehaltenen Händen.

»Zum Reden hat er wohl jetzt keine Lust mehr.« Justin zog sein Hemd wieder glatt.

»Wir gehen«, herrschte ich ihn an, »sofort!«

Ich warf einen Geldschein auf unseren Platz und wir traten den Rückzug an.

Das war ja keine reife Leistung. Ich hatte zwar keinen gebissen, aber Blut, frisches, pulsierendes Blut, floss dennoch.

Ich bemerkte, dass uns keiner beachtete auf dem Weg zur Tür. Alle Blicke hingen an dem riesigen Kerl, der nun gar nicht mehr so riesig aussah, wie er auf dem kalten Boden kniete und sich die Hände vor das Gesicht hielt. Unaufhörlich quoll Blut hervor und tropfte auf sein Hemd und die Hose

Wenn der nicht aufpasste, war er bald das Opfer.

In einem Raum voll mit Vampiren spontan eine Blutung zu haben, war überhaupt nicht ratsam für die eigene Gesundheit.

Auf dem Weg zum Ausgang, packte Bea mich am Arm.

»Du weißt, das war Mist«, zischte sie heiser und war mit einem Mal überhaupt nicht mehr so nett, wie eben noch, »Das hat ein Nachspiel.« Ihre Augen funkelten wütend.

Ich riss mich los und rannte zum Ausgang. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Justin neben mir war.

Guter Junge. Das Foyer war zum Glück wie leergefegt. Vielleicht wollte der Herr über Klingel und Tür auch nachsehen, was da drinnen die Aufmerksamkeit der Vampire auf sich zog.

Schnell waren wir auf der Straße und bei meinem Mustang angekommen.

Wundert mich, dass uns keiner folgte, dachte ich und startete den Motor. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr ich wieder in Richtung Innenstadt.

Jetzt endlich kam die Wut.

»Verdammt«, ich schlug mit der flachen Hand auf mein Lenkrad.

»Verdammt, verdammt, verdammt«, jedes Mal schlug ich erneut zu.

Neben mir fing Justin unkontrolliert an zu kichern.

Ich starrte ihn wütend an. Gerne hätte ich ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst, befürchtete aber, ihm dabei das Genick zu brechen, zu groß war meine Wut.

Justin kicherte nur noch lauter, er lachte glucksend, er prustete und lachte jetzt aus vollem Hals.

Das war einfach zu viel für mich. Ich fuhr meinen Wagen rechts ran, hielt mit quietschenden Reifen an und fiel mit einem Bärengebrüll regelrecht über ihn her.

Ich presste ihn mit meinem Körper an die Beifahrertür und packte ihn an den Haaren.

»Du verfluchter Blutsack«, schrie ich ihn an, »das geht auf dein verdammtes Konto. Das war allein deine Schuld. Nicht nur, dass ich mich nicht mehr da sehen lassen kann, was soll ich bitte Frank erzählen? Hä, schon eine Idee?« Erstaunt bemerkte ich, dass meine Zähne zu spitzen Dolchen wuchsen. Merkwürdig, das passierte sonst nur, wenn ich im Blutrausch war und noch nie nur so, aus Wut.

Diese neue Erkenntnis machte mich gleich noch wütender.

Ich packte ihn am Hemdkragen und schüttelte ihn kurz. Sein Kopf knallte gegen das Seitenfenster und seine Zähne klappern aufeinander.

»Bei meinem Glück sind alle Vampire im Desmodus über den Riesen hergefallen. Man wird mir die Schuld geben«, brüllte ich weiter, »hörst du, … mir

Wenigstens erreichte ich, dass er aufhörte zu lachen. Dafür wurden seine Augen immer größer. Er versuchte von mir abzurücken, was er natürlich nicht schaffte. So konnte er nur seinen Kopf von mir weg drehen und die Augen zukneifen.

Ich war nur wenige Zentimeter von seinem Hals entfernt, es wäre ein Leichtes für mich gewesen, jetzt zu zubeißen und sein süßes Blut zu genießen. Nur so, weil ich gerade so wütend war.

Ich starrte auf seinen Hals, sah sein Blut durch die Adern pulsieren, hörte das Rauschen, es klang wie leise Musik in meinen Ohren.

Ich war ganz kurz davor, meinem Blutdurst nachzugeben … und auf die Konsequenzen zu pfeifen.

Die Sekunden dehnten sich aus, ich hatte keinerlei Zeitgefühl mehr, alles drehte sich nur noch um die eine Sache, ich wollte ihn töten.

Sein plötzliches, erschrecktes Keuchen weckte mich auf. Ich zwinkerte einmal und war wieder in der Wirklichkeit angelangt.

Angewidert stieß ich ihn am Kragen zurück und rutschte zurück auf meinen Sitz.

Meine Zähne wurden kleiner, ich konnte es ganz deutlich fühlen, ich drehte meinen Kopf hin und her um wieder klar zu werden.

Fast, dachte ich grimmig, fast …

Mit einem Seitenblick auf Justin sagte ich leise:

»Diesmal hat dich dein Keuchen gerettet, ich hoffe, du hast fürs nächste Mal auch schon eine passende Unterbrechung parat.«

Er zog sein Hemd glatt, das zweite Mal heute bereits.

Er antwortete mir nicht, ich hatte allerdings auch nichts erwartet.

Ich startete den Wagen und fuhr langsam wieder auf die dunkle Straße, unserem eigentlichen Ziel entgegen.

Ich war immer noch wütend, auf mich und auf Justin. Ein Blick auf die Uhr in meinem Wagen verriet mir, dass es noch vier Stunden bis zur Vernichtung von Alexej waren. Wie angenehm wäre es gewesen, die Zeit im Desmodus zu verbringen. Aber Justin musste ja das Unheil anziehen, wie der Honig die Bienen.

Wie es diesem widerwärtigen Halbblut jetzt in dem Raum voller Vampire wohl erging, fragte ich mich. Fielen sie über ihn her und töteten ihn, oder zügelten sie ihr Verlangen und verschlossen die gierigen Raubtieraugen vor dem sachte dahin tröpfelnden Blut?

Ich werde es bestimmt in Kürze erfahren, dachte ich grimmig. Frank wird es mir unter die Nase reiben.

Dieser Vorfall wird nicht spurlos an mir vorüber gehen.

Erneut spürte ich die Wut hoch kriechen, ich wollte sie nicht zulassen, aber sie war da und ließ sich nicht mehr verscheuchen.

So konnte ich mich nicht genug auf meinen Auftrag konzentrieren. Außerdem hatte der Geruch von Justin und die bloße Ahnung davon, wie sein Blut unter der warmen Haut dahin floss, in mir ein irres Verlangen ausgelöst. Das musste erst gestillt werden, bevor ich mich auf so eine unbefriedigende und banale Sache, wie die Jagd nach einem Verbrecher einließ.

Ich überlegte, wie ich Justin loswerde, er sollte nicht dabei sein. Rasch warf ich ihm einen Blick zu, er sah müde aus, vielleicht könnte er im Wagen etwas schlafen, während ich … mich abreagierte.

Wie aus dem Nichts traf es mich, schon wieder so ein süßer, köstlicher Geruch, ein Duft der sofort das Feuer in mir entfachte. Es war, als ob das nette Blondinchen von gestern auferstanden wäre, um mich erneut mit ihrem Duft zu verführen, zu umgarnen.

Woher zum Teufel, kommt bloß dieser Geruch? Fragte ich mich und nahm die Augen zur Hilfe.

Drei Wagen vor uns fuhr ein kleines Cabriolet, in ihm saßen drei Mädchen, junge Frauen, von vielleicht 20 Jahren. Sie hielten die Arme in die Höhe und ihr Lachen klang bis zu uns herüber. Eindeutig war eine von ihnen die Quelle dieses Wohlgeruchs.

Wie stelle ich es nur geschickt an, überlegte ich, dass Justin nichts an Frank weitererzählt.

Ich könnte ihn ohnmächtig schlagen, oder ihn töten, dann wäre er auch aus dem Weg. Vor lauter Verlangen konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich fuhr mir mit beiden Händen durch das Gesicht und anschließend durchs Haar.

Alles Blödsinn, überlegte ich weiter, es musste noch einen anderen Weg geben, einen harmlosen, einen der mir auch später noch erlaubt, Frank wieder unter die Augen zu treten.

Da sah ich plötzlich Joshs Buchladen. Das ist die Idee, dachte ich bei mir, er kann mir helfen und so gleichzeitig beweisen, ob er es wirklich ernst meinte.

Vor dem Laden war ein Parkplatz, ich lenkte den Mustang hinein und stellte den Motor ab. Die Mädchen in ihrem Wagen fuhren lachend weiter, das ist nicht schlimm, den Geruch werde ich überall wiederfinden.

Justin schreckte hoch, erstaunt sah er mich an.

»Wo sind wir, ist es schon soweit?«, fragte er murmelnd.

»Nein, es ist noch massenhaft Zeit. Aber du bist müde und ich kann dich nur dabei haben, wenn du ausgeruht bist. Darum wirst du hier im Wagen eine Runde schlafen und ich gehe kurz zu Josh rein«, damit zeigte ich auf den Hexenladen, »und halte mit ihm ein kleines Schwätzchen.«

Lächelnd blickte ich Justin an, seine Augen waren schon ganz glasig, vor Müdigkeit.

»Du bleibst im Wagen«, fuhr ich fort, »komm besser nicht rein. Josh ist ein Vampir und bei ihm weiß man nie, wie … hungrig er gerade ist.«

Und du riechst einfach zu gut, fügte ich in Gedanken hinzu.

»In Ordnung«, er lehnte seinen Kopf an die Kopfstützen und schloss seine Augen, »bis später.«

Ein letztes Mal blickte ich sehnsüchtig auf seinen weißen, reinen Hals.

Ich stieg aus und atmete den nur noch leicht vorhandenen Geruch des Mädchens ein, dann betrat ich den Hexenladen.

Das Glöckchen über der Tür verriet mein Eintreten. Josh stand in seiner gewohnten Haltung hinter dem Verkaufstresen, der Laden war leer.

Josh grinste mich frech an. »So schnell hatte ich nicht mit dir gerechnet.«

Ich blieb ernst. »Ich bin aus einem anderen Grund hier, Josh.« Er hob seine Augenbrauen fragend in die Höhe, bis sie fast in den blonden Haaren verschwand. Dann warf er einen flüchtigen Blick an mir vorbei, durch sein Fenster, auf die Straße hinaus.

»Wie ich sehe, hast du einen … Begleiter.« Er runzelte kurz die Stirn. »Wie kann man nur in deiner Gegenwart schlafen. Wie kann man es nur wagen, man verpasst so viele kostbare Augenblicke mit dir.« Er schüttelte leicht den Kopf.

»Oder ist er etwa dein Nachtmahl?« Joshs Augen strahlten mich wissend an.

»Nein, er ist Franks Halbblut. Ich soll nur auf ihn aufpassen«, erklärte ich ihm leise.

»Im Moment bin ich froh, dass er schläft. Ich hab‘ nämlich noch was vor«, dabei sah ich Josh bedeutungsvoll in die Augen.

Er ist ein Vampir vom richtigen Schlag, er verstand sofort, was ich meine.

»Oh«, seine Augen wurden ein bisschen größer und er richtete sich auf, »du willst gegen die Regeln verstoßen.«

Das breite Grinsen auf seinem Gesicht passte eigentlich gar nicht zu seiner Feststellung.

»Nun ja, ich bin immer noch ein Mitglied des Clan«, ich straffte meinen Körper, »es liegt noch ein Auftrag vor mir, Josh. Ich habe es versprochen … denk daran.«

Lachend winkte er ab. »Ja, ja, Süße. Was kann ich denn für dich tun?«

Ich antwortete nicht sofort, ich dachte darüber nach, wie es wirklich werden könnte, wenn ich in Joshs Lager wechselte.

Er beugte sich weit über die Theke und flüsterte heiser.

»Sag es mir nur, soll ich diesen Blutsack da draußen von der Bildfläche verschwinden lassen, damit du freie Bahn hast?« Josh sah mich fragend an.

»Nein«, ich kreischte fast, »nein, bloß nicht. Mit dem werde ich schon selber fertig. Ich brauche nur deinen Hinterausgang, mehr nicht. Nur … deinen Hinterausgang, damit ich ungesehen verschwinden kann.«

»Okay und wann kommst du wieder, damit dieser Blutsack vor meinem Geschäft verschwindet. Er vergrault mir die Kundschaft.« Josh sah ein wenig enttäuscht aus.

»Zwei bis drei Stunden, mehr brauche ich nicht.«

Hoffe ich, setzte ich in Gedanken hinzu. Ich wusste genau, dass ich nicht eher von der Kleinen lassen konnte, bis ich sie erwische. Rendezvous mit Alexej hin oder her.

»Kein Problem, meine Süße.« Er ging um seine Theke herum und kam gelassen auf mich zu.

Dabei fiel mir ein, das Josh der einzige ist, der mich Natascha und meine Süße nennt. Das machte sonst keiner, jedenfalls würde es derjenige nicht zweimal hintereinander schaffen.

»Ich habe Zeit«, sagte er leise und seufzte, »sehr viel Zeit.«

Er umarmte mich kurz und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

»Du musst jetzt gehen, Natascha. Komm schnell wieder, bitte.« Seine Stimme war wie Honig, zähflüssig, klebrig und sehr süß.

»Ja. Passt du für mich so lange auf Justin auf? Und …«, ich hob spielerisch den Zeigefinger und setzte eine ernste Miene auf, »…keine Dummheiten, lass den armen Jungen leben, wenigstens so lange, bis ich ihn mir kralle.«

Ich grinste ihn frech an.

»Riecht er gut?« Josh zog eine Augenbraue hoch in seine blonden Haare.

Ich verdrehte die Augen. »Du glaubst gar nicht, wie gut. Lange kann ich nicht mit ihm zusammen sein, ohne auf seinen Hals zu starren.« Ich hielt meine Hände neben mein Gesicht und ließ sie wie Raubtierkrallen aussehen.

»Grr. Das macht mich ganz irre.«

Josh lachte kurz auf.

Frustriert ließ ich die Hände sinken, zuckte mit den Schultern und sah ihn an.

»Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für alles. Ich bin bald wieder da.«

»Auf bald, Natascha«, er gab mir den Weg frei.

Schnell lief ich durch den Hinterausgang und befand mich in einem quadratischen Hinterhof. Hier sind die Höfe alle miteinander verbunden. Es wird mir ein leichtes sein, wieder auf die Straße, weit vor meinem Mustang mit dem schlafenden Justin, zu gelangen. Um den Geruch wieder zu finden, diesen herrlichen, köstlichen, betörenden Duft.

Um ihn in mich aufzusaugen.

Um wieder einmal gegen die Regeln zu verstoßen.

Ich lief durch die Hinterhöfe in Richtung Straße. Zwischen zwei kleineren Geschäften kam ich weit vor dem Mustang wieder raus. Die Stadt war noch sehr belebt. Einige Fußgänger waren unterwegs, die mich misstrauisch beäugten, als ich zwischen den Geschäften heraus schoss.

Ich beachtete sie gar nicht, ging in Richtung Norden, wohin der süße Duft entschwand.

Immer wieder zog ich vorsichtig eine Nase voll Luft ein. Die Mädchen waren nicht sehr weit gefahren, denn der Duft hing noch dick und schwer in der Luft. Plötzlich sah ich das kleine Cabrio, es stand auf einem Parkplatz, vor der größten Diskothek hier in der Stadt, ein richtiger In-Laden.

Sie waren bestimmt noch nicht hineingegangen, überlegte ich, da der Geruch viel zu intensiv war.

Plötzlich hörte ich ihr Lachen wieder, es schallte quer über den Parkplatz bis zu mir. Ein herrliches, perlendes und köstliches Lachen.

Ohne den wundervollen Geruch, der dieses Lachen unterstrich, hätte es wahrscheinlich dumm, hysterisch und quakend für mich geklungen, wie sich das Lachen der Menschen eben anhört, aber zusammen mit dem Duft … Eine Komposition, die meine Nervenenden vibrieren ließ.

Plötzlich sah ich die Mädchen, sie hatten sich neben die Disco verzogen und standen dicht beisammen. Ich überlegte, welche von ihnen so betörend duftete und wie ich sie voneinander trennen konnte.

In diesem Moment war das Schicksal scheinbar gegen mich.

Es donnerte, ein Gewitter zog auf. Hoffentlich fängt es nicht an zu regnen, dachte ich, sonst ertrinkt Justin in meinem Mustang.

Die Mädchen blickten ängstlich zum Himmel und kicherten unsicher. Sie machten sich auf den Weg. Grimmig verfolgte ich sie mit meinem Blick, wie sie zum Eingang gingen und in der Disco verschwanden.

»Verdammt«, zischte ich, »hier draußen wäre es ein Leichtes gewesen. Da drinnen, zwischen all den anderen Blutsäcken, kann ich mich nicht so bewegen, wie ich gerne möchte. Das wird ein Problem.«

Ich muss also auch da rein, oder ich blase die ganze Aktion ab. Ich überlegte gründlich und wägte die verschiedenen Möglichkeiten ab. Der Geruch zog mich magisch an und hatte natürlich die höchste Priorität.

Aber in dem Laden könnten auch noch andere Vampire sein, die Ausschau nach blutigem Nachschub halten. Ihr feiner, dünner Geruch könnte mir entgehen. Das war alles sehr riskant. Ich konnte mich tatsächlich nicht entscheiden. Über mir grollte abermals der Donner und ein heller Blitz durchzuckte die Nacht. Ich schloss meine Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Es hatte alles keinen Sinn. Die Mädchen waren da drin, ich konnte nicht, ohne ein völlig idiotisches Risiko einzugehen, da rein. Bei dem Donnerwetter könnte Justin aufwachen und mich, trotz meiner Warnung, in Joshs Laden suchen. Somit hatte ich wieder zwei neue Probleme. Justin könnte mich an Frank verpfeifen, oder noch schlimmer, Josh würde über Justin herfallen. Ich verdrehte die Augen, immer wieder etwas Neues, nie lief mal was glatt.

Ein Donnerknall, scheinbar frisch aus der Hölle entsprungen, ließ mich zusammenfahren. Der nahm mir die Entscheidung ab. Ich musste zurück, das hier hatte keinen Sinn. Wenn Frank davon Wind bekommt, bin ich geliefert. Ich will ihn und den Clan zwar sowieso verlassen, aber es war mehr in meinem Sinne, wenn das auf eine, für alle Seiten, angenehme Weise geschehen würde.

Fast schon körperliche Schmerzen bereitete es mir, mich umzudrehen, und diese süße Köstlichkeit ziehen zu lassen. Ich werde später versuchen, ihren Geruch wieder zu finden, sie wird mir gehören, es ist nur eine Frage der Zeit.

Ich lief, zu den Hinterhöfen zurück, durch Joshs Hintertür betrat ich seinen Hexenladen.

Es roch jetzt anders hier, frischer, süßer und eindeutig viel besser. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, hatten seinen Laden betreten und schauten sich interessiert und auch ein bisschen verwundert um. Josh stand in einiger Entfernung und beobachtete sie. Als ich um den Tresen herumging, wendete er den Kopf und nickte mir kurz zu. Ich blickte durch das große Fenster und sah Justin in meinem Mustang noch schlafen. Über uns grummelte immer noch das Gewitter. Der hat aber einen tiefen Schlaf, dachte ich, und war erleichtert. Da zog mich Josh ganz plötzlich am Arm hinter seinen Tresen.

»Und?«, fragte er mich flüsternd.

Ich schüttelte den Kopf. »Zu riskant, hab sie ziehen lassen.« Ich blickte ihn an und war leicht irritiert. Er hat normalerweise blaue Augen, ein schönes dunkles Blau. Aber jetzt waren sie fast gelb, ähnlich einem Raubtier. Was hatte ihn bloß so erregt, fragte ich mich und bemerkte gleichzeitig, dass auch sein Atem schneller ging.

»Was sagst du zu den zwei Süßen?«, dabei zeigte er mit dem Daumen hinter sich, in Richtung der Menschen in seinem Laden. Er grinste mich an und ich sah, dass seine Zähne schon im Blutrausch waren.

»Ich teile auch mit dir, willst du das Weib?«

Ich blickte zu den Beiden und zog ihren Duft in die Nase ein. Süß, blumig, recht köstlich. Nicht so toll wie eines der Mädchen von eben, aber besser als völlig leer auszugehen.

Ich lächelte Josh frech an und spürte gleichzeitig, wie meine Zähne ein Eigenleben führten.

»Klar, ich bin dabei.«

Seine Augen strahlten.

Blitzschnell war er an seiner Eingangstür und verschloss sie. Die Beiden hatten davon nichts mitbekommen. Sie unterhielten sich leise miteinander. Die Fenster musste Josh nicht tarnen, da es getönte Scheiben waren, man konnte von außen nicht sehen, was sich im Inneren abspielte.

Josh lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Seine ganze Haltung verriet die Anspannung, seine Gier war ihm an den Augen abzulesen. Ein leises Knurren erklang aus seinem Inneren.

Auch mir erging es nicht anders. Wie schnell sich das Blatt doch wendete. Eben jagte ich noch einem köstlichen Mädchenduft hinterher, in der nächsten Sekunde musste ich sie wieder ziehen lassen. Nun bescherte mir das Schicksal diese zwei Blutsäcke, geradewegs vor meine Reißzähne und ohne, dass ich dafür einen Finger krumm machte.

Auch mich hatte das Jagdfieber gepackt, Gier und Verlangen stiegen in mir hoch, der ganze Ärger der vergangenen Stunden war mit einem Blinzeln meiner Raubtieraugen vergessen.

Mit einem Blick, der unsere Absichten sofort verriet, fixierten Josh und ich die zwei unschuldigen Menschen.

Die Blutsäcke konnten nichts dafür, sie waren nur am falschen Ort und zu einer völlig falschen Zeit. Jedenfalls aus ihrer Sicht.

Aus meiner Sicht war ich ihnen dankbar, da ich heute Nacht doch noch zu meinem Vergnügen kam.

In diesem Moment spürten die Beiden, wahrscheinlich unbewusst, die Bedrohung und wollten verschwinden. Josh aber versperrte die Tür. Sie standen ihm gegenüber und zeigten auf ihn. »Machen Sie bitte die Weg frei«, sagt der Mann zu Josh.

Uha, Ausländer, dachte ich und musste grinsen, die vermisst so schnell keiner. In unserer Stadt geht immer mal der Eine oder Andere verloren, das fällt kaum auf.

Josh lächelte den Mann nur stumm an. Die Frau drängte sich näher an ihren Begleiter heran, der nochmals Josh ansprach:

»Bitte, lassen Sie gehen uns«, in seiner Stimme war ein leichter Anflug von Panik hörbar.

Ich ging langsam ein paar Schritte auf die Touristen zu. Die Frau bemerkte mich als Erster und drehte sich hastig zu mir um. Auch ich lächelte und entblößte dabei meine langen Eckzähne. Ein erschrecktes Keuchen drang aus ihrem Mund, das ihren Mann veranlasste, sich ruckartig um zudrehen. Seine Augen wurden immer größer,

»Das … das … nicht sein … darf … «, stammelte er verstört. Er ließ seine Frau los und hob seine Hände vor das Gesicht.

Darauf hatte Josh nur gewartet. Er packte den Mann von hinten und schoss mit ihm an mir vorbei in Richtung Tresen, sodass meine Haare mir nur so um den Kopf flogen.

Jetzt stand ich der Menschenfrau alleine gegenüber. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und presste sie an den Mund. Ihre Augen wurden immer größer und größer.

Irgendwann werden sie ihr aus den Höhlen treten, dachte ich kurz. Ich musste mich ein bisschen beeilen, sonst erklang gleich ihr markerschütternder Schrei durch die ganze Stadt. Ich sah ihr an, dass sie kurz davor war, los zu kreischen.

Mit einem Satz war ich bei ihr, schlug ihre Hände weg und presste meinerseits die Hand auf ihren Mund. Ich umrundete sie halb und stand jetzt hinter ihr. Ich drückte sie gegen meine Schulter, den anderen Arm legte ich um ihren Bauch. Jetzt war sie mir sicher, sie konnte nicht mehr entwischen. Mein inneres Monster kreischte und jaulte, ich wusste, es wollte nur, dass dieses Feuer gelöscht wird. Gelöscht mit ihrem Blut.

Ihr Hals lag vor mir, ich brauchte nur noch zu zubeißen. Mit den Augen verfolgte ich die Adern unter ihrer Haut, wie köstlich das Blut daher schoss und wie es rauschte, das war Musik in meinen Ohren.

Ich schlug ihr meine Zähne in den schönen Hals und sofort floss ihr süßes Blut meine Kehle hinunter.

Das Monster war augenblicklich still, es trank ihr Blut mit mir zusammen, es ernährte sich von dem köstlichen Lebenssaft.

Ich leerte die Frau fast vollständig, erst dann ließ ich von ihr ab. Die zwei kleinen Verletzungen verheilten durch meinen Speichel sofort.

Ich konnte nicht mehr. Ich ließ sie einfach fallen, schleppte mich mit schweren Schritten zur Theke und ließ meinen Kopf auf die Glasplatte sinken. Ich war völlig fertig und musste mich kurz erholen. Meine Zähne kehrten wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Ich legte meine Wange auf die kühle Auflage der Theke. Tausend Bilder schossen mir durch den Kopf: Frank, die Blondine von gestern Nacht, Justin, der Mieter aus der Tiefgarage, die Mädchen in ihrem Auto und Josh.

Ich hob meinen Kopf und lauschte. Wo ist eigentlich Josh, fragte ich mich, wohin war er mit dem Blutsack verschwunden.

In dem Moment kam Josh aus seiner Kellertür. Seine Augen waren wieder so blau wie immer, die Zähne normal und seine Haut war leicht rosig.

»Hat Spaß gemacht«, er lächelte mich an und wischte sich mit der Hand über den Mund.

»Und … hat’s geschmeckt?«, dabei sah er mich fragend an und kam langsam näher. Ich antwortete ihm nicht.

Er strich mir die Haare über meine Schultern zurück.

»Hat meine Süße eine Grenze überschritten? Hat sie etwa den Kodex mit Füßen getreten?«

Er lächelte ironisch, umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: »Hast du etwa Frank in den Hintern getreten?«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Einerseits ärgerte mich seine Aussage, vor allem auf die Art, wie er es sagte. Auf der anderen Seite wusste ich genau, dass er Recht hatte. Ich hatte Frank in den Hintern getreten und ich hatte den Kodex missachtet. Aber … ich horchte in mich hinein, störte mich das wirklich, würde es mich daran hindern es noch mal zu tun?

Nein, wahrscheinlich werde ich genauso wieder handeln, vielleicht schon in ein paar Stunden. Wenn ich Glück habe.

Darum antwortete ich Josh:

»Es ist alles okay, er kommt darüber hinweg.«

Diesmal schob ich Josh auf Armeslänge von mir weg, und blickte ihn ernst an. »Was machen wir mit den Leichen?«

»Keine Sorge, ich kümmere mich darum.«

Er presste mich wieder fest an seine Brust. Ich atmete diesen eigenartigen Geruch ein und erinnerte mich plötzlich an Justin.

Verflixt, dachte ich, den hatte ich ganz vergessen. Ob er immer noch schläft? Ich löste mich von Josh und ging in Richtung Eingangstür. Unterwegs machte ich einen großen Schritt über die auf dem Boden liegende Frau. Sie war jetzt tot und leer, ohne Geruch und Geschmack, sie interessierte mich nicht mehr.

Mit einem Blick aus der Glasscheibe stellte ich fest, dass Justin wirklich immer noch schlief, er hatte sich nur auf die andere Seite gedreht.

Ich blickte wieder zu Josh, der gerade die Tote vom Boden aufhob und in Richtung Keller trug. Ich wusste nicht, was er mit ihr machen wird, ich verschwendete aber auch keinen weiteren Gedanken darauf.

Als Josh wieder in seinem Laden, hinter dem Tresen, stand, sagte ich zu ihm: »Ich muss jetzt gehen, Josh«, ich sah ihn an, »danke … für alles, wir sehen uns.«

»Ja, aber warte nicht zu lange mit deinem nächsten Besuch.«

»Okay, bis dann«, murmelte ich, schloss die Tür auf und stand wieder draußen auf dem Gehsteig. Es waren keine Fußgänger mehr unterwegs, gänzlich unbelebt war die Straße.

Ich ging zu meinem Mustang, öffnete leise die Türe, setzte mich und knallte sie mit Wucht wieder zu.

Justin riss den Kopf hoch und murmelte etwas Unverständliches.

Er reckte und streckte sich ausgiebig.

»Na, du Murmeltier, ausgeschlafen?« fragte ich ihn leichthin.

»Ja, ich glaube. Wie spät ist es?« er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Oh, halb eins schon, da habe ich ja lange geschlafen.« Er hielt sich die Hände vor sein Gesicht und atmete prustend aus.

»Und du, hattest du auch ein paar nette Stunden?«, fragte er mich. Ich musste grinsen und dachte an die nette Ausländerin.

»Ja, es hat sich gelohnt.«

Ich startete den Wagen und warf einen letzten Blick auf Joshs Hexenladen. Keine Angst Josh, du wirst mich schon bald wiedersehen, vielleicht schneller als du denkst.

Ich konnte diesen verdammten Auftrag nicht mehr erledigen. Zum Einen hatte ich überhaupt keinen Durst mehr, zum Anderen fühlte ich immer noch Joshs brennenden Blick auf mir, wusste ich doch genau, was er von mir erwartete.

Außerdem wollte ich einfach frei sein.

Mitten in meine Gedanken hinein klingelte mein Handy. Ich klappte es auf, es war Frank.

»Ja?«, fragte ich knurrend.

»Tascha? Ich bin’s. Vergiss den Auftrag, ich habe etwas anderes für dich.«

»W-Was ist los?«, ich war mehr als verwundert, noch nie wurde ein Auftrag abgebrochen und so kurz vorher schon gar nicht.

»Nichts«, Franks Stimme klang unverbindlich, »ein anderer erledigt das.«

»Aha«, murmelte ich und warf Justin einen kurzen Seitenblick zu, er sah mich fragend an.

»Komm gegen Morgen zu mir«, fuhr Frank fort, »dann erkläre ich dir alles.«

»Ist gut«, ich wollte gerade auflegen, als Frank rief:

»Ach, Tascha?«

»Ja?«

»Lebt er noch?«, seine Stimme war scharf.

Ich musste einfach grinsen. »Ja, ja, nur keine Sorge, Frank. Auch wenn er selbst nicht gerade dazu beiträgt.«

Am anderen Ende der Leitung hörte ich ihn aufseufzen. »Gut«, dann ein Klicken, er hatte aufgelegt.

»Was ist los?«, fragte Justin, als ich immer noch grinsend mein Handy wieder wegsteckte.

»Unser Auftrag wurde abgeblasen, wir fahren zu mir, da ruhen wir uns noch ein bisschen aus. Morgen früh geht’s zu Frank.«

Ich sah, wie Justin die Stirn in Falten legte und tief Luft holte.

»Hör mal«, begann er zögernd, »wir können auch in meine Wohnung, sie ist hier ganz in der Nähe.«

»Ich wollte eigentlich eine Runde duschen«, wendete ich ein.

Er lachte kurz. »Das kannst du auch bei mir.«

Nachdenklich sah ich ihn von der Seite her an. »Warum nicht«, murmelte ich nach einer Weile und parkte meinen Mustang in einer Seitenstraße.

Wir stiegen aus und gingen zu Fuß weiter.

Seine Wohnung war wirklich nicht weit weg. Er wohnte im obersten Stock, in einem kleinen Geschäftshaus. Als wir eintraten, umgab uns angenehme Dunkelheit. Justins Hände tasteten nach dem Lichtschalter. Ich legte meine Hand auf seine und schüttelte den Kopf.

»Lass es ruhig so«, sagte ich leise. Er sah mich an, seine Hand war ganz warm und meine, wie immer eiskalt.

Es war eine kleine Wohnung, mit einer riesigen Fensterfront im Wohnzimmer. Justin verschwand sofort in seinem Schlafzimmer. Er kam wieder, mit dem Arm voller, größtenteils schwarzer, Klamotten, die er auf sein Sofa warf.

»Die hat meine Schwester da gelassen, sie hat mal kurz hier gewohnt«, sagte er leise, »fühl dich ganz wie zu Hause, hier findest du bestimmt was für dich zum Anziehen.«

Ich wühlte den Klamottenberg durch und fand wirklich eine schwarze Hose und ein T-Shirt, die mir passen könnten.

Justin zeigte mir sein kleines Bad. »Hier ist alles was du brauchst. Ich mach mir nur schnell was zu essen«, murmelte er und ließ mich alleine.

Ich zog mich aus und stellte mich unter das heiße Wasser. Das tat wirklich gut. An die Wand gestützt ließ ich das Wasser auf meinen Nacken und die Schultern prasseln.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon einweichte, aber es kam mir unendlich vor. Langsam drehte ich das Wasser aus, trocknete mich ab und probierte die Sachen an, sie passten perfekt.

Das passiert mir bei meiner Figur nicht oft.

Ich ging wieder in das kleine Wohnzimmer. Justin hatte das Licht in der Küche angelassen und zusätzlich auf dem Couchtisch eine Kerze angezündet. Sie tauchte das Wohnzimmer in ein diffuses, flackerndes Schattenmeer.

Er stand mit nacktem Oberkörper vor dem großen Panoramafenster, hatte ein Glas in der Hand und starrte auf die Lichter der Stadt unter uns.

»Ich hoffe«, begann ich, »ich hab dir nicht das ganze heiße Wasser weggenommen.«

»Ist schon okay.« murmelte er geistesabwesend und starrte weiter in die Lichter, fast wie hypnotisiert.

Ich atmete durch die Nase ein, es roch nach Staub, Rauch, Whisky und… Justin.

Ich stellte mich neben ihn und warf auch einen Blick auf die beleuchtete Stadt, es sah wirklich wunderschön aus.

Ich blickte erneut zu Justin und bemerkte, wie er die Zähne aufeinander biss, wie seine Kiefer sich verhärteten. Was ging bloß in dem Jungen vor, überlegte ich. Er sah so verbissen aus, als tobte ein Kampf in ihm. Als stellte er sich selbst ein paar Fragen, auf die er die Antworten vielleicht nicht hören wollte.

»Kann ich dir eine Frage stellen?«, begann er auch prompt, seine Stimme klang rau, sein Blick noch auf die Lichter gerichtet.

»Klar, nur zu«, meinte ich gezwungen fröhlich.

»Warum dauert die Verwandlung eigentlich so lange? Kann man das nicht beschleunigen?«, er richtete seine Augen auf mich und sah mich gespannt an.

Auf so eine Frage war ich nicht gefasst. Ich wunderte mich insgeheim, dass Frank ihm das nicht schon längst erklärt hatte, warum er ihn nicht informierte.

»Die Antwort ist eigentlich ganz einfach«, ich sah Justin direkt an, auch um seine Reaktion zu beobachten.

»Die Verwandlung dauert so lange, weil man nur dann einigermaßen sicher sein kann, dass der angehende Vampir seinen ursprünglichen Charakter behält. Dass er nicht zu einem blutrünstigen, mordlüsternen Monster mutiert. Sich in die Gesellschaft einfügt, ohne pausenlos über unschuldige Menschen herzufallen und uns Anderen damit alle in Gefahr bringt.«

Justin schob angestrengt seine Augenbrauen zusammen.

»Aber es gibt noch einen anderen Weg.« Das war keine Frage, er stellte es einfach fest.

Jetzt verengten sich meine Augen, ich war mir unsicher, ob er das wissen musste und fragte mich zum wiederholten Mal, warum Frank ihn nicht schon längst darüber informiert hatte.

»Ja-a, aber das ist kein guter Weg«, ich presste die Lippen aufeinander.

»Bitte, sag es mir, ich möchte es wissen.« Er atmete ein, als ich keine Antwort gab.

»Bitte, Tascha«, es klang sehr eindringlich.

»Es bereitet einem Schmerzen«, begann ich und blickte Justin scharf an, »außerdem kann man sich nie sicher sein, ob es auch funktioniert.« Ich überlegte kurz, ob Justin schon bereit war, für den Rest.

»Der Vampir saugt das gesamte Blut aus. Alles was drin ist. Dann muss es sehr schnell gehen, da der Gebissene ja eigentlich schon tot ist. Der Vampir beißt sich selbst und gibt dem Toten einen Teil seines Blutes zu trinken. Nicht immer klappt es, man muss den richtigen Zeitpunkt treffen, bevor er ganz gegangen ist, sonst war alles umsonst. Wenn es aber funktioniert hat, kommt das nächste Problem.«

Ich stockte kurz, Justin hing an meinen Lippen und folgte gespannt meiner Erklärung.

»Ja?«, fragte er kurz, seine Stimme war nur ein Hauch.

»Der Charakter, die Seele, das was den Menschen ausmacht, seine Einzigartigkeit, ist raus. Dafür bekommt er sozusagen ein Gemisch vom Vampir wieder. Das ist aber das eigentliche Problem. Der Charakter, die Eigenschaften vom Vampir werden übertragen und heraus kommt dann meist ein Vampirneuling, den man nicht gebrauchen kann, der, wie ich eben schon sagte, mordlüstern und gefährlich ist. Der uns alle in Gefahr bringt.« Damit schloss ich meine Erklärung und sah Justin gespannt an. Er schluckte.

»Aber es kann auch klappen? Ich meine, es kann auch alles Gut werden, oder?«, fragte er drängend.

»Ja, kann sein, aber ich habe noch von keinem wirklich positiven Bericht gehört. Warum interessiert dich das so?«

»Nur so«, antwortete er fast schon gelangweilt und blickte wieder auf die Lichter der Stadt.

Als er seinen Kopf drehte bemerkte ich eine Narbe an seiner Schulter, direkt am Halsansatz. Die war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Ich hob meine Hand und strich vorsichtig mit dem Daumen darüber. Sie war noch ziemlich frisch und rau. Er stöhnte kurz auf und bewegte die Schultern, als wenn ihm ein Schauer den Rücken herunter lief.

»Entschuldige«, murmelte ich, und zog meine Hand schnell zurück. Ich wusste, was den Schauer auslöste, mein eiskalte Haut auf seiner warmen Schulter.

»Nein«, sagte Justin, sah mich an und nahm meine Hand am Handgelenk.

»Bitte, mach weiter, das war ein schönes Gefühl.« Er legte meine Hand behutsam zurück auf seine Schulter.

»Bitte«, flüsterte er erneut.

Ich strich wieder mit dem Daumen über die lange Narbe, diesmal sah ich ihm direkt in die Augen dabei. Ein unergründlicher Ausdruck lag darin verborgen. Ich hatte schon bemerkt, dass er schöne Augen hat. Es war mir aber noch nicht aufgefallen, dass sie so unergründlich, so tief waren.

Unsere Blicke waren ineinander verschlungen.

Langsam näherte er sich, zögernd. Seine Hand, die das Glas hielt, legte sich um meine Taille und zog mich in seine Richtung. Ich kam ihm näher, ich ließ es einfach zu. Ich war gespannt und verlor mich ein bisschen in seinen unergründlichen, schönen Augen.

Wir waren nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Sein Mund näherte sich langsam meinem Gesicht. Die freie Hand strich über meinen Arm, zeichnete die Schulter nach und fuhr den Hals entlang. Seine Hand war ganz warm und brannte beinahe auf meiner Haut. Er strich mir weiter über die Wange und über mein Haar. Weiterhin sah ich ihn wie gebannt an. Ich konnte nichts denken und war wie abgeschaltet.

Ganz langsam zog mir sein köstlicher Geruch in die Nase, ich wagte es nicht, tief einzuatmen.

Dann trafen sich unsere Lippen, er stöhnte erneut kurz auf, ich hörte sein Blut schneller durch seinen Körper rauschen, als er seine Hand in meinem Haar vergrub. Unsere Lippen öffneten sich leicht. Ich begann, den Kuss zu erwidern.

Meine Hand streichelte seinen Rücken hinunter und ich bemerkte, wie ihm erneut ein Schauer über den Rücken lief. Auch ich stöhnte kurz auf und zog dabei, die mich umgebende Luft und somit seinen Duft in mich ein.

Das war ein Fehler.

Plötzlich änderte sich die Situation schlagartig.

Ich spürte noch, wie meine Zähne sich verselbstständigten, schon lag Justin am Boden und ich über ihm.

Mein Verlangen, meine Gier, meine Lust hatten mich so sehr im Griff, dass ich nicht darüber nachdachte und nur noch ein Ziel vor Augen hatte: Ich wollte meine Zähne in seinen schönen Hals schlagen, in sein warmes pulsierendes Fleisch eindringen, sein Blut in mich aufnehmen. Trinken und ihn töten.

Das Glas, das ihm aus der Hand gefallen war, rollte geräuschvoll über den Boden. Die Luft war erfüllt vom stechenden Geruch des billigen Whiskys.

Er stemmte sich mit beiden Händen an meinen Schultern ab und ich hörte ihn wie aus weiter Ferne brüllen:

»Tascha! Es … es tut mir leid.«

Ich hörte ihn. Tatsächlich drang seine Stimme bis zu mir durch. Einen kurzen Moment zögerte ich noch, ich roch seine Angst, seine Furcht und … sein Verlangen. Es roch herrlich, einfach köstlich. Aber seine Augen waren immer noch unergründlich, unendliche tiefe Brunnen.

Langsam kehrte ich in die Wirklichkeit zurück, tauchte auf, aus meinem Strudel der Gier.

Mit einem letzten Blick auf seinen Hals, seine helle Haut und das darunter pulsierende Blut, erhob ich mich, streckte ihm die Hand entgegen um ihn hochzuziehen. Er sah auf meine Hand, nur zögernd packte er sie. Als er wieder vor mir stand, ging er einen Schritt zurück, wie um einen Sicherheitsabstand einzuhalten.

»Mir tut es auch leid, Justin«, sagte ich leise und blickte in sein Gesicht. Er schluckte kurz und nickte leicht.

Die Stille wurde jäh unterbrochen von der Türklingel. Wir rissen gleichzeitig unsere Köpfe herum. Ich fragte ihn misstrauisch:

»Erwartest du noch jemanden?«

»Nein«, antwortete er und war scheinbar genauso erstaunt. Zögernd ging er zu seiner Wohnungstür.

Jetzt erkannte ich den nächtlichen Besucher, sein Geruch hatte ihn verraten: Frank. Was wollte der denn hier, um diese Uhrzeit.

Justin öffnete die Tür und sah überrascht aus als Frank ihn mit einem Lächeln begrüßte.

»Hallo, Junge, ich sah das Licht und …« Es schien, als zögerte er nur kurz, als er mich bemerkte.

»Tascha, das ist gut, das ich dich auch hier treffe.«

Justin schloss die Tür wieder und murmelte:

»Ich geh dann mal unter die Dusche«, damit verschwand er im Bad.

Ich blickte zu Frank

»Was machst du hier?«, fragte er mich scharf

Ich lachte kurz auf. »Das Gleiche könnte ich dich fragen.«

»Das geht dich nun wirklich nichts an«, gab er streng zurück und presste die Lippen aufeinander

»Gleichfalls«, erwiderte ich trotzig und setzte mich auf Justins Sofa.

Natürlich kam er gleich zum Punkt:

»Ich habe heute keine guten Nachrichten über dich gehört, Tascha. Du hast ein Halbblut übel zugerichtet, er hat geblutet. Geblutet in einem Raum voller Vampire. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was mit ihm geschehen ist?« Frank legte eine Pause ein.

Arrogant betrachtete ich meine Fingernägel.

»Nö«, sagte ich kühl. Ich hatte keine Lust ihm Rechenschaft abzulegen.

»Es war ein Schlachtfeld«, fuhr Frank fort, »sie sind natürlich alle über ihn hergefallen und haben ihn getötet. Sein Herr wird darüber nicht sehr erfreut sein.«

Ich erhob mich und ging auf Frank zu.

»Er war ein Dreckskerl, außerdem hat er Justin angegriffen und mich hat er geschlagen, so was kann ich mir ja wohl nicht gefallen lassen. Du hast doch selber gesagt, dass ich auf dein kleines Halbblut Acht geben soll.« Langsam wurde ich wütend.

»Ja, das schon, aber es war nicht darin eingeschlossen, das du das Halbblut von Michael töten solltest.« Er blickte mich grimmig an.

Der Idiot gehörte also zu Michael. Na ja, überlegte ich, er wird sich jemand Neues besorgen, er hat sowieso immer einige zur Auswahl, alles solche Mistkerle wie den letzten. Vielleicht zieht ein Mistkerl einfach automatisch andere Mistkerle an.

»Nun«, begann Frank abermals, »wir werden sehen, wie das weitergeht.« Erneut eine kurze Pause, in der Frank mich aufmerksam musterte.

»Übrigens habe ich deinen Kindermörder zur Strecke gebracht, den, den du … übergangen hattest.«

Ja, den ich gegen das süße Blondinchen eintauschte. Ich musste grinsen. »Danke schön.«

»Ich übernehme alle, die du entwischen lässt, Tascha alle. Und ich erledige meine Arbeit sehr gründlich wie du weißt.« Er sprach sehr eindringlich und ich sah ihn misstrauisch an.

In diesem Augenblick kam Justin aus dem Badezimmer.

Franks und auch meine Nasenflügel bebten leicht. Justin roch einfach verlockend. Er duftete so verführerisch und ich musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht wie ein Tier über ihn herzufallen.

Auch Frank sah leicht gereizt aus. Justin stand noch nahe der Badezimmertür und blickte uns unsicher an.

»Justin, es ist Zeit für deine nächste Stufe.« Frank drängte ihn wieder zurück ins Badezimmer und hinter beiden schloss sich knallend die Tür.

Ich seufzte, und setzte mich wieder auf das Sofa. Ich wusste, was nun in dem kleinen Badezimmer geschah. Frank würde Justin beißen, ihn wieder ein Stück näher an ein Dasein wie das Unsere bringen. Ich wusste immer noch nicht, ob Justin dafür bereit war, ob er letzten Endes ein guter Vampir werden würde. Noch ist er ein guter Junge, ein guter Mensch, aber wird er diese Eigenschaften auch als Vampir besitzen? Wird er dann noch derselbe sein?

Frank kam wieder aus dem Bad und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, eine unbewusste aber eindeutige Geste.

Aus seiner Jackentasche zog er einen verknitterten braunen Umschlag, den er mir zuwarf.

»Hier, ich habe zufällig deinen nächsten Auftrag dabei.«

Ich fing den Umschlag auf und warf ihn sofort uninteressiert auf den kleinen Tisch neben dem Sofa. Trotzig sah ich in Franks Gesicht, ich wartete nur auf ein falsches Wort von ihm. Ich war bereit, es jetzt und hier zu einer Entscheidung kommen zu lassen.

Er aber ignorierte scheinbar mein Verhalten und ging zur Wohnungstür, den Griff schon in der Hand drehte er sich noch mal halb zu mir um.

»Wir sehen uns, Tascha«, dann war er draußen.

Ich saß abwartend auf dem Sofa.

Wo bleibt denn Justin, fragte ich mich und stemmte mich aus dem bequemen Sitz hoch um im Badezimmer nach dem Rechten zu sehen.

Frank hatte die Tür nur angelehnt gelassen, ich zog sie auf und knallte sie augenblicklich wieder zu, um mich mit der Stirn dagegen zu lehnen.

Tief atmet ich ein und aus. Der Geruch aus dem kleinen Raum hatte mich tief getroffen. Es war ein Gemisch von frischen, lieblichen Blut, Angst, Wut, Gier, Lust und über dem ganzen schwebte der Duft von Justin.

Das war zu viel für meine Beherrschung. Aber trotz der Schnelligkeit meiner Bewegung hatte ich Justin auf dem Boden liegend gesehen.

»Justin«, rief ich durch die geschlossene Tür, »ist alles in Ordnung?«

Ich erhielt keine Antwort, ich hatte es mir gedacht. Ich hielt meinen Atem an und machte die Tür auf.

Da lag er, auf den kalten Fliesen. Sein Oberkörper war noch nackt, nur mit Jeans bekleidet. Das Gesicht war ganz entspannt aber seine Haut war kalkweiß. An seinem Hals prangten zwei kleine Einstichstellen, die immer noch nachbluteten. Ich verstand nicht, wieso Frank sie nicht verschlossen hatte, so konnte es leicht passieren, dass Justin verblutete. Ich kniete mich zu ihm und hob seinen Kopf auf meinen Schoß.

»Justin«, leicht schlug ich ihm auf die Wangen. »Justin, wach auf, los.«

Seine Augenlider flatterten, dann schlug er die Augen auf und blickte mich aus diesen Brunnen der Unendlichkeit an.

»Was ist passiert?«, fragte er leise nuschelnd.

»Frank ist dir passiert«, antwortete ich grimmig, »er hat vergessen die Wunden zu verschließen, hast du irgendwo Verbandszeug? Dann kann ich die Blutung stoppen, du verlierst eindeutig zu viel Blut.« Ich sah ihn fragend an.

»Kannst … kannst du das nicht machen?«, seine Augen fielen ihm zu. »Ich meine darüber … wie auch immer … und alles ist wieder gut?« Seine Stimme war nur ein leises Murmeln. Er schlug die Augen wieder auf und blickte mich an. Unergründlich, in diesen Augen könnte man sich tatsächlich verlieren und es würde einem noch nicht einmal auffallen. Ich löste mühsam meinen Blick und betrachtete die zwei Einstichstellen, aus denen sein köstlich, duftender Lebenssaft unermüdlich heraustrat. Es wäre keine gute Idee, jetzt von seinem Blut zu kosten.

»Justin, ich … « begann ich zögernd und überlegte, wie ich es ihm sagen sollte.

»Ich glaube, das wäre nicht gut für dich, ich kann mich nicht so gut beherrschen. Ich … könnte vielleicht nicht wieder aufhören.« Ich presste die Lippen aufeinander und ärgerte mich über mich selbst.

»Bitte, Tascha«, er machte eine Pause und leckte sich über die Lippen, »ich vertraue dir.« Damit legte er mir sanft seine Hand auf den Unterarm, eine Berührung, leicht wie eine Feder. Ich schloss die Augen und atmete tief durch den Mund ein. Dann schluckte ich meine Befürchtungen, meine Angst herunter und öffnete meine Augen wieder.

Er sah mich immer noch an. Langsam und zögerlich hob ich seinen Oberkörper zu mir hoch und beugte gleichzeitig meinen Kopf zu ihm herunter. Immer näher kam ich seinem Blut, immer intensiver wurde sein Geruch, immer schlimmer spürte ich die Gier in mir aufsteigen. Ich bemerkte, wie meine Zähne wieder zu Dolchen werden wollten. Krampfhaft versuchte ich diesen Zustand niederzukämpfen. Ich schloss meine Augen erneut, vor seinem allzu köstlichen Blut. Langsam umschloss mein Mund seine Wunden am Hals, Justin stöhnte leicht und zuckte kurz zusammen.

Es gab nur zwei Bewegungen, die ich ausführen konnte. Die eine bedeutet Tod, seinen Tod, die andere bedeutete sein Leben. Tief in mir drin entbrannte ein Kampf. Mein Monster schrie heiser, es brüllte und kreischte. Das Feuer loderte heiß auf. Sein Blut konnte ich riechen und jetzt auch schmecken. Was sollte ich nur tun, wie sollte ich mich entscheiden? Zerstörte ich sein junges Leben jetzt und hier mit einer falschen Bewegung, die aber meinen Körper mit seinem köstlichen Blut nährte? Oder gab ich ihm sein Leben, indem ich stark war? Stärker als ich es je zuvor gewesen bin. Stark genug, um diesen wunderbaren Duft und köstlichen Geschmack zu widerstehen?

Ich entschied mich für sein Leben und verschloss mit meinem Speichel seine Wunden.

Das Monster in mir stieß einen schrillen, enttäuschten Schrei aus, dann verstummte es. Doch Justins Blut war nun genau dort, wo es nichts zu suchen hatte, in meinem Mund.

Wo ich es zwar vor einer halben Stunde noch unbedingt haben wollte, aber jetzt nicht mehr.

Auch wenn es mir fast körperliche Schmerzen zufügte, wendete ich meinen Kopf ab und spuckte sein Blut in hohem Bogen gegen die Badezimmerwand. Es klatschte ein bisschen, als es auftraf und floss dann langsam die Wand hinunter. Ein schauriger Anblick, wie aus einem Horrorfilm entsprungen. Der Geruch seines Blutes traf mich wieder, aber diesmal war es auszuhalten. Nur ganz kurz flackerte das Feuer nochmals auf, um dann ganz zu verlöschen.

Ich blickte in sein Gesicht, ein Lächeln verzog seine Lippen. Die Augen verdrehten sich nach oben und sein Kopf kippte ein zur Seite. Er war ohnmächtig geworden.

Ich hob ihn hoch und trug ihn, wie ein kleines Kind auf dem Arm, zum Sofa. Dort legte ich ihn wieder ab, setzte mich zu ihm und bettete seinen Kopf auf meinen Schoß. Ich hatte nicht vor, ihn in diesem Zustand allein zu lassen, also würde ich hier warten, bis er wieder zu sich kam.

Die Sonne ging gerade auf, ich sah ihr durch das große Fenster zu, es war ein herrlicher Anblick.

Ein friedlicher Augenblick, in dem ich fast vergaß, Wer oder Was ich bin.

Als Justin unruhig wurde und seine Lider zu flattern begannen, war es schon später Nachmittag. Immer wieder hatte er im Schlaf, der die Ohnmacht irgendwann ablöste, gemurmelt, unverständliches vor sich hin gebrabbelt.

Er schlug die Augen auf und sofort war ich wie gebannt. Jetzt, da er dem Vampirdasein noch ein kleines Stück näher gerückt war, war sein Blick nur noch intensiver geworden, noch eindringlicher.

Ich musste lächeln.

»Na, wieder unter den Lebenden?«, fragte ich ihn und zog die Augenbrauen noch oben.

»Ja«, er fasste sich an die Stirn, »und mir geht es erstaunlich gut, ich fühle mich … ausgeruht und klar im Kopf.«

Er setzte sich auf und blickte mich an. Mit einer raschen Bewegung zuckte seine Hand zu seinem Hals und strich über die Seite.

»Nichts mehr«, sagte er leise, »ich glaube, du hast mir das Leben gerettet … oder wenigstens mein Halbes.«

Er lachte kurz auf, es klang bitter in meinen Ohren.

»Ich verstehe nicht, wie Frank es versäumen konnte, dir die Wunden wieder zu verschließen«, stellte ich fest.

»Ich schätze, er war ziemlich sauer auf mich«, Justin grinste flüchtig.

Ich zog die Stirn in Falten und blickte ihn an.

»Was hast du denn gesagt, oder getan. Hast du etwa Krach mit ihm angefangen im Bad?«

»Tja, Frank stand wohl schon etwas länger vor der Tür und … na ja, er gab mir die Schuld dafür, was da passiert war. Ich antwortete etwas Unpassendes und dann ist er über mich hergefallen. War wohl alles nicht so toll.« Er grinste leicht.

Ich schüttelte den Kopf, das alles verstand ich nicht und es ergab auch keinen Sinn.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich leicht irritiert.

»Tascha, lass es uns doch einfach vergessen, ja.« Er stand auf und zog mich am Arm mit hoch. Er war wirklich stärker geworden. Jetzt könnte ich ihn mir nicht mehr so einfach vom Leib halten, wie heute Nacht.

Sollte er noch einmal versuchen mich zu verführen, hätte ich Mühe, mich zu verteidigen. Ein kleiner Teil in mir wollte sogar, dass er noch einen zweiten Versuch startete. Ich kämpfte verzweifelt meine zweideutigen, irritierenden Gefühle nieder.

Das alles war total verrückt.

Kurze Zeit später saßen wir in meinem Mustang, diesmal auf dem Weg zu meiner Wohnung.

Den braunen Umschlag mit unserem neuen Auftrag hatte ich achtlos auf den Rücksitz geworfen. Wir fuhren mit geschlossenem Verdeck, Der Himmel hatte sich verfinstert und in weiter Ferne hörte man schon das böse Grummeln und Knurren eines weiteren, herannahenden Gewitters. Es wird eine böse Nacht werden. So oder So.

In diesem engen Käfig zusammen mit Justin eingesperrt zu sein bereitete mir fürchterliche Plagen. Ich konnte mich mit Justin nicht unterhalten, ich musste meine ganze Willenskraft zusammen nehmen, damit ich bloß keinen Versuch unternahm, um seinen köstlichen Geruch und Geschmack in mich aufzusaugen. Ab und zu warf ich aus den Augenwinkeln einen Blick auf Justin. Er starrte aus der Seitenscheibe, auf die vorbei flitzende Umgebung. Sein Hals sah verlockend aus, seine Haut, seine schöne makellose Haut schrie förmlich nach meinen Zähnen. Sein Blut darunter pulsierte mir rhythmisch entgegen: »Beiß mich, beiß mich, beiß mich.« Ich schluckte und verdrehte die Augen zur Decke.

Langsam schüttelte ich den Kopf.

Das Blut eines Menschen oder auch das von einem Halbblut zu begehren war eigentlich nichts Neues für mich, das ging mir ständig so.

Aber hier, war irgendetwas anders, ich konnte es noch nicht erfassen, aber es fühlte sich … falsch an.

Ich parkte mein Auto in der Tiefgarage. Die Familienkutsche von diesem Ralph stand noch neben meinem Parkplatz.

Zu meiner Wohnung ging ich die Treppen hoch, mit Justin zusammen in diesem kleinen Aufzug eingesperrt zu sein, würde ich jetzt nicht ertragen können.

Oben angekommen, begab ich mich in meine kleine Küche. Justin hatte es sich auf meinem Sofa gemütlich gemacht und verfolgte jeden meiner Schritte. Ich überlegte, ob ich mit ein bisschen Konservenblut, seinen Geruch besser aushalten und auch widerstehen könnte. Zum Glück hatte ich immer einen kleinen Vorrat in meinem Kühlschrank, damit er wenigstens etwas zu kühlen hatte. Ich riss mir eine Dose auf und schüttete die Hälfte in ein Glas, das ich der Mikrowelle anvertraute.

Meiner Unhöflichkeit bewusst, sah ich Justin fragend an und hob die Dose hoch. »Auch was?« Er winkte ab.

»Nein, Danke.«

Als das zarte Pling ertönte merkte ich, wie gierig ich auf dieses rote Getränk war. Schnell stürzte ich das Blut herunter, das Glas war rasch wieder aufgefüllt, um erneut erwärmt zu werden. In meinem Körper breitete sich ein warmes Gefühl aus, ich glaubte, dass ich jetzt seinen Geruch besser ertragen konnte. Ich sah Justin an, der mich erneut mit diesen unergründlichen Augen musterte. Tiefe Brunnen, dachte ich.

»Was?«, fragte ich ihn gereizt. Er wusste doch Was ich war, warum sah er mich so anklagend an?

»Schmeckt das?«, fragte er wie beiläufig. Ich wusste genau, dass er das nicht wirklich fragen wollte, es plagte ihn etwas anderes. Ich sah mir das zweite Glas an und schwenkte das Blut leicht.

»Ja«, antwortete ich kurz angebunden.

Er seufzte, dann wurde sein Blick wieder lebendiger.

»Wohin führt uns denn unser nächster Auftrag? Du hast ja noch gar nicht nachgesehen«, führte er tadelnd hinzu.

Ich lachte kurz auf, da hatte er recht. Irgendwie verspürte ich kein großes Verlangen, diesen Auftrag auszuführen. Ich hatte mir selbst versprochen, nur noch einen Auftrag auszuführen, also musste es jetzt dieser sein. Genauso gut konnte ich aber jetzt sofort Schluss machen, ich war hin und her gerissen.

Ich versuchte meine Gefühle zu verdrängen, nahm den Umschlag, den ich achtlos auf die Küchenanrichte geworfen hatte und riss ihn mit einem Ruck auf.

Den gesamten Inhalt schüttete ich auf die Arbeitsplatte vor mir. Heraus fiel ein Bild, ein maschinengeschriebenes Blatt Papier, eine handgeschriebene Notiz und ein Stück Jeansstoff.

Natascha

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