Читать книгу Natascha - Nadja Christin - Страница 6
Leben, Sterben, Tod
ОглавлениеLangsam fiel ich auf die Knie vor Justins blutenden Körper. Er atmete noch, auch sein Blut hörte ich rauschen, wenn auch schon leiser. Sein Herz machte einige Stolpergeräusche, dann schlug es wieder regelmäßig, aber sehr schwach.
Ich strich vorsichtig eine Haarsträhne aus seiner Stirn. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich blickte ihn einfach nur an.
Thomas hatte ihn übel zugerichtet, am ganzen Oberkörper hatte er Bisswunden. Die schlimmste war an seinem Hals, unermüdlich trat Blut aus der Wunde. Es sah so aus, als hatte Thomas vor, ihn aufzufressen. Die Wunden waren alle zu tief, um von mir geheilt zu werden. Außerdem hatte er schon zu viel Blut verloren. Seine eigenen Selbstheilungskräfte werden erst voll entwickelt sein, wenn er ein Vampir war.
Erneut fragte ich mich, was ich machen konnte, wie es jetzt weiterging. Er murmelte etwas Unverständliches und öffnete endlich die Augen. Ich sah in seine tiefen Brunnen, die für mich keine mehr waren.
»Justin«, ich musste einfach lächeln, »na, wieder unter den Lebenden?«
Er lächelte flüchtig zurück, aber vor Schmerzen verzog er das Gesicht und schloss krampfhaft die Augen.
Als er sie wieder öffnete, lag bereits ein leichter Schleier über dem schönen Braun seiner Augen.
»Wie schlimm?«, fragte er gepresst, ich konnte sehen und riechen, wie ihn eine erneute Schmerzenswelle erfasste.
»Du siehst …« Was solle ich sagen? Dass er aussah wie durch den Fleischwolf gedreht? Dass er auf jeden Fall sterben würde? Dass er aber noch qualvollere Schmerzen ertragen musste, bis er endlich erlöst würde? Sollte ich ihm das wirklich sagen? Oder sollte ich ihn einfach anlügen und ihm beruhigend zureden bis … bis zu seinem Ende? Mein innerer Kampf dauerte an.
Seine blutverschmierte Hand schoss vor und ergriff meinen Unterarm. Ich war ein bisschen erschrocken, von der Bewegung und das sie so erstaunlich kraftvoll war.
»Tascha«, er suchte meinen Blick, versuchte mich mit seinen Augen fest zunageln.
»Werde ich das hier überleben?«, sein Blick war ohne Furcht, er kannte die Wahrheit bereits.
Mein Mund war ausgetrocknet und meine Stimme wie ein Reibeisen.
»Ich fürchte … nein.«
Ich blickte in seine Augen und erkannte in diesem Moment die Wahrheit.
Ich würde ihm nicht nur mein Leben anvertrauen, ich vertraute ihm mein ganzes Dasein an, alles was ich war, alles was ich ausmachte, würde ich in seine Hände legen.
Diese Erkenntnis riss mich fast um.
Ohne ihn würde ich nur noch eine Leere fühlen, ich wollte nicht, dass er stirbt, dass er mich verlässt.
»Justin«, fragte ich ihn ganz ruhig, mein Entschluss war gefasst.
»Möchtest du sterben?«
»Nein, Tascha, jetzt nicht mehr.« Seine blutige Hand griff nach meiner kalten. Er drückte sie kurz, dann lag sie schlaff da.
»Ich liebe dich«, hauchte er und hob seine Hand an, um mir über die Wange zu streichen. Auf halbem Weg verließ ihn die Kraft und er ließ den Arm einfach fallen. Kurz bevor ihm durch den Aufprall eine erneute Schmerzenswelle durchzucken konnte, fing ich den Arm auf und drückte seine Hand an meine Wange. Ich küsste seinen Handrücken und sah ihm erneut in die Augen.
»Ich will nicht, dass du mich verlässt«, wisperte ich.
Justin lächelte ein wenig und schloss die Augen.
»Auf Wiedersehen, Tascha«, murmelte er und war schon fast nicht mehr zu verstehen.
»Ich muss jetzt gehen, mein kleiner Liebling.«
»NEIN! Bleib bei mir!« Ich brüllte wie ein Tier, packte seine Schultern, schüttelte ihn durch und machte mir keine Gedanken über Schmerzen, die er haben könnte. Er musste sich unbedingt meine Überlegungen bis zum Schluss anhören. Außerdem wollte ich eine Antwort haben. Er riss seine Augen auf, sie flatterten, er wollte sie wieder schließen, aber das ließ ich nicht zu.
»Justin, bleib bei mir, bitte«, nochmals schüttelte ich ihn durch. Jetzt zeigte es Wirkung. Er blickte mich fast klar an, nur noch der dünne Schleier lag über seinen Augen.
»Justin, ich kann dich … verwandeln, wenn du das willst.« Seine Augen wurden größer.
»Aber du sagtest doch, dass es …«, er leckte sich über die Lippen und suchte wahrscheinlich nach den richtigen Worten, »…dass es nicht sicher ist. Dass ich auch als Monster wiederkommen kann.« Sein Blick war eine einzige Frage.
»Justin, ich werde aufpassen, dir geschieht nichts. Außerdem könntest du nie böse sein, nicht so richtig.« Ich lächelte ihn an und strich erneut diese Haarsträhne aus seiner Stirn. Justin fielen die Augen zu.
Aber ich musste jetzt eine Antwort haben, ich konnte das nicht tun, ohne sein Einverständnis. Ich fasste ihn leicht an der Schulter und beugte mich ganz nah zu seinem Ohr.
»Justin. Möchtest du gerne für immer bei mir bleiben? Möchtest du …«, ich holte tief Luft, »willst du ein Vampir werden, ein Geschöpf der Nacht?«
Gespannt sah ich ihn an. Er musste mir einfach eine Antwort darauf geben. Er öffnete die Augen und sein Blick ging fieberhaft hin und her, als dachte er scharf nach, dann sah er mich an.
»Ja, das möchte ich.« Seine Stimme klang sehr fest und entschlossen, er war also bei klarem Verstand. Das machte es mir leichter, hinterher, wenn seine Vorwürfe kamen, Und sie werden kommen, dessen war ich mir sicher.
Ich nahm ihn hoch und hielt meine Wange an seine gedrückt. Ganz schlaff hing er in meinem Arm. Ich küsste ihn auf die Wange und ging langsam tiefer. Küssend näherte sich mein Mund seinem Hals. Der unversehrten Halsseite. Ich atmete seinen Geruch ein, strich mit der Nase über seine Halsseite, küsste ihn genau auf die Stelle, an der unter der weichen Haut seine Ader pulsierte. Ich merkte, wie er schluckte.
»Versuch mir zu verzeihen.«
Das war der letzte Satz, den Justin in seinem menschlichen Leben hörte. Meine Zähne schlugen sich durch seine zarte, fast durchscheinende Haut. Kurz bäumte er sich in meinen Armen auf und stöhnte. Ich trank sein Blut, saugte es schnell in mich hinein. Ich musste mich konzentrieren, genau darauf achten, wann ich aufzuhören hatte. Es musste alles schnell gehen. Sehr schnell, sonst war Justin verloren und das für immer. Wenn ich einen Fehler machte und er sich in ein blutrünstiges, mordendes Monster verwandelte, würde er noch heute als dritte Fackel auf dieser schönen Lichtung enden.
Ich spürte genau, wie er in meinen Armen starb, wie der letzte Rest Leben aus ihm herauslief. Gleich war nichts mehr in ihm. Keine Seele, keine Persönlichkeit, kein Lachen … kein Leben.
All das hatte ich ihm weggenommen, hatte es in mich aufgesaugt.
Ich war bereit, ihm alles zurückzugeben. Gemischt mit meiner Persönlichkeit, meinem Lachen, meiner Seele.
Ich war fertig und legte Justin auf den weichen Boden. Sein Gesicht war schneeweiß, kein Atemzug bewegte seinen Brustkorb.
Er war tot, wirklich tot.
Ich hob meinen Unterarm an die Zähne, betrachtete Justins Gesicht, er sah so friedlich aus, so glücklich.
Ich zögerte kurz, sollte ich hier Schluss machen, sollte ich ihm seinen Frieden lassen?
Nein, auch er hatte sich für diesen Weg entschieden, darum wollte ich auch so dringend eine Antwort von ihm. Damit ich es ruhigen Gewissens verantworten konnte. Vor allem vor mir, dass ich ihn zu ewiger Verdammnis zwang. Ihn in ein Geschöpf der Nacht verwandelte.
Kräftig biss ich in mein Handgelenk, direkt über den Pulsadern. Sofort sprudelte mir Blut entgegen. Ich hielt die offene Wunde an seinen Mund, drückte seine Lippen und Zähne auseinander und zwang ihm so mein Blut auf.
Es wird sich in seinem Mund sammeln und in seinen Magen laufen. Dort wird es seine Arbeit verrichten, oder auch nicht, wenn ich zu lange zögerte und den richtigen Zeitpunkt verpasste.
Es lag nun nicht mehr in meiner Macht. Alles, was ich konnte, habe ich getan. Nun konnte ich nur noch abwarten.
Ich zog meine Hand zurück, verschloss die Wunde und hob Justin hoch, trug ihn wie ein kleines Kind. Er hing schlaff in meinen Armen.
Ich trug ihn in den Wald hinein.
Unter einem Baum ins trockene Moos legte ich ihn ab, lief zurück zu der Lichtung, nahm das Richtschwert und meine Machete an mich. Ohne einen Blick auf die noch glimmenden Vampire zu werfen, ging ich wieder zu Justin, setzte mich zu ihm unter den Baum und bettete seinen Kopf auf meinen Schoß.
Jetzt begann das Warten.
Das Warten auf die Verwandlung und welches Ende sie nehmen würde.
Ich war erschöpft, völlig erledigt. Was stand mir heute Nacht noch bevor? Wie wird diese Nacht enden? Ich lehnte mich an den rauen Stamm des Baumes und wartete.
Es war bereits Nachmittag, als Justins Körper anfing zu zucken. In regelmäßigen Abständen durchlief ihn eine neue Schmerzenswelle. Ganz langsam verschlossen sich die Wunden, die seinen Körper überdeckten. Ab und zu stöhnte er leise. Gespannt beobachtete ich sein Gesicht.
Immerhin schien die Verwandlung funktioniert zu haben, ich habe ihn aus dem Reich der Toten geholt, wohin ich ihn zuerst schickte. Jetzt kam es nur noch darauf an, wie er zurückkehrte. Wie würde er sein, was für ein Vampir würde er werden?
Kurz vor Sonnenuntergang, die Schatten waren schon sehr lang geworden, öffnete er plötzlich seine Augen. Sie waren immer noch braun.
Ich war erstaunt, ich hatte mit gelben, raubtierartigen Augen gerechnet. Er starrte an mir vorbei in die Baumkrone hoch. Langsam glitt sein Blick den Stamm herunter, bis er in meinem Gesicht anhielt. Unwillkürlich musste ich schlucken, so durchdringend hatte er mich noch nie angesehen. Sein Gesicht war angespannt. Unverwandt starrte er mich an. Ich musste irgendetwas zu ihm sagen, ich musste diese Stille, diese gespannte, gefährliche Stille durchbrechen. Krampfhaft suchte ich nach einem sinnvollen Satz in meinem Kopf.
»Na, wieder unter den Lebenden?«
Was anderes fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Meine Stimme sollte fröhlich klingen, aber sie klang ängstlich. Sein Blick war nachdenklich auf mich gerichtet, als wenn er überlegen musste, wer ich war und ob er mich schon einmal gesehen hatte.
Dann, endlich schien er mich zu erkennen und sein Gesicht entspannte sich, sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und, was das Schönste war, seine Augen lachten mit.
»Ja, mir geht’s ganz gut.« Er richtete sich auf und sein Oberkörper schwankte noch ein bisschen. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, mit dem Erfolg, das sie nach allen Richtungen abstanden. Dann blickte er mich an.
»Und wie geht es dir?«
»Jetzt gut.« Ich grinste ihn an, ich konnte einfach nicht anders, »jetzt geht es mir richtig gut.« Ich fing an zu lachen, lachte aus vollem Hals. Ich hielt mir den Bauch vor lauter Gelächter, so erleichtert war ich. Die ganze Anspannung der letzten paar Stunden, als ich über seinen, in der Verwandlung befundenen Körper, wachte, war wie weggeblasen.
Es schien geklappt zu haben, er war kein … böser Junge geworden, kein Monster, er roch sogar fast noch genau wie vorher.
Ich konnte einfach nicht anders, ich umarmte ihn und hielt ihn leise lachend fest. Er erwiderte meine Umarmung, wenn sich auch auf seinem Gesicht Erstaunen über meinen Ausbruch breit machte.
Justin seufzte. »Du bist das Beste, das ich je erlebt habe«, er blickte mich an, seine Augen strahlten. »Es hat sich gelohnt, dafür zu sterben.«
»Justin«, flüsterte ich und lehnte mich an ihn. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht.« Ich strich mit meiner Wange über seine Halsseite, atmete seinen Duft ein.
Er griff mit seiner Hand in meine Haare. Dann legte er seine kühlen Hände rechts und links an mein Gesicht, augenblicklich hatte ich das Gefühl, als stünde ich in Flammen, er blickte mir tief in die Augen.
»Tascha, Liebes, du hast Großartiges vollbracht. Du hast mich gerettet. Ich liebe dich.«
Er näherte sich meinem Gesicht und unsere kalten Lippen berührten sich.
Es war ein ganz anderes Gefühl als das letzte Mal, da floss noch Blut durch seine Adern, er war noch menschlich, lebendig.
Ich näherte mich ihm heftig und erwiderte den Kuss.
Wir ließen uns gemeinsam auf das weiche Moos sinken. Er zog mich auf sich drauf. Ich ließ es nur zu gerne zu.
Irgendwann trennten sich unsere Lippen. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und lauschte seinem Atem darin. Nur das Atmen, sonst hörte ich nichts. Es hörte sich gut an, kein verlockendes, rauschendes Blut, kein Herzschlag mehr. Nur noch sein Geruch, der mich einhüllte und mich verführte.
Wir lagen eine Zeitlang einfach so da und hingen unseren Gedanken nach. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und eine tröstliche Dunkelheit hüllte uns beide ein.
Mit einem Schlag wurde mir wieder bewusst, warum ich eigentlich hier war und was ich noch zu erledigen hatte. Schnell erhob ich mich und klopfte mir den Staub aus der Hose.
Justin lag noch auf dem Boden und blickte mich von unten her an. Ich hielt ihm meine ausgestreckte Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Die Dunkelheit hüllte uns ein wie ein Mantel, verbarg uns. Wir hatten über zwölf Stunden Zeit verloren, ich hoffte dass es noch nicht zu spät war, um meinen Sohn zu retten.
»Komm jetzt«, murmelte Justin und nahm meine Hand
Wir lächelten uns an, in dieser ungewöhnlich schwarzen Nacht. Ich schloss kurz meine Augen und atmete tief den Geruch ein. Die satte, köstliche Sommernacht, der Wald, und Justin. Meine Augen strahlten bestimmt, als ich sie wieder öffnete.
»Los jetzt«, sagte ich und wir rannten los.
Es war herrlich, wir liefen durch die Nacht, waren gleich schnell und lachten uns immer wieder zu.
Rasch ließen wir den Wald hinter uns, vorbei an meinem einsam geparkten Mustang und rannten auf mein altes Haus zu.
Kurz davor hielt ich an, Justin neben mir auch. Es war merkwürdig, das Haus, die Umgebung, alles war mir so vertraut und doch auf eine eigenartige Weise völlig fremd. Ich versuchte den Geruch von Dennis aufzunehmen, er war nur in kleinen Spuren vorhanden. Geruchsfetzen, die immer wieder an meiner Nase vorbei wehten.
Ich befürchtete, dass Dennis nicht zu Hause war. Aber wo konnte er nur sein, dieser kleine Verbrecher, wo trieb er sich herum? Ich sah Justin an und zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, er ist nicht mehr hier«, flüsterte ich ihm zu. Er legte seine glatte Stirn in Falten.
»Was meinst du, wo er jetzt ist? Wo können wir nach ihm suchen?« In seiner Stimme schwang Ratlosigkeit mit.
Ich überlegte blitzschnell, in meinem Kopf tauchten Bilder auf, von vor zwei Jahren, als ich mir Dennis zur Brust nahm. Eine Kneipe, ein Hinterhof, ein Gesicht, sein Freund, eine Straße, eine Adresse in der Stadt.
»Ich weiß, wo ein Freund von ihm wohnt, vielleicht sind die beiden ja immer noch befreundet und er ist jetzt bei ihm?« Zweifelnd sah ich Justin an, ich wusste im Moment nicht weiter.
»Ja, okay wir werden sehen.« Abrupt drehte er sich um und rannte schon zurück zu meinem Wagen. Ich war erstaunt, gewöhnte mich erst langsam an den veränderten Justin.
Kurz vor dem Mustang hatte ich ihn eingeholt.
Zweifel stieg in mir auf, was hatte ich eigentlich genau vor, wenn wir Dennis finden würden? Ihn entführen? Ihn verstecken? Vor wem denn genau? Wen wird Frank zu Dennis’, und wahrscheinlich unserer, Hinrichtung schicken? Oder kam er wohlmöglich selber? Fragte ich mich grimmig.
Justin blickte mich besorgt an.
»Was ist los?«
Ich seufzte, dann fragte ich ihn all die Dinge, die ich mir gerade selbst gestellt hatte.
Während wir einstiegen, sah ich, wie Justin ins Grübeln kam. Ich fragte mich, ob er sich vorher keine Gedanken darüber gemacht hatte. Oder hatte er etwa so ein Urvertrauen in mich gesetzt, dass er meinte, ich wüsste schon, was zu tun sei, ich wüsste bereits einen Ausweg? Da musste er sich aber auf eine Endtäuschung vorbereiten.
Im Moment kam ich mir eher hilflos, unorganisiert, schwach und … ja richtig menschlich vor. Ein ekelhaftes Gefühl! Das wollte ich nicht! Dieses Gefühl hasste ich!
Wir saßen schweigend nebeneinander, als ich wieder zurück in Richtung Stadt raste.
Es war noch nicht sehr lange her, obwohl es mir wie Jahre vorkam, da fuhren wir in die entgegengesetzte Richtung. Doch da waren wir nicht dieselben wie jetzt.
Er war noch ein Mensch, wenn auch nur ein halber, aber ein Mensch, ein atmender Kerl mit Herzschlag. Jetzt war er ein Vampir, so schnell änderten sich die Zeiten.
Und ich? Ich war auch nicht mehr dieselbe wie vor, ist es wirklich nicht schon viel länger her, zwölf Stunden.
Die Aussprache mit Justin, Thomas und Elisabeth, der Kampf, Justin, wie er in seinem Blut lag, wie er schließlich starb und dann seine Verwandlung.
All das hatte mich verändert, ich wusste genau, dass ich nicht mehr zurück wollte, oder konnte, zu dem Clan der Vampire. Ich wollte keine Verbrecher mehr jagen. Es war endgültig vorbei, ich hatte meine Lektion gelernt.
Zu leicht konnte man den Oberen des Clans verärgern … zu leicht konnte man dabei sterben.
Josh hatte Recht, alles ist besser als der Clan. Ein freies Dasein, ohne Regeln, ohne Hintertüren, das war eindeutig mehr wert. Wenn ich Dennis in Sicherheit wusste, werde ich zu Josh gehen und mich ihm anschließen.
Leichthin fragte ich Justin in die Stille hinein, die uns umgab:
»Sag mal, was hast du eigentlich vor, wenn …« Ich suchte nach Worten, »wenn das hier vorbei ist.« Ich glaubte er wusste genau wie ich das meinte.
Er schaute mich an und nahm meine Hand, die locker auf dem Schalthebel lag. Statt einer Antwort küsste er mir auf den Handrücken, mehrmals. Dann ging er über, zu der Innenseite am Handgelenk, immer weiter streichelten seine Lippen über meine Haut. Dann hielt er inne und blickte mich von unten her an.
Was für Augen, dachte ich bei mir, die tiefsten Brunnen, die es gab. Aber ich blieb an der Oberfläche, die Brunnen konnten mich nicht mehr mit in ihre unergründliche Tiefe ziehen.
»Ich möchte gerne dort sein, wo du bist«, flüsterte er mir zu und küsste mich erneut, diesmal in die Armbeuge.
Er nahm seinen Blick nicht von mir. »Wenn du das möchtest.«
Ob ich das möchte, fragte er. Ich starrte durch die Frontscheibe auf die dunkle Straße vor uns. Ich überlegte, ob ich das wirklich wollte. Bei all der Liebe, dem gegenseitigen Vertrauen, der Gleichheit unser beider Daseins, dem wilden, verrückten Feuer, …wollte ich wirklich mein einsames Leben aufgeben?
Ihn zum Gefährten haben, hieß nicht nur, zusammen jagen und wildern, sondern auch die Beute teilen.
Wollte ich das wirklich?
Justin hatte noch keine Vampirerfahrungen sammeln können. Er wusste noch nicht, was auf ihn zukam. Was war, wenn wir in Streit gerieten, vielleicht über ein nettes, schmackhaftes Blondinchen. War ich wirklich bereit zu teilen? Wird er in ein paar Monaten auch noch bereit sein, zu teilen? Oder versuchen wir dann schon uns gegenseitig die Köpfe abzureißen?
Neben mir wurde Justin ungeduldig, er ließ meinen Arm sinken, und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Auch ich blickte jetzt zu ihm und musste unwillkürlich lachen. Mit einer Hand strich ich ihm über die Wange, bis zu meiner Lieblingsstelle, seinem Hals. Justin schloss genüsslich die Augen.
»Ja, natürlich möchte ich, dass du bei mir bist.« Ich grinste immer noch, »solange wir das beide wollen.«
»Das ist schön.«
Ich wusste nicht genau, ob er meine Antwort, oder meine kalten Finger auf seiner Haut meinte.
Ich wollte wirklich, dass er bei mir blieb, wurde mir plötzlich schlagartig klar. Nicht nur weil er mir Vertrauen und Liebe entgegenbrachte. Nicht nur weil wir beide die gleichen Wesen waren, mit denselben, fast unkontrollierbaren Gelüsten.
Nein!
Weil ich einfach wollte, dass er in meiner Nähe war. Seinen Geruch, seine Nähe, ich wollte alles an ihm bei mir haben.
Über meine Motive war ich mir nicht ganz im Klaren, liebte ich diesen Kerl etwa? Fragte ich mich erstaunt. Wusste aber bereits in derselben Sekunde, dass das nicht so war. Ich dachte nicht, dass ich überhaupt fähig war jemanden zu lieben. Ich mochte Justin einfach nur bei mir haben, solange, bis es nicht mehr ging.
Vielleicht auch nur, weil ich es zurzeit nicht mehr ertrug, alleine zu sein.
Langsam lenkte ich meinen Wagen durch die dunklen Straßen der Stadt. In Richtung der Adresse, die ich von damals her noch im Kopf hatte. Hoffentlich fanden wir Dennis dort, oder wenigstens einen Anhaltspunkt, wo er sein könnte.
Justin neben mir schien in Gedanken versunken, ab und zu bemerkte ich, wie er angestrengt die Stirn runzelte. Ich fragte mich, über was er so intensiv nachdachte.
Vielleicht hatte er aber auch Durst, möglich, dass sich zum ersten Mal das Monster in ihm meldete. Damit musste er erst noch lernen umzugehen, das ging mir auch nicht anders.
Den Durst eine Weile zu bekämpfen, das Verlangen in sich zu zügeln, das Monster nur für kurze Zeit zu beherrschen, dazu gehört schon eine große Portion Mut und Willenskraft.
Justin krümmte sich plötzlich in seinem Sitz, die zu Fäusten geballten Hände an die Schläfen gepresst. Ein gequältes Stöhnen erklang aus seinem Mund. Seine ganze Haltung ließ den Schmerz erahnen, den er zu bewältigen hatte.
»Justin, ist alles klar, bei dir?«, fragte ich ihn vorsichtig. Er nahm die Hände runter und blickte mich an. Seine Augen hatten jegliches Braun verloren, nur noch das raubtierartige Gelb war zu erkennen. In seinem Inneren tobte ein Kampf, ein heftiger Kampf. Sein Mund verzog sich, ich sah die spitzen Zähne. Er schien wirklich Durst zu haben.
»Nein, mir geht’s gar nicht gut. Ich …weiß auch nicht.« Er klang verzweifelt.
»Justin, wir müssen dir was zu trinken besorgen. So kommen wir nicht weit.« Ich hob meine Hand und wollte ihm über die Wange streichen. Er wich blitzartig zurück und stieß ein kurzes Geräusch, beinahe wie ein Fauchen, aus. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Ich ließ meine Hand sinken und blickte aus der Frontscheibe auf die Straße.
»Entschuldige«, murmelte Justin, »ich glaube nicht, dass ich deine Berührung jetzt ertragen könnte.«
Ich überlegte fieberhaft, wo ich jetzt etwas Nahrhaftes für ihn auftreiben konnte.
Ich werde ihn mit zu mir nach Hause nehmen, da war mein kleiner Konservenvorrat noch. Das würde ihm erst einmal über das Schlimmste hinweghelfen.
»Justin, wir fahren schnell zu mir, da hab ich noch was im Kühlschrank.«
Er krümmte sich in seinem Sitz. Ich presste die Lippen zusammen und gab Gas. Der Mustang gehorchte und brüllte unter mir auf. Kurz darauf lenkte ich den Wagen auch schon in die Tiefgarage. Ich parkte auf meinem Parkplatz, der Van meines Nachbarn stand noch daneben.
»Willst du im Auto bleiben? Ich kann schnell hoch laufen, das Zeug holen und wir können dann weiter.«
Ich sah Justin fragend an. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, … will …mit«, stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Wir stiegen beide aus und gingen schweigend nebeneinander her in Richtung Treppenhaus.
Den Griff der Tür, die zum Treppenhaus führte, hatte ich schon in der Hand. Ich sah Justin flüchtig an, blickte in seine Raubtieraugen, seine Zähne waren lang und spitz, die Lippen darüber zurückgezogen. Ich beobachtete seine angespannte, gekrümmte Haltung, beinahe spürte ich seinen Schmerz. Ich überlegte, ob das damals bei mir auch so war, hatte ich auch diese Schmerzen, dieses Verlangen, diesen Durst?
Ich wusste es nicht mehr.
Leider.
Sonst wäre ich besser vorbereitet gewesen, ich hätte Bescheid gewusst, vielleicht sogar erahnen können, was da auf mich zukam.
Ich zog die Tür zum Treppenhaus auf und zwei Dinge geschahen annähernd gleichzeitig.
Ein Mensch stand im Türrahmen, ich erkannte ihn als den Mieter unter mir - Ralph.
Er sah mich kurz erstaunt an und wollte gerade die Hand zu einem Gruß erheben.
Das war die letzte Bewegung, die er in seinem Leben ausführte. Justin stürzte sich auf ihn, noch ehe Ralph seine Hand richtig anhob. Das Ganze dauerte noch nicht mal ein Blinzeln, ich war vollkommen erstarrt und hielt immer noch die Tür auf, ganz so, als hielte ich mich an ihr fest.
Justin warf Ralph um und stürzte sich sofort auf seinen Hals. Gierig saugte er das Menschenblut in sich hinein.
Dabei hielt er Ralph eisern fest.
Fasziniert starrte ich auf die Beiden, die im Treppenhaus vor mir auf dem Boden lagen.
Wie schnell der Bursche ist, dachte ich bei mir.
Wie idiotisch, sich auf den Ersten zu stürzen.
Ralph trommelte mit seinen Füßen einen letzten, rhythmischen Takt. Die Luft war erfüllt mit den Gerüchen der Tiefgarage, dem süßen Blut von Ralph und, ich schloss meine Augen und atmete tief ein, ich roch sogar Justins Gier und Verlangen.
Oder war es nur ein Gefühl? Konnte ich fühlen, was er jetzt spürte? Ich öffnete meine Augen wieder und sah gerade noch, wie Justin von Ralph abließ. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.
Ich konnte meine Wut und auch mein Entsetzen nicht mehr zügeln.
»Du Vollidiot«, brüllte ich. Meine Stimme prallte von den Wänden ab und verdoppelte, verdreifachte sich. Ich zuckte zusammen.
Leiser sagte ich: »Verdammt, was hast du dir nur dabei gedacht? Du kannst doch nicht über jeden herfallen, der dir gerade mal vor die Zähne spaziert.«
Wütend hielt ich inne. Justin drehte den Kopf in meine Richtung und lächelte mich an. Seine Augen erstrahlen wieder in diesem wunderschönen warmen Braun.
»Ich weiß, Tascha«, er schluckte kurz, »es tut mir leid. Aber wenigstens brauchen wir jetzt nicht mehr hoch zu dir in deine Wohnung. So haben wir Zeit gespart.« Abermals ein Lächeln von ihm, diesmal ein unwiderstehliches. Ich verdrehte die Augen zur Decke.
»Komm, hilf mir, wir schaffen Ralph in den Kofferraum und entsorgen ihn unterwegs.« Justin rappelte sich hoch, gemeinsam trugen wir den Toten zu meinem Wagen.
Ich knallte den Deckel von meinem Kofferraum zu, Ralph war vorerst verstaut, wir werden später sehen, was wir mit ihm machten.
Wir stiegen wieder in den Mustang und ich raste durch die Straßen.
Am Rand der Stadt ist ein Viertel, das von den weniger geachteten Bürgern dieser Stadt bewohnt wurde. Hier kamen die meisten unserer Opfer her. Ich parkte den Wagen vor dem Haus, das ich aus meiner Erinnerung noch kannte. Es war still hier. Viele Gerüche lagen in der Luft, auch bedrohliche und Blutgeruch.
Ich atmete tief ein und bekam den leichten Duft von Dennis in meine Nase.
»Er war hier«, ich blickte zu Justin, der sich verwundert umsah.
»Jetzt ist er wieder weg, aber vielleicht kriegen wir aus seinem Kumpel etwas raus.« Ich ging zu der Haustür und studierte die Klingeln. In meinem Gedächtnis grub ich nach dem Namen, er fiel mir nicht mehr ein. Justin stand neben mir und grinste mich frech an.
»Guck mal, es ist offen.« Dabei gab er der Tür einen Stoß und sie flog auf. Ein langer dunkler Flur lag vor uns. Es stank nach Verwesung, Exkrementen und über all dem lag ein beißender Brandgeruch.
Justin und ich liefen die Treppen hoch, an jeder Wohnungstür stoppten wir kurz um den Geruch der Wohnung einzuatmen. Im obersten Stockwerk stand die Tür offen und hier drang auch dieser scheußliche Brandgeruch heraus.
Vorsichtig betraten wir die schäbige dreckige Wohnung. Dennis’ Duft war hier sehr stark vorhanden, obwohl der Geruch nach verbranntem Fleisch ihn versuchte zu überdecken.
Mich überkam ein eigenartiges Gefühl, mein ganzer Körper kribbelte und vibrierte. Irgendetwas war hier passiert und ich wusste genau, dass mir das nicht gefiel. Wir gingen in das kleine Wohnzimmer und da lagen sie.
Vier längliche, verbrannte Haufen, die aussahen, wie ein altes Lagerfeuer. Umgeben, von Asche und einem Wall aus Sand, damit sich das Feuer nicht ausbreitete. Nur mit Mühe konnte man in den Brandhaufen menschliche Gestalten erkennen. Die Umrisse waren noch da, wenn auch nur schwach vorhanden. Ich schloss die Augen und zog die verbrannte Luft in mich ein. Keiner von denen war Dennis, zum Glück. Aber ein bekannter Geruch zog mir in die Nase, ich glaubte den Freund gefunden zu haben, nach dem wir suchten. Er würde uns jetzt nichts mehr verraten können.
»Das war Frank, eindeutig«, sagte Justin neben mir gepresst. Ich runzelte die Stirn und schnupperte nochmals. Ja, er hat recht, unter dem ganzen Gestank bemerkte ich den feinen Vampirgeruch kaum.
»Du hast Recht. Wo könnte er jetzt nur sein? Hat er Dennis mitgenommen? Hat er ihn getötet?«
Wieder roch ich intensiv die Umgebung ab. Den Brandgeruch musste ich ausblenden, denn nur die darunter verborgenen Gerüche interessierten mich.
Justin stellte sich dicht neben mich. Ich spürte, wie er mir Kraft gab, wie er mir Halt gab.
Nach einer Weile konnte ich ruhiger atmen, mich besser konzentrieren. Ein letztes Mal atmete ich tief ein und hielt den Geruch fest.
»Frank hat ihn mitgenommen. Ich glaube, ich weiß wo ich beide finden kann.« Justin wirbelte mich an den Schultern herum, bis ich ihm gegenüber stand. Er blickte mir fest in die Augen.
»Wo wir die Beiden finden, meinst du wohl.« Sein Mund war nur ein Strich.
»Ich erledige das alleine«, sagte ich kalt, »das hier geht dich nichts an, Justin. Das ist meine Angelegenheit. Du hast damit nichts zu tun.«
»Tascha, ich dachte, wir gehören zusammen.« Sein Blick war voller Verzweiflung und Angst.
»Ich dachte«, fuhr er leise fort, »wir beschützen einander, sind Gefährten. Mit allem, was dazugehört.« Er legte seine Stirn in Falten. »Ich dachte … du liebst mich«
Ich schluckte, und überlegte wie ich ihm sagen sollte, dass ich ihn nicht dabei haben wollte, dass ich es für zu gefährlich hielt. Ich würde Frank auf jeden Fall umbringen. Er, der auch mal Justins Herr war. Würde er dabei mitmachen, es verkraften, mich verstehen?
Als könnte er meine Gedanken lesen, umarmte er mich und flüsterte: »Ich will Frank auch tot sehen. Er hat mir … uns zu viel Schlimmes angetan. Dafür soll er in der Hölle brennen.«
Ich hielt Justin auf Armeslänge fest und fragte mit zusammengekniffenen Augen:
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Ja. Ganz sicher. Und jetzt komm, wir müssen die beiden suchen, es wird bald hell.«
Tatsächlich war es in dem schäbigen Wohnzimmer immer heller geworden. Die Sonne ging bald auf, dann würde sie ihre goldenen Strahlen über die vier verbrannten, jungen Körper gleiten lassen. Ich fragte mich, wieso Frank das gemacht hat, warum hat er sie nicht einfach nur getötet, er brauchte sie nicht auch noch anzuzünden.
Das war ekelhaft.
Ich glaubte, er ist völlig verrückt geworden. Ich musste ihn erwischen, bevor er noch mehr Unheil anrichtete und noch mehr Leid verbreitete.
Ich musste ihn töten.
Wir gingen die Treppen hinunter und stiegen wieder in den Mustang. Ich überlegte fieberhaft, wo Frank sein könnte, und im Besonderen, wo Dennis sich befand. Ich nahm an, dass Frank in seinem Haus war, wahrscheinlich mit meinem Sohn. Die Gedanken wirbelten nur so in meinem Kopf umher.
Dann fiel mir noch etwas anderes ein.
»Wir müssen Ralph noch loswerden«, damit zeigte ich mit dem Daumen hinter mich, in Richtung Kofferraum. Justin blickte mich zerstreut an.
»Wen?«
»Dein Nachtmahl, der Typ im Kofferraum.« Wie konnte er ihn nur so schnell vergessen haben?
Im selben Augenblick fiel mir ein, dass mich ein leerer Körper auch nicht mehr interessierte, sobald ich fertig mit ihm war. Da wird auch ein ganz neuer Vampir keine Ausnahme sein.
»Auf jeden Fall fahre ich keine Leiche spazieren. Bald fängt er da hinten an zu stinken, das brauche ich nicht.« Ich presste die Lippen aufeinander und grübelte darüber nach, wo ich ihn hin verfrachten könnte.
Da fiel mir Josh ein, er und sein geheimnisvoller Keller. Mein Freund Josh, der bestimmt erfreut sein würde, mich so schnell wiederzusehen, aber wird er auch von Justins Anwesenheit begeistert sein? Ich wagte es zu bezweifeln.
Er konnte Justin jetzt nicht mehr anfallen, ihm nichts mehr zu leide tun. Aber würde er noch genauso freundlich zu mir sein? Würde er mir helfen? Trotz allem?
Wir werden sehen, ich war gespannt, und ein wenig nervös.
Langsam fuhr ich durch die immer heller werdenden Straßen, bis ich vor Joshs Geschäft anhielt. Ich stellte den Motor ab und wartete. Justin hatte schon den Türgriff in der Hand. Als er bemerkte, wie ich zögere, blickte er mich fragend an.
»Was ist, willst du doch nicht rein?«
Ich war unschlüssig und blieb sitzen. Mit meinem Daumen trommelte ich auf das Lenkrad. Josh und Justin, zusammen, in einem Raum, würde das gut gehen? Würde das auch gut für mich sein?
Ich blickte in Justins Augen und sah sie wieder, die Brunnen, diese tiefen unendlichen Brunnen. Man könnte sich in ihnen verlieren. Sie könnten einen in ihre unruhige, alles verschlingende Tiefe mitziehen, hinunter in diese unergründliche Welt. Eine Seele die nicht darauf vorbereitet war, ein Körper der schwach war.
Ich aber blieb am Rand der Brunnen, ich blieb oben, und wurde nicht mehr mit hinunter gezogen. Ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte.
»Was nun?«, fragte Justin neben mir, ich seufzte
»Ja, komm. Lass uns reingehen und sehen, ob er uns helfen kann.«
Wir stiegen beide aus dem Auto und gingen zur Eingangstüre. Abermals dieses zarte Glöckchen, als ich die Tür aufstieß. Es klang als erwartete einen hier drinnen nur das Schönste und Leichteste. Als verkaufte Josh hier Wolken, Wind und Glück. Gut, dass ich es besser wusste.
Justin, neben mir, erstarrte, kaum dass er über die Schwelle trat. Es war noch der gleiche Geruch nach Nichts, wie bei meinem letzten Besuch. Nur das ich darauf gefasst war und er nicht.
Ich ließ ihn stehen und sah mich nach Josh um. Wie immer stand er hinter dem Tresen, auf seine Arme gestützt und blickte mich an.
Diesmal lag keine Freundlichkeit mehr in seinem Blick. Sein Geruchssinn war scharf genug, sodass er Justin sofort als Artgenossen erkannte. Er würde sich aber auch daran erinnern, dass Justin der Blutsack war, der letztens erst vor seinem Geschäft in meinem Mustang schlief.
Jetzt war er schon ein Vampir.
»Hallo Natascha«, sagte Josh leise. Er kam hinter seinem Tresen hervor, seine Augenbrauen düster zusammengezogen, sein Blick war abwartend und misstrauisch.
»Was führt dich zu so früher Stunde in meinen Laden?«
Er blickte rasch zu Justin rüber, der staunend seine Augen aufriss.
Ich lächelte Josh freundlich zu, packte seinen Arm und zog ihn nach hinten zu seinem Tresen. Er ging bereitwillig mit.
Ich senkte meine Stimme zu einem Flüstern, ich wusste auch nicht warum, aber aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass Justin unsere Unterhaltung mitbekam.
»Hör mal Josh, ich brauche ganz dringend deine Hilfe. Ich … wir haben da ein klitzekleines Problem, ein 160 Pfund Problem.« Ich blickte Josh gespannt an. Er zog eine Augenbraue bis hoch in seine blonden Harre, sodass sie fast darin verschwand.
»Ein 160 Pfund Problem?« Josh sah leicht amüsiert aus, um seinen Mund zuckte es ein wenig.
»Was hast du denn wieder angestellt?« Er schüttelte leicht den Kopf.
»Ich war das ausnahmsweise diesmal nicht. Justin war das, er ist einfach über ihn hergefallen, in einer Tiefgarage.«
Ich verdrehte die Augen und entschied mich dafür, Josh die ganze Wahrheit zu erzählen. Lügen brachten mich hier nicht weiter.
»In meiner Tiefgarage, wo ich wohne. Wir waren gerade auf dem Weg zu mir nach oben, da hat der Kerl die Tür geöffnet und schon war es passiert. Nun kann ich in meinem eigenen Revier ja nicht gut eine Leiche herumliegen lassen, so hab ich ihn in den Kofferraum gepackt.«
Ich lächelte kurz. »Dann bist du mir eingefallen, du und dein Keller. Könnte ich dir den Kerl überlassen? Du hast doch eine Möglichkeit Leichen verschwinden zu lassen. Du könntest mir diesen Kerl vom Hals schaffen.« Joshs Blick ging abermals in Justins Richtung. Schnell beeilte ich mich, zu sagen:
»Ich meine den Kerl in meinem Kofferraum.« Irgendwie war mir Josh heute unheimlich. Sein Blick war so anders, so starr und kalt, unnahbar, ja beinahe schon teuflisch.
»Hm, eigentlich habe ich keinen Zauberkeller, der Leichen einfach so«, er schnippte mit den Fingern, »verschwinden lässt. Ich gehe damit ein großes Risiko ein, die Obrigkeit könnte davon Wind bekommen, dann wäre ich dran.«
Ein seltsamer Blick traf mich aus seinen schönen blauen Augen. So hatte ich das noch nicht gesehen, ich wollte natürlich nicht, das Josh meinetwegen Ärger bekam. Dennoch war ich enttäuscht. Dann musste ich mir eine andere Lösung ausdenken.
»Ja, da hast du natürlich Recht, Josh. Daran habe ich nicht gedacht. Verzeih, ich wollte dich nicht damit belästigen.«
Ich wollte mich umdrehen um mit Justin den Laden zu verlassen. Josh packte mich am Arm und drehte mich zu sich. Seine funkelnden Augen trafen mich.
»Ich will auch den Rest hören«, abermals ein rascher Seitenblick auf Justin. Dann zerrte Josh mich um die Theke, zu seiner Kellertür, stieß sie auf und schubste mich hinein. Ich sah noch, als ich einen kurzen Blick über die Schulter warf, wie Justins Kopf herumfuhr, sich sein Blick verdunkelte.
»Wir sind gleich wieder da«, sagte Josh knapp zu ihm. Justin schien beruhigt zu sein.
Im Keller war es dunkel, tröstlich und duftend.
Josh schaltete kein Licht ein, wir brauchten auch keins. Zuerst konnte ich nur Umrisse erkennen, meine Augen brauchten ein bisschen länger, um sich an die Dunkelheit anzupassen.
Josh presste mich leicht gegen die Wand, ich konnte seine Hände um meine Hüften spüren, sie wanderten langsam höher, meine Seiten hinauf, über meine Rippen, herum zu meinen Schulterblättern. Er löste seine Hände von mir und drückte mich ganz an die Wand. Seine Hände berührten mein Gesicht, vergruben sich in meinen Haaren. Sein Körper presste sich an meinen. Sein Geruch hüllte mich ein.
»Josh, ich … hör bitte auf.«
»Ich wollte nur sehen, ob es noch genauso ist, wie vor ein paar Tagen. Ob du noch genauso bist«, flüsterte er mir ins Ohr. Alleine sein kalter Atem, der auf meine feinen Haare traf, löste bei mir ein Schaudern aus, der meinen Rücken rauf und runter schoss.
»Und?«, fragte ich ihn neugierig. Er ließ mich los, ging einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du riechst immer noch genau so verführerisch. Aber…«, er zögerte.
»Aber?«, fragte ich zurück. Josh holte kurz Luft.
»Aber irgendwas ist anders an dir. Ich kann es noch nicht erfassen, doch ich werde es schon noch herausfinden«
Er legte mir locker seine Arme auf die Schultern.
»So, meine Süße, jetzt will ich alles hören, was in den letzten paar Tagen passiert ist. Vor allem interessiert mich, wie dieser Blutsack da drinnen«, er nickte flüchtig mit seinem Kopf in Richtung Tür, die in seinen Laden führte, »sich so schnell in einen Vampir verwandeln konnte.«
Ich holte tief Luft und erzählte ihm alles… fast alles. Bestimmte pikante Details ließ ich unter den Tisch fallen, aber im Prinzip breitete ich die letzten Tage genau vor ihm aus.
Als ich fertig war, blickte mich Josh immer noch an.
»Er scheint ja kein böser Junge geworden zu sein.«
»Nein, er ist eigentlich immer noch genau so, wie sonst auch.«
»An deiner Stelle, würde ich ihn im Auge behalten. Die schnelle Verwandlung ist immer mit Risiken verbunden. Das weißt du doch.«
»Er ist kein Monster«, antwortete ich trotzig, »es war viel Gutes in ihm und das ist es jetzt auch noch.«
In Joshs Augen blitzte es plötzlich auf.
»Jetzt weiß ich was mit dir nicht stimmt, warum alles so anders ist. Du bist in den Kerl verliebt … total verknallt.«
Ich rollte mit den Augen und blickte zu Seite. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich wahrscheinlich noch knallrot im Gesicht geworden.
Ich befreite mich von seinen Armen.
»Nun weißt du ja alles, ich … wir müssen jetzt weiter, ich muss die Leiche noch entsorgen, bevor sie zum Himmel stinkt. Außerdem muss ich Frank und Dennis finden. Ich habe noch viel vor. Also, danke schön fürs Zuhören und wir sehen uns.« Ich löste mich von der Wand und wollte zur Tür gehen.
Joshs Arm schnellte vor und packte mich, ich hielt an. Er stand hinter mir, eng an meinen Rücken gelehnt. An beiden Oberarmen hielt er mich eisern fest. Ich sah über die Schulter, ich wollte wissen, was er vorhatte.
»Josh, was ist … lass mich los.« Statt einer Antwort strich er mit seiner Nase und den Lippen, meinen Hals hoch. Er küsste mich hinters Ohr. Ich konnte gerade noch ein Stöhnen zurückhalten.
»Sag mir, dass du das nicht schön findest, dass du keine Lust empfindest. Sag mir, dass du diesen Kerl liebst, mich aber nicht.« Aus Joshs Körper erklang ein kurzes drohendes Knurren. »Sag es mir.« Seine Stimme war drängend.
Ich holte tief Luft. »Ich liebe dich nicht. Lass mich jetzt bitte los.« Ich spürte, wie seine Hände, meine Arme kurz noch fester umfassten, härter zupackten. Dann wurde sein Griff wieder locker, schließlich ließ er mich ganz los.
Ich atmete einmal tief durch. Warum nur war alles immer so kompliziert?
»Danke schön. Bis bald, Josh.«
Wieder versuchte ich zu gehen, zum dritten Mal heute schon. Erneut hielt er mich zurück.
»Natascha, bitte warte.« Seine Finger streiften nur flüchtig meine Schulter.
»Hol den Kerl aus deinem Kofferraum, wir bringen ihn hier in den Keller. Ich werde sehen, wie ich ihn los werde.« Erleichterung war das Einzige, das ich spürte.
»Danke, ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Ich weiß. Ich komme bei Gelegenheit darauf zurück.«
Ich drehte mich um und blickte ihm fragend in die Augen. Er grinste mich nur an. Dann gab er mir einen Stoß in den Rücken. »Los mach schon, gleich ist es zu belebt draußen.«
Ich öffnete seine Tür und betrat den Laden wieder.
Justin saß im Sessel und blätterte in einem Buch. Es war ein Roman über Vampire. Die üblichen Schauergeschichten über uns, von verbrennender Sonne, die Unverträglichkeit von Silber, das Unvermögen ein kirchliches Kreuz anzufassen, die Vernichtung durch Weihwasser und durch Holzpflöcke, die uns durch die kalten Herzen gerammt wurden. Grässlich.
Er sah von seinem Buch hoch und blickte mich erleichtert an.
»Hilfst du mir mal?«, fragte ich ihn und ging an ihm vorbei. Er legte sein Buch weg und folgte mir. Draußen, an meinem Auto blickte ich die Straße rauf und runter, um mich zu vergewissern, vor neugierigen Augen verschont zu sein.
»Was habt ihr denn so lange besprochen?«, fragte Justin mich und seine Brauen zogen sich düster zusammen.
»Ich habe Josh von unseren Abenteuern erzählt. Er wollte das gerne genauer wissen.«
Ich hob Ralph aus dem Kofferraum und hielt ihn, als wenn er betrunken wäre und ich ihn stützen müsste.
Auch Justin blickte die Straße runter und beobachtete zusätzlich noch die Fenster aus den Häusern gegenüber. Mit meinem Betrunkenen im Arm wankte ich zurück in den Hexenladen.
Josh stand wieder hinter seiner Theke, er nahm mir Ralph ab und trug ihn selbst in den Keller.
Nach kurzer Zeit kam er wieder, rieb sich die Hände an der Hose ab und schloss krachend die Tür zum Keller.
»Danke nochmals«, ich nickte ihm zu.
»Ich werde darauf zurückkommen.« Sein Blick war abermals kühler. Ich wendete mich um und wollte gehen.
»Natascha?« Das war dann der vierte Versuch.
»Ja?«
»Ich kann mir sehr gut vorstellen, wo du Frank finden kannst. Dein Sohn wird auch bei ihm sein.«
»Wo?«
»Einige Kilometer von hier hat Frank doch sein Landhaus. Weißt du wo das ist?«
Er sah mich fragend an. Ich schüttelte meinen Kopf.
»Warte kurz, ich zeig es dir auf einer Karte.« Er ging zurück zu seinem Tresen, unterwegs griff er, scheinbar wahllos, in eine Kiste und holte eine Landkarte von der Umgebung hervor. Er breitete sie auf seinem Tresen auseinander. Ich war ein wenig verwirrt.
»Frank hat ein Landhaus?«, fragte ich Josh. Er schaute von der Karte auf, und runzelte die Stirn.
»Ja, hast du das nicht gewusst?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein«
»Ich glaube du hast so einiges nicht von ihm gewusst.«
Er suchte weiter auf der Karte. Dann blieb sein Finger stehen.
»Da. Da ist es.« Ich kam näher, um mir den Punkt einzuprägen und ihn wiederzufinden. Dabei stellte ich fest, dass es genau zwischen unserer Stadt und dem kleinen Dorf war, in dem Dennis mit seinem Vater und seiner Schwester wohnte. Wir waren also schon einmal daran vorbeigefahren. Ich konnte es nicht fassen. Sollte ich den beiden denn schon so nah gewesen sein und hatte es nur nicht gewusst?
»Danke.« Dabei legte ich meine Hand auf seine, die immer noch den Punkt auf der Karte markierte. Er blickte mich nicht an. »Schon in Ordnung, ihr geht jetzt besser.«
Seine Stimme wirkte gepresst.
Justin und ich gingen zum Ausgang. Ich war schon gespannt, ob ich es diesmal wirklich hier raus schaffte.
»Natascha?« Unwillkürlich musste ich grinsen. Fünfter Versuch fehlgeschlagen. Ich drehte mich um. »Ja?«
»Sei bitte vorsichtig, Frank ist ein kranker Irrer. Du weißt nicht, wozu er fähig ist.« Josh schluckte kurz.
»Seid vorsichtig.«
Mir war nicht entgangen, dass er jetzt uns beide, Justin und mich, angesprochen hatte. Es freute mich ein bisschen.
»Okay. Bis dann.«
Diesmal gingen wir wirklich.
Im Wagen angekommen meinte Justin:
»Wart ihr beiden mal …« er suchte nach dem richtigen Wort, »Gefährten?« Seine Augenbrauen schoben sich zusammen.
Ich sah über ihn hinweg, auf die geschlossene Tür von Joshs Laden.
»Nein, aber es war schon irgendetwas … na ja, zwischen uns. Aber das ist vorbei.«
Ich lächelte Justin an, bemerkte aber, wie es nicht meine Augen erreichte.
Vorbei?
Wirklich?
Aus und vorbei?
Fragte irgendetwas tief in mir drin. Ich gab dem Ding keine Antwort.
Ich startete den Motor und fuhr in Richtung Landhaus. Justin saß schweigend neben mir, auch ich hing meinen Gedanken nach. Wer oder Was hatte da bloß eben zu mir gesprochen? Warum wurden die Dinge immer kompliziert, wenn sie doch gerade einfacher werden sollten. Ich grübelte weiter und horchte in mich hinein.
Dabei bemerkte ich gar nicht, wie Justin immer wütender wurde. Wie er vor Zorn fast schon rauchte. Seine Augen blitzten und sprühten vor Hass.
Ich bemerkte es nicht, ich lauschte nur dem monotonen Geräusch der Reifen, die unter mir rollten und mich näher an Frank brachten und hoffentlich auch zu Dennis.
Ein scharfes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Dann war ein Knurren zu hören, tief und bedrohlich. Ich überlegte wo dieser Laut herkam. Ich wollte Justin gerade fragen, ob er es auch hörte. Ich wendete meinen Kopf ihm zu und erstarrte.
Gelbe Raubtieraugen funkelten mich an, die Zähne waren lang und spitz, sie blitzten im hellen Tageslicht. Das Gesicht war zu einer wütenden Fratze verzerrt.
»Justin, was ist los?«, ich starrte ihn an.
Seine Hände schnellten vor und umgriffen die Kante der Ablagefläche, über dem Handschuhfach. Seine Finger verkrampften sich und mit einem lauten Krachen hatte er ein Stück davon abgebrochen. Mit offenem Mund starrte ich auf seine Hände. Er ließ das Stück Plastik einfach fallen. Schaumstoff rieselte aus der klaffenden Wunde meines Mustangs. Justin drehte sich nach rechts und zerschmetterte mit einem Fausthieb die Seitenscheibe. Es knallte fürchterlich, Glas flog umher. Die kleinen Scherben setzten sich überall fest. Er ballte die Hand abermals zur Faust.
»Hey, hör sofort auf damit«, brüllte ich ihn an, »du nimmst mein Auto auseinander. Was ist los mit dir?« Ich fuhr an den rechten Fahrbahnrand und hielt an.
Die Faust immer noch im Anschlag blickte Justin mich mit diesen Funken sprühenden Augen an. Ohne den Blick von mir abzuwenden, schlug er auf das geschlossene Handschuhfach. Es knackte, krachte und Plastiksplitter schossen umher wie die Schrapnellteile einer Handgranate.
Meine Hand schnellte vor und packte ihn am Arm.
»Was zum Teufel ist los mit dir?« Ich musste brüllen, um das wahnsinnige Knurren, das aus Justins Inneren kam, zu übertönen.
»Ich bin wütend«, knurrte er, holte mit der rechten Hand aus und donnerte sie gegen seine Tür. Der ganze Mustang wackelte und vibrierte.
»So wütend war ich noch nie. Ich muss meine Wut raus lassen.« Er verzog kurz den Mund, es sollte wohl ein Lächeln sein.
»Aber nicht an meinem Auto, verdammt;« brüllte ich zurück.
Ich gab es ja nur ungern zu, aber ich hing sehr an meinem Mustang. Er war schließlich ein Oldtimer, Baujahr 1966, 4,7 Liter, V8 Motor. Er brachte satte zweihundertsiebzig Pferdchen auf die Straße. Er wurde liebevoll restauriert und mit einem herrlichen roten Lack überzogen. Aber am liebsten hatte ich ihn in einem Stück, heil und unversehrt.
Ich hielt Justin an den Schultern und drehte ihn in meine Richtung. Immer noch hörte ich dieses drohende Knurren aus seinem Inneren. Ich suchte seinen Blick, sah in diese wütenden Raubtieraugen, nagelte sie mit meinen fest.
»Was ist los mit dir?« Ich betonte jedes Wort, damit ich bis zu seinem Inneren durchdrang, über das wütende Knurren hinweg.
Er fixierte mich, seine Brauen zusammengezogen, die Augen zuckten hin und her.
Aber das Grollen wurde leiser, langsam floss die braune Farbe über das Gelb seiner Iris. Die Gesichtszüge entspannten sich. Das Knurren hatte ganz aufgehört.
Justin zwinkerte ein paar Mal, dann sah er mich erstaunt an.
»Was ist los? Warum hast du angehalten?« Seine Stimme war sanft, er blickte sich um.
»Wir sind doch noch gar nicht da.«
Ich ließ seine Schultern wieder los und starrte nach vorne. Er hatte sich auch wieder gerade hingesetzt und betrachtete nachdenklich die Stelle an der Ablage vor ihm. Schaumstoff quoll heraus, ein paar dünne Kabel waren zu sehen. Der gezackte Plastikrand gab dem Ganzen das Aussehen einer tiefen Wunde. Justin fuhr mit den Fingerspitzen leicht über das klaffende Loch.
»Was ist das denn?« fragte er leise und schien wirklich erstaunt zu sein.
»Das warst du«, ich wendete mich ihm zu, »ich habe dich nicht wiedererkannt, Justin. Du warst… so voller Wut.«
Ich schüttelte meinen Kopf.
»Was ist bloß in dich gefahren?«
»Ich … ich weiß es nicht.«
Er schob seine Brauen zusammen und blickte zur Seite.
»Ich war ein bisschen sauer auf dich, das weiß ich noch. Das Nächste was ich sehe, bist du und das wir angehalten haben.«
»Warum warst du sauer auf mich?«, fragte ich und war immer noch erstaunt, dass er von seinem Verhalten nichts mehr wusste.
»Ach«, er machte eine kurze wegwerfende Handbewegung,
»wegen Josh, und … dass ihr euch so vertraut seid, so nahe steht. Das hat mich ein bisschen wütend gemacht.«
»Ein bisschen wütend?« Mein Ton wurde sarkastisch.
»Das eben sah mir aber nicht nach ein bisschen wütend aus, sondern eher wie: komm her und ich reiß dir den Kopf ab wütend.«
Justin verzog den Mund zu einem Lächeln.
»Es tut mir sehr, sehr leid. Ich werde den Schaden natürlich ersetzen.« Er nahm meine Hand und küsste mir auf die Innenseite. Er küsste jede meiner Fingerspitzen, sofort stand meine Hand in Flammen. Mit jeder Berührung seiner kalten Lippen schwand mein Misstrauen immer mehr. Am Ende schloss ich die Augen und hatte den Vorfall schon beinahe vergessen. Er rückte näher zu mir und sein Mund berührte meinen Hals. Er strich mit den Lippen hoch bis zu meinem Ohr und langsam wieder herunter. Dann biss er mir ganz leicht in den Hals.
Eine Stimme in mir brüllte laut und knurrend: »Vorsicht!«
Vor Schreck schrie ich kurz auf. Meine Arme wirbelten herum, wehrten Justin ab. Ich hatte einen kurzen Moment wirkliche Todesangst.
Mein Atem ging schneller, meine Augen waren schreckensgeweitet.
Justin blickte mich erstaunt an. »Was ist?«
»Nichts.« Log ich.
»Alles in Ordnung, lass uns einfach weiterfahren. Okay?« Justin lehnte sich wieder in seinen Sitz und starrte vor sich hin.
Ich versuchte mich zu beruhigen, atmete prustend aus und startete den Mustang. Meine Hände zitterten leicht.
Was ist bloß hier los, fragte ich mich. Seit wann höre ich denn Stimmen? Seit wann habe ich Angst vor Justin? Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, er starrte nachdenklich vor sich hin.
In welchen miesen Horrorfilm bin ich hier geraten?
Hatte Josh am Ende mal wieder Recht behalten? Kann bei einer schnellen Verwandlung einfach nichts Gutes herauskommen? Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte es einfach nicht.
Während die Reifen unter mir schnell dahin rollten, redete ich mir unermüdlich ein, dass eben nichts passiert sei, dass Justin nur ein bisschen überreagiert hatte, nur ein wenig ausflippe. Ich wiederholte die Worte so lange in mir drin, bis sie glaubwürdig klangen, bis ich sie selber glaubte.
Wir waren fast am Ziel, ich musste nur noch in einen kleinen Waldweg einbiegen, der mich einen Kilometer in den Wald führte.
Ich war ein wenig nervös, starrte auf den Waldweg vor mir. Ich suchte nach dicken Ästen, die meinem Mustang den Weg versperren könnten.
Plötzlich schrie eine Stimme wieder: »Vorsicht!« Ich riss den Kopf herum, aber es war zu spät.
Der Jeep kam zwischen den Bäumen hervorgeschossen wie ein wütender Bär.
Er rammte mit seinem Bullenfänger die Seite meines Wagens. Justin schrie auf. Es krachte fürchterlich, der Mustang stand kurzzeitig nur auf zwei Räder. Dann schleuderten wir auch schon auf die Bäume zu. Ich bremste und riss dann das Lenkrad herum. Wir standen quer auf dem Waldweg. Der schwarze Jeep blieb seitlich zu uns, in ein paar Metern Entfernung stehen.
Justin und ich blickten aus dem zerstörten Seitenfenster auf diesen mörderisch großen Pritschenwagen. Ich kannte das Auto, es war Franks Jeep Gladiator. Ein riesen Teil von einem Wagen.
Hinter der Beifahrerscheibe grinste Dennis mich spöttisch an. Frank lehnte sich von der Fahrerseite her zu ihm rüber und winkte uns zu. Dann gab er Gas, ließ die Hinterreifen Dreck schleudern und fuhr in Richtung Landstraße davon. Ich wendete und machte mich auf, sie zu verfolgen.
»Ich glaub, ich spinne«, regte sich Justin neben mir auf.
»Der wollte uns umbringen«, er schüttelte seinen Kopf.
Ich spürte keine Angst, mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass ich nicht sterben konnte.
Ich sah nur Dennis’ Gesichtsausdruck vor mir und war entsetzt darüber, wie kalt seine Augen wirkten und dann sein spöttisches Lächeln …
Ein entsetzlicher Verdacht keimte in mir hoch, ich unterdrückte den Gedanken schnell und konzentrierte mich nur auf die Verfolgung von Franks Jeep.
Inzwischen war er, ohne langsamer zu werden, auf die Landstraße abgebogen und preschte in südlicher Richtung davon. Ich gab Gas, der Motor brüllte und knurrte unter mir. Ich bog auch auf die Landstraße ein. Aber sie waren weg. Kein Jeep war mehr zu sehen, obwohl die Straße hier schnurgerade war. Ich blickte verdutzt die Straße rauf und runter, so schnell war der Jeep auch wieder nicht, Frank musste also irgendwo abgebogen sein.
»Wo sind sie denn bloß hin?«, fragte Justin.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich leise und überlegte wieder. Langsam fuhr ich die Straße entlang. Es gab hier alle hundert Meter einen schmalen Weg, der in den Wald hineinführte. Welchen haben die Beiden nur genommen? Plötzlich sah ich breite Reifenspuren, die in einen der Wege führten. Ich zerrte mein Lenkrad herum und folgte den Spuren.
Nur langsam kam ich voran. Trotz der lang anhaltenden Dürre in den letzten Wochen war der Weg morastig, nicht viel, aber mein Auto war schließlich kein Offroader. Wenn wir stecken blieben, wäre das nicht gut, gar nicht gut.
Ein Stück weiter wurde der Untergrund wieder fester und ich konnte beschleunigen. Immer tiefer fuhren wir in den Wald hinein. Keine Spuren waren mehr zu entdecken.
»Das gibt es doch nicht. Wo sind die nur?«, fragte ich in die Stille hinein.
»Keine Ahnung, aber gib mal Gas, dann erwischen wir sie bestimmt weiter vorne.« Justin blickte angestrengt durch die Windschutzscheibe. Ich drückte das Pedal noch tiefer durch. Der Mustang schoss über den erstaunlich ebenen Waldweg. Plötzlich ein Knurren und Brummen von rechts.
Der Jeep flog förmlich zwischen den Bäumen hervor. Wie ein brüllendes Tier stürzte er sich auf den Mustang. Selbst ich konnte mir ein erschrecktes Kreischen nicht verkneifen.
Die Schnauze des Gladiator traf mit voller Wucht die Beifahrerseite. Justin hielt sich die Arme vors Gesicht und wendete sich ab. Ich hielt das Lenkrad krampfhaft fest, aber es half nichts. Die Wucht des Aufpralls katapultierte meinen Wagen nach links, runter vom Waldweg, unaufhaltsam in Richtung Bäume. Ich versuchte zu bremsen, den unvermeidlichen Aufprall in letzter Sekunde noch abzuwenden. Aber der Mustang reagierte nicht mehr.
Mit hoher Geschwindigkeit prallten wir frontal gegen eine Fichte. Das Heck des Mustangs hob ein bisschen vom Boden ab, als sich die gesamte Frontpartie, wie in einer innigen Umarmung, um den Stamm schmiegte.
Blitzartig war es still. Ein Ticken war noch zu hören, sonst nichts. Ein paar Vögel, die aufgeregt davonflogen, dann war es wieder still.
Ich blickte auf meine Hände, die noch krampfhaft das Lenkrad umklammerten. Sah auf den rauen Stamm der Fichte, die viel zu nahe stand. Langsam drehte ich meinen Kopf, es knackte in meinem Genick.
Justin saß immer noch in seinem Sitz, ich war erstaunt, er war nicht angeschnallt und hatte eigentlich nichts zum festhalten. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er im hohen Bogen aus dem Auto geschleudert wurde.
Er hielt sich eine Hand vor die linke Gesichtshälfte, Blut rann darunter hervor. Ich nahm seine Hand und wollte sie wegziehen.
»Zeig mal, wie schlimm ist es.«
»Nein, lass es.« Er klang ängstlich. Er drehte sich ein wenig von mir weg und nahm die Hand langsam runter, sie war voller Blut. Dann blickte er mich zögernd an. Seine linke Gesichtshälfte, vom Auge bis zum Mund, war beinahe verschwunden. Tiefe Risse zogen sich über die Wange. Der Wangenknochen war gebrochen, ich konnte durch die offenen Wunden die Knochensplitter sehen, die gesamte Seite sah eingefallen aus. Aber das Schlimmste war die leere Augenhöhle. Sein linkes Auge war nicht mehr da. Stattdessen starrte mich ein schwarzes Loch an.
»Oh, …dich hat es aber erwischt.« Ich hob meine Hand und wollte ihm über die zerstörte Wange streichen. Er zuckte zurück.
»Ich kann auf der Seite nichts mehr sehen, wie kommt das?«
Er drehte den Rückspiegel in seine Richtung und blickte hinein. Sekundenlang, schweigend. Dann ruckte sein Kopf zu mir.
»Meinst du das verheilt wieder? Meinst du ich kann bald wieder sehen mit …eh …wird mir eigentlich ein neues Auge wachsen?« Er blickte erneut in den Spiegel.
»Das sieht furchtbar aus. Ich sehe furchtbar aus.«
»Deine Selbstheilungskräfte werden dich schon wieder zusammenflicken. Was mit dem Auge allerdings passiert, das weiß ich auch nicht.«
Er tat mir leid. Ich schien bei dem Unfall nichts abbekommen zu haben. Ich hatte nicht einmal einen Kratzer.
Er starrte nach wie vor in den Spiegel, mir brannte die Zeit unter den Nägeln, ich wollte Frank erwischen.
»Justin, meinst du, du kannst laufen? Ich will weiter, ich will Frank und Dennis erwischen.«
»Ja, natürlich. Entschuldige bitte, ich hatte sie für einen kurzen Moment vergessen. Komm lass uns gehen.«
Er versuchte die Beifahrertür zu öffnen, aber sie war bei dem Aufprall des Jeeps mit dem Rest der Karosserie verschmolzen. Er sprang über die Tür und stand auf dem weichen Waldboden. Ich musste es ihm nachmachen, da meine Tür auch klemmte.
»Wir werden sie schon finden Tascha, mach dir keine Sorgen.« Er sah mich merkwürdig an.
»Ja, ich weiß.«
Ich schloss meine Augen und zog die Waldluft in meine Nase ein. Alles was ich roch war Wald, Harz, Blut, Justin, Benzin und Öl. Ich öffnete meine Augen und ging auf den Weg zurück. Da waren die Reifenspuren wieder zu erkennen, sie führten den Weg weiter, Frank war also den Waldweg entlang gefahren. Ich packte Justin am Arm und deutete auf die Spuren im Boden.
»Schaffst du es zu laufen?«
»Ja, das geht. Ich kann nur auf der linken Seite noch nichts sehen.«
»Kein Problem, ich bleibe links von dir, dann wird es gehen.«
Wir liefen los, nebeneinander, immer den Spuren nach.
Wir rannten etliche Kilometer durch den Wald. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, liefen wir jetzt parallel zur Landstraße. Ich blieb ruckartig stehen, Justin konnte mich nicht so gut sehen, darum lief er noch ein paar Schritte weiter, bevor auch er anhielt.
Vor uns stand der schwarze Pritschenwagen, mitten auf dem Weg geparkt. Von meiner Position aus, konnte ich nicht genau erkennen, ob jemand drin saß oder nicht. Langsam ging ich auf den Jeep zu. Ich zog die Luft ein, es schien niemand von ihnen in der Nähe zu sein.
Ich sah Justin an, seine Kräfte hatten während des Laufens ihre Arbeit verrichtet. Sein Gesicht war wieder symmetrisch, die Wunden beinahe verheilt. Die leere Augenhöhle war mit einem milchig, weißen Etwas gefüllt. Er sah also bald wieder normal aus, das freute mich.
»He, du siehst bald wieder aus wie immer«, sagte ich.
Er fasste sich mit der Hand an die linke Gesichtsseite. »Aber sehen kann ich immer noch nichts.«
»Das kommt noch.« Ich grinste schief und zuckte mit den Schultern.
Ich sah mich um, ich kannte die Gegend, in der wir uns befanden. Wir waren nur ein paar Kilometer von meinem früheren Zuhause entfernt. Hier ging ich damals oft spazieren. In einer Zeit, wo ich Vampire nur aus Büchern und Filmen kannte.
Ich überlegte, ob Dennis den gleichen Weg eingeschlagen hätte, wenn ich nicht vor zehn Jahren ihn und den Rest meiner Familie verlassen hätte. Vielleicht wäre aus ihm ja ein guter Junge geworden, wenn ich nur geblieben wäre.
Ich verscheuchte die trüben Gedanken, jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Er hatte diesen Weg gewählt, den für ihn richtigen Weg, es war seine Entscheidung.
»Tascha, alles okay?«, flüsterte Justin neben mir. Mein Gesichtsausdruck hatte meine Gedanken wohl verraten. Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen raschen Blick zu.
»Ja, ist schon gut. Komm, lass uns weitergehen. Sie müssen hier irgendwo sein. Halt die Augen offen«, ich stockte, »verzeih.« Aber Justin grinste nur.
Plötzlich erschallte ein lauter Ruf durch den Wald.
»Tascha, hier sind wir.« Die Vögel flogen mit lautem Geschrei davon. Ich zuckte zusammen, und tauschte einen schnellen Blick mit Justin. Ich wusste, wo das herkam, ich kannte mich hier aus. Weiter vorne war eine kleine Lichtung, nur ein paar Meter im Durchmesser. Aus dieser Richtung kam Franks Ruf.
Justin und ich liefen los.
Wir wurden erst langsamer, als wir die Stelle erreichten. Am Rand der kleinen Lichtung stoppten wir. Mittendrin standen Frank und Dennis. Ich hatte nur Augen für meinen Sohn und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er wurde unsicher, tauschte einen raschen Blick mit Frank und stolperte ein paar Schritte zurück.
Ich geriet ins Stocken, hielt an und zog die Augenbrauen zusammen. Ich blickte vor mich ins Gras. Ich hatte einen kurzen Geruchsfetzen von Dennis aufgeschnappt, der das bisschen Blut in mir zu Eis gefrieren ließ.
»Nein, das hast du nicht gewagt.«
Meine Stimme war nur ein Hauch.
»Oh doch.« Frank lachte trocken auf.
»Das ist doch besser, als hätte ich ihn umgebracht. Viel besser.«
»Nein.« Erneut kam nur der Hauch einer Stimme aus meiner Kehle.
Dann rannte ich los, ohne Vorwarnung, aus dem Stand. Ich wollte Frank umbringen, ihn zerquetschen, mit meinen bloßen Händen seinen Kopf abreißen und damit Fußball spielen.
Er hatte mit meiner Reaktion gerechnet. Meine Augen verrieten mich, sie wurden, im Bruchteil von einer Sekunde, zu Raubtieraugen. Das hatte er bemerkt.
Er trat nur einen großen Schritt zur Seite und ich lief ins Leere. Ich schlug einen kleinen Bogen und stürzte mich erneut, mit einem Bärengebrüll, auf ihn.
Kurz bevor ich ihn erreichte, packte Dennis meine Arme und hielt mich eisern fest.
Mein eigener Sohn hielt mich fest, hinderte mich daran denjenigen auszuschalten, der ihm das antat. Der ihn zum Vampir machte. Mein eigener Sohn. Ich war fassungslos.
Ich sah mich um und suchte nach Justin. Der stand immer noch am Rande der kleinen Lichtung, die Arme leicht vom Körper abgespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt. Bis hierhin hörte ich das drohende Knurren, das aus seinem Inneren kam.
Plötzlich schoss sein Kopf nach vorne. Ich blickte in gelbe Augen – das linke war wieder vollständig hergestellt – und sah seine Zähne, lang und spitz.
»Justin«, schrie ich ihn an, er hörte mich scheinbar nicht. Knurrend stand er da und fixierte mich.
»Er kann dich nicht mehr hören«, sagte Frank sanft zu mir, dabei kam er ein paar Schritte auf mich zu.
»Es ist aber auch zu schade, dass du ihn nicht getötet hast. Wo du doch so scharf auf sein Blut warst.« Er grinste hämisch.
»Dann wäre ich dich bequemer losgeworden. Dann hätte dich der hohe Rat töten können. Nein, töten müssen. Du hast einfach zu oft die Regeln missachtet, zu oft Unschuldige getötet. Der hohe Rat hatte meinen Clan schon unter Beobachtung. Früher oder später hätten sie mir die Macht entzogen. Hörst du MIR!« Frank brüllte mich an, dann lachte er kurz und vollkommen humorlos auf.
»Ich lebe schon seit über vierhundert Jahren in dieser Welt und lasse mir nicht von einem Vampirneuling, wie dir, meinen Clan wegnehmen. Ich habe dich mehr als einmal gewarnt, Tascha.« Frank umrundete mich und Dennis, der immer noch eisern meine Arme festhielt.
»Dann kam Dennis dazwischen, ich dachte mir schon, dass du ihn nicht töten wirst, darum schickte ich Tom und Elisabeth. Ich habe sie zwar auf Dennis angesetzt, konnte mir aber vorstellen, dass sie dich auch erwischen wollten. Schließlich habe ich ihnen erzählt, dass deine unkontrollierten Taten für die Zerschlagung des Clans verantwortlich sind. Wie du weißt, waren beide mir sehr ergeben. Wie du es allerdings geschafft hast zusammen sechshundert Jahr Vampirdasein zu töten, ist mir bis heute ein Rätsel« Er schüttelte den Kopf, ich nutzte die kleine Redepause.
»Darf ich auch mal was fragen?« Frank hob eine Augenbraue und blickte mich an.
»Bitte.«
»Warum hast du mich nicht einfach aus dem Clan geschmissen? Mich aus der ganzen Stadt verbannt, von mir aus auch aus diesem Land. Warum willst du mich töten?«
»Weil du schlecht bist«, brüllte er, kaum dass ich meine Frage zu Ende gestellt hatte.
»Weil du niemals den Kodex einhalten wirst, egal wo du bist. Weil du schlechtes Blut hast … und … weil du böse bist!« Verachtung war in seiner Stimme zu hören. Meine Gedanken kreisten wie Bienen um den Honig.
Ich bin schlecht?
Ich habe schlechtes Blut in mir?
…
Aber es war doch sein Blut, was mich letztendlich zu dem gemacht hat, was ich bin. Also ist sein Blut schlecht.
In meinem Kopf klickte es kurz, als wenn ein Schalter einrastete.
Es war nicht, dass er Angst hat, seinen Clan zu verlieren, oder seine Macht. Es hatte auch nichts damit zu tun, das ich Unschuldige aussaugte. Oder den Kodex mit Füßen trat.
Es war einzig und alleine seine Angst ER könnte schlechtes Blut haben. Er könnte ein Träger des bösen Blutes sein.
Seit es Vampir gab, existierte die Angst, einer von ihnen könnte der sogenannte Träger des bösen Blutes sein. Das waren Vampire, die böses Blut in sich trugen, keiner wusste, wo es her stammte, sie müssten es noch nicht einmal selber spüren, aber bei einer Verwandlung gaben sie es weiter. Der Vampirneuling mutierte zum mordenden Monster, das nur zwei Dinge kannte, töten, und den Hass auf seinen Erzeuger.
Träger des bösen Blutes zu sein, war mit einem Todesurteil gleichzusetzen.
Wenn der neugeborene Vampir den Träger nicht erwischte, sprach es sich irgendwie herum und der hohe Rat machte Jagd auf ihn. Träger des bösen Blutes zu sein war eine Schande.
Frank hatte mir, bei der endgültigen Verwandlung, ein paar Tropfen seines Blutes zu trinken gegeben, so wurde das gemacht, damit die Verwandlung vollständig war.
Und jetzt hatte er Angst, ja Panik, sein Blut könnte verunreinigt sein.
Ich musste grinsen, das war der totale Schwachsinn. Der größte Blödsinn, den ich je hörte.
Ich fing an zu kichern, ich konnte nichts dafür, es überkam mich einfach. Frank starrte mich entsetzt an. Das fand ich noch viel witziger und lachte lauthals.
Ich blickte in Franks hasserfüllte Augen und musste nur noch mehr lachen.
»Ein uralter Vampir hat eine hysterische Angst, dass sein Blut, das er einem Grünschnabel verpasst hat, schlecht geworden ist.« Ich prustete vor mich hin, dann kam der nächste Lachanfall.
»Ha, ha, ha«, ich konnte nicht mehr, gleich konnte ich mich vor Lachen nicht mehr auf den Beinen halten.
Plötzlich sah ich, im hellen Licht der Sonne, etwas glitzern. Zwei Stimmen schrien gleichzeitig: »Vorsicht!«
Ich hatte eine von den Stimmen erkannt, es war Justin, er schien wieder normal zu sein. Die andere kam abermals aus meinem Inneren.
Von den Stimmen kurz abgelenkt, konnte ich nicht mehr reagieren. Das Glitzern zischte durch die Luft und traf mich am Hals. Ich spürte einen Druck, dann sah ich Blut spritzen. Mein Blut.
Frank stand lächelnd vor mir und hielt ein zweischneidiges Messer in seiner Hand. Ein Blutstropfen rann langsam die Schneide herunter, hinterließ eine kleine Blutspur und wurde dabei immer kleiner.
Fasziniert starrte ich auf das Sterben des Tropfens.
Dann kam der Schmerz. Es war ein Gefühl, als hätte er mir den Kopf abgeschnitten. Es brannte wie Feuer, es war unerträglich. Dennis ließ mich los und ich fiel nach vorne auf meine Knie. Stützte mich mit den Händen auf den weichen Waldboden ab. Blut schoss in einem Sturzbach aus der offenen Wunde an meinem Hals. Blut hatte sich auch in meinem Mund gesammelt, ich öffnete ihn und ließ es abfließen.
Mein eigenes Blut schmeckte scheußlich.
»Tascha.« Es war Justin, er kam auf uns zugelaufen. Abermals erfüllte Dennis seine Pflicht als Leibwächter und packte ihn, bevor er uns erreichte. Aber Justin war stärker, als ich, er wehrte sich, er windete sich in Dennis’ Umklammerung. Frank kam Dennis zu Hilfe, gemeinsam hielten sie ihn in Schach. Dennis beugte sich zu Justin und flüsterte leise in sein Ohr.
Ich war in meinem Entsetzen und in meinem Schmerz gefangen, viel zu sehr, als das ich etwas von Dennis’ Worten verstand. Ich sah nur, wie Justin sich langsam entspannte. Dennis führte ihn, immer noch am Arm haltend und unablässig auf ihn einredend, von der Lichtung fort.
Ich wollte ihnen hinterher rufen, aber meine Stimmbänder versagten mir noch ihren Dienst. So wurde daraus nur ein krächzender Laut, Justin drehte sich nicht mal um.
Frank hockte sich vor mich. »Wir nehmen ihn mit, dein Liebchen, er kann sich noch als nützlich erweisen.«
Abermals kam aus mir nur ein helles Krächzen. Ich konnte noch nichts machen, war nur ausgefüllt mit Schmerz.
In ein paar Minuten, sollte Frank dann immer noch vor mir hocken, wäre ich wieder soweit hergestellt, das ich ihn angreifen könnte. Aber jetzt war ich noch die Geisel meines Schmerzes.
Frank stand auf und lief Justin und Dennis nach.
Es würde noch ein wenig dauern, bis ich die Verfolgung wieder aufnehmen könnte.
Noch ein bisschen Zeit.
Ich mochte schlafen, ich war so müde, so tot. Der starke Blutverlust schwächte mich zusätzlich. Er machte mich nicht bewegungsunfähig, aber er ließ meine Kräfte schwinden. Ich musste ganz schnell etwas Blut trinken, sonst brauchte ich den Beiden gar nicht erst gegenüber zu treten.
Auf der Lichtung war es ruhig geworden, die Vögel schienen mich nicht als Bedrohung zu empfinden, sie zwitscherten weiter ihre fröhlichen Lieder.
Wie aus einem Disney Film entsprungen hoppelte plötzlich eine Hasenfamilie über die Lichtung. Sie schienen meine Anwesenheit nicht zu spüren. Gab’s denn so was? Frisches, warmes Blut hoppelte einfach so an meinen Reißzähnen vorbei. Ich war begeistert.
Jetzt nur keine falsche Bewegung, verfolgen könnte ich die Langohren nicht mehr, sie müssten schon zu mir kommen.
Ich beobachtete aus den Augenwinkeln die gesellige Bande. Sie mümmelten das Gras und den Klee, genossen ihr Abendessen und kamen weiter hoppelnd in meine Richtung.
Ich konnte es vor Gier kaum noch aushalten, aber ich musste regungslos verharren, ich durfte nicht riskieren, dass sie die Flucht ergriffen.
Ich schloss meine Augen und versuchte mein inneres Monster zu beruhigen. Tatsächlich wurde ich ruhiger, konnte wieder klar denken. Als ich die Augen öffnete, sah ich einen Prachtburschen von Hasen keine zwei Meter neben mir. Er drehte mir seinen Rücken zu und suchte mümmelnd im Gras. Ich spannte meinen Körper und schnellte vorwärts. Seine langen Ohren wurden ihm zum Verhängnis, ich packte ihn daran, er strampelte wie wild. Die anderen Hasen ergriffen die Flucht, wie schnell sie waren, ich hätte niemals einen von ihnen erwischen können. Nicht in meinem Zustand.
Ich ging mit meiner zappelnden Beute in Richtung Bäume. Dann packte ich den Hasen an seinen Hinterläufen und schlug ihn einmal kurz mit seinem Kopf gegen den Baum, das betäubte ihn.
Ich setzte mich mit meinem Mahl unter den Baum, eigentlich fiel ich mehr hin, soviel Kraft hatten mich der Fang und der Gang hierhin gekostet. Dann schlug ich dem Häschen meine Reißzähne in den Bauch und trank sein Blut.
Es schmeckte gar nicht mal so schlecht, ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Leider war er ziemlich schnell leer, aber es war doch ausreichend. Genug um meine Wunde schneller verheilen zu lassen, genug, damit ich auf die Jagd gehen konnte, nach Frank, Dennis … und Justin.
Ich stand auf und ging in die Richtung, in der die Vampire die Lichtung verlassen hatten.
Langsam ging ich durch den Wald, zuerst waren meine Schritte schleppend, dann kam ich aber immer besser vorwärts. Ich wollte es nicht riskieren, schnell zu laufen, das wär Energieverschwendung.
Krampfhaft versuchte ich mich zu orientieren, versuchte mich zu erinnern, wohin der Weg führte. Ich wusste noch, dass weiter vorne ein alter Friedhof lag. Nicht sehr weit davon entfernt fingen die ersten Häuser wieder an.
Langsam dämmerte es, die Strahlen der Sonne trafen schon sehr schräg auf die Erde.
Immer wieder versuchte ich eine Geruchsspur von den Flüchtenden aufzunehmen. Es war aber sehr schwierig für mich, da ich noch nicht vollständig wieder hergestellt war.
Meine Gedanken kreisten, summten und brummten in meinem Kopf. Immer wieder hörte ich den Satz, dein Blut ist schlecht, du bist schlecht.
Als Frank mir damals den letzten Rest Blut nahm, als meine Verwandlung vollständig war, gab er mir ein bisschen Blut von sich zu trinken. Nicht viel, das war auch nicht nötig.
Es war wichtig, um die Verwandlung zu vollenden, um den Blutdurst anzuregen und um das Monster zu wecken. Erst dann erwachte der Vampir, alle wichtigen Sinne waren vollständig vorhanden, einschließlich der Gier und dem Verlangen nach Blut.
Ein bisschen stimmte mich das traurig, du bist schlecht, es war doch nicht meine Schuld, ich hatte ihm vertraut. Wenn er mich mit schlechtem Blut erweckte, konnte ich nichts dafür.
Wenn aber mein Blut nun wirklich schlecht war, mal angenommen, Frank hatte recht, was bedeutete das denn für mich.
Hieß das, auch wenn ich mich noch so sehr anstrengte, würde ich nie den Kodex befolgen und immer die Regeln brechen? Würde immer wieder Unschuldige töten müssen und mich nie beherrschen können?
Was bedeutete das Ganze für Justin? War das der Grund, warum er solche Aussetzer hatte? Immerhin hatte ich ihn verwandelt, er hatte mein Blut getrunken, mein schlechtes Blut, mein verunreinigtes, böses Blut.
War es so, dass Justin niemals eine Chance hatte gut zu werden? Das auch sein Blut jetzt kein gutes Blut mehr war, dass es sich mit meinem schlechten vermischte und er jetzt … böse, ein Monster würde, werden musste?
Auch wenn Vampire Gefühle haben, fehlen uns doch die Eigenschaften um Mitleid, tiefe Trauer, Taktgefühl, Dankbarkeit oder Schuldgefühle zu empfinden.
Die Gefühle, die wir entwickelten, standen meist in direktem Zusammenhang mit Blut und Tod. Manchmal auch mit Liebe und Vertrauen, aber sehr selten.
Es gibt kein egoistischeres Wesen als einen Vampir.
Trotzdem empfand ich so etwas wie Schuldgefühle, ich war schuld, das Justin keine Zukunft hatte, auch keine Zukunft mehr mit mir.
Tief in mir drin spürte ich einen scharfen Stich bei dem Gedanken. Wie ein dünnes Messer, das mir in den kalten Körper gestoßen wurde, ungefähr an der Stelle, wo früher mein Herz schlug.
Ich durfte mich von diesen Gefühlen und Gedanken nicht irritieren lassen, ich musste einen klaren Kopf bewahren. Plötzlich fiel mir Dennis ein. Er hatte eine Menge von Franks Blut für seine Verwandlung getrunken. Wenn ich schon über ein unkontrolliertes Verhalten verfügte, wie mochte dann erst Dennis’ Reaktion auf das schlechte Blut sein?
Da mein eigener Sohn leider schon vor seiner Verwandlung ein Mistkerl war, wird es jetzt nicht besser geworden sein, eher ganz im Gegenteil.
Er war wahrscheinlich zum Obermonster mutiert. Schlimmer als Frank in seinen besten Zeiten je war. Schlimmer als die schlimmsten Vampire.
Völlig unerwartet hörte ich eine Stimme, sie kam aus meinem Inneren, sie klang nach mir und auch wieder nicht. Eher wie alle meine Stimmen zusammen, die gute, die böse, die liebevolle und die gierige, grausame Stimme.
Alle übereinander gelegt.
Wie kannst du es nur wagen so etwas zuzulassen. Wie kannst du es nur wagen ihn frei herumlaufen zu lassen. In keinem deiner blutrünstigen Todesgedanken, hast du je mit eingeschlossen, dass Dennis sterben muss. Nie hast du das auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen, Wie kannst du es wagen.
»Aber, er ist doch …mein Sohn«, sagte ich leise in die mich umgebende Dämmerung und blieb stehen.
Na und, erwidert die Stimme, willst du mir jetzt mit mein eigen Fleisch und Blut kommen? Das wird wohl kaum der Wahrheit entsprechen. Vielleicht dein Fleisch, aber dein Blut … ? Die Zeiten sind vorbei. Er muss sterben und er wird auch sterben, genauso wie Frank.
Es war wieder still in mir und um mich herum. Ich blinzelte ein paar Mal, hatte ich etwa schon Halluzinationen? Das kam bestimmt vom Blutverlust und meinem großen Durst. Der Hoppler eben war wirklich nur die Vorspeise.
Das Hauptgericht durfte aber nicht zu lange auf sich warten lassen, sonst erlebte ich den Nachtisch nicht mehr.
Ich ging weiter, die Nacht brach gleich an.
Vor mir tauchte plötzlich die Friedhofsmauer auf, die Bäume hörten einfach auf und ich stand vor der verwitterten Mauer. Efeu rankte sich an ihr empor, Waldclematis ergoss sich wie ein Wasserfall über den Rand. Es war ein großer Friedhof, früher wurden hier alle Leute aus der umliegenden Gegend bestattet. Heute wurde er nicht mehr benutzt. Ich kannte den Friedhof, ich war früher oft hier, da es auch viele Grüfte gabt und sogar schöne alte Mausoleen. Das jüngste Grab, das ich damals auf meinen Streifzügen fand, stammte aus dem Jahre 1901. Den man dort zur ewigen Ruhe bettete, war der hiesige Pfarrer. Vielleicht ging mit ihm, auch die Tradition, diesen Friedhof weiter zu führen.
Mit einem Mal war mein Geruchssinn wieder da, ich konnte die Drei riechen, sie waren ganz in der Nähe. Schnell duckte ich mich und presste meinen Körper näher an die Mauer. Wenn ich meine Ohren sehr anstrengte, konnte ich auch leise Gesprächsfetzen hören. Und ein Knurren. Ich nahm an, dass dieses Knurren zu Justin gehörte. Sein Monster war erwacht. Die Stimmen wurden nicht lauter, also würde er nicht versuchen sie anzugreifen.
Jetzt musste ich nur noch ihre genaue Position herausfinden und mir einen Angriffsplan zurechtlegen. Und … alles weitere würde sich zeigen.
Ich schlich, wie ein Indianer, an der Außenmauer entlang und erinnerte mich plötzlich, dass hier irgendwo ein kleiner Nebeneingang war, ich musste ihn nur finden. Über die Mauer zu springen, kam nicht in Frage, ich wusste nicht, wo Frank und der Rest sich befanden, sie könnten mich entdecken. Mein Geruch würde mich noch früh genug verraten, meine Gestalt sollte es nicht.
Da vorne war es, ein schmiedeeisernes Tor. Seit meinem letzten Besuch vor elf oder zwölf Jahren war es irgendwann aus den Angeln gesprungen, schief lehnte es an der Mauer, dazwischen war ein Durchgang frei. Ich pirschte mich langsam und vorsichtig näher an das Tor und linste um die Ecke.
Das Knurren hatte inzwischen aufgehört. Meine Augen bewegten sich sehr schnell, um die gesamte Umgebung in mich aufzunehmen. Ich drückte meinen Rücken zurück an die Mauer und überlegte. Ich hatte Frank gefunden, er stand ziemlich in der Mitte, bei einem der Gräber, eines mit einem steinernen, hohen Kreuz als Grabstein. Er blickte in die andere Richtung und hatte mich nicht gesehen. Von Dennis hatte ich nichts entdecken können.
Plötzlich hörte ich das Knurren von Justin wieder, es schwoll an, wurde bedrohlich, drohend, ging fast in einen Schrei über. Dann ebbte es langsam ab, wurde leiser, verstummte ganz. Dazwischen immer wieder Gesprächsfetzen, beruhigend und beschwörend. Leider konnte ich keine genauen Worte verstehen nur den Tonfall heraushören. Dennis redete energisch auf Justin ein, was hatte er ihm nur so Wichtiges mitzuteilen, fragte ich mich.
Ich lehnte meinen Kopf gegen die bröckelige Mauer und schloss die Augen, ich horchte in mich hinein, wollte feststellen wie viel Energie noch in mir steckte, wie weit ich gehen konnte, bevor sozusagen meine Akkus aufgebraucht waren. Bevor ich aufgeben musste … und sterben würde.
Es wird gehen, dachte ich. Ich öffnete meine Augen wieder, und nahm an, dass sie sich zu Raubtieraugen verändert hatten, da meine Zähne gerade lang und dolchartig wurden.
Meine Energie würde ausreichen.
Es war mir auch egal, wenn ich nur auf Sparflamme fuhr, ich hatte einen Auftrag zu erledigen, meinen ganz persönlichen Auftrag. Ich war erst fertig, wenn Frank zerstört war, dann konnte ich immer noch ans Sterben denken.
Vorsichtig linste ich wieder um die Ecke, Frank stand noch an der gleichen Stelle, von Dennis und Justin immer noch keine Spur. Ich rannte geduckt durch den schmalen Durchgang und versteckte mich hinter einem großen, grob behauenen Grabstein.
Es war nur eine Frage von Sekunden, bis entweder sein Geruchssinn mich roch, oder seine scharfen Augen mich erspäht hatten. Aber bis dahin musste ich nah genug an ihm dran sein.
Da sah ich es plötzlich, des Schicksals Fügung, wenn man so wollte. Einem Geschenk gleich, lehnte es einsam und verlassen an einem Stein. Der Holzgriff durch die viele Arbeit glatt und dunkel geworden, das Blatt blank gerieben von der Erde, die scharfe Kante gezeichnet von Steinen, auf die es traf.
Da stand es, mein persönliches Geschenk direkt aus der Hölle, von wo auch sonst.
Ein Spaten.
Nichts eignet sich besser, mal abgesehen von einem Schwert, um einem blutrünstigen Vampir damit den Kopf abzuschlagen. Eine hervorragende Waffe, leicht und handlich und die Einzige, die ich hatte.
Schnell rannte ich zu dem großen Stein, an dem der Spaten unschuldig lehnte. Frank hatte meine Anwesenheit erstaunlicherweise noch nicht bemerkt. Vorsichtig nahm ich das Grabwerkzeug an mich, wiegte ihn probehalber in meiner Hand. Ja, der war erstklassig.
Er gehörte vermutlich dem Friedhofswächter, damals kam ich mit ihm ins Gespräch. Er pflegte wohl immer noch die Gräber. Allerdings war er bereits früher schon uralt und gebrechlich. Wunderte mich, dass er die Arbeit noch verrichten konnte.
Jetzt fühlte ich mich besser, ich war bewaffnet.
Erneut spähte ich vorsichtig um den Stein, aber diesmal war es ein Fehler. Franks Kopf ruckte herum und seine Raubtieraugen hatten mich entdeckt.
»Tascha, du hast es tatsächlich geschafft. Du bist stärker als ich dachte.« Er grinste leicht und schüttelte den Kopf.
»Wo ist Justin?«, rief ich zurück.
»Dein Liebling ist zu einem Monster geworden. Dennis redet ihm gerade gut zu. Aus irgendeinem Grund hat Justin einen unerklärlichen Hass auf dich. Er will dich lieber tot als lebendig sehen. Was hast du wieder angestellt?«
Ja, das fragte ich mich auch. Ich hatte ihm nichts getan. Ob er immer noch ein bisschen wütend auf mich war, wegen Josh?
»Gar nichts«, rief ich laut zurück.
»Dann muss dein mieses, verseuchtes Blut daran schuld sein.« In Franks Stimme schwang Wut mit.
Inzwischen war ich derselben Meinung, leider konnte ich Frank nicht widersprechen.
Er stand noch an der gleichen Stelle. Ich versteckte den Spaten hinter meinem Rücken, stand auf und kam langsam auf ihn zu.
»Da wirst du recht haben, Frank«, sagte ich leise zu ihm.
»Aber bitte bedenke, von wem ich dieses verseuchte, dreckige Blut bekommen habe«, ich grinste frech, »der Spender muss wohl auch ein böser, verseuchter Dreckskerl sein, meinst du nicht?«
Während ich näher kam, zog sich Franks Gesicht immer düsterer zusammen, als ich endlich vor ihm stand, hatte er eine Mordswut auf mich.
Seine Augen sprühten vor Zorn, seine Hände waren zu Fäusten geballt, ein leises, warnendes Knurren kam aus den Tiefen seines Körpers.
»Pass auf, was du sagst«, knurrte er mich an.
Ich fasste den Spaten, hinter meinem Rücken, fester, blitzschnell beugte ich meinen Kopf vor, nahe an sein Gesicht.
»Ich passe immer auf, vor allem darauf, was ich tue.«
Das war wohl zu viel für ihn, seine Hand schnellte vor und er versetzte mir einen Schlag gegen die Brust, dass es mich von den Füßen hob und ein paar Meter zurück schleuderte.
Ich zerbrach beim Aufprall einen Grabstein und blieb keuchend darauf liegen. Den Spaten hatte ich verloren, da ich während des Fluges wild mit meinen Armen ruderte. Ich hob meinen Kopf und sah zwei Dinge fast gleichzeitig: Frank, der mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten langsam auf mich zukam und meinen geliebten Spaten, der nur zwei Meter entfernt, etwas seitlich von mir auf dem geharkten Friedhofsboden lag. Ich spannte meinen Körper an, in einem ungeheuren Tempo, das ich selbst nie für möglich hielt, schnellte ich aus meiner liegenden Position auf den Spaten zu. Packte ihn mit beiden Händen und schlug damit in Franks Richtung. Er hatte nicht mit meiner schnellen Gegenwehr gerechnet. Er war wirklich vollkommen überrascht.
Der Spaten traf nicht seinen Hals, er traf ihn seitlich am Kopf, in der Eile hatte ich zu hoch gezielt. Auch hatte ich das Blatt nicht gerade gehalten, sondern hochkant. Ich erreichte nur, dass der Spaten Franks Kopf bis fast zur Mitte hin eindrückte. Seine linke Gesichtshälfte war verschwunden, zerquetscht, als hätte ihn sein eigener Jeep gerammt. Blut floss, aber nur wenig. Ich hob den Spaten an und schlug nochmals zu, auf die gleiche Seite. Es riss ihn herum, er taumelte. Ein erneuter Schlag von mir, diesmal zu seinem Hals schleuderte ihn zu Boden.
Da lag er nun vor mir, mein Erzeuger. Ich hatte ihm vertraut, mein Dasein anvertraut, wie konnte ich nur.
Ich stürzte auf ihn zu und stellte die Kante des Spatens genau auf seinen Adamsapfel. Frank war schwer angeschlagen. Seine linke Gesichtsseite war einfach weg. Sein rechtes Auge fixierte mich, aber es lag keine Drohung in seinem Blick.
»Du bist böse«, krächzte er.
»Ich weiß«, antwortete ich ihm und lächelte süffisant.
Sein Blick ging kurz zu meinem Spaten, auf dem ich gestützt lehnte.
»Tu es!«, er fixierte mich.
»Das habe ich auch vor. Du hast zu viel Schlechtes verbreitet, du hast jegliches Recht auf Gnade verwirkt. Du hast es verdient zu sterben.«
»Du traust dich ja doch nicht«, sein Lächeln war voller Arroganz.
Etwas in meinem Gesicht verriet meine Entschlossenheit, sein Auge wurde größer vor Erkenntnis, er zog die Luft scharf ein.
»Oh doch.« Damit stieß ich den Spaten herunter. Es gab ein knackendes und knirschendes Geräusch, als das Spatenblatt seinen Hals durchtrennte. Ich musste ihn wieder aus der Wunde ziehen und nochmals zustoßen, diesmal mit mehr Schwung. Dann war Frank seinen Kopf los.
Ich kickte ihn ein paar Meter weiter, man konnte ja nie wissen, wenn die beiden Körperteile nah genug beieinander waren, vielleicht wuchsen sie ja wieder zusammen.
Der Geruch von Franks Blut schwebte über mir, mein Monster, das bis dahin geschlafen hatte, war blitzartig wieder wach. Es kreischte und jaulte.
Es hatte recht, warum auch nicht.
Ich musste mich beeilen, sonst war nichts mehr da.
Ich nahm Franks schlaffen Arm und biss ihm kräftig in die Pulsadern. Sein Blut strömte mir entgegen, ich trank es gierig und schnell. Beinahe schnell genug, sodass ich kaum bemerkte, wie schlecht es schmeckte, wie scheußlich es sich in meinem Mund anfühlte.
Als es meine Kehle herunter floss breitete sich in meinem Körper ein warmes, wohliges Gefühl aus.
Ich hatte meine Beute gejagt und besiegt. Das war mein Lohn. Mein süßer Lohn. Ich hatte es mir verdient.
Plötzlich fühlte ich Feuer in der Hand und im Mund. Der unerwartete Feuerstoß versengte mir die feinen Haare im Gesicht. Ich verschloss rasch die Augen und ließ mich nach hinten fallen. Franks Körper brannte, sein Kopf ein paar Meter weiter hatte auch Feuer gefangen.
Ich starrte in die Flammen, sie zeichneten ein bizarres Muster auf die umliegenden Grabsteine und wahrscheinlich auch auf mein Gesicht.
Es war vollbracht, ich hatte ihn wirklich getötet. Über vierhundert Jahre Vampirdasein, getötet.
Meinen Erzeuger, getötet. Meinen ehemals Vertrauten, meinen Mentor, ermordet. Ich ließ mich rückwärts auf einen Grabstein fallen und blickte in den dunklen Himmel. Ich war erschöpft, total ausgelaugt. Todmüde aber glücklich. Ich hatte es geschafft.
Jetzt war ich nur noch gespannt darauf, was das Blut in mir anstellen würde.
Es war so ziemlich das Erste, was man als Vampirneuling lernte. Beiße niemals einen anderen Vampir und trinke sein Blut, egal wie durstig du bist. Dass es einfach scheußlich schmeckte, hatte ich gerade erfahren, was es aber noch mit mir machen konnte, das wusste ich nicht. Das wurde mir nie erzählt.
Vielleicht war es in der Lage mich zu töten. Vielleicht machte mich sein verunreinigtes, böses Blut aber auch nur noch stärker. Vielleicht passierte gar nichts. Wahrscheinlich war es nur eine Legende, ein Mythos, damit die Vampire nicht gegenseitig übereinander herfielen.
Ein Geräusch ließ mich hochfahren und zu meinem Todesspaten greifen. Das Feuer glimmte nur noch vor sich hin, bald war nichts mehr übrig von Frank.
Ich sah Dennis und Justin um die Ecke eines Mausoleums biegen. Sie erstarrten beide in der Bewegung, als sie mich und die glimmenden Überreste erblickten. Ich hockte noch auf dem Grabstein, der Spaten lag auf dem Boden vor mir. Meine Hände waren um den Stiel gekrallt. Ich war zum Schlag bereit.
Dennis fand wohl als Erster aus seiner Erstarrung. Mit einem Löwengebrüll rannte er auf mich zu. Mitten in seinem Angriff bekam er meine Waffe zu spüren. Er klappte mit einem seltsamen Geräusch einfach zusammen, krümmte sich auf dem Boden liegend. Ich hob meinen Spaten und stellte ihn meinem Vampirsohn auf den Hals. In Dennis’ Blick flammte Panik auf, er blickte fieberhaft zwischen dem Blatt und meinem Gesicht hin und her. Ich wollte mich gerade fester auf den Stiel stützen, da wurde ich von Justin weggefegt. Er hatte mich mit seinem Körper gerammt und ich flog im hohen Bogen durch die Luft. Diesmal landete ich auf dem weichen Weg.
Ich sah, wie Justin Dennis aufhalf, sie standen mir jetzt gegenüber. Zwei Vampire, zwei mordsmäßig wütende Vampire. Justins Augen sprühten vor Hass und Wut.
Diesmal hatte ich meinen Spaten bei dem Flug nicht verloren, ich hielt ihn noch in meiner Hand, hob ihn an und sagte:
»Er hatte es verdient.«
Ein leises Knurren war die Antwort.
Ich blickte zu Justin, meinem lieben, netten Justin. Sein Monster schien nicht mehr weichen zu wollen. Sein Gesicht war eine einzige verzerrte Fratze, die Zähne lang und spitz die Augen gelb und kalt.
»Was hat er dir erzählt?«, fragte ich ihn.
»Das geht dich gar nichts an«, seine Stimme war eisig, »nichts, was mich betrifft, geht dich noch etwas an.«
Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte meinen Kopf, ich konnte es einfach nicht verstehen.
»Justin … ich …«, war alles, was ich herausbrachte.
Dennis fasste Justin am Arm und zog ihn weg.
»Komm, wir haben noch etwas zu erledigen. Es gibt noch ein wenig Rache zu üben, die ich auskosten möchte.«
Er grinste Justin an, der lächelte zurück.
Dann rannten sie los. Ich starrte ihnen mit großen Augen hinterher. Dennis wollte Rache nehmen? An wem denn?
Dann fiel mir ein, wo ich mich genau befand.
Der Schreck fuhr mir durch den Körper.
»Oh, nein. Das darf doch nicht wahr sein. Alles, nur das nicht.«
Schnell rappelte ich mich hoch und jagte beiden hinterher.
Ich rannte, ich lief wie der Blitz, und schien doch nicht von der Stelle zu kommen. Ich spürte wie ich lief und doch war ich nicht schnell genug.
Er war vor mir, genau vor mir und doch noch so weit, unerreichbar für mich. Ich streckte meine Hand aus, sie griff ins Leere.
Später, in meinen Erinnerungen, sofern ich sie zuließ, durchlebte ich diese Sekunden immer wieder.
»Justin.« Auch mein Ruf ging ins Leere, er war vor mir, ich konnte ihn sehen, riechen, aber er drehte sich nicht um, er schien mich nicht zu hören.
»Justin.« Nochmals der Ruf aus meinem Mund, fast schon ein Schrei. Panik ergriff mich, machte sich in mir breit. Löste den Hass ab, auf meinen Sohn Dennis. Die Furcht ließ mich noch schneller werden. Die Bäume rasten als dunkle Schatten an mir vorbei. Wenn ich doch nur. … Bitte, lass mich ihn erreichen.
Erneut streckte ich meine Hand aus, machte einen verzweifelten Satz nach vorne. Meine Finger krallten sich in sein T-Shirt. Ich hatte ihn erwischt, hielt ihn fest.
»Justin, bitte, bleib doch stehen.«
Er hob den Arm, im selben Moment spürte ich seinen Ellenbogen im Gesicht. Ich ließ ihn wieder los.
Genau zwischen meine Augenbrauen hatte er mich getroffen. Mit einer einzigen, flüssigen Bewegung hatte er mich geschlagen.
Justin hatte mich geschlagen.
Ich spürte keinen Schmerz, keinen körperlichen. Aber das Entsetzen, das sich in rasender Geschwindigkeit in meinem Körper ausbreitete, lähmte mich für ein paar Sekunden.
Ich wurde langsamer. Justin rannte einfach weiter, er blickte über seine Schulter zurück. Blickte mich an, ganz kurz nur, aber ich konnte den grenzenlosen Hass in seinen Augen sehen, konnte ihn sogar spüren. Dennis, der vor ihm lief, lachte kurz und hämisch auf.
Ich blieb stehen. Ich konnte nicht mehr, das war zu viel für mich. Ich zwinkerte ein paar Mal, damit ich wieder klar denken konnte, damit ich ohne Emotionen nachdachte.
Dann rannte ich erneut los, ich lief einen Bogen, in der Hoffnung ihnen den Weg abzuschneiden. Ich ahnte, wohin Dennis wollte.
Wieder rannte ich im Höllentempo durch den dunklen Wald. Ich bemerkte nicht die Bäume, die an mir vorbeihuschten, nicht die Äste, die mich streiften, ich hörte nicht den pfeifenden Wind in meinen Ohren. Ich sah nur Justins Augen vor mir. Seine Augen die diesen unerträglichen Hass versprühten, Hass auf mich.
Ich lief noch schneller, ich musste sie erwischen.
Da waren sie. Sie waren auf dem Weg zu Dennis’ Haus, das auch mal mein Haus war.
Sie wollten ein Blutbad anrichten, wollten Unschuldige ins Verderben stürzen. Ich wusste es.
Sie gingen jetzt im normalen Tempo, sie befanden sich auf einem Weg, unter einer Straßenlaterne konnte ich sie deutlich sehen.
Ich schoss förmlich aus dem Wald und stand ihnen in einiger Entfernung gegenüber. Sie blieben abrupt stehen, wahrscheinlich hatten sie nicht mehr mit meinem Auftauchen gerechnet. Oder, das ich es wagen würde sie zu stellen, hier wo die Blutsäcke uns beobachteten.
Mich aber interessierte dass alles nicht mehr, mein Denken, mein Fühlen, alles war mit einem gezielten Schlag zunichte gemacht worden.
Ich ging weiter im Bogen und versperrte ihnen jetzt den Weg. Breitbeinig stellte ich mich vor sie hin, meine Arme im leichten Abstand von meinem Körper, die Handflächen zu ihnen gedreht. Aus meinem Inneren erklang ein Knurren, ein tiefes, heiseres und drohendes Knurren. Wir waren wie drei Panther, die ihr Revier verteidigten. Drei gelbe Augenpaare fixierten sich, sechs spitze Zähne blitzen im Licht der Straßenlaterne.
»Gib den Weg frei«, Dennis grinste flüchtig, »Mutter.«
»Auf keinen Fall«, meine Stimme klang fest, »du willst ein Blutbad anrichten. Du willst deine kleine Schwester und deinen Vater töten, und vielleicht noch mehr. Wofür willst du Rache nehmen? Wofür, Dennis? Frank hat dich verwandelt, er hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist. Die Anderen«, ich zeigte kurz mit der Hand hinter mich, »die können nichts dafür. Lass sie in Ruhe, halt sie da raus.«
Mein Blick ging zu Justin, der mich mit bösartigen Augen anfunkelte, »halt Justin da raus.«
Dennis machte einen Schritt auf mich zu, ich registrierte es kaum, da ich immer noch in Justins Augen starrte.
»Ha!«, Dennis brüllte jetzt. »Justin hat endlich sein wirkliches Wesen gefunden. Du hast es vor ihm versteckt, du hast es in ihm unterdrückt. Aber jetzt ist es frei. Endlich frei.«
Seine Stimme wurde leiser und schärfer.
»Jetzt kommt er mit mir, wir gehen zur Obrigkeit und werden dem hohen Rat erzählen, was du getan hast. Dann wird man dich jagen und töten.« Er lächelte, wurde dann schlagartig ernst. »Und jetzt lass uns durch. Sofort!«
Ich schloss kurz die Augen und schluckte einmal. Das durfte doch alles nicht wahr sein.
Was hatte ich im letzten und in diesem Leben nur angestellt, das ich so viel Hass verdiente? Es mussten schlimme Dinge gewesen sein, sehr schlimme.
Ich blickte Dennis an.
»Nein! Du wirst mich schon umbringen müssen. Ich lasse nicht zu, dass du Unschuldige tötest.«
Dennis hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.
»Okay, ganz wie du willst.« Seine Stimme war ruhig und gelassen. Er wendete sich um, zu Justin.
»Bitte schön, sie gehört dir.« Dabei vollführte er eine Handbewegung, als wollte er mich Justin auf einem Tablett servieren.
Die Beiden tauschten einen schnellen Blick.
»Ich gehe mich in der Zeit amüsieren.« Dennis rannte los. Genau das wollte ich aber nicht zulassen. Ich machte eine Bewegung und stellte mich ihm in den Weg.
Genau in diesem Moment prallte ich mit einem Zug zusammen. Jedenfalls war es ein Gefühl, als wäre es der Schnellzug aus der Stadt gewesen. Ich flog ein paar Meter rückwärts, knallte auf den Boden und rutschte über die schmutzige Straße. Um mich herum wirbelte Staub und Dreck hoch, er nahm mir fast die Sicht. Ich sah rechts von mir noch Dennis weglaufen. Schnell rappelte ich mich auf, ich wollte ihm hinterher.
Meine Füße machten einen Schritt, dann noch einen. Schon hatte mich der Zug erneut erfasst und weg geschleudert. Diesmal prallte ich mit meinem Rücken gegen die Laterne, es gab ein hohles Boing, und ich rutschte an ihr runter, bis auf den Boden. Die Laterne wackelte und schaukelte bedenklich, ihr Licht flackerte kurz, dann ging es aus. Dunkelheit hüllte mich ein, es dauerte ein kurzes Blinzeln, bis ich wieder besser sehen konnte.
Justin stand mit gesenktem Kopf etwa fünf Meter vor mir. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, seine Lippen zusammengepresst, der Blick, dieser Raubtierblick mit dem er mich anstarrte, war hasserfüllt.
»Justin, was … habe ich dir getan? Womit habe ich so viel Hass verdient?«, es quälte mich, ihn so zu sehen.
»Ich dachte, wir gehören zusammen, ich dachte, wir beschützen einander.«
Ein merkwürdiges Gefühl von Déjà-vu überkam mich.
Ich sah kurz uns beide in einem Zimmer stehen, umgeben von vier verbrannten Jungs. Es waren seine Worte, ausgesprochen in Verzweiflung und Angst. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach seine Worte wiederholen:
»Ich dachte … du liebst mich.« Ich blickte ihn gespannt an.
Seine Brauen zogen sich zusammen, regungslos stand er da. Ein Schatten überflog sein Gesicht, ganz kurz nur, aber für mich deutlich erkennbar.
Sein Mimik, sein Blick entspannten sich ein bisschen. Ein bittender, beinahe schon gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Die gelben Augen bewegten sich rastlos hin und her. Er sah aus, als dachte er scharf nach.
Vielleicht war in der Tiefe immer noch der alte Justin verborgen, ich musste ihn nur wieder hervorholen.
»Justin, wach auf! Bitte. So bist du nicht, du bist nicht so ein … Monster. Ich weiß das!«, meine Stimme war flehend.
Justin hob den Kopf, legte ihn ein bisschen auf die Seite und blickte mich durchdringend an.
»Du hast mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Du warst es. Du hast mich in dieses«, seine Lippen zogen sich verächtlich nach oben, »dieses Monster verwandelt.«
Ich sah seinen Hass noch einmal kurz aufblitzen.
»Du wärst gestorben, Justin«, meine Stimme war leise, nur ein Murmeln. Ich wusste, er hatte mich verstanden.
»Du wärst jetzt tot.«
Er kam ein paar Schritte auf mich zu.
Ich saß immer noch unter der Straßenlaterne. Als er vor mir stehen blieb, musste ich zu ihm aufblicken. Er kam mir so groß vor, so gewaltig. Er streckte mir seine Hand hin, um mir aufzuhelfen. Misstrauisch sah ich erst auf seine Hand, dann in sein Gesicht. Es wirkte freundlicher, friedlich. Seine Augen waren nicht mehr ganz so gelb, ein leichter brauner Schatten war zurückgekehrt, färbte sie wieder dunkler. Es sah schön aus, tröstlich und … so vertraut.
Könnte ich doch noch einmal in diesen schönen tiefen Brunnen versinken. Ich würde alles dafür geben um in der Unergründlichkeit unterzutauchen, mich zu verlieren.
Ich ergriff seine Hand, er zog mich hoch und wir standen uns gegenüber.
»Wäre das so schlimm?«, fragte er mich sanft.
»Was?«, ich war irritiert und zwinkerte kurz. Es kam mir vor, als hätte ich irgendwo unterwegs den Faden unserer Unterhaltung verloren. Als hätte ich mich verloren. War ich doch wieder in seinen unergründlichen Augen versunken? Hatten die tiefen Brunnen mich kurz in ihren Abgrund mitgerissen?
Er holte Luft. »Ich habe dich gefragt, ob das so schlimm ist, wenn ich jetzt tot wäre.«
Ich war fassungslos.
»Sicher wäre das schlimm«, ich hob meine Hand um über seine Wange zu streichen. Kurz bevor ich sie berühren konnte, hatte er mein Handgelenk gepackt und hielt es eisern fest.
»Nein!«
Seine Lippen waren erneut zusammengepresst, sein Blick starr und kalt.
»Niemals mehr will ich deine kalte Haut spüren. Dennis hat recht, du hast mein wahres Gesicht nicht akzeptiert, du hast mein Inneres mit Feuer verbrennen wollen. Du wolltest dass ich gut bin. Ich bin es aber nicht. Ich bin nicht so, wie du mich erschaffen wolltest. Ich bin ein Monster. Und das will ich auch sein. Jetzt bin ich frei. Endlich frei!«
Die ganze Zeit hielt er dabei mein Handgelenk fest, ich spürte nichts. Nur seine kalten Finger. Das zarte Band, das zwischen uns existierte, es war scheinbar weg.
Was hatte es vertrieben? Seine Worte? Nur seine Worte? Vermochten ein paar einfache gesprochene Sätze alles zu zerstören? Oder war es sein grenzenloser Hass auf mich? Ich konnte es nicht fassen. Gespannt schaute ich auf seine Hand, die immer noch mein Handgelenk umfasste. Ich wartete darauf, dass meine Gefühle für ihn zurückkehrten, dass es wieder wie vorher war.
Sein Blick ging in dieselbe Richtung und er begriff. Ganz plötzlich ließ er mein Gelenk wieder los.
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich musste ihn wieder auf den rechten Weg bringen, nur wie? Er steckte so voller Hass und Mordlust, wie kam ich dagegen an?
Ich konnte ihm nicht wehtun, das hatte ich noch nicht einmal über mich gebracht, als er noch ein Mensch war und jetzt …erst recht nicht.
Plötzlich musste ich an Dennis denken,
»Justin lass mich wenigstens Dennis aufhalten, er bringt Unschuldige um, er bringt seine Familie um. Lass mich gehen, danach kannst du mich ja immer noch töten, wenn dir danach ist.«
»Du wirst ihn nicht aufhalten können. Er ist weiter gezogen. Seine Schwester und seinen Vater hat er schon vor ein paar Stunden getötet. Es war alles nur eine Finte. Nur gespielt mein Schatz, für dich inszeniert.«
Er grinste mich frech an. Ich schlug mir die Hände vor den Mund und schloss die Augen. Entsetzen packte mich, blankes Entsetzen.
»Nein, nein, das darf nicht sein.«
Ich fiel auf die Knie, meine Beine konnten mich nicht mehr halten. Meine Arme fielen kraftlos an mir herunter. In meinem Kopf summte und brummte es, als hätte man dort einen Bienenschwarm ausgesetzt. Mit einem Mal fügten sich die Teilchen ineinander. Die Erkenntnis überwältigte mich fast, raubte mir den Atem. Sehr leicht hatte es sich mein Sohn gemacht.
»Dann hat er dich da gelassen, um mich aus dem Weg zu räumen. Das hätte er auch selber machen können, der Feigling.« Verachtung lag in meiner Stimme.
Justin legte seine Hände an meine Wangen und lehnte sich zu mir herunter. Kein Feuer, keine Leidenschaft, nichts, nur die Kälte seiner Haut.
Ganz dicht beieinander waren unsere Gesichter. Ich atmete seinen Geruch ein, er roch immer noch wie früher, herrlich, köstlich.
»Nein, mein Schatz, er wollte es selber machen, aber ich habe ihn darum gebeten.« Er blickte kurz an mir vorbei.
»Ach was, angefleht habe ich ihn, dass ich das machen darf. Das ich dich töten darf.« Seine Augen hatten ganz plötzlich wieder dieses bedrohliche raubtiergelb angenommen.
»Du liebst mich nicht mehr …«, ich musste schlucken,
»darum gibt es auch nichts mehr zwischen uns und ich kann wieder in deinem Blick versinken.«
In mir drinnen gab es ein kurzes Geräusch, als wenn eine Sicherung durchbrannte, knisternd, knackend und zischend.
Ich blinzelte einmal.
Justin zog die Augenbrauen zusammen und einen kurzen Augenblick sah ich wieder diesen gequälten Ausdruck in seinem Gesicht.
Dann riss er mir blitzschnell den Kopf herum. Ein anderes Geräusch war zu hören, ein scharfes Splittern, ein Knacken und Krachen.
Es hallte laut in meinen Ohren wieder, lauter als ich es je für möglich gehalten hätte, als Justin mir mit einer schnellen Bewegung das Genick brach.
Er ließ meinen Kopf los und ich fiel einfach um, prallte auf die staubige Straße, unfähig mich zu bewegen.
Ich konnte ihn noch sehen, wie er sich die Hände an der Hose abwischte, als hätte er etwas Ekeliges angefasst. Er stieß seine Schuhspitze in die lockere Erde, kurz vor meinem Gesicht, Staub und Dreck flogen nur so um mich herum. Er landete auch in meinen Augen, Ohren und in meinem halb geöffneten Mund. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, ich war vollkommen bewegungsunfähig, ich konnte noch nicht einmal blinzeln.
»Ich hasse dich!« Es kam aus dem letzten Winkel seines Körpers, aus der hintersten Ecke, und er sprach mit so einer Überzeugung, dass ich ihm einfach glauben musste, ihm auch glauben wollte.
Dann drehte er sich um und ging.
Er ließ mich im Staub liegen, mit gebrochenem Hals.
So lange es ging, starrte ich auf seinen Rücken, wie er die Straße entlang schlenderte und mich verließ.
Ein Bild, das sich für immer in mein Gedächtnis einbrannte.
Als er verschwunden war, starrte ich noch die leere Straße hinunter, auf den Punkt, wo ich ihn das letzte Mal sah.
Endlich konnte ich meine Augen schließen und horchte in mich hinein. Meine Selbstheilungskräfte waren bei der Arbeit, gut so. Es würde noch eine Weile dauern, so ein Wirbelbruch war nicht so schnell zu reparieren. Ich musste hier noch ein bisschen liegen.
Ich fragte mich, warum er mich nicht wirklich vernichtet hatte. Selbst er würde wissen, dass ein simpler Genickbruch uns nur kurzfristig lähmte, aber nicht töten konnte. Hatte er es schließlich doch nicht über sich gebracht? War doch noch ein Funke Gutes in ihm? Ich wusste es nicht und wollte auch nicht weiter darüber nachdenken. Ich wollte mich nur endlich wieder bewegen können um nach dem kümmerlichen Rest meiner Familie zu sehen. Vielleicht hatte Justin ja gelogen, vielleicht wollte er mir nur weh tun, mich verletzen.
Ich flüchtete mich in meine Gedanken und Erinnerungen, nur weg von dem hasserfüllten Blick, der immer noch vor meinem inneren Auge umher tanzte. Nur weg von der Wirklichkeit, hinein in die tröstliche Wolke und die Zeit ein paar Jahre zurückdrehen. In eine Zeit eintauchen, als es noch keinen Justin gab, noch keinen Frank und noch keine Vampire, jedenfalls für mich noch nicht.
Einige Stunden verbrachte ich am Fuße der Straßenlaterne und ließ meine Selbstheilungskräfte für mich arbeiten.
Ich stand auf und bewegte meinen Hals vorsichtig hin und her. Es ging wieder. Gleich würde es hell werden, ich musste schnell sein.
Ich rannte zu meinem alten Haus, die Stufen zur Eingangstür hoch und stand vor der offenen Tür.
Blutgeruch stieg mir in die Nase, ich schloss kurz die Augen. »Nein!«, es war nur ein Hauch.
»Oh nein, er hat es doch wahr gemacht.«
Zögernd ging ich in den Flur. Rechts war die Küche, aber der Geruch kam von oben. Langsam stieg ich die Treppen empor, Stufe um Stufe kostete mich mehr Kraft. Oben angekommen verharrte ich kurz. Ich musste mich orientieren, hier war ein Geruch, den ich nicht kannte. Er kam von rechts, ich ging ihm nach. Die Tür vor mir war nur angelehnt, mit einer Hand stieß ich sie auf.
Da lag sie vor mir, im Badezimmer, eine hübsche Frau, braune Haare und sehr schlank. Vielleicht vierzig Jahre alt. Ich blickte sie an und legte meine Stirn in Falten, ich überlegte, wer sie war und ob ich sie schon mal gesehen hatte.
Klar, er hatte wieder geheiratet, schoss es mir durch den Kopf. Er konnte zwei so kleine Kinder ja nicht ohne Mutter aufwachsen lassen. Ich betrachtete sie genauer. Ihr Gesicht war kalkweiß und schmerzverzerrt, an ihrem Hals prangten zwei Einstichstellen. Wie in Trance drehte ich mich um und folgte den bekannteren Gerüchen. Im Schlafzimmer fand ich meinen Mann, er lag noch auf dem Bett, auf dem Bauch. Ich stellte mich neben ihn, damit ich sein Gesicht sehen konnte. Er war in den letzten Jahren kaum gealtert, eigentlich sah er noch genauso aus, wie früher.
Ich drehte mich um und ging zum Kinderzimmer. Auch hier war die Tür nur angelehnt. Es war, als sollte ich sie alle so finden, kein Mörder machte sich die Mühe, die Türen sorgfältig anzulehnen. Er knallte sie nach der Tat entweder zu, oder ließ sie einfach offen stehen. Was erwartete mich hier, fragte ich mich. Der Blutgeruch war überwältigend. Zögernd hob ich meine Hand und stieß die Tür auf.
Es war früher schon ihr Zimmer. Nach Osten raus, weil sie den Sonnenaufgang so geliebt hat. Sie lehnte gerne verträumt am Fenster und sah den Sonnenstrahlen zu, wie sie langsam die Wände berührten und sich an ihr entlang tasteten.
Auch jetzt ging gerade die Sonne auf, ihre Strahlen trafen auf die gegenüberliegende Seite, malten ein bizarres Schattenspiel auf die weiße Wand.
Dazwischen hing meine Tochter.
An den Handgelenken mit Seilen aufgehängt, aufgeknüpft wie ein Stück Vieh. Ihr Kopf war nach vorne geneigt, ihr langes, blondes Haar verbarg ihr Gesicht. In dem Blond der Haare waren rote, fast rostige Stellen. Sie sahen aus, wie blutige Strähnchen. Sie hatte ein weißes Nachthemd an, mit kleinen rosa Blümchen drauf. Überall waren Blutflecken und Spritzer. Selbst an der Decke über ihrem Kopf. Ihre Füße waren nackt, sie schwangen ganz sachte hin und her.
Auf ihrem Nachthemd war ein breiter roter Streifen zu sehen, er führte bis unten hin zum Saum. Es war das Blut, das aus ihrer Halswunde geflossen war. Dennis hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie auszusaugen, er hatte sie gebissen und die Wunde offen gelassen, damit sie langsam verblutete.
Ein dicker Tropfen lief unter dem Saum ihres Nachthemdes hervor, floss über ihren Fuß, bis zum Zeh. Dort sammelte er sich und wurde dicker, bis er sich schließlich löste und fiel.
Ich verfolge diesen Tropfen mit den Augen, sah wie er sich durch den Luftzug verformte. Bis er unten auftraf. Ein leises Plitsch ertönte, als der Tropfen sich mit den unzähligen anderen Tropfen, die unter ihren Füßen eine Lache gebildet hatten, vereinte. Es spritzte leicht, aber nur ein bisschen.
Das war mein Stichwort.
»NEIN!« Es war das Einzige, was ich zu brüllen in der Lage war.
Ich stand da, blickte meine tote Tochter an und brüllte mein Entsetzen, meine Wut und meine Trauer hinaus.
Ich konnte nicht weinen, ich bedauerte das zutiefst. Ich mochte weinen, damit die Tränen meine Gefühle weg spülten. Diese unerträglichen Gefühle, die meinen Körper von innen her zu zerreißen drohten.
Die wie Tischtennisbälle in meinem Inneren unkontrolliert hin und her sprangen. Bis an die Grenzen meines Seins, meines Daseins.
Ich wollte weinen können.
Damit ich sie nicht in mir drin behalten musste.
Irgendetwas in mir zerriss. Zersprang mit einem scharfen, klirrenden Geräusch.
Ich schloss meinen Mund und drehte mich abrupt um.
Ich musste hier weg.
Ich lief die Treppen hinunter und stand wieder vor dem Haus. Aus den Augenwinkeln sah ich die Nachbarn neugierig aus ihren Häusern kommen. Ich rannte schnell die Straße entlang, es war mir egal, ob mich einer der Blutsäcke sah. Ich lief durch den Wald, den gleichen Weg, den ich vor ein paar Stunden schon mal gerannt war, nur in die andere Richtung. Da hatte ich allerdings Justin vor mir, ich versuchte ihn zu erreichen, ihn zu stoppen. Da hatte ich Panik in mir, und Hass. Hass auf meinen Sohn Dennis.
Genau das gleiche Gefühl hatte ich jetzt auch wieder.
Blanker, purer, bösartiger und tiefster Hass.
Aber es war wenigstens ein Gefühl. Ein Gefühl, das ich kannte, dem ich vertrauen konnte und für immer in mir behalten wollte.
Ich rannte weiter und weiter aber eine vertraute, rote Wolke war schneller, sie hüllte mich ein, saugte mich auf, nahm mich mit in ihre dunklen, tiefen und fast schon tröstlichen Abgründe. Zog mich in ihren Strudel hinein. Ließ mich darin versinken und ertrinken.
Ich wünschte mir …
Ich wünschte mir sehnlichst …
Ich wünschte mir sehnlichst, daraus nie wieder aufzutauchen.