Читать книгу Natascha - Nadja Christin - Страница 7
Der Abgesandte
ОглавлениеEs war kalt, sehr kalt. Der Mond stand voll und groß am Himmel, umgeben von tausend glühenden Punkten.
Ich stand auf den äußersten Zinnen der Stadtmauer. Meine Füße standen eng nebeneinander auf dem bröckeligen Gestein der alten Mauer. Ich verhielt mich ganz still. Der Wind wehte kräftig um mich herum und versuchte mich von den Zinnen zu reißen. Meine Augen waren geschlossen, der Kopf in den Nacken gelegt. Meine Arme ausgebreitet, so stand ich dort oben und wartete auf den Geruch.
Ich erwartete keinen bestimmten Duft, ich würde mich spontan entscheiden. Entscheiden wer von den Menschen es wert sei zu sterben, durch mich zu sterben.
Es ist März, das letzte Jahr war nur noch ein blutiger, wilder Sturm in meiner Erinnerung. Ein Sturm voller Qualen, Gier und Mordlust und … voller Blut.
Sehr selten gestattete ich mir, in dem roten Strudel der Erinnerung zu versinken. Zu schmerzlich waren die Gedanken an den letzten Sommer.
Ich habe gekämpft und ich wurde besiegt, ich habe verloren, alles verloren.
Mein Dasein wird nie wieder so sein wie früher, ich bin nicht mehr die Gleiche. Meine äußeren Wunden waren verheilt, aber innerlich war etwas zerrissen, das nicht heilen würde.
Niemals, es war zerstört. Unwiderruflich.
Ich bewegte mich nicht mehr unter den Menschen, hielt mich Abseits. Trat nur noch mit ihnen in Kontakt, wenn ich einen von ihnen töten wollte. Dann war ich schnell, brutal und grausam. Dann war ich ein Raubtier.
Das Raubtier, das dem Monster Nahrung geben musste, weil es danach verlangte und erst wieder Ruhe einkehrte, wenn das Monster gesättigt war.
Nach den Vorfällen im August war ich zu Josh geflüchtet und hatte mich meinem Schmerz und meiner Wut hingegeben. Ich war tagelang nicht ansprechbar, hatte in Joshs Keller gewütet und geschrien, versuchte mein inneres Monster zu bekämpfen, es einfach verhungern zu lassen.
Ich wollte nichts anderes als sterben.
Ich wollte wieder bei Justin sein, in seinen Augen, in diesen tiefen Brunnen versinken, seinen kalten Körper fühlen.
Es half alles nichts, nach ein paar Tagen holte Josh mich aus meinem selbst gewählten Gefängnis und stellte mich vor die Wahl. Entweder wurde ich wieder vernünftig, oder er lieferte mich persönlich an die Obrigkeit aus.
Seit Franks gewaltsamen und gar nicht tragischen Tod war ich Freiwild. Dennis machte seine Drohung tatsächlich wahr und verriet mich an den hohen Rat.
Sie hatten die Jagd auf mich eröffnet, es war nur eine Frage der Zeit, wann sie mich erwischten, wann auch ich in Flammen aufging.
Aber bis es soweit war, beschloss ich, mein Monster nicht mehr zu bekämpfen, sondern mich nur noch von ihm leiten zu lassen, mich dem Blutdurst und der Gier hinzugeben.
Kein Vertrauen, keine Liebe, kein Feuer mehr.
Alles hatte ich verloren, unwiederbringlich verloren.
Ich atmete die kalte Nachtluft ein, suchte weiter nach einem Geruch, nach meiner heutigen Beute.
Plötzlich und unerwartet umspielte ein zarter Duft meine Nase, leicht, luftig und süß. Ich hatte ihn gefunden, den Geruch, der mich heute Nacht ernähren würde, der mein Monster in mir für heute ruhig stellte.
Langsam öffnete ich meine Augen, sie waren gelb, Raubtieraugen, wie immer in letzter Zeit. Das harmlose, nette Braun meiner Augen war seit meinem Aufenthalt in Joshs Keller nicht wieder zurückgekehrt. Auch meine Zähne, diese zwei spitzen Dolche, kehrten kaum noch in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Ich war jetzt ständig ein Vampir, Tag und Nacht, die ganze Zeit über. Kaum gestattete ich mir einen anderen Gedanken, als den an heißes, köstliches und frisches Blut.
Da war er wieder, der Geruch, der mir die heutige Nacht versüßen würde. Ich öffnete meinen Mund,
»Ah«, ich lächelte.
Das Monster in mir schrie und kreischte laut. Mein inneres Feuer loderte kurz und heftig auf, es wollte gelöscht werden.
Ich wollte, dass es gelöscht wurde mit dem herrlichen Duft und Geschmack. Ich machte einen Schritt nach vorne und fiel in die Tiefe …
Erschrocken riss ich meine Augen auf. Dunkelheit umhüllte mich, ich musste ein paar Mal zwinkern, damit ich klarer sehen konnte. Die restlichen roten Nebelschwaden verzogen sich gerade. Ich war wohl in meiner Wolke der Erinnerung eingetaucht.
Ich kann nicht schlafen, also kann ich auch nicht träumen. Ich kann mich nur erinnern an vergangene Ereignisse.
Es war wie ein Traum, gemischt mit Ereignissen, die tatsächlich geschehen waren.
Ich setzte mich auf. Eben erst hatte ich mich in meinem Wohnzimmer auf das Sofa gelegt, daran konnte ich mich noch deutlich erinnern. Der Rest war überlagert von einem rötlichen Dunst. Dazwischen tauchte immer wieder Justins Gesicht auf. Seine Zähne blitzten, seine schönen Augen sahen mich hungrig an, sie wurden zu Raubtieraugen, dann wieder braun, die Zähne blitzten. Es war wie in einem Wirbelsturm, immer wieder die gleichen Bilder, immer schneller flogen sie an mir vorbei.
Ich schüttelte meinen Kopf um ihn frei zu bekommen und stand auf, ich hatte Durst.
Die Ereignisse im letzten August, sie waren so weit entfernt und doch war es so, als wäre alles erst gestern geschehen. Neun Monate war es jetzt her. Eine kurze Zeitspanne, für einen Vampir, doch kam es mir wie Jahrzehnte vor. Die Zeit schleppte sich dahin, wenn man alles verloren hatte, wenn man an nichts mehr glaubte, wenn man tot war.
Ich ging zu meinem Kühlschrank und holte mir eine Büchse Konservenblut, das ich langsam in ein Glas schüttete und der Mikrowelle anvertraute. Während ich auf das leise Pling wartete, ließ ich mir durch den Kopf gehen, wo ich heute Nacht hin könnte. Das leise Summen meines Handys unterbrach meine Gedanken. Misstrauisch ging ich ran
»Ja-a?«, ich hasste dieses Telefon.
»Hi, Natascha. Hier ist Josh.« Als hätte ich ihn nicht schon an der Stimme erkannt.
Das Blut war auf Temperatur und ich nahm es aus der Mikrowelle.
»Hallo Josh.«, meine Stimme war reserviert. Bei ihm wusste ich nie so richtig, wie ich mich verhalten sollte. Unsere Beziehung war so … merkwürdig, so zwiespältig.
»Bist du gerade beim essen?« Ich konnte das Schmunzeln in seiner Stimme hören, er hatte wohl das leise Geräusch der Mikro mitbekommen.
»Was gibt’s Josh?« Ich seufzte und trank einen großen Schluck, es breitete sich sofort eine herrliche Wärme in meinen Eingeweiden aus, schlagartig fühlte ich mich besser, wohler.
»Hast du Lust vorbeizukommen? Wir könnten ein bisschen … quatschen.«
»Josh, ich weiß nicht«, ich hielt das Glas vor mein Gesicht, es war bereits leer.
»Komm, Süße«, seine Stimme wurde bittend, »ich lade dich auch zu einem Drink ein.«
Ich hatte wirklich keine Lust dazu, aber ich kannte mich und Josh.
Er würde mich irgendwie rumkriegen. Nur würde ich mich später wieder über mich selbst ärgern, weil er wieder die unausweichlichen Fragen stellte. Weil er die Wörter aussprach, die ich auf keinen Fall hören wollte. Er würde mich Dinge fragen, über die ich lieber schweigen mochte.
»Wir werden auch nicht alleine sein«, setzte er hinzu und seufzte leise.
Da sah die Sache schon anders aus, mit einem Zuhörer, würde ich um seine quälenden Worte und Fragen vielleicht herumkommen.
»Wer denn?«, fragte ich neugierig geworden.
»Das wirst du schon sehen«, meinte er knapp, »kommst du?«
»Ja. Gib mir noch zwanzig Minuten, okay?«
»Ich freue mich, bis dann, meine Süße«, er legte auf.
Ich trank den Rest von meinem warmen Blut und spülte das Glas anschließend heiß aus.
Dann schnappte ich mir meinen Bandit Helm und ging im gemächlichen Tempo in meine Tiefgarage.
Mein heißgeliebter 66er Mustang stand immer noch in einer Werkstatt und wurde hingebungsvoll neu aufgebaut. Nachdem er im letzten Sommer einen wahren Todeskuss mit einer Fichte mitmachte, und ein wütendes Monster in ihm tobte, wurde er fast für tot erklärt. Aber der Mechaniker in der Werkstatt hatte ein Herz für mich und meinen roten Flitzer. Er hatte versprochen ihn mir zu reparieren, wenn ich nur genug Zeit hatte.
Da Zeit bei meinem Lebenswandel mehr als genug vorhanden war, hatte ich natürlich zugesagt.
Zumal er mir als Übergangsfahrzeug ein Motorrad lieh. Motorradfahren, war noch besser als Autofahren, selbst wenn es so ein klasse Wagen wie mein 66er Mustang war.
Aber das Motorrad konnte sich auch sehen lassen und ich war damit schneller unterwegs, als mit meinem Roten.
Da stand sie, auf meinem alten Parkplatz mit der Nummer 666. Eine Honda Fireblade CBR 1000 RR, ein Superbike mit einhundert zweiundsiebzig Pferdchen. Der schwarz-rote Lack glänzte, blitzte und alles an der Kiste schien zu röhren und zu brummen: Fahr mich, schwing dich drauf und rase mit mir durch die dunklen Straßen. Los, fahr mich.
Ich musste ein bisschen grinsen und zog mir den Helm an. Als ich die Honda startete, war es so als erwacht unter mir ein Monster. Aber kein Monster, das tötete, ein Monster das schnell sein wollte, eines das sich bewegen wollte.
Ein gutes Monster.
Ich fuhr aus der Garage und in Richtung Innenstadt zu Joshs Buchladen.
Ich parkte mein Motorrad genau vor seiner großen Fensterfront und ging hinein. Das zarte Glöckchen ertönte, dieses Glöckchen, das überhaupt nicht zu diesem Hexenladen passte. Weder zu der Einrichtung, noch zu den vielen tausend Dingen, die man hier erstehen konnte. Und ganz bestimmt nicht zu dem Vampir hinter dem Tresen, der, wie immer, auf seine Ellenbogen gestützt, mich munter anlächelte.
Er kam hinter seiner Verkaufstheke hervor und umarmte mich.
»Hi, meine Süße, wie geht es dir?« Er hielt mich auf Armeslänge fest und blickte mir fragend in die Augen.
»Gut, alles in Ordnung.«, sagte ich lahm.
Jede Begegnung von uns begann so. Auch wusste ich schon genau, wie sie weiterging.
Er zog mich abermals an seine Brust und atmete ein paar Mal tief ein. Er füllte seine Nase, seine Lungen mit meinem Duft.
»Mhm. Du riechst wieder so gut, meine Süße. Einfach zu gut.« Er seufzte tief und es hörte sich sehr alt an.
Normalerweise müsste ich wie jeder Vampir auch riechen, nach altem Papier, nach Staub, pergamentartig. Aber es war nicht so, ich roch eher nach Frühling, nach Butterblumen und Sonnenschein. Schon immer, und es änderte sich nicht. Ich wusste auch nicht, warum das so war, es interessierte mich aber auch nicht.
»Magst du was trinken?«, er lächelte mich mit leuchtenden Augen an.
»Ja, gerne. Was gibt’s denn? Was Blondes?«, ich grinste.
»Nein, wo soll ich die auf die Schnelle denn herbekommen? Aber«, er sah mich mit einem seltsamen Blick an, »gleich kommt noch eine Blondine, wenn ich es mir recht überlege. Die wird dir aber nicht schmecken.«
Ich sah Josh mit zusammengekniffenen Augen an und überlegte. Dass sie mir nicht schmecken sollte, konnte nur heißen, dass sie ein Vampir war.
Aber wer würde hier zu Josh kommen? Er hatte zwar enorm viele Bekannte und auch ein paar wirkliche Freunde, aber ihn besuchte eigentlich niemand von denen hier in seinem Hexenladen. Meistens traf er sich mit ihnen im Desmodus, unserer Stammkneipe, oder er ging zu ihnen. Noch nie hatte ich einen anderen Vampir hier bei Josh getroffen.
Er reichte mir ein Glas mit lauwarmem Blut.
»Jeanie wird noch vorbeikommen«, sagte er leise.
Jeanie, ausgerechnet. Meine Hand, die das Glas hielt, war kurz in seiner Bewegung eingefroren.
Ich stellte es geräuschvoll auf die Theke und blickte vor mich hin. Wirklich, wie konnte er nur. Er wusste doch, dass sie für die Obrigkeit arbeitete, und das die nicht gerade gut auf mich zu sprechen waren seit … seit den Ereignissen im letzten Sommer.
Immerhin hatte ich den Chef unseres Clans in das Reich der ewigen Verdammnis geschickt. Seit dem war auch der hohe Rat hinter mir her, er jagte mich zwar nicht direkt, aber wenn ich zufällig in seine Nähe geraten würde, wäre es wohl aus mit mir.
»Was soll das, Josh?«, ich war verärgert, wie konnte er mich nur so ausliefern.
»Keine Sorge, Natascha. Jeanie ist auf unserer Seite, sie ist nicht offiziell hier, nicht als Spionin, sie ist als Freundin hier. Wirklich, entspann dich.«
Als Freundin, dachte ich verächtlich, lieber wollte ich eine Spinne küssen, als die Freundin von Pestbeule Jeanie zu sein.
Ich holte gerade Luft, um Josh meine Verärgerung entgegen zuschleudern, da ging plötzlich die Tür auf.
Ich drehte mich um und da stand sie vor mir. Viel größer als ich, schier endlose Beine, lange blonde Haare, ein engelsgleiches perfekt modelliertes Gesicht, mit wasserhellen, blauen Augen, die mich freundlich anblickten.
»Hallo«, sie lächelte zögernd und streckte mir ihre Hand entgegen.
Ein Friedensangebot?
Ich blickte auf die ausgestreckte Hand und widerstand dem plötzlich auftretenden Wunsch ihr einfach darauf zu spucken.
Stattdessen ergriff ich ihre Hand und schüttelte sie kurz.
»Hallo Jeanie«. Meine Stimme war kratzig und ich hörte selbst die unterdrückte Wut darin.
Als ich Jeanie losließ, ergriff ich schnell mein Glas, damit ich nicht in Versuchung kam, meine Hand an meiner Hose abzuwischen, schließlich hatte ich gerade etwas Ekeliges angefasst.
Josh kam um die Theke herum und begrüßte sie, er umarmte sie und küsste Jeanie auf beide Wangen.
Dann drückte er ihr ein Glas mit frisch gewärmtem Blut in die Hand.
»Kommt, wir setzen uns nach draußen, es ist noch schön.«
Josh ging vor, durch seine Hintertür, in den Hof. Hier hatte er einen Tisch mit ein paar Stühlen hingestellt. Es brannte eine Kerze, die alles in ein seltsames, flackerndes Licht tauchte. Ich war froh, aus dem hellen Licht zu kommen, hinein in die Dunkelheit, dort fühlte ich mich sicherer.
Es war warm draußen, eine richtig schöne Nacht. Ich schloss meine Augen und atmete die Nachtluft ein. Außer dem Vampirgeruch stiegen mir auch noch andere Gerüche in die Nase. Bessere, köstlichere, der Geruch von Menschen, mir lief das Wasser im Mund zusammen, meine Zähne wollten ihr Eigenleben aufnehmen, ich konnte es gerade noch verhindern.
Immer noch hielt ich meine Augen geschlossen, sie waren wahrscheinlich zu gelben Raubtieraugen mutiert, wenn ich sie jetzt öffnete, könnte das zu Missverständnissen führen.
Ich hielt mir das Glas mit dem Konservenblut unter die Nase, und langsam beruhigte sich das Monster in mir.
Ich konnte meine Augen wieder öffnen und trank einen Schluck.
Jeanie und Josh unterhielten sich leise, ich hatte nicht mitbekommen, worüber.
Ich war ganz in meiner Blutwelt versunken.
Jetzt lauschte ich ihnen. Es ging wohl um einen gemeinsamen Bekannten. Ich wusste gar nicht, dass Josh überhaupt Kontakt mit Jeanie hatte.
Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung und verzog die Lippen. Sollte das ein Lächeln sein? Ich konnte sie einfach nicht leiden. Um meine Gefühle zu verbergen, trank ich schnell noch einen Schluck Blut.
»Tascha«, begann sie gerade und ich fiel ihr sofort brüsk ins Wort.
»Natascha!«, etwas freundlicher setzte ich hinzu, »bitte.«
»Okay«, sie zuckte kurz mit den schmalen Schultern.
»Natascha. Wir waren in der Vergangenheit nicht gerade Freundinnen, eher ganz im Gegenteil. Aber, wie du vielleicht weißt, gehöre ich auch nicht mehr zum Clan.« Ich hob erstaunt meine Augenbrauen, das war das Erste, was ich hörte.
»Ach, und wieso nicht?«
»Das ist eine längere Geschichte und ehrlich gesagt, geht es dich nichts an«, sie presste die Lippen zusammen.
Da war sie wieder, die alte Jeanie, ekelig und arrogant, wie wir sie kannten und hassten. Ich bemerkte, wie Josh neben ihr kurz nach Luft schnappte.
Jeanie räusperte sich umständlich.
»Auf jeden Fall, bin ich auch nur gekommen, um dich zu warnen, Natascha«, sie blickte mich gespannt an.
Mich warnen? Wovor? Vor dem nächsten Schnee? Laut sagte ich zu ihr:
»Und was bitte ist so wichtig, dass du extra hergekommen bist?« Ich war leicht verärgert über so viel Arroganz.
Sie tauschte einen schnellen Blick mit Josh.
»Der hohe Rat sucht nach dir, sie wissen, wo du dich die meiste Zeit aufhältst.« Jeanie warf mir einen prüfenden Blick zu, dann blickte sie wieder auf ihr Glas, das sie in der Hand hielt.
»Sie werden jemanden schicken, der mit dir reden soll. Dich ausfragt«, erneut geriet sie ins Stocken.
»Ja? Und weiter?«, fragte ich.
»Es geht natürlich um … letzten Sommer. Um deinen Sohn und dieses Halbblut … ich meine den Vampir, Justin.«
Bei der Erwähnung seines Namens sah ich kurz wieder diese Augen vor mir. Seine schönen braunen Augen und wie sie sich langsam zu Raubtieraugen veränderten.
»Ja und?« meine Verärgerung war schon fast greifbar.
»Also, es geht darum, da Dennis nun mal dein Sohn war und Justin von dir verwandelt wurde, wollen sie wohl einen schicken, der dich … na ja, prüft.« Wieder tauschte sie einen schnellen Blick mit Josh aus. Dann seufzte sie und sah auf ihre Hände.
Josh wendete sich mir zu.
»Hör mal meine Süße, es ist im Prinzip ganz einfach. Der hohe Rat schickt einen Kerl, einen Abgesandten, vorbei, der soll prüfen, ob dein Blut wirklich so verseucht und … böse ist. Außerdem will er aus deinem Munde die Ereignisse hören, schließlich hast du auch einiges verloren. Und Franks Tod soll geprüft werden.« Josh atmete ein bisschen schneller als sonst.
»Und wer soll das sein?« fragte ich gespannt.
»Das wissen wir nicht, aber du kannst ihn wohl als deinen«, Josh schmunzelte kurz, »Rechtsbeistand betrachten. Er ist weder auf deiner Seite, noch auf der Seite des Rates. Er ist zwar einer von ihnen, aber man könnte ihn als … nun ja, als neutral betrachten. Vielleicht ist danach der Rat nicht mehr hinter dir her, betrachte es mal von dieser Seite.« Josh lächelte ein bisschen schief.
Ich sah ihm gerade in die Augen und überlegte, ob ich nun erfreut darüber sein sollte, dass man sich scheinbar Sorgen um mich machte und mich warnen wollte, oder ob ich lieber wütend war, weil die Beiden hinter meinem Rücken alles aushandelten.
Ich konnte mich nicht entscheiden, somit stand ich auf und sagte an Jeanie gewandt:
»Danke für die Warnung«, dann drehte ich mich um und wollte gehen.
»Wo willst du hin?«, fragte Josh, stand auf und folgte mir in seinen Laden.
»Warte, bitte«. Ich drehte mich halb zu ihm um.
»Wieso, was ist denn jetzt noch?« Jetzt spürte ich, wie die Wut in mir hochstieg.
Josh hielt mich am Arm fest. »Ich will nicht, dass du so gehst, so wütend. Versteh doch bitte, dass ich es nur gut mit dir meine«, er zog mich zu sich heran.
»Ich will einfach nicht, dass dir etwas geschieht.« Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren und, wie immer, atmete er ganz unwillkürlich meinen Geruch tief ein.
Ich löste mich von ihm. »Josh, ich bin dir dankbar, dir und …« Ich sah kurz zu seinem Hinterausgang, wo Jeanie immer noch im Hof saß, uns aber wahrscheinlich zuhörte.
»… und ihr auch, aber ich muss jetzt los. Falls du den Abgesandten siehst, kannst du ihm ja meine Adresse geben. Mach‘s gut.« Ich wendete mich zum Ausgang und war überrascht, dass Josh mich nicht noch einmal zurückhielt. Normalerweise kam man unter vier Versuchen bei ihm nicht davon.
»Auf bald«, seine Stimme war nur ein Flüstern.
Draußen atmete ich die warme Frühlingsluft ein, zog mir meinen Helm auf und startete mein Motorrad.
Unter mir erwachte das Monster wieder zum Leben.
Mein Monster in mir war allerdings noch nicht befriedigt, es kreischte und jaulte und schrie nach Nahrung. Nach frischem Blut, nach herrlich, köstlichem menschlichem Blut. Ich würde ihm nachgeben, mich ihm hingeben und mit ihm meine Beute teilen. Wir werden gemeinsam unseren Blutdurst stillen, noch heute Nacht.
Ich machte mich auf den Weg.
Ich schloss meine Augen und lehnte den Kopf an die raue Mauer. Meine Zähne wurden gerade wieder normal. Ich ließ das Mädchen einfach fallen, schwer plumpste sie auf den Boden. Sie war leer und tot und interessierte mich nicht mehr. Nur ihr Blut war für mich von Interesse, und das hatte ich bekommen. Mein Monster und ich.
Ich versuchte mich zu sammeln.
Mein Handy klingelte, ich ging ran.
»Natascha? Hier ist Josh.«
Es war schon ein paar Stunden her, seit ich ihn und Jeanie verließ.
»Ja?«, war alles, was ich herausbekam.
»Ich wollte dir nur sagen, dass der Abgesandte nach dir sucht.« Josh machte eine kurze Pause.
»Pass auf dich auf.«
»Danke«, ich legte auf, ich war noch nicht in der Lage große Reden zu schwingen. Das Mädchenblut musste sich erst in meinem Körper verteilen.
Mit einem Ruck löste ich mich von der Mauer und ging zu meinem Motorrad. Es war ganz in der Nähe geparkt, meine Beute war einfach zu überwältigen. Ich musste sie nicht verfolgen, wie sonst immer, sie kam praktisch wie von selbst zu mir.
Langsam fuhr ich durch die menschenleere Stadt nach Hause. Immer wieder überlegte ich, wo mich dieser Abgesandte der Hölle wohl zu fassen kriegen würde. Sollte ich davonlaufen, oder einfach alles auf mich zukommen lassen?
War es wirklich so, wie Josh sagte, dass er neutral war, oder hatte ich von Anfang an keine Chance, mich zu verteidigen, da seine Meinung schon feststand?
Grübelnd parkte ich die Honda auf meinem Parkplatz. Ein neuer Wagen stach mir direkt ins Auge, er stand auf den Besucherparkplätzen. Ein nagelneuer schwarzer Bentley, ein Continental GT, ein super Geschoss. Da hatte aber jemand reichen Besuch hier im Haus, dachte ich noch und flitzte die Treppen hoch, bis in das oberste Stockwerk. Weiter grübelnd schloss ich meine Wohnungstür auf.
Mein kleines Appartement war leer und einsam.
Jedenfalls sollte es so sein, aber kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, da spürte ich eine große Hand auf meinem Mund und ein kalter, harter Körper presste sich an meinen und mich gegen die Tür.
Ein Vampir, eine Lidschlaglänge befürchtete ich, Justin wäre zurückgekommen, beinahe wünschte ich es mir. Mein Helm fiel mir aus der Hand und prallte auf den Boden.
»Ruhe!«, herrschte mich der Vampir an, seine Stimme war leise, zischend und klang gefährlich.
Ich blickte hoch, er war groß, über einen Kopf größer, als ich. Da er mich immer noch gegen die Tür presste, konnte ich mich nicht rühren und ihm auch nicht in das Gesicht sehen. Im Stillen wunderte ich mich, warum ich ihn nicht schon im Treppenhaus roch, ich musste wohl in meine Gedanken so vertieft gewesen sein, dass für meine Instinkte kein Raum mehr war.
Allerdings stellte ich gerade fest, dass er eigentlich nicht roch, er verströmte keinen Geruch. Weder diesen pergamentartigen, oder sonst irgendeinen, er roch nach Nichts. Ich konnte noch nicht einmal sagen, er roch nach Luft, denn selbst Luft hat immer einen Geruch.
Ich war total irritiert, war das hier wieder ein Traum? Ich verspürte den Drang mich zu kneifen, oder ihn.
Er löste seine Hand von meinem Mund und beugte den Kopf zu mir herunter.
»Kein Wort jetzt«, seine Augen blitzten leicht in der Dunkelheit.
Es klingelte plötzlich, ich zuckte kurz zusammen. Der Vampir warf einen Blick durch den Türspion, das helle Licht aus dem Treppenhaus fiel auf sein Auge und es wirkte so, als wenn er mit einem Scheinwerfer geblendet würde. Er beugte sich wieder zu meinem Ohr.
»Das ist ein Mensch. Dein Nachbar? Was will er hier?«
Mir rieselte ein Schauer über den Rücken, mit jedem seiner, wie abgehackt gesprochenen Sätze, hatte er mir seinen kalten Atem ins Ohr gepustet. Das hatte schon lange keiner mehr bei mir gemacht.
Ich riss mich zusammen und versuchte mich zu drehen, um ebenfalls durch den Spion zu blicken. Der Unbekannte presste mich aber immer noch gegen die Tür, so fiel es mir sehr schwer, mich umzudrehen. Ich warf einen Blick auf den Menschen vor meiner Tür, in diesem Moment klingelte er erneut. Ich kannte ihn nicht, aber sein Geruch, der jetzt zu mir durch die Tür drang, war mir schon mal aufgefallen. Es war tatsächlich mein Nachbar, er wohnte unter mir.
Nachdem Ralph verschwand, wurde die Wohnung neu vermietet, an ihn. Ich wusste seinen Namen nicht, er hatte mich bis jetzt auch nicht interessiert. Ich wilderte nicht in meinem eigenen Revier, das wäre nicht gut.
Der geruchlose Kerl presste sich jetzt an meinen Rücken, was sollte das nur, gleich lagen wir beide mitsamt der Wohnungstür im Treppenhaus und hatten das Menschlein davor wahrscheinlich zu Mus zerquetscht.
Ich boxte kurz mit meinen Ellenbogen nach hinten. Es war ein Gefühl, als habe ich einen Stein schlagen wollen.
»Lass mir ein bisschen Platz«, zischte ich leise. Er rückte wirklich von mir ab, wenn auch nur wenige Zentimeter. Ich drehte mich wieder um, schon presste er mich erneut gegen die Tür. Ich sagte dazu nichts.
Wir lauschten, der Kerl vor der Tür murmelte etwas und schien dann zu verschwinden. Erneut blickte der Unbekannte durch den Türspion und projizierte den Scheinwerfer auf sein Auge, dann ging im Treppenhaus das Licht aus und der Scheinwerfer war weg.
Vollkommene Dunkelheit hüllte uns ein. Wenn ich nicht seinen harten Körper an mir spürte, wüsste ich nicht, dass er da wäre. Er roch wirklich nach Nichts, ich war immer noch ganz verwundert über diese Tatsache.
Jetzt hörte ich ihn atmen, das hatte er eben nicht gemacht, da war ich mir ganz sicher. Außer, als er mit mir gesprochen hatte.
Auch konnte ich ihn in der Dunkelheit jetzt besser erkennen.
Er war groß, wirklich riesig kam er mir vor. Er war ein kleines Stück von mir abgerückt und ich konnte ihm ins Gesicht sehen, nett sah er aus, braunes Haar, sehr kurz geschnitten, ein hübsches Gesicht, edel, wie ein Adeliger wirkte er. Dann der schwarze Anzug, kein Teil von der Stange, eine Maßanfertigung, mochte ich wetten.
Aber die Augen, die waren das Beste, wie funkelnde Sterne.
In den Pupillen brannte ein Feuer, kurz fühlte ich mich an meine Träume erinnert, die Iris war von brauner Farbe, aber einer sich bewegenden Farbe. Außen um die Iris war ein feiner, roter Ring, er wirkte wie eine Begrenzung, damit die sich bewegende Augenfarbe nicht wie Lava über den Rand floss. Ich war fasziniert, von diesen Augen, so etwas hatte ich noch nie gesehen.
Ich konnte nicht anders, hob meine Hand und kniff ihn kräftig in den Oberarm. Sofort schoben sich seine Augenbrauen düster zusammen, der Ring in den Augen wurde kurz breiter, das Feuer der Pupillen loderte auf.
Wow, dachte ich, das war aber ein Schauspiel.
»Was sollte das?«, fragte er mich und sah wirklich wütend aus.
»Ich wollte nur sehen, ob du auch echt bist. Oder nur einer meiner Träume.«
»Du bist ein Vampir, du kannst nicht träumen, oder hast du das noch nicht mitbekommen?«, er hörte sich ein bisschen amüsiert an.
»Doch natürlich«, wofür hielt er mich, »ich meine ja auch nicht solche Träume … ich … ach vergiss es. Wer bist du eigentlich und was hast du in meiner Wohnung zu suchen?«
»Alles zu seiner Zeit. Komm mit!« Er ging durch meinen Flur ins Wohnzimmer, hier drehte er das Licht an. Ich folgte ihm.
Er setzte sich wie selbstverständlich auf mein Sofa, vor ihm stand ein Glas mit einer meiner Blutkonserven, wie lange war er eigentlich schon hier?
»Ist hier neuerdings ein Selbstbedienungsladen?«, ich war ein wenig empört.
»Entschuldige, ich verspürte ein wenig Durst, auch wusste ich nicht, wann du gedenkst wieder nach Hause zu kommen. So habe ich mich selber bedient.« Er hob sein Glas an.
»Kann ich dir auch schnell etwas zubereiten?«
Ich winkte ab. »Nein, danke«, und setzte mich in den Sessel, ihm gegenüber. Er grinste nur selbstgefällig und nippte an seinem Drink.
»Ist jetzt die richtige Zeit?«, fragte ich gereizt, »wer zum Teufel bist du und was willst du hier?«
»Ich bin Ansgar. Ich bin ein Abgesandter des hohen Rates. Und ich will … dich.« Seine Augen wurden etwas größer, das Feuer loderte kurz auf, dann war alles wieder wie vorher.
Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, töten wollte er mich aber bestimmt nicht, das hätte er eben schon machen können, also um was ging es hier genau? Laut fragte ich:
»Kannst du mir das mal näher erklären? Eh, wie war dein Name? Ansgar? Den hab ich ja noch nie gehört, was bedeutet der denn?«
Er verdrehte die Augen zur Decke. »Er bedeutet Speer Gottes und du weißt genau, wozu ich hier bin.« Er presste die Lippen zusammen und sah jetzt wirklich wütend aus.
Speer Gottes? Ich versuchte, meine eingerosteten Lateinkenntnisse hervor zu kramen. Heißt ger nicht Speer? Was bedeutet denn dann die Silbe gar? Er unterbrach meine Gedanken.
»Vor einiger Zeit sind ein paar Dinge geschehen, die auch den frühzeitigen Tod eines Vampirs nach sich zogen. Für die Vernichtung von Frank bist du wohl verantwortlich. Aber es ist ja nicht nur das, du hast ein fremdes Halbblut einfach so verwandelt und dein leiblicher Sohn ist zu einem Monster mutiert, der unaufhaltsam durch die Stadt zieht und wahllos Morde begeht.« Er sah mich streng an, »was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«
Ich schluckte kurz, dann erzählte ich ihm die ganzen Vorkommnisse des letzten Sommers, ließ kaum etwas aus. Nur die mehr als seltsamen Gefühle zwischen Justin und mir ließ ich weg. Das war eine persönliche Sache, die niemand kannte und das sollte auch so bleiben. Diese spezielle Erinnerung gehörte nur mir alleine.
Als ich meinen Bericht abschloss starrte er vor sich hin. Er hatte die Finger aneinander gelegt und sah aus, als überlegte er. Dann blickte er mich an, das Feuer loderte kurz auf.
»Du weißt, dass ich das nachprüfen muss, ich kann dir das nicht so unbesehen glauben. Vor allem wird der hohe Rat wissen wollen, ob das mit deinem Blut wirklich stimmt, ob es wirklich verseucht ist.«
Ich hob eine Augenbraue und meine sarkastisch: »Wie willst du das nachprüfen? Willst du mir ein bisschen Blut abzapfen und ins nächste Labor schicken damit die es auf … böse Viren untersuchen?«
Er stemmte sich vom Sofa hoch und kam auf mich zu.
»Nein, ich habe da andere Methoden. Gänzlich andere.«
Schlagartig veränderten sich seine Augen, sie wurden blutrot, es war so, als wenn der Ring sich erweiterte, und das Feuer in der Mitte erstickte oder verdrängt hatte. Ich sah noch, wie seine Zähne lang und spitz wurden, dann lag ich schon mitsamt meinem Sessel auf dem Boden.
Ich war erschrocken, er war so schnell, dass selbst meine Augen ihn nicht registrieren konnten. Er kniete über mir, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Seine Finger waren in meine verschränkt, er nagelte mich auf dem Boden fest. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr rühren. Erschrocken blickte ich ihn an, diese roten Augen, es sah aus, wie Lava die träge dahin floss, zähflüssig im Kreis rotierte.
Seine Nase strich ganz knapp über mein Gesicht, er atmete meinen Geruch ein. Es war mir unangenehm, ich hatte das Gefühl, als läge ich nackt vor ihm, als würde er mich ab riechen.
Es war so anders, wenn Josh mich fast in sich einsaugte, das war mir noch nie peinlich, aber bei ihm hatte ich kein gutes Gefühl dabei.
»Hm, du duftest ja wirklich gut, so anders.« Er strich mit der Nase über mein Ohr, weiter bis zum Hals.
Ich hatte Angst, wirkliche Angst. So hatte ich mich noch nie gefühlt, ich stellte mir vor, dass sich meine Beute auch so fühlen musste. Mit dem Wissen in sich, dass es gleich vorbei war, dass man gleich sterben musste.
Er strich mit seinen Lippen über meinen Hals, sie waren eiskalt, kälter, als ich es je für möglichhielt.
Er atmete aus und sein eisiger Atem traf meine feinen Nackenhaare, ein Schaudern durchfloss mich, wenn ich könnte, würde ich eine Gänsehaut bekommen.
Seine Stimme war ganz ruhig »Mal sehen, ob du auch so gut schmeckst.«
Dann spürte ich seine Zähne, wie sie sich in meinen Hals schlugen.
Ich schnappte nach Luft, es tat weh, aber nicht sehr. Es war eher das Gefühl, als er mein Blut in sich einsaugte, das mich fast wahnsinnig machte. Ich hörte ihn schlucken und spürte, wie mein Blut aus meinem Körper floss, hinaus gesaugt wurde, mit einer ungeheuren Kraft.
Seine Finger waren noch mit meinen verschränkt, seine Hände fassten ein bisschen fester zu. Ich schloss die Augen und wartete auf den Tod. Erwartete, dass ich meinen Frieden finden würde, erhoffte, dass ich gleich erlöst war.
Nach unendlichen Minuten lösten sich seine Lippen zögernd von meinem Hals, er fuhr mit der Zunge kurz über die Einstichstellen und ich spürte deutlich, wie sie sich augenblicklich verschlossen. Ich lag noch halb auf dem Sessel, halb auf dem Boden und hatte meine Augen geschlossen.
Er wollte sich erheben, aber unsere Finger waren noch ineinander verkrallt und ich öffnete meine nicht. Er versuchte es einmal und noch mal, aber er kam nicht von mir los. Ich öffnete meine Augen und blickte ihn an. Seine Augen sahen wieder so aus wie eben, ganz normal, mit dem feinen roten Rand, damit die braune Lava nicht heraus floss.
»Was…?«, begann ich, aber meine Stimme war nur ein Krächzen, ich schwieg.
»Ich habe dir gesagt, dass ich andere Methoden habe.« Sein Blick war … ja unergründlich, aber nicht so schmerzhaft wie bei dem letzten Vampir mit solchen Augen.
Es tat nicht so weh, wie bei Justin. Hier konnte man nicht in den grausamen Tiefen versinken, er würde es nicht zulassen, er würde es gar nicht wollen.
Ich öffnete meine Finger, ließ ihn frei. Ansgar stand auf und zog mich am Arm mit hoch. Dann stellte er den Sessel wieder aufrecht hin. Ich stand immer noch wie betäubt neben ihm, in meinem Kopf drehte sich alles, ich sah Bilder, jede Menge Bilder. Aber auf keinem dieser Bilder war Justin zu sehen, oder Dennis, es war, als hätte es die Beiden nie gegeben.
Ansgar nahm mich am Arm, zog mich zum Sessel und drückte mich an den Schultern herunter, damit ich mich setzte.
Ich bekam kaum etwas davon mit, so sehr war ich mit meinen Gedanken beschäftigt, wo waren die verflixten Bilder? Es war so, als wenn ich ein altes Fotoalbum durchblätterte und es fehlten plötzlich auf einer Seite ein paar Bilder. Ich wusste, dass sie letztens noch da waren, konnte mich aber nicht mehr genau an sie erinnern. Es war verwirrend.
Ansgar hielt mir ein großes Glas, voll mit warmem Blut vor das Gesicht.
»Trink das, es wird dich wieder auf die Beine bringen.« Ich nahm ihm das Glas ab und trank es in drei langen Zügen leer. Sofort breitete sich eine prickelnde Wärme in mir aus, es ging mir tatsächlich besser. Ich holte tief Luft.
»Kannst du mir jetzt mal erklären, was das sollte?«, fragte ich aufgebracht. »Du kannst doch nicht einfach so über mich herfallen und mich aussaugen. Verdammt, ein Vampir saugt keinen anderen aus, wir … wir schmecken nicht.«
Ich kam mir total dämlich vor, als hätte ich zu einem Monster gesagt: Friss mich bloß nicht, ich schmecke scheußlich.
Ansgar grinste mich an.
»Normalerweise hast du natürlich Recht, aber für mich schmecken auch Vampire nicht schlecht. Ich bin anders, als all die Anderen, die du kennst.« Als hätte ich das noch nicht selber bemerkt.
»Außerdem«, fuhr er fort, »außerdem habe ich dich nicht ausgesaugt, wie du das nennst, ich habe mir Informationen und Erinnerungen von dir geholt. Sie werden dir eine Zeit lang fehlen, aber du wirst dich wieder an sie erinnern, nur keine Sorge.«
Also hatte er meine Bilder geklaut. Mir meine Erinnerungen praktisch ausgesaugt, sie würden aber wiederkommen, hatte er gesagt.
»Ich weiß nicht ob ich das will«, hauchte ich.
»Ob du was willst?«, er schien leicht irritiert.
»Ob ich will, dass die Erinnerungen wiederkommen.«
Ich blickte ihn an. »Ich würde mich ohne sie wohler fühlen.« Ansgar lachte über das ganze Gesicht, er sah hübsch aus, richtig nett.
Fast könnte ich vergessen, dass er vor einer Minute noch mit Feuer und Lava in den Augen und riesigen Zähnen über mich herfiel um mir mein Blut zu nehmen.
Aber nur fast.
»Dann sag mir Bescheid, ich kann sie dir jederzeit gerne wieder nehmen.« Schon spürte ich erneut seine Lippen an meinem Hals. Ich erstarrte.
Er war in einer, für mich, vollkommen unsichtbaren, Bewegung aufgesprungen, zu mir gekommen und streichelte in der gleichen Sekunde mit seinen Lippen über meinen Hals.
Wie machte er das nur?
»Du schmeckst noch köstlicher, als du riechst, wie ist das nur möglich?«, hauchte er an meinem Hals. Wieder löste sein eisiger Atem in mir ein Schaudern aus. Aber, es war anders als eben, ich war nicht vor Angst und Schreck gelähmt, ich wusste jetzt, dass er mich nicht töten wollte.
Der Gedanke, dass es jemanden gab, der mir meine schmerzlichen Erinnerungen nehmen konnte, war tröstlich für mich. Vielleicht gab es doch noch ein Leben danach, ein Dasein ohne Schmerzen, ohne Erinnerungen.
Der Gedanke daran ließ mich lächeln. Ich schloss die Augen und genoss seine kalten Lippen auf meiner Haut. Er stockte und blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Du hast keine Angst.« Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage.
»Warum?«, er schien wirklich verblüfft zu sein.
Ich blickte ihn an. »Du kannst mir meine Erinnerungen nehmen, du kannst nur ein Traum sein, ein Wunschtraum, Also brauche ich keine Angst zu haben.« Ich schloss meine Augen wieder und drehte den Kopf zur Seite. Mein Hals lag vor ihm, nackt und ungeschützt.
»Mach weiter, das war schön«, murmelte ich.
Zuerst passierte gar nichts, ich wollte gerade meine Augen öffnen, um zu sehen, ob er überhaupt noch da war, da spürte ich ihn wieder. Seine Nase strich über meine Wange, über mein Ohr, er atmete leicht aus. Das kitzelte und ein weiterer Schauer lief mir den Rücken runter. Ein sanftes Stöhnen kam aus meinem Mund, ich fühlte die Lust in mir hochsteigen, mein ganzer Körper kribbelte, mein Blut schoss durch meine Adern. Seine eisigen Lippen berührten meinen Hals, strichen hoch und wieder runter, küssten meine kalte Haut, mein Blut rauschte noch schneller.
Seine Hand strich über meine Schulter, über meine andere Halsseite, den Nacken hoch und vergrub sich in meinen Haaren. Er gab mit der Hand ein bisschen Druck, als wenn er mich hin zu seinen Zähnen drücken wollte, damit ich nicht mehr weg konnte. Als wenn ich flüchten wollte, ich erwartete doch seine Zähne, ich wollte, dass er mich biss, wollte, dass er mir meine Erinnerungen nahm.
Ich spürte plötzlich, wie seine Zähne wuchsen, ich kniff meine Augen fester zusammen und erwartete den Schmerz. Er stöhnte an meinem Hals, atmete schneller, aber er biss nicht zu.
Dann lehnte er seine Stirn gegen meine Schläfe, ich hörte und spürte seine Erregung, seinen Atem und sein Blut, das in ihm kochte und viel zu schnell durch seinen toten Körper rauschte.
»Ich werde dir nicht deine … Erinnerungen nehmen«, flüsterte er in mein Ohr, seine Stimme klang zornig.
Abrupt stand er auf und ging auf meine Küche zu. Wortlos nahm er sich noch eine Konserve aus dem Kühlschrank, goss es in ein Glas und erwärmte es in der Mikrowelle.
Ich beobachtete seine Bewegungen und sah in sein Gesicht, es war verkniffen und grimmig, die Brauen düster über den glühenden Lava-Augen zusammengezogen. Als das Blut erwärmt war, trank er gierig ein paar Schlucke, stellte das Glas weg und stützte sich mit beiden Händen an der Arbeitsplatte ab. Er murmelte irgendetwas in sich hinein, ich konnte ihn nicht verstehen. Wie benommen saß ich weiterhin in meinem Sessel und beobachtete ihn. Ich wollte ihn fragen, was los ist, wollte zu ihm gehen, aber ich war wie gelähmt, ich konnte noch nicht einmal meinen Finger heben.
Trotzdem zuckte ich vor Schreck zusammen, als er die Hände zu Fäusten ballte und auf die Arbeitsplatte krachen ließ, sodass die ganze Küche bebte und die Gläser in den Schränken klirrten. Er blickte mich an, seine Augen glühten kurz, dann war der begrenzende Rand wieder da, der die Lava zurückhielt.
»Weiß irgendjemand, wo die Beiden zu finden sind?«
Ich konnte ihn nur verständnislos anschauen, für ein paar Sekunden wusste ich wirklich nicht, von wem die Rede war. Dann dämmerte es mir, Justin und Dennis, ich zwinkerte einmal und da war sie wieder, meine Erinnerung, alle Bilder waren zurück, ich schloss gequält meine Augen.
Verdammter Vampir, dachte ich, du hättest mir ruhig ein paar Stunden ohne die verdammten Bilder gönnen können.
»Josh könnte vielleicht etwas wissen, er weiß eigentlich immer, was sich so bei uns tut.« Ich öffnete die Augen wieder und sah seine Hand vor mir. Er war so lautlos, so schnell, erneut fragte ich mich, wie so etwas möglich war.
Ich ergriff seine Hand und er zog mich aus dem Sessel hoch.
»Josh? Den aus dem Buchladen?«
Ich nickte kurz.
»Den kenne ich, der ist in Ordnung. Komm, wir gehen zu ihm.« Er zog mich einfach mit, ich hatte keine Chance.
Er löschte im Vorbeigehen das Licht im Wohnzimmer und zog mich mit zur Eingangstür. Fast schubste er mich in das dunkle Treppenhaus und zog die Tür hinter sich zu. Da fiel mir etwas ein.
»Ich habe meinen Helm vergessen, den brauche ich.« Ansgar hielt mich zurück.
»Nein, du fährst mit mir. Mein Wagen steht unten.«
Er steuerte auf den Aufzug zu, und drückte den Knopf. Aufzug fahren, dachte ich, das bin ich auch schon seit Jahren nicht mehr, nur gut, dass er nach nichts riecht, so ist es besser auszuhalten.
Als sich die Türen öffneten, zog er mich grob mit in die kleine Kabine.
»Du kannst mich loslassen, ich komme auch freiwillig mit.« Ich versuchte mich von seiner stählernen Hand zu befreien.
»Nicht«, sagte er leise, »bitte lass es so, ich muss mich irgendwo festhalten.«
»Warum? Kippst du sonst um?«
Ich verstand ganz und gar nicht was er meinte.
»Nein!«, schon klebte ich wieder an der Wand und fühlte seinen Körper an meinen gepresst.
»Weil ich sonst über dich herfalle«, flüsterte er, gab mich aber sofort wieder frei.
»Also lass es bitte so.«
»In Ordnung«, antwortete ich langsam.
Er schloss seine Augen. »Es ist gleich wieder vorbei, nur noch einen Moment.«
»Tja, Aufzüge sind der Teufel für unsere Art. Ich weiß schon, warum ich immer die Treppe gehe.« Ich lächelte ein bisschen, er blickte mich fragend an, dann grinste auch er.
»Das nächste Mal weiß ich Bescheid.«
Wir kamen endlich in der Tiefgarage an und wie ich es vermutet hatte, steuerte er auf den schicken Bentley zu. Kurz vor dem Auto ließ er meinen Arm los.
»Er ist offen«, sagte er knapp, ich stieg ein.
Gelbes Leder erwartete mich, herrlich weich waren die Sitze, ich versank nahezu in ihnen. Der ganze Wagen strömte einen köstlichen Geruch aus, ich fühlte mich schlagartig geborgen und wohl. Genüsslich schloss ich die Augen. Meine Nasenflügel bebten leicht, schon spürte ich Ansgars Lippen abermals an meinem Hals.
»Du riechst besser, viel besser«, hauchte er.
Ich blickte ihn erstaunt an, aber er ließ per Knopfdruck den Motor anspringen und ich fragte mich schon, ob ich das alles nur geträumt hatte.
Ansgar drehte sich in seinem Sitz halb um, damit er rückwärts ausparken konnte. Dabei warf er mir einen gierigen, hungrigen Blick zu. Er ließ seine Augenbrauen zweimal in die Höhe schnellen, ich senkte meine Augen, musste aber trotzdem grinsen.
Sanft wie ein Kätzchen schnurrte der Bentley, als Ansgar ihn aus der Garage fuhr, in Richtung Innenstadt, zu Joshs Hexenladen.
Genüsslich seufzte ich auf, schmiegte mich an die Lederpolster und zog den mich umgebenden Geruch ein. Wenn ich noch besser roch, dann wunderte es mich, dass Ansgar mich nicht auffraß. Das war ja kaum auszuhalten.
Er starrte auf die immer noch dunklen Straßen, dann warf er mir einen schnellen Seitenblick zu.
»Was ist?«, fragte er neugierig.
Ich schmiegte mich wiederum in die Polster, saugte den Geruch ein und schloss die Augen.
»Danke, Ansgar. Für alles … bisher«, sagte ich leise.
Ich meinte es auch genauso, ich war ihm dankbar für ein paar Minuten ohne meine schmerzhaften Erinnerungen.
Ich war mir nicht sicher, aber hatte er gerade meine Hand berührt, sie ganz leicht wie eine Feder gestreichelt? Ich wollte meine Augen nicht öffnen, so lächelte ich nur.
Leise summte der Wagen vor sich hin.
Viel zu schnell kamen wir bei Joshs Laden an, ich konnte stundenlang in den Polstern verbringen und diesen köstlichen Duft einatmen.
Als das Schnurren des Wagens plötzlich aufhörte, blickte ich auf und seufzte. Nur ungern stieg ich aus, den Türgriff schon in der Hand, sah ich wie Ansgar mich anlächelte. Ich fühlte mich ertappt und schob meine Augenbrauen zusammen.
»Was ist?«, fragte ich ihn etwas gereizt.
»Vielleicht kannst du mich jetzt besser verstehen«, er sah mich fragend an.
Ich dachte darüber nach. Wenn er um so vieles besser als dieser Wagen riechen würde, und ich natürlich auch noch zehnmal stärker wäre als er, also ich hätte ihn aufgefressen. Somit konnte ich es nur seiner Beherrschung verdanken, dass ich überhaupt noch existierte.
Ich grinste ihn an und spielte mit dem Gedanken, ihn ein bisschen zu reizen. Aber kaum war der Gedanke in meinem Kopf geformt, da war Ansgar auch schon weg. Ich sah noch seine Tür zufallen, im selben Augenblick öffnete sich meine Seite. Wie konnte man nur so schnell sein.
Er stand ungeduldig auf dem Gehweg und hielt mir die Tür auf. Ich stieg aus und lächelte immer noch frech. Da packte er grob meinen Arm und hielt mich fest.
»Fordere mich niemals heraus. Fordere niemals meine Beherrschung heraus. Es könnte dein letzter Gedanke gewesen sein.«
Seine Stimme war schneidend, ich hatte ihn verstanden und nickte kurz.
Er ließ meinen Arm wieder los.
»Gut. Komm, wir gehen rein, er weiß, dass wir kommen.«
Ich überlegte, und kam zu der Erkenntnis, dass mein Begleiter wohl meine Gedanken lesen konnte. Das war ja fürchterlich, von nun an musste ich besser auf mich aufpassen.
Das helle, zarte Glöckchen ertönte und wir tauchten ein, in eine andere Welt.
Josh stand, wie immer, hinter seinem Tresen und grinste uns an. Ich war nach wie vor befangen, von meiner neuen Erkenntnis, grinste aber tapfer zurück.
Josh kam hinter seinem Tresen hervor und ich wollte ihm gerade Ansgar vorstellen, da kam er mir zuvor.
»Ansgar, wie schön, Euch hier zu sehen.« Josh ergriff seine hingestreckte Hand und umfasste mit der anderen seinen Unterarm. Ansgar machte es ihm gleich.
Ich war erstaunt, noch mehr, als ich bemerkte, wie Josh seine Augen niederschlug. Mein alter Freund zeigte Ehrfurcht vor dem Anzugträger, am liebsten mochte ich laut auflachen, ich konnte mich gerade noch zurückhalten.
Ansgar blickte sich in dem Hexenladen um.
»Ihr habt eine hübsche Sammlung zusammengetragen«, er lächelte leicht. Josh quittierte das Kompliment mit einem leichten Kopfnicken. Es fehlte nur noch, das Josh jetzt einen Knicks machte. Ich musste mich abwenden, um nicht lauthals loszulachen.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich eben noch die Erkenntnis hatte, dass mein Begleiter vielleicht meine Gedanken lesen konnte. Schnell vertrieb ich die Gefühle aus meinem Kopf und sah Ansgar prüfend an.
Der hatte gerade seinen Kopf weit in den Nacken gelegt und betrachtete einen Traumfänger, der über ihm hing.
Er warf mir einen Seitenblick zu, zwinkerte mit einem Auge und lächelte mich wissend an.
Ich hatte genug und drehte mich um. So ein Mistkerl, dachte ich, ja, das kannst du ruhig hören, rief ich in Gedanken, du bist ein Mistkerl.
Aber nicht doch, junge Dame, säuselte eine Stimme in meinem Kopf, wer wird denn solche Ausdrücke benutzen.
Ich erstarrte in der Bewegung, war das wirklich in meinem Kopf, oder hatte da einer laut mit mir gesprochen?
Natürlich bin ich in deinem Kopf, du Dummerchen. Ich drehte mich schnell um und starrte Ansgar an, es war seine Stimme, dessen war ich mir ganz sicher.
Er aber unterhielt sich leise mit Josh und beachtete mich gar nicht. Aber die Stimme war immer noch da.
Ich kann weit mehr, als du für möglich hältst, ich kann nicht nur deine Gedanken lesen, ich kann mich auch in deinen Kopf einklinken und mit dir reden. Immerhin habe ich dein Blut getrunken, solange es in meinem Körper kreist, kenne ich alle deine Gedanken und Gefühle. Auch kann ich mit dir reden und brauche dich noch nicht einmal dabei anzuschauen. So wie jetzt. Mein hübsches Püppchen. Es folgte ein leises Lachen. Ich war entsetzt, dann versuchte ich schnell an nichts zu denken, an gar nichts.
Na, sagte ich in Gedanken, wie gefällt dir das? Dieses nette Nichts. Meine Stimme in Gedanken wurde flehend. Bleib bitte aus meinem Kopf, ich bin es nicht gewohnt, meine Gefühle mit jemanden zu teilen, ich möchte, dass sie weiterhin mir gehören, mir alleine. Hörst du? …Hallo?
Hm, du riechst so gut. Würdest du es mir sehr übel nehmen, wenn ich jetzt und hier, vor allen Augen über dich herfalle?
Ja, erwiderte ich brüsk in Gedanken, du sollst aus meinem Kopf verschwinden. Raus da!
Keine Chance, Natascha. Aber ich könnte dir deine Erinnerungen nehmen, du wärst für eine kurze Zeit wieder frei. Ich bin auch sehr vorsichtig, versuche dir nicht weh zu tun, jedenfalls nicht so sehr. Ich würde erst mit meinen Lippen deinen Hals hoch streichen, dich dann aufs Ohr küssen, mein kalter Atem würde dich kitzeln. Langsam streicheln meine Lippen deinen Hals herunter …
»Hör sofort auf damit, Verdammt noch mal.« Es hallte laut in Joshs Laden, als ich die Worte herausschrie. Ansgar und Josh blickten mich erstaunt an, aber die Stimme in meinem Kopf war ruhig, zum Glück.
»Natascha, was ist los?« Josh warf mir einen Blick zu, als zweifelte er an meinem Geisteszustand. Ansgar, neben ihm hob nur eine Augenbraue. Am liebsten würde ich ihn schlagen, aber ich würde mir nur weh tun, man schlägt nicht auf Steine ein, das bringt nichts.
Tz, tz, tz, machte die Stimme wieder.
Du kannst mich mal, dachte ich, drehte mich um und ging zu Joshs Konservenvorrat.
Gerne! Hier, oder lieber später wieder bei dir? Die Stimme, Ansgars Stimme, klang verführerisch und lockend. Aber ich war so wütend, dass ich widerstand.
Gar nicht, rief ich in Gedanken, Mistkerl, setzte ich hinzu. Ich schnappte mir eine Dose Konservenblut und ging wutschnaubend nach draußen in den Hinterhof.
Hier standen noch die Stühle um den Tisch herum. Ich setzte mich und riss die Dose auf.
Nicht mal warm gemacht hatte ich mir das Blut, ich wollte nur raus, nur weg von Ansgar mit seiner Stimme in meinem Kopf und Josh, der scheinbar an meiner geistigen Verfassung zweifelte.
Genervt schloss ich meine Augen und atmete tief durch. Dann setzte ich die Dose an und trank sie in langen Schlucken leer.
Brr, kaltes Blut war einfach entsetzlich. Da konnte man sich auch in einem Leichenschauhaus über die Toten hermachen. Trotzdem breitete sich Wärme in mir aus, wenn auch nicht so tröstlich wie sonst.
Ich zerdrückte mit der Hand die Dose und legte sie auf den Tisch.
Welche Schandtaten habe ich nur in diesem und im letzten Leben begannen, überlegte ich. Erst verliebe ich mich in ein Monster, das mich anschließend lieber tot als lebendig sehen würde, dann kommt dieser Anzugträger aus irgendeinem der vorherigen Jahrhunderte daher, beißt mich einfach ungefragt und geht dann nicht mehr aus meinem Kopf raus. Es ist zum aus der Haut fahren.
Halb erwartete ich, dass die Stimme in meinem Kopf mir entweder recht gab, oder mir widersprach, aber es blieb still. Wie angenehm. Vielleicht ist mein Blut ja schon raus aus seinem Körper, dachte ich fröhlich.
Aber keineswegs, mein Püppchen, ich muss dich nur sehen können und die Entfernung darf nicht so groß sein, das ist alles.
Ich zuckte kurz zusammen und sah zur Tür, die in Joshs Laden führte. Durch den Glasausschnitt konnte ich Ansgar sehen, der mich anlächelte.
Josh machte gerade die Tür auf und sagte.
»Kommt, wir setzen uns, es ist noch eine schöne Nacht. Wollt ihr etwas trinken?«
»Nein, danke für das Angebot, aber ich muss noch kurz weg.« Zu mir gewandt sagte er: »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, ich komme dich auch in einer Stunde wieder abholen.« Dabei sah Ansgar mich fragend an.
»Nein, geh nur, ich komme schon zurecht.« Mistkerl, fügte ich in Gedanken hinzu.
Ego sum, qui sum, erklang seine Stimme erneut in meinem Kopf.
Häh? fragte ich in Gedanken zurück.
Du wirst schon noch dahinter kommen. Ich beeil mich.
Laut sagte er: »Danke, auf bald. Josh, dir danke ich auch.« Er verließ uns mit einem Kopfnicken.
Ego sum, qui sum, überlegte ich, was soll das denn heißen? Mein Latein war furchtbar eingerostet und ich fing an, die Wörter zu zerlegen, aber ich kam nicht drauf. Josh unterbrach mal wieder meine Gedankengänge.
»Also, wenn ich vorher gewusst hätte, dass sie Ansgar schicken, dann hätte ich mir keine Sorgen um dich gemacht, meine Süße.«
»Wieso?«, fragte ich misstrauisch und zog meine Augenbrauen zusammen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie noch einen Schlimmeren schicken könnten, oder dass es den überhaupt gab.
»Na, weil es Ansgar ist«, Josh blickte mich vorwurfsvoll an.
»Ansgar eben, das ist der, der sich um die Seele sorgt. Ich dachte, du hättest schon von ihm gehört.«
Ich überlegte: also von wegen, Ansgar heißt Speer Gottes, ich wusste doch, dass das nicht stimmt. In Wahrheit heißt es der sich um die Seele sorgt. So ein verlogener Mistkerl.
»Nein, Josh, ich habe noch nichts von ihm gehört. Du weißt doch, dass Frank mir nicht viel erzählt hat, vor allem nicht über den hohen Rat.« Da kam mir eine Idee.
»Hör mal, Josh, wenn du so gut Latein kannst, was heißt denn dann: Ego sum, qui sum?«, gespannt blickte ich ihn an. Josh runzelte die Stirn und dachte nach.
»Ich glaube es heißt so viel wie: ich bin der, der ich bin. Oder so ähnlich, nagele mich bitte nicht darauf fest. Wo hast du das denn gehört?« In meinem Kopf, dachte ich flüchtig, laut sagte ich: »Ist nicht so wichtig, ich wollte es nur gerne wissen. Was macht denn jetzt dieser Ansgar im hohen Rat genau? Und warum bist du so froh, dass sie ihn geschickt haben.«
»Kannst du ihn etwa nicht leiden?«
Ich dachte kurz an seine Lava-Augen und die blitzenden Zähne. »Doch, er ist schon okay.« Solange er aus meinem Schädel bleibt, setzte ich in Gedanken hinzu.
»Ansgar ist, wie der Name schon sagt, der, der sich um die Seele sorgt. Das heißt, er steht immer mehr auf der Seite der Angeklagten. Mit ihm hast du nichts zu befürchten, das kann nur gut ausgehen. Er wird dem hohen Rat deine Fassung der Geschichte mitteilen, sie werden seinen Worten Glauben schenken und dich in Zukunft wohl in Ruhe lassen.«
Josh beugte sich über den Tisch und legte seine Hand auf meine.
»Hey, meine Süße, das ist doch klasse, warum machst du nur so ein Gesicht?«
»Was ist mit meinem Blut? Wie will er dem Rat mitteilen, wie mein Blut beschaffen ist, ob es nun verseucht ist oder nicht? Ob ich eine Trägerin des bösen Blutes bin. Das wollten die doch wissen. Was meinst du, wie er zu dem Wissen kommt.« Ich war richtiggehend wütend. Nur meine Geschichte erzählen, sicher Josh, du weißt ja auch nicht, was ich die letzte Stunde mitgemacht habe. Du weißt ja auch nichts von meiner Angst.
Josh blickte an mir vorbei und bemerkte meine unterdrückte Wut nicht.
»Tja, das weiß ich auch nicht so genau. Die Methoden, die dem Rat zur Verfügung stehen, kennen meistens nur die Angeklagten selbst und die schweigen dazu.«
Ich kann mir auch denken warum, setzte ich in Gedanken hinzu, lehnte mich in meinem Stuhl weit zurück und blickte in den Sternenhimmel.
»Ach Josh, was habe ich nur verbrochen. Manchmal wünsche ich mir, wieder ein Mensch zu sein, dann hätte ich nicht solche Probleme am Hals.«
Am Hals, welche Ironie, dachte ich grimmig.
»Dann gäbe es andere Probleme. Natascha, das ist keine Lösung. Du musst aus dem, das dir zur Verfügung steht, immer das Beste machen.«
»Und was habe ich, das mir zur Verfügung steht, damit ich das Beste daraus machen kann?«
»Nun ja, in erster Linie hast du mal mich.«
Ich legte meinen Kopf wieder in den Nacken und betrachtete die Sterne.
»Ach, Josh, das hatten wir erst. Du weißt, dass ich mich auf keine Beziehung mehr einlassen werde. Ich scheue das Risiko und ich werde mich nicht mehr verlieben. Basta!«, ich sah Josh herausfordernd an.
»So meinte ich das ja auch gar nicht. Ich meinte als Freund, als Verbündeten. Jeanie steht auch hinter dir. Und das Beste kommt doch noch, du hast Ansgar. Da kann gar nichts mehr schief gehen.«
Ansgar, dachte ich wütend, derselbe Ansgar, der mich vor einer Stunde beinahe aufgefressen hat. Obwohl … Ein teuflischer Plan schoss durch mein Gehirn. Vielleicht konnte er mir doch helfen. Möglicherweise, wenn ich mutig genug war und wenn ich meine Gedanken im Zaum hielt. Und wenn er …seine Beherrschung bereit war, zu verlieren.
Dann könnte es klappen. Dann könnte ich für immer und ewig meine Gedanken verlieren. Was hatte ich schon Großartiges, an das es sich zu erinnern lohnte. Fast nur schmerzende, schlimme Gedanken. Ich wäre wie neugeboren, ich könnte neu anfangen. Ich musste mich nur zuerst vergewissern.
»Josh, hast du schon mal davon gehört, dass es Vampire gibt, die anderen Vampiren ein bisschen Blut aussaugen, ihnen Erinnerungen nehmen und dann ihre Gedanken lesen können?«, ich sah ihn gespannt an.
»Ja, die gibt’s wohl wirklich, ich habe davon gehört, aber noch keinen persönlich getroffen. Ich weiß auch nicht, ob ich das zulassen würde.« Er runzelte die Stirn.
»Wie ist denn das, wenn der eine Vampir den anderen komplett aussaugt, ich meine … sterben kann der ja wohl nicht daran, oder?«
Jetzt war mir ein bisschen mulmig zumute, ahnte Josh etwas?
»Nein, sterben kann er daran wohl nicht, aber … ich kann mir nicht vorstellen, dass es gut ist. Der Blutverlust würde den Vampir natürlich enorm schwächen, auch seine Erinnerungen, die wären mit dem Blut ja auch weg. Er wäre ein Nichts, wahrscheinlich zu blöd um sich neues Blut zu besorgen, dann würde er allerdings irgendwann sterben.«
Josh lachte leise vor sich hin.
»Aber das würde ja auch keiner tun. Weder einen bis zum Letzten aussaugen, noch das zulassen.« Er blickte mich neugierig an.
»Warum willst du das wissen? Wie kommst du drauf?«
Wie immer, wollte Josh alles ganz genau wissen. Das war der Preis für die Antwort.
»Ich …weiß nicht. Ich hab’s wohl irgendwo…«
In dem Moment ging die Tür auf und Ansgar stand wieder in Joshs kleinen Hinterhof. Er hatte mich gerettet, vor einer Antwort gerettet. Ich versuchte schnell an nichts zu denken, mein Kopf musste leer sein, damit meine Gedanken mich nicht verrieten.
»Ich hoffe, ich habe euch nicht zu lange warten lassen. Ich bin mir meiner Unhöflichkeit durchaus bewusst, aber es war sehr wichtig.«
»Schon gut, möchtet Ihr jetzt etwas zu trinken und Euch setzen?«, damit zeigte Josh auf den letzten freien Stuhl.
»Nochmals muss ich leider Euer großzügiges Angebot ablehnen. Aber ich möchte Natascha jetzt nach Hause bringen und mich dann ein wenig ausruhen.«
»Das war das Stichwort«, ich sah Josh mit hochgezogenen Brauen an und erhob mich aus dem Stuhl. Gemeinsam gingen wir zurück in den Laden. Josh küsste mich auf beide Wangen, das hatte er schon lange nicht mehr gemacht, ich war ganz verwundert. Ansgar und er reichten sich auch zum Abschied die Hände, genauso, wie zur Begrüßung. Diesmal verspürte ich keinen Lachanfall mehr, ich versuchte krampfhaft an nichts zu denken.
Wir standen auf dem Gehsteig und Ansgar hielt mir die Wagentür auf. »Danke«, murmelte ich und stieg ein. Wiederum umfing mich dieser köstliche Geruch, dieser satte, saubere Duft. Ich atmete tief ein.
Ansgar saß neben mir und startete den Motor, leise schnurrte das Kätzchen, dann fuhr er in meine Richtung, an den Stadtrand. Es wurde langsam hell, die Sonne ging gleich auf. Ich wusste nicht, womit ich dieses Stille, dieses Schweigen zwischen uns, durchbrechen sollte, ob ich es überhaupt sollte.
»Wo warst du denn eben?«, fragte ich irgendwann in die Stille hinein.
»Nicht so wichtig, nur irgendwo.« Er blickte weiter stur geradeaus, auf die immer heller werdende Straße.
Dann eben nicht, dachte ich, da schlug ich mir innerlich auch schon auf den Mund, er konnte doch meine Gedanken hören. Wie unvorsichtig ich war. Es kam keine gedachte Antwort von ihm. Vielleicht ging das ja auch nicht mehr, vielleicht war mein Blut ja weg.
»Kannst du jetzt nicht mehr meine Gedanken lesen?«
Er grinste mich an. »Wieso, hast du gerade an etwas Schönes gedacht?«
»Nein, ich …habe dir nur in Gedanken eine Antwort gegeben und habe eigentlich deine Stimme erwartet.«
Ich senkte den Blick, das war ja echt peinlich.
Schon bog er in meine Tiefgarage ein und hielt vor dem Aufzug an. Ich sah mich ein wenig erstaunt um.
»Kommst du nicht mit hoch? Ich dachte du wolltest dich ein wenig ausruhen, das kannst du auch oben bei mir machen.«
Ich versuchte verzweifelt meine Endtäuschung zu verbergen, schließlich hatte ich noch etwas vor.
»Ich dachte nicht, dass du das wolltest«, er sah mich mit seinen glühenden Augen an.
»Doch …doch, warum nicht. Immerhin hast du mir ein Angebot gemacht, das ich, nach reiflicher Überlegung, nicht abschlagen kann und auch nicht will.«
»Ganz wie du willst«, er fuhr seinen Bentley auf einen Besucherparkplatz und das schnurrende Kätzchen war stumm.
Nur das Ticken des Motors war zu hören, wir blieben sitzen. Ich war mir nicht sicher, ob ich Ansgar anschauen sollte, konnte er nun meine Gedanken lesen, oder nicht, er hatte mir noch keine Antwort darauf gegeben.
»Willst du nicht aussteigen?«, seine Stimme war leise und sanft.
»Ja«, kaum stand ich neben dem Bentley, war Ansgar auch schon neben mir.
»Darf ich bitten?«, damit hielt er mir seinen Arm hin. Ich musste lächeln, hakte mich aber bei ihm ein, so gingen wir langsam in Richtung Aufzüge.
Der Eingang zum Treppenhaus war zwar genau daneben, aber Ansgar steuerte unbeirrt auf die Aufzugtür zu.
Er stand davor und drückte den Knopf, grinsend sagte ich:
»Du willst dir das noch mal antun? Schon wieder Aufzug fahren?«
»Ich quäle mich eben sehr gerne«, ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Kopf hob, konnte ich das Feuer kurz auflodern sehen. Der rote Rand schien zu pulsieren, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sich ausdehnen sollte, das Feuer verschlang, oder ob er die Lava weiterhin zurückhielt.
Ich runzelte die Stirn, quälen, dachte ich verächtlich, Qualen sind dazu da, dass man sie beendet, nicht erträgt. Laut sagte ich:
»Das musst du doch nicht, wir können die Treppe gehen, kein Problem.« Ich wollte ihn am Arm zum Treppenhaus ziehen, aber es half nichts, er rührte sich nicht von der Stelle. Ich gab genervt auf. Er blickte mich an und legte seinen Arm um meine Schultern.
»Es ist schon in Ordnung, ich stelle nur meine Willenskraft auf die Probe«, er küsste mich aufs Haar.
Da fiel mir der Lateinische Spruch von eben wieder ein.
»Ego sum, qui sum, ich weiß jetzt, was das bedeutet: Ich bin der, der ich bin. Stimmt das so in etwa?« Er war noch in meine Haare vergraben und nickte nur brummend.
Endlich ging die Aufzugtür auf, wir stiegen ein. Er drückte das Stockwerk, dann drehte er sich zu mir um und nahm mich in seine kalten, steinharten Arme.
Der Geruch nach Nichts war überwältigend. Ich war es nicht gewohnt, als Vampir lebte man mit seinem Geruchssinn, wie ein Tier war man davon abhängig, aber ein Nichts zu riechen, das war wirklich seltsam. Ich überlegte kurz, ob ich mein Vorhaben aufgeben sollte. Hier entstand vielleicht gerade eine Situation, an die ich mich später gerne zurück erinnern würde. An seine Brust gelehnt seufzte ich kurz auf. Nein, dachte ich, ich werde es als Preis betrachten, als Preis für meine Erinnerungslosigkeit, für meine Leere.
Er legte seine Finger unter mein Kinn und drückte meinen Kopf hoch, damit ich ihn ansah. Und was ich da sah, verschlug mir die Sprache. Die rote Lava war zurückgekehrt, sie floss träge im Kreis, immer wieder loderte ein kleines Feuer mitten in der Lava auf. Sein Blick war hungrig, gierig und … allwissend.
Ich starrte ihn mit offenem Mund an.
Seine Stimme schien von überall her zukommen, nur nicht aus seinem Mund,
»Ego sum, qui sum, ich bin der, der ich bin. Aber ich bin nicht derjenige, der dir dein Leben nehmen wird. Ich weiß, was du vorhast, aber es wird nicht so geschehen.«
Verdammt, dachte ich, er hat mich durchschaut. Dann spürte ich seine eisigen Lippen auf meinen, er küsste mich, ganz selbstverständlich.
Ich zog vor Überraschung kurz meinen Atem ein und mit ihm seinen Geruch, plötzlich hatte er einen Geruch, ein Wohlgeruch, so köstlich, so überwältigend, tausendmal besser, als er seinem Wagen anhaftete.
Mein Blut geriet augenblicklich in Wallung, schlimmer noch, es kochte, es rauschte, beinahe war es schon schmerzhaft. Ich keuchte und schloss meine Lippen um seinen Mund, damit nur kein Duftmolekül daneben strömte, damit ich alles in mich einsaugen konnte.
Es war das Köstlichste und Beste, das ich je gerochen hatte, es war eine Erinnerung wert.
Hinter mir gingen, mit einem quietschenden Geräusch, die Aufzugtüren auf, dann explodierte die Welt um mich herum, mit einem lauten Knall.
Ich kann fliegen, dachte ich noch, dann prallte ich gegen die Wand im Aufzug. Etwas Schweres, Hartes traf mich am Rücken und presst mir jede noch in mir befindliche Atemluft aus den Lungen. Um mich herum war eine irre Hitze, alles schien zu brennen, selbst die Luft. Ein hohles Knarren und Krachen war zu hören, dann ein Geräusch, wie ein Peitschenschlag, und ein schnelles Surren, ich spürte, wie es abwärts ging. Die Lichter im Aufzug waren scheinbar ausgegangen, ich konnte nichts erkennen, bis mir auffiel, dass ich die Augen zukniff. Ich riss sie auf und sah, dass die Aufzugtür weg war, es war nur noch ein gähnendes Loch an ihrer Stelle, an der in rasender Geschwindigkeit die Stockwerke vorbeizischten. Ein hohes metallisches Geräusch erklang. Als mir schlagartig klar wurde, dass der Aufzug abgestürzte, schloss ich schnell wieder meine Augen und erwartete den Aufschlag. Keine Lidschlaglänge später, prallte der Aufzug ungebremst in der Tiefgarage auf. Es krachte fürchterlich, alles bebte und wackelte um mich herum, Staub flog durch die Luft, hüllte mich ein. Beton und Metallteile flogen um mich herum und landen genau vor meine Nase. Das schwere, harte Ding lag immer noch auf mir drauf, es umhüllte mich nicht komplett, meine Beine lagen noch frei. Ich spürte den Schmerz, als etwas meinen Unterschenkel durchschlug. Ich schrie kurz auf und das harte Ding um mich herum, zog sich noch fester zusammen, erdrückte mich fast. Der Schmerz, in meinem Bein, schoss durch meinen Körper, strahlte bis in meinem Kopf und ließ vor meinen geschlossenen Augen kleine bunte Kreise explodieren. Plötzlich war es um mich herum still, nur noch ein leichtes, metallisches Kratzen war zu hören.
Ich biss die Zähne aufeinander, der Schmerz in meinem Bein war mörderisch.
Es wird alles wieder gut, ich verspreche es dir.
Ich riss meine Augen wieder auf. Ansgar, dachte ich in die Stille hinein. Die Schmerzen wurden augenblicklich zu einem entfernten Pochen. Ansgar, wo bist du? Ich versuchte die Umgebung zu erkennen, aber vor lauter Staub und Rauch war kaum etwas zu sehen.
Ich bin direkt vor dir. Ein leises Lachen ertönte. Ich blickte geradeaus und tatsächlich sah ich sein Gesicht, kaum fünf Zentimeter von meinem entfernt.
Er war das Ding, das mich umklammert hatte. Er hatte auch die Teile des Aufzugswracks von mir abgehalten. Der ganze zertrümmerte Fahrstuhlschacht dürfte jetzt wohl auf seinem Rücken lasten. Mit seinem Körper hatte er einen schützenden Wall aus Stein um mich herum und über mir gebaut, damit mir nicht so viel geschah.
»Danke schön«, flüsterte ich und dachte: Du hast mir mein Leben gerettet, Ansgar. Danke.
Verzeih mir, Natascha, ich hätte das alles voraus sehen müssen, ich hätte sie zumindest riechen müssen, seine Stimme in meinem Kopf klang traurig und ein bisschen verzweifelt. Es tut mir entsetzlich leid, ich war… abgelenkt, mit meinen Gedanken und Instinkten woanders, das wird nie wieder vorkommen. Ich verspreche es dir, nie wieder.
Ich blickte ihn an, sah in seine braunen Augen, wo die Lava träge und langsam im Kreis floss, dort, wo das Feuer in seinen Pupillen loderte.
»Schade«, murmelte ich. Langsam überzog ein Lächeln sein ganzes Gesicht. Das Feuer war kurz verschwunden, dann loderte es abermals auf.
»Wir müssen jetzt erst mal hier raus. Ich mache dir Platz und du versuchst unter dem Schutt hervor zu kriechen. Der Ausgang ist hinter uns, die Türen sind weg, also kommst du wohl irgendwie raus.« Er stemmte sich hoch und Schutt prasselte um mich herum zu Boden. Metallisches Knirschen und Quietschen war zu hören, dann war mein Körper wieder frei. Ich versuchte mein verletztes Bein unter Ansgar hervor zu ziehen, es schmerzte. Ich drehte mich um, kroch und krabbelte über den Schutthaufen in Richtung Ausgang. Durch eine schmale Lücke fiel das Neonlicht aus der Tiefgarage, ich zwängte mich durch und hüpfte auf einem Bein ein paar Schritte, bevor ich wieder zu Boden gerissen wurde. Mit einem Rums, fiel der Aufzugsschacht erneut in sich zusammen. Staub und Dreck wirbelte auf und hüllte alles ein. Ansgar hatte den Schuttberg angehoben und schneller als dieser wieder in sich zusammenfallen konnte, war er durch die Lücke nach draußen gerannt und hatte mich mit umgerissen.
Ich spürte, wie ich vom Boden abhob und erneut durch die Luft flog. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass Ansgar mich trug, er schleppte mich zu seinem Auto. Wie ein Bündel warf er mich auf den Beifahrersitz, war fast im selben Augenblick neben mir und startete schon den Bentley. Mit einer irren Geschwindigkeit raste er aus der Tiefgarage heraus und über die Straßen.
Ich betrachtete mein Bein, im Unterschenkel war ein Loch, ich konnte hindurch gucken und sah dahinter das Muster vom Teppich, der im Fußraum lag. Fast mochte ich meinen Finger hindurch stecken, nur um zu sehen, ob es auch die Wirklichkeit war, oder ob ich das nur wieder fantasiere. Schon streckte ich meine Hand aus.
»Lass es, es wird gleich wieder verheilt sein«, seine Stimme klang laut in der Stille des Wagens. Ich schreckte ein bisschen zusammen und sah ihn an. Sein ganzer Anzug war hellgrau, vor Betonstaub, das Jackett teilweise zerrissen und alles war besprenkelt mit Blutstropfen. Er blickte stur geradeaus, da bemerkte ich die tiefe Wunde, an seiner rechten Halsseite. Erschrocken streckte ich meine Hand danach aus.
»Du bist verletzt, du hättest beinahe…« Deinen Kopf verloren, dachte ich den Satz zu Ende.
Ja, ich weiß, es ist aber nicht passiert, erklang seine Stimme in meinem Kopf. Ich ließ mich wieder in den Sitz fallen. Wohin fahren wir jetzt? Fragte ich in Gedanken. Es war angenehm, nicht reden zu müssen, man konnte sich daran gewöhnen.
Ich bringe dich zu Josh, da bist du erst mal in Sicherheit. Er kann dich verarzten und eine Runde duschen könnte uns auch nicht schaden, außerdem hat Josh bestimmt ein paar Klamotten für uns übrig. Er machte eine kurze Pause. Dann werden wir weitersehen, er presste die Lippen zusammen und starrte auf die Straße.
Wer war das? Wie ist das passiert? Du hast eben noch gesagt, du hättest sie riechen müssen? In Gedanken bombardierte ich ihn mit meinen Fragen, ich bekam aber keine Antworten.
In meinem Kopf trat Stille ein, ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Sie fehlte mir, seine tröstliche Stimme. Seufzend presste ich mich in die Polster und atmete den köstlichen Geruch ein. Den Geruch, der Ähnlichkeit mit seinem hatte, eben als er mich im Aufzug küsste.
Wir schossen durch Joshs Eingangstür und das arme Glöckchen klingelte heiser und fast panisch über uns. Ansgar hatte seine Arme um mich gelegt und hielt mich an seine Seite gepresst, sodass meine Füße den Boden nicht berührten. Wir waren so schnell, das Josh unser Kommen nicht bemerkte.
Erst als wir durch die Tür fast in seinen Laden fielen, ruckte sein Kopf hoch. Seine Augen wurden größer, als er uns erblickte. »Was ist denn mit euch passiert?«, fragt er verwundert und kam auf uns zu.
»Später«, brummte Ansgar, »kümmert Euch erst mal um das hier«, dabei zeigte er auf mein Bein. Joshs Augen wurden noch größer und er nahm mich Ansgar ab. Ich legte meinen Arm um seine Schultern und bewegte mich hüpfend, auf einem Bein, zu seiner Theke. Dort hob er mich an den Hüften hoch und setzte mich auf die Glasplatte.
Ansgar ging zu Joshs Kühlschrank und nahm sich drei Dosen, stellte drei Gläser vor sich und schüttete das Blut hinein. Als er es in der Mikrowelle erwärmte, stützte er seine Hände auf die Kante der Tischplatte und senkte den Kopf zwischen die ausgestreckten Arme.
Ein tiefes Schnaufen war zu hören, dann ein Knurren, dunkel und bedrohlich, mir lief es kalt den Rücken herunter. Ich blickte Josh an, der noch mit meinem Bein beschäftigt war, doch ich sah nur, wie er die Augenbrauen zusammenschob und leicht den Kopf hin und her bewegte. Lieber jetzt nichts sagen, hieß das wohl.
»A-a-ah, verdammt, das tut weh«, kreischte ich, Josh hielt ein etwa drei Zentimeter langes Metallrohr hoch. Er hatte es aus dem Loch in meinem Unterschenkel gezogen.
Ich sah noch, wie sich die Tür zum Hinterhof schloss, Ansgar war weg.
»Er gibt sich die Schuld dafür«, sagte Josh heiser und verbindend mein Bein mit einem Mullverband.
»Warum nur?«, ich verstand es nicht, »er kann doch nichts dafür.«
»In seinen Augen wohl schon, er hat sich nicht genug um dich gesorgt, nicht genug aufgepasst. Ich weiß es auch nicht genau, die alten Vampire sind sehr schwer zu durchschauen. Sie haben schon zu viel mitgemacht, so viel gesehen und erlebt, das hat sie verändert. Sie sind nicht mehr so wie wir, sie sind anders.« Josh erhob sich und betrachtete mein Bein mit dem weißen Verband.
»Das müsste fürs Erste langen, jetzt trinkst du mal was Anständiges und in ein paar Minuten ist es schon verheilt. Dann kannst du duschen gehen, wenn du willst, im Keller ist eine, neue Klamotten habe ich bestimmt auch noch für dich.«
»Was ist mit Ansgar?«, fragte ich vorsichtig.
»Der wird sich schon wieder beruhigen, lass ihm nur etwas Zeit. Ich gehe in den Keller und suche was zum Anziehen für dich raus, bin gleich wieder da.«
»Okay, danke schön Josh. Das ist ein guter Verband«, ich grinste ihn an, er zuckte mit den Schultern.
»Dann waren die vergangenen Kriege doch zu was nütze«, er lachte leise und ging in den Keller.
Ich hüpfte von der Theke und stellte mich probehalber auf mein Bein, es ging, bald konnte ich wieder normal gehen.
Ich nahm zwei Gläser aus der Mikrowelle und humpelte in Richtung Hintertür. Durch den Glasausschnitt konnte ich Ansgar im Stuhl sitzen sehen, er hatte die Hände vor sein Gesicht geschlagen und die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Ich mochte ihm meine Gedanken schicken, ihn trösten, irgendetwas sagen, aber ich wusste nicht, ob das funktionierte, er sagte doch, er musste mich sehen dafür.
Lass mich bitte allein, es ging also auch so.
Nein, dachte ich, es ist nicht deine Schuld, wer immer das war, hat umsichtig gehandelt, wer hätte das denn ahnen können?
Ansgar schob zwei Finger auseinander und linste mit einem Auge durch die Lücke.
Über tausend Jahre Vampirdasein und ich vernachlässige meine Instinkte, werfe meine Beherrschung über Bord, breche meinen Kodex und alles, an das ich glaube, wegen ein paar Sekunden mit einer kleinen Schwarzhaarigen. Wer, glaubst du, ist wohl an dem Chaos schuld. Sein Auge glühte zwischen den Fingern hindurch.
Na, die kleine Schwarzhaarige, natürlich, sagte ich ihm in Gedanken. Er atmete prustend aus, nahm die Hände vom Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann ließ er ihn auf die Arme sinken. Ich hatte genug und stieß die Tür auf, setzte mich ihm gegenüber und schob das volle Glas zu ihm hin.
»Trink was, dann geht’s dir gleich besser.«
»Hm-m«, ich sah seine Nasenflügel beben, mit einer viel zu schnellen Bewegung hielt er sich das Glas unter die Nase und atmete tief ein. Dann trank er es in zwei langen Schlucken leer und stellte es geräuschvoll zurück auf den Tisch.
»Und, besser?«, fragte ich interessiert.
»Nein«, er schluckte kurz und starrte vor sich hin, »ich werde den hohen Rat bitten, jemand anderen zu dir zu schicken. Ich kann dich nicht beschützen, ich kann mich in deiner Nähe nicht konzentrieren, ich bin immer abgelenkt, du lenkst mich ab.«
Er sah mich an und der feine rote Rand schien sich wieder auszudehnen, er wollte das Feuer verdrängen, wollte alles beherrschen.
»Keine Angst, ich werde dem Anderen meinen Wissensstand mitteilen, es besteht keine Notwendigkeit, dass du nochmals …gebissen wirst.« Er stand auf.
Mistkerl, schickte ich ihm in Gedanken.
Ego sum, qui sum, erklang es in meinem Kopf, dann war er weg.
Ich hörte ihn im Laden mit Josh sprechen, ich konnte mich nicht bewegen, ich wollte nur noch hier sitzen und gar nichts mehr tun. Nach einiger Zeit schloss ich meine Augen, ich überlegte, ob ich mich in die rote Wolke meiner Erinnerung flüchten sollte, entschied mich aber dagegen, zu viel Schmerzhaftes erwartete mich dort.
Als ich nach, mir erschien es wie Stunden, meine Augen wieder öffnete, sah ich das grinsende Gesicht von Josh vor mir.
»Wie schaffst du das nur immer wieder?«, fragte er leise.
»Wie schaffe ich was?«, ich blickte wohl eher verständnislos.
»Da kommt ein tausend Jahre alter Vampir daher, der schon so ziemlich alles gesehen, geschmeckt und gerochen hat, und Zack…«, Josh schnippte kurz mit den Fingern, »hast du ihn eingelullt, er vergisst alles und ist total verknallt in dich.«
Josh schüttelte den Kopf, »wie machst du das bloß?«
»Glaub es mir, nicht absichtlich.«
Aber jetzt war er weg und ich wusste nicht, wen sie als nächstes schicken werden. Falls ich bis dahin überhaupt noch auf dieser Erde wandelte. Ohne Ansgar wäre ich heute zu einem Häufchen Asche geworden, wer weiß, was die sich als nächstes ausdenken.
»Josh, weißt du wer das heute war? Hat Ansgar irgendetwas zu dir gesagt?«
»Er brauchte mir nichts zu sagen, ich weiß auch so, wer dafür verantwortlich ist. Das waren Justin und Dennis.«
Ganz plötzlich sah ich wieder braune Augen vor mir, die sich langsam in Raubtieraugen verwandelten und blitzende Zähne.
»Die Beiden habe eine Gruppe Vampire um sich versammelt und nichts Gutes im Sinn. Sie nennen sich die Vernichter und ziehen mordend durch die Stadt. Aus meinen Quellen habe ich erfahren, dass ihr eigentliches Ziel der hohe Rat ist, sie wollen den Rat stürzen um wieder ein Leben ohne Regeln und ohne den Packt zu haben. Die Obrigkeit sucht natürlich fieberhaft nach ihnen. Die Vernichter haben schon viele Anhänger, alles böse und niederträchtige Vampire. Der Anschlag heute aber war wohl nur eine ganz persönliche Rache, ich schätze von Justin selbst.«
»Was habe ich dem schon entgegenzusetzen«, murmelte ich und wickelte mir den Verband langsam ab.
»Zurzeit nichts, da gebe ich dir recht, aber du bleibst erst einmal bei mir, hier kann dir so schnell nichts passieren.«
Ich betrachtete mein Bein, die Wunde war vollständig verheilt.
Ich stand auf. »Kann ich jetzt duschen gehen?«
»Ja, ich hab dir Klamotten hingelegt, vielleicht passen sie ja.«
»Danke«, murmelte ich und verschwand unter die heiße Dusche.
Während das Wasser auf mich niederprasselte dachte ich nach. Wenn ich hier bliebe, brachte ich Josh in Gefahr. Das ging nicht.
Ich konnte nirgendwo hin, meine Wohnung war ein einziger Trümmerhaufen, außerdem würde die Polizei dort sein, das konnte ich gar nicht gebrauchen. Zu sonst jemanden kam nicht in Frage, ich zog eine Todesfahne hinter mir her, jeder, der mit mir in Berührung kam war akut gefährdet.
Ich hatte nur eine Chance, ich stellte mich dem hohen Rat, erzählte, was ich über Justin und Dennis wusste, sie konnten mich vielleicht als Köder benutzen, so kamen sie an die Beiden besser heran.
Nicht nur Justin wollte mich tot sehen, Dennis war auch ganz scharf darauf. Er würde es sich sicher nicht entgehen lassen, wenn er mich auf einem Tablett serviert bekam.
Ich drehte die Dusche ab.
Das heiße Wasser konnte meine innere Kälte nicht erwärmen, ich befürchtete, dass gar nichts mehr das vermag.
Mein Entschluss war gefasst, ich musste zum hohen Rat. Langsam zog ich mich an und überlegte, wo ich den bloß finden konnte. Aber da fiel mir jemand ein, der das genau wusste: Jeanie.
Sie arbeitete für die Obrigkeit und hatte Kenntnis davon, wo der hohe Rat zu finden war. Ich konnte nur nicht zu ihr hin. Aber telefonieren konnte ich noch. Schnell angelte ich mein Handy aus der Hosentasche und klappte es auf.
Sie stand in meinem Telefonbuch und ich wählte sie an.
»Ja«, sie klang wie ich, wenn ich an mein Telefon ging, äußerst misstrauisch.
»Eh, hi, Jeanie, hier ist Natascha. Ich wollte dich gerne was fragen…«
Ich stockte kurz und überlegte, wie ich meine Frage formulieren sollte, möglichst auch noch so, dass sie nicht sofort alles Josh weitererzählte.
»Oh, hallo Natascha«, sagte sie gerade.
»Weißt du wo ich den hohen Rat finden kann?« Ich kniff die Augen zusammen, wie blöd war das denn? Noch direkter ging es schon gar nicht mehr.
»Ja, klar, die hohen Mitglieder des Rates halten jeden Donnerstagabend um acht Uhr eine Versammlung ab, im Keller, unter dem Rathaus, in der Innenstadt, kennst du das?«
»Ja, das kenne ich.«
Ein unterirdisches Gewölbe, mit schier endlos langen Gängen, in dem sich sogar eine riesige Halle befinden sollte, so die Erzählungen. Ich kannte den Eingang, den hatte Frank mir vor Jahren mal gezeigt. Sollte er nicht gewusst haben, dass dort der hohe Rat tagt?
»Danke Jeanie, du hast mir sehr geholfen.«
»Keine Ursache«, gab sie munter zurück. Wie praktisch, sie stellte keine lästigen Fragen, wie Josh es jetzt getan hätte, wie überaus praktisch. Trotzdem musste ich noch etwas hinzu fügen: »Und Jeanie, kein Wort zu irgendjemandem, ja?«
»Nein, mein Mund ist versiegelt«, sie lachte kurz, »Bis bald.« Es klickte, sie hatte aufgelegt.
Hoffentlich erzählte sie wirklich nichts weiter, ich verdrehte die Augen zur Decke. Das Risiko musste ich eingehen. Ich blickte auf mein Handy um die Uhrzeit abzulesen, noch drei Stunden Zeit, denn wie es der Zufall wollte, war heute Donnerstag. Also funktionierte das Ganze ohne Zeitverzögerung. Jetzt musste ich mich nur noch an Josh vorbei schleichen und irgendwie hier raus kommen.
Ich wusste nur noch nicht wie.
Da klopfte es an die Tür, ich zuckte zusammen.
»Natascha?«, rief Josh durch die geschlossene Tür.
»Ja?«
»Ich habe ganz vergessen, ich muss heute Abend noch mal weg. Kannst du ein paar Stunden alleine auf dich aufpassen?«
»Ja, klar, kein Problem, schließt du den Laden ab?«
»Ich habe schon ein Schild raus gehangen, komme um 21 Uhr wieder. Also mach dir keine Sorgen, du musst keine Kundschaft bedienen.«
Darum ging es mir gar nicht, aber das der Laden offen bliebe, wenn ich mich auch davon stahl, das wäre mir nicht recht gewesen.
»Prima«, gab ich zur Antwort.
»Kann ich dich noch mal umarmen und mich verabschieden von dir?« Ich biss die Zähne zusammen und blickte an mir runter, ich war komplett angezogen.
»Tut mir leid, Josh, ich bin noch nackt und nass.«
Meine Lüge brannte mir in der Seele, man lügt keine Freunde an, ich schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken.
»In Ordnung, dann aber später, ich muss jetzt los. Mach dir einen gemütlichen Abend, genug Konserven sind noch im Kühlschrank. Auf bald.«
»Ja, bis später dann«, meine Stimme klang gequält und ich hoffte inständig, dass Josh es nicht hörte.
Seine Schritte entfernten sich.
Ich blickte in den Spiegel über dem Waschbecken, er war völlig beschlagen.
Ich hob meine Hand und wischte einen kleinen Bereich frei, genug um mir selber in die Augen zu blicken. Was ich sah, ließ meine Hand in der Bewegung erstarren und mich packte das nackte Entsetzen.
Meine Augen brannten, sie standen in Flammen, das war mein erster Gedanke. Schnell kniff ich sie ein paar Mal zu, keine Schmerzen, also kein echtes Feuer. Langsam und vorsichtig öffnete ich sie wieder und blickte mich erneut im Spiegel an.
Wo mal meine Iris war, befand sich jetzt ein Feuerstrudel, ein brennender Strudel aus Feuer. Das harmlose, nette Braun mit den goldenen Flitterstücken war verschwunden. Tief in dem Feuer, sozusagen im Kern des Strudels, sah man ganz klein die Pupillen, sie waren leuchtend rot. Das Feuer drehte sich immer wieder um die eigene Achse, ich starrte fasziniert darauf.
Das gab es doch nicht, ich schüttelte meinen Kopf. Bei Vampiren kannte ich nur gelbe Raubtieraugen, mit schmalen länglichen Schlitzen als Pupillen.
Gut, bei Ansgar nicht, ich sah seine roten Augen vor mir, in denen die rote Lava heiß und glühend vor sich hin floss, aber das war was anderes, er war eben anders, viel älter und er gehörte dem hohen Rat an, die waren wohl alle anders als wir.
Wie kam ich nur zu diesen feurigen Augen und welchen Sinn hatten sie?
Ich hatte genug und wendete mich ab. Dann musste ich eben mit Feuerbällen herumlaufen, den hohen Rat würde es schon nicht stören, die sahen bestimmt alle merkwürdig aus.
Ich ging aus dem Keller in Joshs Laden. Düster war es, er hatte die Lichter ausgeschaltet. Ich ging zu seiner Hintertür und überlegte einen kurzen Augenblick, was ich denn machte, wenn er die Tür auch abgeschlossen hatte, ein Fenster zertrümmern? Aber die Hintertür war offen, ich ging raus und verschloss die Tür hinter mir.
Ich machte mich auf den Weg, weit war es zum Glück nicht.
Unterwegs ließ ich mir durch den Kopf gehen, was ich alles über den hohen Rat wusste, es war wirklich sehr wenig.
Ich wusste, dass der hohe Rat aus acht Mitgliedern bestand vier Männer und vier Frauen, sie bildeten sozusagen den Kopf, dann kamen die Vertrauten und Abgesandten, wozu wohl auch Ansgar zählte. Was blieb, war eigentlich nur noch das Fußvolk, sprich der Rest der Vampire, also mich eingeschlossen.
Die Mitglieder des hohen Rates waren allesamt alt, nicht bloß dreihundert, vierhundert Jahre, sondern irre alt. Eintausend Jahre und mehr. Den höchsten und mächtigsten der acht nannte man Alarich das bedeutete: über alles mächtig. Dann kam Falk, er repräsentierte Stärke und Klugheit. Ihm folgte Conrad, der Kühne im Rat, zuletzt war da noch Oberon, das bedeutete Herrscher überirdischer Wesen.
Bei den Frauen war Sarah, die Fürstin, mit Alarich gleichgestellt, neben ihr Lea, die Löwenstarke, Eleonore, die Barmherzige und Asta, die Auferstandene.
Eine schöne Bande von Vampiren, die mir wahrscheinlich sehr wenig Verständnis entgegen brachten. Ob Ansgar ihnen meine Vergangenheit schon berichtet hatte?
Was tat ich eigentlich? Ich begab mich zu den Löwen, um mich von ihnen, den Tigern zum Fraße vorwerfen zu lassen. Würde mein Plan auch aufgehen? Werden sie Justin und Dennis fassen können, mit mir als Köder?
Wollte ich das eigentlich auch? Ich stutzte kurz, wie war das? Ob ich das auch wollte? Natürlich wollte ich, dass die Beiden gefasst wurden, immerhin wollten die mich umbringen. Außerdem ermordeten sie Unschuldige und hatten es auf den hohen Rat abgesehen, somit auch auf Ansgar.
Es war, als wären in meinem Kopf zwei Stimmen vor mir zu hören, eine die Justin bluten, die Dennis am Boden sehen wollte und eine, die sich lieber von Justin töten lassen würde, als selbst einzugreifen. Die immer noch das Gute in ihm sah und nicht das mordende Monster.
Eine völlig Verrückte.
Ich war innerlich hin und her gerissen, ich konnte mich nicht konzentrieren. Für eine Jagd hatte ich aber keine Zeit. Außerdem hatte ich heute schon so viel Blut getrunken, wie schon lange nicht mehr.
Ich musste in mich gehen, mich sammeln. Mir fiel auch sofort ein, wo ich hin könnte, es war nicht weit.
Ich blickte mich rasch um, ob mich jemand beobachtete. Dann rannte ich los, in Richtung Stadtmauer, auf die hohen Zinnen. Da wollte ich hinauf und den Nachtwind um mich wehen lassen. Da oben konnte ich wieder klar denken und würde den für mich richtigen Weg gleich wissen.
Nach der Sache im letzten Sommer, war ich oft hier oben. Hielt Ausschau nach meinem nächsten Opfer und dachte nach. Nur über die Vergangenheit, die Zukunft interessierte mich nicht sonderlich.
Ich existierte, tötete, trank Blut und irgendwann würde ich sterben, so sah meine Zukunft für mich aus.
Und wie sah sie jetzt aus?
Ich stellte meine Füße eng nebeneinander auf das bröckelige Gestein der alten Mauer, breitete meine Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Der Wind pfiff um mich herum und versuchte mich von den Zinnen zu stoßen. Er zerrte an meinen Sachen und wehte über meine kalte Haut.
Langsam tauchte ich ein, in mein Innerstes und vergaß alles um mich herum.
Wie immer kamen erst die Bilder, hunderte von Bildern. Von Dennis, als er noch ein kleiner Junge war und ich noch ein Mensch.
Von Justin, als Franks Halbblut, das Bild, wie er in seinem Badezimmer blutend vor mir lag. Dann immer wieder, in Einzelbildern, wie ich ihn in einen Vampir verwandelte, ihn zum Monster machte. Die nächsten Bilder von Justin zeigten nur noch seine Augen, braune, schöne und böse Raubtieraugen. Im Hintergrund hörte ich andauernd das Geräusch, das entstand, als er mir mit einer raschen Bewegung das Genick brach und ich sah seine Gestalt, die mich im Staub achtlos liegen ließ und von mir weg ging.
Ich erhielt keine eindeutige Antwort, aus meinem Innersten, nur zwei Stimmen, die sich um eine Antwort stritten. Die völlig verrückte Stimme, die in Justin noch den lieben Kerl sah und die, die ihn lieber tot als alles andere haben wollte.
Ich gab es auf und sprang von den Zinnen. Ich konnte keine Entscheidung treffen, heute noch nicht.
Aber ich war dennoch bereit für den hohen Rat, ich würde mich ihnen als Köder zu Verfügung stellen, dann sah ich weiter.
Ich war mit einem Mal vor dem großen Rathaus, ging um die Ecke, hinter das Haus und stand vor einer Tür, es war offen, die Klinke ließ sich leicht herunter drücken. Ich holte tief Luft und ließ die Tür aufschwingen. Dann ging ich hinein.
Ich musste einen dunklen, engen Flur entlang und stieß abermals auf eine Tür, sie war aus Holz und wirkte alt und verwittert.
Kein Türgriff zu sehen, nur ein großer Ring in der Mitte. Auch sie stieß ich auf.
Sie quietschte ein bisschen, ganz so, wie man das aus Horrorfilmen kannte. Ich musste grinsen, tolle Tricks haben die hier, dachte ich, mal sehen, was als Nächstes kam.
Vor mir führte eine schmale Treppe in die dunkle Tiefe, sie bestand aus sehr alten Steinen, die bereits sehr abgetreten waren. Ich ging sie herunter, langsam, ich hatte einen Kloß im Hals und fühlte Angst in mir aufsteigen.
Als ich endlich nach, mindestens hundert Stufen, unten ankam, stand ich in einer kleinen Halle, die Decke von Säulen getragen. Die Wände der Halle reich mit Mosaik verziert. An ihrem Ende sah ich eine hölzerne Doppeltür und davor standen zwei Burschen. Sie blickten mich entgeistert an. Ich ging auf sie zu, immer düsterer zogen sich ihre Brauen zusammen, je näher ich kam.
Zwei Meter vor ihnen hielt ich an, sie hatten tatsächlich Schwerter in ihren Händen. Ich sah mir die Vampire genauer an, sie wirkten zwar nicht, als konnten sie mit ihren Waffen auch umgehen, aber man wusste ja nie, darum blieb ich freundlich.
»Guten Abend, die Herren«, ich schenkte ihnen einen verführerischen Augenaufschlag, »wärt ihr bitte so freundlich und meldet mich dem hohen Rat? Ich habe eine Aussage, vielmehr einen Vorschlag zu machen, der von äußerster Wichtigkeit ist.«
Die Zwei tauschten einen verwunderten Blick aus.
»Kommt mit«, sagte einer von ihnen, wahrscheinlich der Wortführer.
Sie zogen die Doppeltür auf und ich stand in einem kleinen Vorraum mit Stühlen. Auch hier wurde die Decke von Säulen gestützt und alles war ebenso mit Mosaik verziert. Durch die Säulen hindurch, konnte ich in eine riesige Halle sehen.
Auf der linken Seite stand ein großes Podest, es war stufenförmig angeordnet und der hohe Rat saß dort, nach Rang und Stellung geordnet. Alle trugen einen braunen Umhang, ähnlich einer Ordenstracht.
Auf der rechten Seite waren, wie in einem Stadion, Sitzreihen aufgestellt. Nach hinten immer höher werdend und halb rund.
Auf ihnen saßen Vampire, jede Menge Vampire. Ein paar Gesichter kamen mir bekannt vor, aber die meisten kannte ich nicht.
Der Wächter deutete mir an, hier zu warten, er ging hinter das Podium und stieg eine Treppe hoch, zum obersten Ratsmitglied, ich dachte, das war Alarich.
Ich besah mir die anderen, die auf dem Podium saßen.
Plötzlich bemerkte ich jemanden, der daneben stand. Er hatte die Beine leicht gespreizt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und blickte stur geradeaus. Er trug eine weiße Tunika und weiße Hosen.
Ansgar, dachte ich und hoffte, dass er mich nicht hören konnte. Ich sah, wie sich sein Körper straffte, er blickte vor sich auf den Boden.
Natascha? Bist du das? Seine Stimme in meinem Kopf klang erstaunt und ich glaubte auch, ein bisschen erfreut. Aber sofort schlug die Stimmung um und er wurde wütend.
Was machst du hier? Josh wusste nicht, das du kommen würdest …
Inzwischen hatte der Wächter, Alarich erreicht und ihm meine Bitte vorgetragen. Alarich teilte es den Anderen mit und ein Stimmgemurmel entstand auf dem Podium.
»ANSGAR!« Die Stimme von Alarich durchschnitt die Luft und unterbrach Ansgars Stimme in meinem Kopf.
Er drehte sich um und ging zu seinem Obersten, ebenfalls die Treppe hinter dem Podium hoch. Er beugte sich zu ihm und Alarich flüsterte in sein Ohr.
Ich konnte nichts von der Unterhaltung verstehen, so betrachtete ich nur Ansgars Züge und wie sie sich in Sekundenbruchteilen veränderten. Mal zogen sich seine Augenbrauen düster zusammen, dann schüttelte er schnell mit dem Kopf, schlug die Augen nieder, nickte. Nur das letzte Wort konnte ich verstehen, vielmehr von seinen Lippen ablesen: Ja, Herr.
Ansgar ging langsam die Treppe wieder herunter und kam in meine Richtung. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und blickte mit leicht gesenktem Kopf, düster an mir vorbei, in seinen Augen konnte ich eine wahre Feuersbrunst erkennen.
Als er bei mir war, packte er mich am Arm und zog mich zurück, durch die Doppeltür und in die kleine Halle.
Dort schleuderte er mich unsanft gegen die Wand.
»Was zum Teufel machst du hier? Du weißt genau, dass der Rat noch hinter dir her ist, egal was ich denen erzählt habe. Also, was tust du hier.« Ich stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt und starrte zu Boden. Ich wusste nicht genau, was ich ihm sagen sollte.
»ANTWORTE!«, brüllte er. Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren und prallte hundertfach von den Wänden und der Decke in der kleinen Halle ab. Fast erwartete ich, dass die Säulen umstürzten und alles in sich zusammen krachte.
Ich blickte ihn an und sah, wie er zurück zuckte. Sofort war seine Stimme in meinem Kopf, sie klang sanft und besorgt:
Was ist mit deinen Augen geschehen? Was hast du gemacht?
Ich habe geduscht und dann sahen sie so aus, dachte ich kurz. Laut sagte ich: »Ich weiß es nicht, Ansgar. Sie sahen einfach plötzlich … so aus.«
»Das sind die Augen der desperatio, der Verzweiflung. Wusstest du das?«, sagte er leise.
»Nein.« Verzweiflung, dachte ich, ich bin doch gar nicht verzweifelt. Vielleicht eher Zweigespalten. Flüchtig dachte ich an die unterschiedlichen Stimmen in mir, die sich nicht einigen konnten. Scheinbar nicht flüchtig genug, ich hatte wieder einmal die Tatsache vergessen, dass Ansgar meine Gedanken liest.
Das ist nicht dein Ernst. Es klang fassungslos, dann drehte er sich um und ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen durch die kleine Halle. Den Kopf hielt er gesenkt, die Augen geschlossen. Seine Lippen bewegten sich, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Ich starrte ihn nur an und wusste weder, was ich sagen, noch was ich denken sollte.
Ganz plötzlich war er bei mir und drückte mich mit seinem Körper gegen die Wand. Er sah mich an, das Feuer in seinen Augen loderte, flackerte immer wieder auf, der rote, feine Rand um die Iris pulsierte, als konnte er sich nicht entscheiden.
»Ich kann dir nicht mehr helfen, Natascha«, flüsterte er,
Du musst tun, was du tun musst.
»Ich kann dich nicht zurückhalten«,
Ich habe keine Macht über dich.
»Ich habe versagt.«
Der schnelle Wechsel zwischen seinen gesprochenen Worten und seiner Stimme in meinem Kopf machten mich nervös.
Ich habe verloren, alles verloren.
»Nein«, schnell legte ich ihm meine Finger über den Mund und hoffte, damit auch die Stimme in meinem Kopf zu stoppen.
»Du hast nichts verloren, alles ist noch da. Du hast auch nicht versagt, du hast dein Bestes getan.«
Du bist der, der du bist, schon vergessen? Schickte ich ihm in Gedanken nach. Er lächelte ein bisschen und das Feuer der Pupillen war kurz verschwunden. Er umarmte mich mit seinen kalten Armen und drückte mich an sich. Auch ich schlang meine Arme um ihn.
»Natascha, warum bist du so verzweifelt, das sogar das Feuer der desperatio in dir brennt?«
»Ich weiß es nicht«, ich wusste es wirklich nicht, nicht bewusst, ich ahnte etwas, aber genau wusste ich es nicht.
»Du lässt mir keine andere Wahl.« Seine Stimme klang verzweifelt, und bevor ich noch reagieren konnte, schlug er mir seine Zähne in den Hals.
Ich zuckte zusammen und stöhnte auf. Da war es wieder, dieses Gefühl, wenn er mein Blut saugte, das mich fast an den Rand des Wahnsinns trieb.
Die Zeit dehnte sich aus, ich sah Feuer vor meinen Augen, alles verzehrendes Feuer. Als Ansgar von mir abließ und die Wunden verschloss, ging das Feuer langsam aus, es brannte nieder.
Ich zwinkerte ein paar Mal, dabei rutschte ich langsam an der Wand nach unten, bis ich auf dem Boden saß. Ansgar hatte mich losgelassen und war gegangen, ich sah gerade noch die Doppeltüren zufallen.
Mein Kopf war leer, eine totale Leere, ich sah mich verwundert um und wusste nicht, wo ich mich befand und was ich hier wollte.
Die Doppeltür flog auf und Ansgar kam auf mich zu. Er packte mich am Arm und zerrte mich auf die Beine. Dann ging er mit mir die Treppen hoch. Er riss mich einfach mit. Ich stolperte ständig, ich blickte nach unten und überlegte, wozu die zwei dünnen Dinger da waren, die sich ständig bewegten.
Beine, schoss es mir durch den Kopf, das sind meine Beine und ich kann sie bewegen.
Wir waren oben angekommen, er zog mich durch die hölzerne Tür, den Gang entlang und dann durch den Ausgang. Wir standen im Freien. Tief atmete ich die süße Nachtluft ein.
»Du kannst mich jetzt wieder loslassen«, ich runzelte meine Stirn, »ich kann alleine gehen.«
»Nein, kommt nicht in Frage«, grollte er zurück.
Warum ist er nur so wütend, fragte ich mich, was habe ich getan, oder gesagt? Ich durchforstete mein Gehirn nach Erinnerungsfetzen, aber es herrschte weiterhin eine dumpfe Leere da drin.
Ansgar zog und zerrte mich hinter sich her. Mittlerweile stolperte ich nicht mehr so viel, da ich mich wieder erinnern konnte, wie man die Beine benutzte.
Er hielt erst an, als wir bei Joshs Hinterhof ankamen, er stieß mich noch durch die Türe, dann ließ er mich endlich los.
Ich rieb mir den Arm, es schmerzte etwas. Ansgar holte eine Konserve aus dem Kühlschrank, goss sie in ein Glas und erwärmte sie. Das Licht der Mikrowelle fiel auf ihn und ich beobachtete fasziniert den Teller, der sich unaufhörlich drehte. Mir war, als hätte ich das noch nie gesehen, als wäre das völlig neu für mich. Das leise Pling der Mikro erschreckte mich ein bisschen.
Ansgar nahm das Glas heraus und reichte es mir.
»Nein, danke, ich habe keinen Durst«, sagte ich und hob abwehrend die Hände.
»Trink es bitte.«
»Nein, wirklich ich …«
TRINK! Die Stimme in meinem Kopf dröhnte wie hundert Kirchenglocken. Ich hielt mir die Ohren zu, ich musste meinen Kopf festhalten, sonst explodierte er. Langsam öffnete ich wieder die Augen, die ich vor lauter Angst zusammengekniffen hatte. Er hielt mir erneut das Glas hin, diesmal nahm ich es an mich, ich mochte nie wieder diese laute Stimme in meinem Kopf hören.
Ich nippte kurz, dann stürzte ich das Blut in einem Schluck herunter. Sofort breitete sich eine herrliche Wärme in mir aus und mit ihr kamen die Erinnerung zurück, die Erkenntnis, wer und was ich war und an die vergangenen Stunden. Meine Augen wurden immer größer, je mehr ich mich erinnerte. Ich musste mich an der Theke festhalten, um nicht umzukippen. Ansgar stand hinter dem Tresen und beobachtete mich, er lächelte, das Feuer war verschwunden, nur der rote Rand pulsierte noch leicht.
»Geht’s wieder?«, fragte er irgendwann.
»Ich glaube schon«, meine Stimme war ein einziges Krächzen.
»Komm mit, du musst dich ausruhen«, er packte erneut meinen Arm und zerrte mich zur Kellertür.
Wir gingen den Gang entlang, am Ende öffnete Ansgar eine Tür und wir standen in Joshs Schlafzimmer. Jedenfalls dachte ich, dass es das Schlafzimmer von Josh war, nur wusste ich nicht, was er damit wollte, da er genauso, wie alle anderen Vampire, nicht schlief.
Keine Sorge, es ist nur sein Gästezimmer. Ansgars Stimme klang amüsiert. Dann warf er mich auf das weiche Doppelbett, ich versank fast in der Daunendecke.
Ich federte noch ein bisschen auf und ab, da lag Ansgar auch schon neben mir, zog mich zu sich heran, umarmte mich mit einem Arm und blickte zur Decke.
Ich lag auf seiner Schulter, nur wenige Zentimeter von seinem Hals entfernt. Ich starrte auf seine reine, weiße Haut und sah das Blut darunter pulsieren, ich zog die Luft durch die Nase ein, dann erinnerte ich mich, dass er ja nach nichts roch. Außer, man küsste ihn, dann war sein Geruch überwältigend. Vielleicht, wenn ich ganz nah ranging, vielleicht roch ich dann doch etwas.
Ich rückte ein bisschen näher an ihn heran. Er starrte weiterhin zur Decke, legte nur seinen Arm etwas enger um mich. Ich war ganz nah bei ihm und an seinem Hals, ich hörte das Blut unter der Haut rauschen, ich schloss meine Augen und bewegte meinen Kopf noch näher zu ihm hin. Meine Lippen berührten ganz leicht seinen Hals, ich küsste ihn auf die kalte Haut.
Lust durchschoss mich, umso mehr, als ich ihn aufstöhnen hörte. Ich fuhr mit den Lippen über seinen Hals, spürte die Muskeln darunter zucken, hörte sein Blut noch schneller rauschen. Sein Arm zog mich näher zu sich hin, dann drehte er sich blitzschnell auf die Seite und sah mich an. Blickte mich an, mit diesen hungrigen Augen, in denen das Feuer loderte und die braune Farbe sich träge im Kreis drehte, der Rand pulsierte heftig.
Plötzlich fühlte ich seine Lippen auf meinen, ich stöhnte auf und umarmte ihn, drängte mich noch näher zu ihm hin.
Da war er wieder, dieser köstliche Duft, tief saugte ich ihn in mich ein. Seine Hände schienen überall auf meinem Körper zu sein, er wühlte in meinen Haaren, strich über meinen Rücken, krallte die Finger in mein Fleisch und schien mich nie wieder loslassen zu wollen.
Es war ein zu schönes Gefühl, ein reines Gefühl, nur die pure Lust zu verspüren, ohne schmerzliche Gefühle. Ich ließ mich einfach fallen, genoss seine Berührungen, seine Küsse, seinen Geruch, ohne an irgendetwas dabei zu denken. Mein ganzer Körper, auch mein Kopf, waren nur erfüllt mit Lust. Ich ließ es zu, nur zu gerne.
Er drehte mich plötzlich herum und lag auf mir, unsere Hände waren ineinander verschränkt. Seine Lippen lösten sich von meinen, aber nur um meine Wangen, mein Ohr und meinen Hals zu küssen und zu streicheln.
Er atmete schneller, sein Blut rauschte in einem irren Tempo durch seinen Körper, ich konnte es hören, auch mein eigenes Blut hörte ich. Er stöhnte kurz an meinem Ohr und pustete dabei seinen kalten Atem auf meine Haut.
Ein unheimlicher Schauer jagte durch meinen Körper, ich stöhnte laut auf.
Plötzlich hörte ich wieder seine Stimme in meinem Kopf:
Du weißt, dass das hier nicht sein darf.
Ja, ich weiß, mach bitte weiter. Ich zog ihm meine Fingernägel über den Rücken nach unten. Er warf den Kopf in den Nacken, bäumte sich auf und ich sah seine Zähne blitzen, sie waren lang und spitz. Dann hörte ich sein Stöhnen, ein Knurren. Ein anderes Geräusch, wie ich es bereits von ihm kannte, eher wie ein Löwengebrüll.
Ganz plötzlich stand er vor dem Bett.
Ich spürte kurz noch seinen festen, harten Körper auf mir, dann war auch das Gefühl weg.
Er blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an.
Noch mal… sein Atem ging viel zu schnell, du weißt, dass das hier nicht sein darf. Erklang es in meinem Kopf, seine Stimme war wütend.
Ich atmete prustend aus und drehte mich auf die Seite. Ich wollte ihm keine Antwort geben, noch nicht einmal eine denken.
»Ich soll mich ausruhen, hast du eben noch gesagt. Das werde ich jetzt auch tun.«
Ich zog die zerwühlte Decke über mich und beschloss ihn zu ignorieren. Genervt schloss ich die Augen und versuchte an nichts zu denken. Versuchte mich zu beruhigen und meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Das Bett bewegte sich leicht, er legte sich zu mir, auf die Decke, nicht so nah wie eben noch. Trotzdem konnte ich ihn spüren und ein Schaudern durchlief mich erneut. Sofort rückte er ein wenig ab von mir.
»Verzeih mir«, flüsterte er, »ich wollte nicht so weit gehen. Ich… ich hätte mich nicht mehr lange beherrschen können. Es tut mir wirklich leid.« Er schluckte kurz, »Bitte …«
Da gibt es nichts zu verzeihen, ich schickte ihm meine Antwort in Gedanken, ich hatte keine Lust zu reden, meine Stimme würde mich verraten. Immer noch brannte mein ganzer Körper, eine kleine Berührung von ihm würde mein Feuer neu entfachen, es wieder auflodern, mich lichterloh brennen lassen und dann könnte ich mich wahrscheinlich nicht mehr beherrschen.
Da gibt es nichts zu verzeihen, dachte ich nochmals, du hast wahrscheinlich recht.
Er berührte ganz sachte meine Schulter unter der Decke.
Danke, lass uns jetzt ein bisschen ausruhen.
Er legte locker seinen Arm um meine Mitte, das konnte ich aushalten.
So in die Decke geschmiegt erwartete ich die rote Wolke der Erinnerungen, vielleicht konnte ich die letzten Minuten noch einmal erleben, in meiner Fantasie.
Ich wünschte es mir.
Erschrocken riss ich meine Augen auf, es klopfte an die Tür.
Ich spürte, wie Ansgar aufstand und zur Tür ging, vorsichtig öffnete er sie und zog sie hinter sich genauso leise wieder zu. Stimmengemurmel war zu hören, Joshs Stimme wütend und eindringlich, Ansgars beruhigend und beschwichtigend
Ich verdrehte die Augen, Josh, mein Aufpasser, er stellte sich an wie mein Vater. Ich grinste in mich hinein, ich konnte ihm ruhigen Gewissen sagen: Es ist nichts passiert, Daddy.
Die Tür ging wieder auf, Ansgar schlüpfte hindurch und legte sich zu mir. Ich brummte ein bisschen, als er seinen Arm um mich legte und mich aufs Ohr küsste.
»Steh auf, Josh will mit uns reden.«
Nein, ich hab gerade so schön geträumt, antwortete ich in Gedanken.
Du kannst nicht träumen, schon vergessen? Er küsste mich erneut aufs Ohr.
»Es war eine Mischung aus Erinnerung und Wunschträumen, willst du sie sehen?«, flüsterte ich verführerisch.
»Ja, zeig sie mir«, hauchte er in mein Ohr.
Ich schloss die Augen und erinnerte mich in Gedanken wieder an den Traum von eben. Es war ein Gemisch aus der Erinnerung, wie wir zwei übereinander herfielen und einem Wunschtraum, der nicht mit seinem Rückzug endete.
Am Ende atmeten wir beide ein bisschen schneller und ich spürte, wie er näher an mich heranrücken wollte. Diesmal beendete ich die Sache und stand einfach auf.
Miststück, hörte ich ihn in Gedanken, aber er grinste mich an.
Ego sum, qui sum, schickte ich zurück und lächelte ebenfalls.
Ich ging aus dem Zimmer und durch die Kellertür wieder in den Buchladen.
Josh stand wie immer hinter seinem Tresen, er blickte mich nicht sehr freundlich an.
Vor ihm stand ein gut gefülltes Glas mit warmem Blut, ich starrte drauf und konnte nichts dafür, aber mir lief das Wasser im Mund zusammen. Langsam schob Josh es in meine Richtung. »Nimm ruhig.«
»Danke, Josh.« Ich stürzte das Blut herunter und fühlte mich fast augenblicklich gut, richtig gut.
»Das habe ich gebraucht«, ich stellte das Glas wieder ab und schloss kurz die Augen.
»Das ist wohl nicht das Einzige, das du brauchst«, knurrte Josh. Ich öffnete meine Augen wieder und sah ihn düster an. Er sah wütend aus.
»Was willst du damit sagen?«, auch ich fühlte Wut in mir hochsteigen.
»Wie war das noch mal, du willst keine Beziehung mehr eingehen und dich nicht verlieben, weil du das Risiko scheust? Aber kaum kommt einer vom Rat und schon wirfst du dich ihm an den Hals. Wie soll ich das den finden?«
Ich antwortete ihm nicht, ich überlegte. Beziehung, Liebe, ich hab mich ihm an den Hals geworfen? Nun ja, Ansgar hatte eigentlich damit angefangen, nur aus anderen Gründen.
Aber zwei Worte, die Josh gesagt hatte, zogen mich magisch an: Beziehung und Liebe, vielmehr verlieben. War ich in Ansgar verliebt? Ging ich mit ihm eine Beziehung ein? Würde ich mit ihm eine Beziehung eingehen? Selbst in meinen Gedanken war ich kurz sprachlos.
»Nun?« Josh klang ungeduldig, ich hob meine Hand.
»Ich überlege noch.«
Aber dafür brauchte ich ein bisschen mehr Zeit und die hatte ich jetzt nicht.
»Du bekommst heute noch keine Antwort von mir, das muss ich mir erst noch durch den Kopf gehen lassen.«
Josh zog die Augenbrauen hoch, bis in seine blonden Haare, der Mund blieb ihm offen stehen.
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden.« Ich presste die Lippen aufeinander und war ein bisschen wütend auf ihn. Eigentlich ging ihn die ganze Sache nichts an, aber er ist mein bester Freund und sorgte sich um mich, ein wenig konnte ich ihn auch verstehen.
Auch ich möchte bald eine Antwort haben, flüsterte es in meinem Kopf. Ich drehte mich um und Ansgar schloss gerade die Kellertür, er sah mich an, Bitte.
Auch du wirst warten müssen, dachte ich und drehte mich wieder um, zu Josh. Laut sagte ich:
»Also Josh, du wolltest mit uns reden? Um was geht es?«
Josh straffte sich und setzte eine unbeteiligte Miene auf.
»Ansgar wird es ja schon wissen, ich wollte dir nur sagen, wie sich der hohe Rat entschieden hat.« Er legte eine kurze Pause ein, die ich zu einer Frage nutzte.
»Woher weißt du das denn«, ich schob meine Augenbrauen zusammen, »warst du auch heute Abend da?« Ich hatte ihn nicht gesehen.
Josh ist einer der Bewahrer, Natascha. Vielmehr der Kopf der Bewahrer der Nacht, in der Rangfolge kommt er direkt hinter mir.
Mir blieb der Mund offen stehen, das gibt es doch nicht, dachte ich.
Doch, mein Püppchen.
Nenn mich nicht Püppchen, das klingt furchtbar.
In Ordnung, dann meine mellila?
Heißt das nicht Püppchen auf Latein?
Nicht ganz, es heißt Honigpüppchen, gefällt dir das besser?
Ach, scher dich zum Teufel, schickte ich ihm in Gedanken
Da bin ich doch schon. In meinem Kopf hörte ich in lachen.
Ich verdrehte die Augen und versuchte mich wieder auf Joshs Worte zu konzentrieren.
»Und wie hat der Rat nun entschieden, Josh?«
»Er nimmt dein Angebot an. Es ist ein Tauschgeschäft, du lieferst ihnen Justin und Dennis und bekommst dafür dein Leben geschenkt.«
Josh sah mich grimmig an. »Das ist ein sehr gefährlicher Tausch, Natascha. Bist du dir sicher, dass du das auch willst?«
In meinem Kopf hörte ich gleichzeitig Ansgar flüstern:
Hm-m, du riechst so gut. Sollen wir nicht lieber wieder ins Bett verschwinden und uns noch ein bisschen …ausruhen?
»Nein …eh ich meine ja. Ja, natürlich bin ich mir sicher, dass ich das will, Josh.«
Ich drehte mich um und knurrte Ansgar kurz an.
Lass das gefälligst sein, du machst mich ganz durcheinander, schickte ich ihm grollend in Gedanken.
Gern geschehen, ich hörte ihn kichern.
Ich schloss kurz die Augen und schickte ihm einen kleinen Ausschnitt aus meinem Wunschtraum von eben. Hinter mir hörte ich ihn kurz keuchen. Ich lächelte breit, mein war die Rache. Ich wendete mich wieder Josh zu. »Wie sieht denn der Plan aus?«
»Eigentlich ganz einfach, sie werden versuchen dich zu erwischen, wenn du am wenigsten dran denkst. Bei einer Jagd. Sie werden dir eine Beute schicken, auf die du nicht verzichten kannst und dann werden sie zuschlagen.«
Abermals runzelte ich meine Stirn. »Woher weißt du das alles?«
Josh zögerte. »Wir haben einen Spitzel in ihre Gruppe einschleusen können.«
»Ist er auch zuverlässig, kann man ihm trauen?« Ansgars Stimme war schneidend. Josh blickte auf und sagte zu ihm:
»Er ist ein proditor, ein Verräter, nein, man kann ihm nicht trauen, aber er ist das Einzige was wir haben.«
»Gut«, sagte ich, »Wann?«
»Noch heute Nacht«, Josh drehte sich um und blickte auf eine seiner fünf Uhren, die alle nebeneinander hingen, eine schöner als die andere. »In genau vier Stunden, um zwei Uhr.«
»Gut«, sagte ich abermals, »und wie?«
»Sie wird an deiner Nase vorbei spazieren, wahrscheinlich kommt sie hier in den Laden, oder geht nur daran vorbei, das weiß ich nicht genau.«
»Gut«, ich drehte mich um und ging in Richtung Kellertür,
»ich werde mich so lange noch ausruhen, ich will in vier Stunden fit sein … und durstig.«
Zurück in Joshs Gästezimmer legte ich mich auf das Bett und versuchte krampfhaft an nichts zu denken, aber es ging nicht. Ich hatte Angst, ich fürchtete mich. Ich konnte mich nur nicht entscheiden, wovor genau. War es die Tatsache, dass Justin oder Dennis mich versuchen werden zu töten, oder dass ich einen von ihnen wiedersah?
Ich wartete auf die tröstliche Wolke, aber sie kam nicht. Ich setzte mich im Bett auf und zog meine Knie an.
Leise ging die Tür auf, Ansgar stand vor dem Bett und blickte auf mich herunter.
Josh hat nur Angst um dich, du musst nicht wütend auf ihn sein, hörte ich ihn in meinem Kopf.
»Ich weiß«, seufzte ich, drehte den Kopf zur Seite und legte meine Wange auf die Knie.
»Hast du Angst?«, in seiner Stimme lag Neugierde.
Ich blickte ihn nur an.
»Du hast wieder die Augen der desperatio, der Verzweiflung« Schneller als ich es registrieren konnte, lag er neben mir und streichelte meinen Arm.
»Meine süße mellila, wie kann ich dir nur helfen? Was kann ich tun, damit die Verzweiflung aus dir verschwindet.«
Seine Stimme war wie Honig, zuckersüß, zäh und klebrig.
Mir lief ein Schauer den Rücken runter. Ich versank fast in seine Augen, das Feuer loderte, der begrenzende Ring pulsierte heftig. Ich legte mich zurück auf das Bett und schickte ihm meine Gedanken: Du könntest mir meinen Wunschtraum erfüllen, mein Geliebter.
Ich hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gedacht, da kniete er auch schon über mir. Seine Finger in meine verschränkt, starrte er in mein Gesicht. Seine Augen waren ein einziger Lavastrom, unterbrochen, von kleinen Feuerstößen, die immer wieder kurz aufloderten.
Ich werde dich wahrscheinlich dabei beißen. Hörte ich ihn in meinem Kopf sagen. Das macht nichts, dachte ich und schloss meine Augen, daran bin ich inzwischen gewöhnt.
Er beugte sich herunter zu mir und küsste mich. Als seine eisigen Lippen meine berührten, bäumte mein Oberkörper sich auf um ihm noch näher zu kommen. Ich saugte seinen Geruch in mich ein, ließ mich von meinen Gefühlen tragen, von meiner Gier und Lust überrollen.
Auch Ansgar ließ sich gehen, schien seine Beherrschung zu verlieren. Aus seinem Inneren hörte ich immer wieder ein Knurren, ab und zu unterbrochen von diesem Löwengebrüll, das ich schon mal hörte. Ich hatte keine Angst davor, eher ganz im Gegenteil.
Unsere Hände flogen nur so über unsere Körper, tasteten uns ab, streichelten uns, verkrallten sich in unser kaltes Fleisch.
Plötzlich wurde sein Brüllen lauter, wilder, dann spürte ich seine Zähne, wie sie durch meine Haut drangen, in meinem Hals versanken.
Laut stöhnte ich auf, mein Körper bäumte sich ihm entgegen, um noch näher bei ihm zu sein.
Ich war nur wenige Zentimeter von seinem Hals entfernt. Ohne darüber nachzudenken, schlug ich meine Zähne in seine reine, weiße Haut. Er riss seinen Kopf in den Nacken und brüllte kurz. Von seinen langen Zähnen sah ich Blut spritzen, mein Blut. Dann versenkte er sie wieder in meinen Hals.
Es war ein unheimliches Gefühl, sein Blut zu trinken, es wärmte mich nicht, es war kalt.
Aber mich durchströmte dennoch ein warmes Gefühl, ein mächtiges Gefühl. Es war so, als konnte ich plötzlich seine Gedanken lesen, wusste was er weiß, roch, was er je gerochen hatte und schmeckte, was er je geschmeckt hatte.
Es war so, als wusste ich alles von ihm – auch dass er mich liebte.
Keuchend sank ich zurück auf das Kissen, blickte auf seinen Hals und sah, dass sich die Wunden schon von selbst geschlossen hatten. Auch er ließ von mir ab, aber nicht ohne die Einstichstellen, wieder zu verschließen.
Er legte sich auf den Rücken, sein Atem ging immer noch zu schnell. Seine Augen waren geschlossen, er schluckte einmal. Ich legte meinen Kopf auf seine nackte Brust und hörte seinen Atem, sein Blut rauschte. Er strich mir übers Haar. Es war ein schöner Moment, ein vertrauter Augenblick, ich mochte ihn nicht zerstören. Also versuchte ich an nichts zu denken, damit seine Stimme nicht in meinem Kopf erklang. Aber ich konnte es nicht ganz verhindern, ich dachte gerade, wie angenehm seine regelmäßigen Atemzüge auf mich wirkten, da hörte ich auch schon seine Stimme in mir: Dum spiro spero, solange ich atme, hoffe ich.
Ich drehte meinen Kopf um ihn anzuschauen
Auf was hoffst du denn? Fragte ich in Gedanken. Er hielt immer noch die Augen geschlossen.
Frieden, Vernunft, Vertrauen, Gerechtigkeit und Liebe.
Er öffnete seine Augen, sie hatten sich verändert, das Feuer in der Mitte war weg, es war nur noch die schwarze Pupille zu sehen. Die braune Lava floss noch langsam im Kreis darum herum, begrenzt von dem feinen, dünnen Ring aus roter Glut.
Frieden, Vernunft, Vertrauen, Gerechtigkeit und Liebe, sprach ich seine Hoffnungen in Gedanken nach. Darauf lohnt es sich zu hoffen, ein Leben lang zu hoffen.
Bist du ohne Hoffnung?
Sein Gesicht war völlig entspannt.
Nein, dachte ich, ich habe andere Hoffnungen, wir unterscheiden uns von einander.
Aber nicht sehr, sag mir deine Hoffnungen.
Ich hoffe auf eine gute Beute,
Ah, spe praedea adductus, unterbrach er mich.
Ein glückliches Leben, Gerechtigkeit und Liebe, darauf hoffe ich auch.
Siehst du, so unähnlich sind wir uns gar nicht. Er lächelte leicht.
Heute Nacht hoffe ich vor allem auf den Sieg.
Vae victis, wehe den Besiegten.
Ansgar? Ich mochte immer noch nicht sprechen, ich wollte diese Stille nicht zerstören.
Hm-m? Brummte er in meinem Kopf
Sind meine Augen wieder normal? Ich meine, sehen sie wieder normal aus, ohne diese … diese desperatio, ohne die Verzweiflung?
»Ja«, seine Stimme klang laut, in der Stille des Zimmers.
Ich legte meinen Kopf erneut auf seine Brust.
»Ich danke dir.«
Te amo hörte ich ihn in meinem Kopf flüstern. Wieder strich er mir übers Haar.
Ich schloss meine Augen und genoss seine sachten Berührungen. Irgendwann schlief ich ein.
Als ich sie wieder öffnete umgab mich eine vollkommene Dunkelheit. Ich merkte, dass ich alleine war. Ansgar war gegangen, ich wusste nicht wann. Ich seufzte tief und lang.
Was hatte ich da nur wieder getan, war das alles richtig?
Ich spürte plötzlich eine Welle der Kraft in mir aufsteigen,
Necesse est. Es ist, wie es ist, unausweichlich.
Fast war mir, als hörte ich Ansgars Stimme in meinem Kopf, aber es war meine eigene, sie klang neu, voller Macht, Kraft und …Wissen.
Ich riss meine Augen weit auf, sollte Ansgars Blut in mir mich so verändert haben? War es nur das oder…?
Unruhig stand ich auf und ging in Joshs Badezimmer. Nur zögernd näherte ich mich dem Spiegel. Ich hatte ein bisschen Angst davor, was ich dort zu sehen bekam.
Dann erblickte ich mein Spiegelbild, sah mein schmales Gesicht, mit den hohen Wangenknochen, die langen schwarzen Haare, die meinen Kopf wie einen Mantel umhüllten. Meinen Mund, mit den vollen Lippen, die in meinem weißen Gesicht viel zu rot erschienen.
Erst dann hatte ich genug Mut gesammelt, um in meine Augen zu sehen. Ich schnappte nach Luft, mein Kiefer klappte nach unten, mein Mund blieb mir vor Erstaunen offen stehen.
Die desperatio, die Verzweiflung war aus meinen Augen gewichen, da hatte Ansgar recht.
Allerdings hatte er mir verschwiegen, dass sie sich dennoch verändert hatten.
Zuerst sah ich das kleine Feuer in den Pupillen lodern, es flackerte kurz. Die Farbe war dieselbe geblieben, nur dass sie sich jetzt bewegte, zähfließend im Kreis drehte, wie Lava, die träge dahin floss. Das Braun wurde begrenzt von einem schmalen, glutroten Ring, der leicht pulsierte.
Es war, als starrten mich Ansgars Augen aus dem Spiegel an. Aber sie sahen nicht genauso aus, irgendetwas war anders an meinen Augen. Ich überlegte, ich grübelte, aber ich kam nicht dahinter, während ich weiterhin in mein Spiegelbild starrte.
Deine Augen sind weicher, hörte ich Ansgars Stimme in meinem Kopf. Sie haben noch nicht so viel Leid gesehen, jede Menge Unschuldige getötet und noch nicht so viele Kriege angeführt.
Plötzlich stand er hinter mir, umarmte mich und legte sein Kinn auf meine Schulter. Und das ist auch gut so. Er blickte mich im Spiegel an und lächelte.
Das sind die Augen der necessitudo, er küsste mich auf den Hals. Der engen Verbundenheit.
Ich drehte mich um und schlang meine Arme um ihn.
»Sie gefallen mir, ich möchte gerne, dass es so bleibt«, flüsterte ich an seine Brust gelehnt.
»In perpetuum«, er nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich an. Der begrenzende Ring pulsierte ein paar Mal.
»Auf immer, auf ewig«, sagte er leise, dann umarmte er mich heftig, in meinem Kopf hörte ich ihn seufzen.
Wir saßen alle drei in Joshs Hinterhof und unterhielten uns über die bevorstehende Jagd auf Justin und Dennis.
Meine veränderten Augen hatte Josh mit einem Stirnrunzeln und einem grimmigen Blick auf Ansgar quittiert. Dann war das Thema vom Tisch.
»Wir müssen auf jeden Fall zusehen, dass sie dich nicht so weit von uns weg locken können.« Sagte Josh gerade, ich hörte kaum zu, konnte mich nicht richtig konzentrieren, ich hatte irrsinnigen Durst. Wollte aber keine Konserve, da ich befürchtete, sonst nicht hungrig genug auf meine Beute zu sein.
Erstmals, seit langem, meldete sich mein inneres Monster wieder, es kreischte und jaulte.
Bis hierhin hatte ich es gut in Schach gehalten, da ich es immer schneller mit Blut ruhig stellte, bevor es überhaupt schreien konnte.
»Zu nah darf es aber auch nicht sein, sonst haben sie euch entdeckt. Vergiss nicht, sie sind nicht dumm.« Ansgars Stimme drang kaum zu mir durch. Ich starrte vor mich auf den Tisch und lauschte dem Monster, wie es brüllte, schrie und nach Blut verlangte.
Josh stand auf und hob Ansgars leeres Glas an.
»Auch noch was?«, ich hörte keine Antwort, achtete aber auch kaum auf die Beiden.
Plötzlich war Ansgars Stimme wieder in meinem Kopf, er übertönte das Monster, das Knurren und Kreischen wurde schlagartig leiser.
Du bist, wer du bist, Ich werde immer bei dir sein, egal was geschieht, vergiss das niemals!
Sofort wurde das Monster wieder laut und erfüllte meinen ganzen Körper mit seinem Geschrei. Ich starre weiter vor mich hin, unfähig eine Antwort zu geben.
»Es ist bald soweit«, Josh kam mit neuen Gläsern wieder und setzte sich hin.
»Alles in Ordnung?« Die Frage war an mich gerichtet. Ich sah ihn flüchtig an. »Ja, ja alles klar.« Dann starrte ich weiter vor mich hin.
Plötzlich war er da, wie aus dem Nichts war er aufgetaucht, dieser Geruch, dieser herrliche Duft, der nur darauf wartete, sich mit mir zu vereinigen. Josh hatte Recht, diese Beute konnte ich einfach nicht ziehen lassen. Es würde mich innerlich zerreißen. Mein Monster würde mich auffressen, wenn ich darauf verzichten würde.
Mein Mund zog sich schmerzhaft zusammen, ich blickte auf und spürte, wie meine Zähne wuchsen
Wie mochten jetzt meine Augen aussehen?
Ansgar sah mich an, lächelte, für eine Sekunde wurden seine Augen zu roter Lava, der begrenzende Ring wuchs an, verdrängte das Feuer und drehte sich im Kreis, dann waren seine Augen wieder wie vorher.
Ich lächelte zurück, meine Frage war beantwortet.
Langsam stand ich auf und ging über die angrenzenden Hinterhöfe der Nachbarn in Richtung Straße.
Dem Duft hinterher.
Ich wurde wieder zu einem Raubtier, wenn auch meine Augen verändert waren, meine Instinkte waren nach wie vor die Gleichen. Ich wollte nur noch ihr Blut, mich mit dem Duft vereinen, ihn aufsaugen, mein Monster in mir ruhig stellen.
Langsam ging ich durch die dunklen, menschenleeren Straßen. Immer wieder hielt ich meine Nase kurz in den Wind, ich war noch auf der richtigen Spur. Weit konnte es nicht mehr sein.
Du bist, wer du bist, Ich werde immer bei dir sein, egal was geschieht, vergiss das niemals!
War das wirklich Ansgars Stimme in meinem Kopf, oder erinnerte ich mich nur daran, was er zu mir sagte?
Noch nicht mal mein Raubtierinstinkt war stärker als seine Stimme. Selbst wenn ich an nichts anderes mehr denken konnte, als an den Duft vor mir, hörte ich ihn immer noch in mir.
Wie war das noch? Die Augen der engen Verbundenheit?
Ja, das traf es. Ich werde immer bei dir sein, hatte er gesagt, egal, was geschieht. Egal, was geschieht, die Worte verdoppelten sich in meinem Kopf, wie ein Echo hörte ich sie immer wieder. Egal, was geschieht? Was soll denn schon geschehen…
Mittlerweile blieb ich stehen, damit ich besser nachdenken konnte. Dann ruckte mein Kopf hoch, was machte ich hier? Ich hatte eine Aufgabe, ich musste diesem verdammten Geruch hinterher, ich musste den Köder spielen, damit zwei Monstern Gerechtigkeit wiederfuhr.
Du bist, wer du bist, hatte er auch noch gesagt, und er hatte völlig recht damit, ich bin wer ich bin und ich bin ein Raubtier.
Ich zog die Nachtluft in meine Nase und ging weiter, ihrem Geruch hinterher.
Plötzlich war ich so dicht an ihr dran, dass ich sie auch sehen konnte. Sie war genau vor mir, was sollte das nur? Warum ging meine Beute nicht weiter, wollten sie mich hier überraschen? Ich sah mich um, ich war beinahe am Fluss angekommen. Nur noch durch eine schmale Gasse, dann konnte ich den Fluss sehen, wie er träge in der Dunkelheit dahin floss. Hier war nichts, was sich für einen Überraschungsangriff lohnte.
Die Kleine ging in die schmale Gasse hinein. Nochmals zog ich die Luft in meine Nase und suchte diesmal auch nach Vampirgeruch.
Ich bemerkte keinen, auch nicht den feinen Geruch von Justin, der noch in meiner Erinnerung haften geblieben war. Vielleicht roch er aber jetzt auch anders, die Zeit veränderte einen, wer wusste das besser als ich.
Ich folgte dem Mädchen in die Gasse, sie war am Ende angekommen und bog gerade nach links ab. Langsam und vorsichtig schlich ich hinterher.
Plötzlich schienen die Häuser, rechts und links neben mir, zu brennen, ich hörte ein Geräusch, ein Fauchen, ein Zischen, dann kamen die Flammen. Nur ein paar Meter vor mir prallte ein Strahl aus, wie mir schien, flüssigem Feuer auf dem Boden auf. Ich starrte in die Flammen. Dann kam der Geruch, ein Gemisch aus Diesel, Kerosin und Propan Gas Das ist ein Flammenwerfer, schoss es mir durch den Kopf. Dann sprang ich hoch, stützte mich mit den Füßen an der Hauswand ab und entging dem sich bewegenden Flammenstrahl nur um Haaresbreite. Ich wollte raus aus dieser engen Gasse, das war ein Hinterhalt, ich saß in der Falle, wie eine Maus.
Ich lief in die entgegengesetzte Richtung, aber schon zischte ein weiterer Feuerstrahl knapp vor mir auf den Boden, sie hatten mich in die Zange genommen. Der Strahl bewegte sich auf mich zu, abermals drehte ich mich um und sah den nächsten Feuerstoß. Das gibt es doch nicht, dachte ich, sie haben mich erwischt, sie wollen mich brennen sehen. Wie kam ich hier nur wieder raus? Ich spürte eine leichte Panik in mir hoch steigen, jetzt nur ganz ruhig bleiben, dachte ich. Ich machte die Augen zu und zog in meine Lungen die verbrannte Luft ein. Dann ducke ich mich schnell, nur knapp über mir schoss ein Feuerstrahl vorbei, der hätte mich erwischt.
Durch das zischende Geräusch, das die Flammenwerfer verursachten, hörte ich ein wütendes Knurren, das war Justin, ich hatte ihn erkannt.
»JUSTIN!«, brüllte ich zu den Dächern der Häuser, »zeig dich! Oder bist du zu feige, Auge in Auge gegen mich zu kämpfen?« Ich hängte noch ein hämisches Lachen hintendran und wunderte mich im Stillen über mich selber.
Ich bekam keine Antwort von ihm, jedenfalls keine mit Wörtern, seine Erwiderung bestand aus einem weiteren Feuerstrahl. Ich drehte mich noch weg, aber die Flammen trafen mich mitten auf den Rücken. Ein höllischer Schmerz durchzuckte mich, ich warf mich gegen die Hauswand um die Flammen zu ersticken, ich konnte mein verbranntes Fleisch riechen.
»Na, wie gefällt dir das Feuer?« Justins Stimme war beißend und von einem Knurren untermalt. Ich wusste genau, worauf er anspielte.
Erneut zwei Feuerstrahle, einer kam von rechts, einer von links, dazwischen stand ich. Sie kamen schnell und glühendheiß auf mich zu. Ich blickte mich nach einem Fluchtweg um, aber ich sah keinen. Der Strahl war jetzt breiter, nahm fast die gesamte Gasse ein, von Hauswand zu Hauswand.
Ich wusste nicht wo ich hin sollte.
Die Flammenwände kamen erbarmungslos auf mich zu, ich schloss die Augen, legte meinen Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus, so gut es ging und atmete die heiße, rauchgeschwängerte Luft ein. Ich werde immer bei dir sein, egal was geschieht.
Ja, genau, egal was geschieht…
Ich lief los, auf die Flammenwand zu, kurz davor hob ich vom Boden ab und sprang kopfüber durch das Feuer. Ich fühlte, wie die Hitze mir die Haut verbrannte, spürte die Schmerzen, überall an meinem Körper. In meinen Ohren hörte ich das Rauschen und Fauchen des Feuers. Dann war ich durch. Ich machte einen Salto, stand wieder auf den Füßen und rannte los, lief wie eine Verrückte in Richtung Fluss. Die Flammen waren auf mir, ich spürte, wie sie versuchten durch mich durchzudringen, mein Fleisch verbrennen wollten.
Dann war nur noch Kühle um mich herum, ich hatte das rettende Wasser erreicht und mich in den Fluss gestürzt.
Das kalte Wasser hatte das Feuer auf mir gelöscht und kühlte meine Wunden. Ich ließ mich tiefer hinab gleiten.
Ich konnte nicht ertrinken, aber ich war zu schwach um an die Oberfläche zu gelangen. Das Feuer hatte mich stark geschwächt. Meine Füße trafen auf den Grund, ich ließ mich im Schneidersitz darauf nieder, die Hände lagen locker auf den Knien und dachte nach. Das war wirklich clever gemacht, mich in der Gasse zu überfallen.
Mit Flammenwerfer hatte ich niemals gerechnet, Josh wahrscheinlich auch nicht. In meinem Kopf hörte ich noch Justins enttäuschtes Knurren, als er mich nicht erwischte. Und wie seine Stimme klang, mit diesem grenzenlosen Hass darin. Feuer, wirklich clever von ihm.
Ich musste hier raus, raus aus dem Wasser, ich musste etwas trinken, wieder zu Kräften kommen. Langsam bewegte ich mich zurück an die Oberfläche, zwischendurch legte ich eine Pause ein, ließ mich einfach treiben.
Das Wasser trug keine Gerüche, ich roch die Welt außerhalb nicht, man konnte mich im Wasser aber auch nicht riechen. Das war mein Glück.
Als ich kurz vor der Wasseroberfläche war, bemerkte ich, dass am Ufer jemand aufgeregt auf und ab rannte. Ich hielt mich an der Kaimauer fest und bewegte mich nicht mehr. Ich lauschte, die Geräusche drangen durch das Wasser zu mir durch, es hörte sich nur so an, als hatte ich mir die Ohren voller Watte gestopft. Aber ich konnte hören, dass es Justin und Dennis waren, sie suchten nach mir.
»Ich habe genau gesehen, dass sie hier rein gesprungen ist«, hörte ich gerade Justins knurrende Stimme.
»Ich auch«, antwortete ihm Dennis, »wo kann sie nur sein, ich kann sie nicht riechen.«
»Das du sie aber auch nicht erwischt hast«, regte sich Justin auf, »sie war genau vor dir, wie konntest du sie nur verfehlen?«
Ein ungeheures Knurren von Dennis. »Du warst auch nicht besser, also halt deine Klappe.«
Das Heulen eines Hundes in einiger Entfernung war zu hören.
»Verdammt«, zischte Dennis, »wir müssen weg hier.«
»TASCHA!« Justins laute Stimme hallte über den dunklen Fluss, »ich werde dich erwischen und dann töte ich dich!«
Ich schloss unter Wasser meine Augen, ja, das glaube ich dir unbesehen, du wirst mich töten, wenn ich dir nicht zuvorkomme. Ich fühlte mich nicht stark genug, sonst wäre ich aus dem Wasser gesprungen und hätte mich dem Kampf gestellt.
Ich hörte sie weg rennen. Kurz darauf erneut das Geräusch von schnellen Füßen, ich blieb lieber unter der Oberfläche, wer weiß, vielleicht waren das ihre Gefolgsleute.
Unerwartet schoss eine Hand ins Wasser, genau vor meinem Gesicht. Sie packte mich und zog mich, mit einer ungeheuren Kraft, aus dem Wasser.
Das Erste was ich sah, waren rote, glühende Augen aus Lava. Das Nächste war Ansgars Gesicht und wie er mich angrinste. Er hielt mich am ausgestreckten Arm fest.
»Du siehst aus, wie ein nasses Kätzchen«, dann zog er mich an seine Brust und umarmte mich. Augenblicklich fühlte ich mich wohler, sicherer.
Ich bin immer bei dir, egal, was geschieht, schoss mir durch den Kopf.
Das war mein ernst, hörte ich ihn in meinen Gedanken brummen.
»Komm, ich bringe dich erst mal nach Hause, ich meine zu Josh.« Er trug mich wie ein kleines Kind auf seinen Armen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, damit meine Wunden schneller heilten. Aber die Verletzungen waren schwer, es würde seine Zeit brauchen. Ohne frisches Menschenblut noch länger.
Willst du was trinken? Hörte ich ihn abermals.
Ja, schickte ich ihm zurück, dringend.
Er stellte mich erneut auf die Füße und drückte mich leicht gegen die Hausmauer. Wir waren nicht weit entfernt von der Gasse, in der eben noch Justin und Dennis feuerschwingend über mich herfielen.
Ansgar legte seinen Finger über den Mund und sagte in meinem Kopf: Sei leise!
Ich nickte.
Dann hörte ich die Schritte, leicht und zögernd waren sie, genau neben uns kam sie heraus.
Sie wollte sich wohl verdrücken, nachdem alle anderen weg waren.
Ansgar stürzte mit solch einer Schnelligkeit auf sie, dass sie erst einen Schrei ausstieß, als er sie bereits von hinten packte. Seinen Arm um ihre Mitte und über ihren Mund gelegt, kam aber nur noch ein »Hmpf«, heraus.
Er blickte sich kurz um und kam näher zu mir.
Er bog der Kleinen den Kopf nach hinten und legte somit ihren Hals vor mir frei.
Schaffst du es alleine? Seine Stimme klang wirklich besorgt. Ich beugte mich etwas nach vorne und zog den Geruch ein, den das Mädchen verströmte. Sofort war mein Monster wach und schrie mich an. Mein Mund zog sich schmerzlich zusammen und meine Zähne waren plötzlich lang und spitz. Ich sah Ansgar an und musste grinsen, ich denke schon, schickte ich ihm in Gedanken. Dann sah ich, wie sich seine Augen veränderten, wie der Ring anwuchs und das Feuer erstickte, träge im Kreis floss, wie glühende Lava. Er grinste zurück.
Ich schlug meine Zähne in den Hals des Mädchens, sie zuckte nur kurz, zu mehr war sie gar nicht fähig, in Ansgars stahlharter Umklammerung. Ich saugte das köstliche Blut in mich ein, Wärme breitete sich in meinem Körper aus und ich spürte, wie meine Selbstheilungskräfte sofort anfingen, meine Wunden zu verschließen.
Dann hörte ich auf und blickte zu Ansgar. Willst du auch? Fragte ich ihn in Gedanken. Er sah mich ein bisschen erstaunt an, lächelte flüchtig und verbiss sich in ihren Hals.
Mittlerweile war die Kleine ohnmächtig, aber nicht tot, ich hörte noch ihr Blut rauschen.
Ich beobachtete Ansgar, wie er das Mädchen aussaugte. Ich wagte kaum daran zu denken, aber das war das erste Mal das ich eine Beute mit jemandem teilte, überhaupt bereit war zu teilen. Ich war ein wenig erstaunt über mich selbst. Ansgar ließ von ihr ab, legte mit geschlossenen Augen seinen Kopf in den Nacken.
»Ah-h«, hörte ich aus seinem weit aufgerissenen Mund. Ihr Blut lief noch an seinen Zähnen herunter. Ich stürzte mich noch einmal auf den Hals des Mädchens und saugte den Rest aus ihr heraus. Erst als sie leer war, ließ ich von ihr ab. Mit geschlossenen Augen stand ich da und lehnte mich gegen sie und Ansgar. Er packte sanft meinen Nacken und küsste mich auf den Mund, ich schlang die Arme um seinen Hals. Die Tote war noch zwischen uns, er ließ sie einfach fallen und zog mich näher zu sich heran. Ich konnte ihr Blut noch in seinem Mund schmecken und zusammen mit seinem köstlichen Geruch ergab das Ganze ein Zusammenspiel, das mir fast die Sinne und meinen Verstand raubte. Als sich unsere Lippen voneinander lösten, lehnte ich mich schwer atmend an seine Schulter.
»Wow, das sollten wir öfter machen«, keuchte ich, »das war …einzigartig.«
»Mehr als das«, er lächelte mich an, »das war teuflisch. Einer Wiederholung bin auch ich nicht abgeneigt. Aber jetzt bringe ich dich erst mal zu Bett.«
Seinen Arm schützend um meine Schulter gelegt führte er mich schweigend zu Joshs Buchladen.
In dem Gästebett berührte mein Kopf kaum das weiche Kissen, da trug mich die rote Wolke auch schon davon. Vollkommen hilflos ergab ich mich ihr und ließ mich wegtragen, einhüllen und in den Strudel hinab ziehen, tiefer, als ich es je für möglich hielt, tiefer als es je nötig gewesen war.
Ab und an bemerkte ich einen kurzen Schmerz, wenn die Selbstheilungskräfte erneut eine Wunde verschlossen.
Nach Stunden, wie es mir schien, hörte ich Vogelgezwitscher. Durch die roten Nebelschwaden drangen Geräusche zu mir durch. Stimmengemurmel, das immer deutlicher wurde. Ich hörte genauer hin.
Joshs Stimme, sie klang besorgt.
»Wie geht es ihr?«
»Es wird schon wieder, es dauert seine Zeit.« Ansgars Stimme war sanft. Dann sein Flüstern: »Habt ihr sie erwischt?«
»Nein«, ich konnte förmlich hören, wie er zerknirscht zu Boden blickte, »sie sind uns in letzter Sekunde entwischt. Aber, keine Sorge, beim nächsten Mal werden wir sie erwischen, dafür garantiere ich.«
Ansgars Stimme, zu einem heiseren Flüstern herab gesenkt, wurde schärfer.
»Es wird kein nächstes Mal geben. Nie wieder lasse ich die Beiden so nahe an sie heran. Das war ein Fehler, das überhaupt zuzulassen.«
Seine Stimme klang wütend, »und ich mache für gewöhnlich keine Fehler.«
»Niemals?«, fragte Josh eindringlich.
Ansgar stockte kurz.
»Das hier ist was anderes.«
»Amicitiam sequi, …Ansgar«, auch Josh hörte sich wütend an.
»Ich habe mich an den Freundschaftsbund gehalten, verdammt, sie war nicht deine concubina, auch wenn du es dir noch so sehr gewünscht hast.«
Der ganze Raum war plötzlich erfüllt mit drohendem Knurren.
Erschrocken riss ich meine Augen auf, beide standen sich gegenüber, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Ihre Zähne blitzten, Joshs Augen waren zu Raubtieraugen geworden und starrten Ansgar böse an. Bei ihm floss die rote Lava und zog träge ihre Kreise, nur unterbrochen von kurzen, wütenden Feuerstößen.
Ich verspürte ein bisschen Angst, aber auch Freude darüber, dass ich zwei so gute Freunde hatte.
»Werden noch Wetten angenommen?«, meine Stimme klang amüsiert, ich fand das Ganze mittlerweile ziemlich komisch.
Verständnislose Blicke erntete ich, Josh schüttelte mit dem Kopf, Ansgar lag schon neben mir, strich mir die Haare aus der Stirn und flüsterte: »Wie geht es dir, meine süße mellila? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
In meinem Kopf hörte ich ihn auch, nahezu gleichzeitig, ich musste mich sehr konzentrieren um beide zu verstehen.
Schreckliche Sorgen.
»Du warst halb tot«
Selbst das Blut schien dich nicht zu heilen.
»Ich hatte Angst…«
Angst, dass ich dich in dem Wasser nicht finde,
»…dass ich zu spät komme.«
Ich legte ihm rasch die Finger über den Mund, beide Stimmen waren still.
»Bitte, nicht alle beide gleichzeitig, das halte ich noch nicht aus.« Ansgar lächelte mich an. »In Ordnung, ich hol dir noch etwas zu trinken.«
»Okay«, ich ließ mich wieder auf das Kissen sinken. Josh stand noch in dem kleinen Zimmer, seine Augen und Zähne waren wieder normal, er sah mich erleichtert an.
»Geht’s wieder?« Ein kleines Lächeln erschien in seinem Gesicht.
»Ja, Josh. Danke … für alles.«
Er hob die Hand. »Schon gut. Aber sag mal, was genau ist denn jetzt eigentlich in der Gasse geschehen?«
»Justin und Dennis haben mich mit Flammenwerfern angegriffen, die Gasse war einfach zu eng, ich konnte nirgends hin, nur durch das Feuer hindurch. Ich bin wie eine Fackel zum Fluss gerannt und habe mich im Wasser versteckt. Dann seid ihr gekommen, schätze ich, denn erst haben die beiden mich am Flussufer gesucht, dann sind sie weg gerannt.«
Ich sah Josh an. »Habt ihr sie noch weit verfolgt?«
»Noch stundenlang«, er lachte kurz, »meine Süße, wir haben schon Vormittag, du hast dich lange ausgeruht.«
Er legte flüchtig die Stirn in Falten, »aber Ansgar hat recht, das war das letzte Mal, es ist einfach zu gefährlich.«
»Ansgar«, murmelte ich, »wo bleibt er eigentlich?«
»Ich muss mich noch bei dir entschuldigen, Natascha«,
Ich sah ihn fragend an.
»Ich habe dir vorgeworfen, du hättest dich Ansgar an den Hals geworfen, aber, ich schätze, das mit euch ist doch was … Ernstes?«
Ich blickte nach vorne und überlegte, was Ernstes? Auf Dauer? Für Immer? Für die Ewigkeit? Ich richtete meine Augen erneut auf Josh, er zuckte kurz zurück und zog die Luft ein. Ich kümmerte mich nicht darum.
»In perpetuum, Josh. Daran glaube ich, darauf hoffe ich, das ist meine Hoffnung.«
Spem habere in amoris, Ansgars Stimme war wieder da, ich hatte ihn schon vermisst. Er kam gerade zur Tür rein und balanciert drei Gläser mit Blut in seinen Händen.
Als er mich ansah, stockte er kurz, lächelte und veränderte blitzschnell seine Augen zu diesen feurig roten Lava-Augen, in denen das Feuer immer nur kurz aufloderte.
Erst runzelte ich meine Stirn, ich verstand nicht, wieso er das gemacht hatte, dann fiel mir Josh ein und wie er eben zurück schreckte.
Meine neuen Augen hatte ich wohl noch nicht unter Kontrolle.
Ich nahm Ansgar ein Glas ab und dachte an den lateinischen Spruch von ihm: Spem habere in amoris. Ja, ich setze meine Hoffnung auf die Liebe. Du hast wie immer vollkommen recht, mein Geliebter.
Ansgar sah mich über den Rand seines Glases hinweg an, sein Blick war hungrig. Immer wieder ließ er die rote Lava in seinen Augen aufblitzen.
Inzwischen waren Monate ins Land gegangen, die Zeit verging schneller, wenn man liebt.
Ansgar und ich hatten uns eine Wohnung gemietet, damit Josh seinen Laden endlich wieder für sich allein hatte.
Es machte Spaß, mit Ansgar zusammen durch die Geschäfte zu ziehen und eine neue Einrichtung für die Wohnung zu kaufen. Wie zwei frisch Verliebte, alberten wir herum, kicherten ständig. Die Verkäufer verdrehten verärgert die Augen, blieben trotzdem noch freundlich. Nachts holten Ansgar und ich sie uns, natürlich nur die, mit dem besten Geruch.
Überhaupt, war die Jagd mit Ansgar eine völlig andere. Es faszinierte mich immer wieder aufs Neue und nur zu gerne überließ ich ihm die Führung.
Wenn ich mich schon als Raubtier betrachtete, dann war Ansgar bei der Jagd ein Hurrikan. Er überrollte seine Opfer, zielstrebig und zerstörerisch, er war so schnell, sie hörten und sahen nichts, bis er sie packte. Wir teilten uns oft die Beute, manchmal fing sich jeder selbst seine Mahlzeit, vor allem kurz vor den Wochenenden, da wir dann die meiste Zeit im Desmodus und in unserem neuen Bett verbrachten.
Unser Zusammensein endete fast immer im gegenseitigen Blutrausch. Mittlerweile hatte ich Ansgars Blut so oft getrunken, dass es mir schien, als kannte ich meinen Geliebten durch und durch.
Nur wenn wir auf die Vernichter zu sprechen kamen, umwölkte sich seine Stirn, sein Blick wurde hart und unnahbar.
In diesen Momenten hörte ich nicht mehr seine Stimme in meinem Kopf, dann war er still. Er sprach nicht mehr mit mir, als wenn seine Stimme seine Gefühle verraten konnten, als wenn er mich davor beschützen wollte, was er wirklich dachte
Josh und die Bewahrer der Nacht hatten die Jagd auf die Vernichter eröffnet, unerbittlich spürten sie einen nach dem anderen auf und töteten sie. Nur der Kopf der Bande, Justin, Dennis und ein paar wirklich hartgesottene Gefolgsleute, schlüpften immer wieder durch das engmaschige Netz der Bewahrer.
In meiner roten Wolke der Erinnerungen sah ich nur noch ganz selten Justin und seine sich verändernden Augen vor mir. Ich hatte ihn verdrängt, andere, wichtigere, schönere Dinge hatten ihn ausgeblendet. Ich konnte mich kaum noch an seine Stimme oder an seinen Geruch erinnern. Allerdings noch an jedes seiner Worte, vor allem an seine letzten zu mir. Dann sah ich ihn vor mir, wie seine Schuhspitze sich in die Erde bohrte und er mir den Staub ins Gesicht schleuderte, während ich mit gebrochenem Genick auf dem Boden lag. Dann hörte ich seine Worte: »Ich hasse dich«, voller Überzeugung und Inbrunst gesprochen, sodass ich es ihm einfach glauben musste.
Und ich hörte seine Worte, die er am Ufer des Flusses gebrüllt hatte: »Ich werde dich erwischen und dann töte ich dich!«
In diesen Momenten spürte ich, wie alles an ihm vor Hass nur so sprühte.
Am Anfang hatte ich bei jeder Jagd Angst, dass ich wieder in eine Falle tappte, sie mich doch noch erwischten.
Mit der Zeit verlor sich die Angst, man wurde unvernünftig und leichtsinnig.
Es war Ende November, der Schneefall hatte soeben aufgehört. Die ganze Stadt war wie überzuckert, es sah wunderschön aus. Ansgar und ich wollten Weihnachtseinkäufe machen, ganz wie ein richtiges menschliches Pärchen. Er wollte noch etwas erledigen und ich sollte mich um sechs Uhr abends mit ihm bei Josh treffen.
Unsere Wohnung war etwas außerhalb der Stadt, darum musste ich mit dem Auto fahren. Mittlerweile hatte ich auch meinen Mustang wieder. Ansgars Auftreten in der Werkstatt und ein Bündel Geldscheine beschleunigten die Reparatur. Wie neugeboren sah er aus, mein kleiner roter Flitzer. Aber dieses Wetter mochte ich ihm nicht zumuten, darum nahm ich den Bentley von Ansgar, außerdem war ich so seinem Geruch nahe. Immer wieder atmete ich tief den Duft ein, den der Wagen verströmte und sah Ansgars Augen vor mir. Wie der begrenzende rote Ring pulsierte, sich nicht entscheiden konnte, ob er das Feuer verdrängen sollte oder lieber doch nicht. Ob er über mich herfallen sollte, oder lieber doch nicht. Ich lächelte in mich hinein.
Vor Joshs Hexenladen war ein Parkplatz frei, ich steuerte den Bentley darauf zu, stellte das schnurrende Kätzchen ab und stieg aus. Es war kalt, vereinzelte Schneeflocken fielen noch auf die Erde. Ich stieß die Tür zu Joshs Laden auf.
Das Glöckchen über mir bimmelte in zarten Tönen, aber ich hörte es nicht, hielt nur die Tür offen, hielt mich an ihr fest.
Der Geruch traf mich wie ein Geschoss, drang in mein Innerstes und zerfetzte dort alles. Langsam ließ ich die Eingangstür los, erneut ertönte das Glöckchen, als sie ins Schloss fiel.
Es herrschte Stille in dem Raum, vollkommene Stille. Josh stand nicht hinter seinem Tresen, wie ich das gewohnt war. Er war nirgends zu sehen, oder zu riechen.
Dafür traf mich ein anderer Geruch, einen, den ich schon verdrängt hatte und am liebsten auch nie wieder gerochen hätte.
Justin war hier, und er war nicht alleine. Der pergamentartige Geruch, von vielen Vampiren hing noch in der Luft.
Was wollte er hier? Fragte ich mich, wo sind Josh und Ansgar?
Schnell durchsuchte ich den Laden und den angrenzenden Keller. Nirgends eine Spur. Als ich hinter der Theke stand und gerade überlege, was ich als nächstes tun sollte, fiel mein Blick auf einen Gegenstand, der in Joshs Laden nichts zu suchen hatte und hier auch nicht reinpasste.
Auf der Glasplatte der Theke lag eine CD.
Ich nahm sie und hielt sie mir unter die Nase. Eindeutig, Justin hatte sie in der Hand.
Rasch ging ich in den Keller und in Joshs Büro, dort stand sein Computer. Ich öffnete das CD Fach und legte die Scheibe ein. Als ich das Fach wieder schloss, merkte ich, dass meine Hände leicht zitterten. Ich ignorierte es.
Ich starrte auf den Bildschirm, wartete ungeduldig, hämmerte mit der Computermaus auf den Tisch. Dann schloss ich die Augen, um mich zu beruhigen. Das Programm ging auf, die CD startete, ich verfolgte entsetzt den Film, der über den Bildschirm flackerte.
Zuerst sah ich gar nichts, nur Dunkelheit, dann bewegte sich die Kamera, ein Licht flackerte auf, wie von einer Kerze.
Es war ein dunkler, dreckiger Raum zu sehen, die Wände waren nackt und starrten vor Dreck. Langsam fuhr die Kamera weiter nach rechts, ein schmutziges Fenster, es war noch hell, dahinter. Die Decke, der Putz bröckelte teilweise ab, die Kamera hielt kurz an, und fuhr dann langsam runter, bis sie den Boden filmte.
»Nein«, meine Stimme war nur ein Hauch, ich hob die Hand und strich mit den Fingern über den Bildschirm.
»Nein«, zu mehr war mein Gehirn nicht bereit.
Auf dem nackten Boden laben zwei Gestalten, es sah aus, als seien sie tot. Kein Atmen hob ihren Brustkorb, kein Finger rührte sich, nichts. Sie hatten die Köpfe unnatürlich verdreht, ihr Genick war gebrochen.
Erneut streichelte ich über den Bildschirm, über Ansgars Gestalt und auch über Josh, der neben ihm lag.
»Wie konnte das nur…«
Die Stimme, die plötzlich aus den Boxen ertönte, unterbrach mich.
»Sieh sie dir an, Tascha. SIEH HIN!«, die laute Stimme ließ die Boxen krachen und knacken.
»Jetzt können sie dich nicht mehr beschützen, keiner kann dir mehr helfen. Du bist alleine.«
Das Bild verschwand kurz und ich dachte schon das war alles. Dann flackerte es wieder und die nächste Einstellung kam. Diesmal hingen Ansgar und Josh nebeneinander an langen, dicken Ketten, die um ihre Handgelenke gewickelt waren und zur Decke führten. Beide hatten den Oberkörper nackt und waren mit unzähligen Wunden übersät, aus denen Blut austrat und langsam an ihnen herab floss. Ihre Köpfe waren nach vorne gelehnt, aber ich konnte sehen, dass der Genickbruch verheilt war. Also dauerte ihre Gefangenschaft bereits ein paar Stunden.
Die Kamera fuhr nach rechts und zeigte den Hals von Ansgar. Zwei Einstichstellen prangten an der Seite.
Sie haben sie ausgesaugt und sie so geschwächt, schoss es mir durch den Kopf.
Die Einstellung änderte sich, ich sah beide wieder an den Ketten hängen. Ganz plötzlich stand Justin zwischen ihnen und blitzte in die Kamera.
»Na, Tascha, wie gefällt dir das?« Sein Blick war wie irre. Er ist wahnsinnig, dachte ich, völlig verrückt.
Justin griff in Ansgars kurze Haare und riss seinen Kopf hoch. Ansgar hatte die Augen offen, aber ich konnte sie nicht richtig erkennen, da die Kamera wackelte und zu weit weg war. Sie fuhr näher heran, auf Justin, der wie verrückt grinste und dabei seine langen Dolche entblößte. Er beugte sich zu Ansgar hin und schlug ihm seine Zähne in den Hals.
In der linken oberen Ecke des Bildschirmes, konnte ich noch ein Auge von Ansgar sehen. Das Feuer in der Pupille war fast verloschen, aber der pulsierende glutrote Ring erweiterte sich für eine Sekunde, wuchs an und drehte sich kurz träge im Kreis, die Lava-Augen lebten noch.
Justin ließ von ihm ab und kam auf die Kamera zu, seine Augen waren gelb, Raubtieraugen, an seinen Zähnen lief Blut herunter. Ansgars Blut, dachte ich bestürzt.
Justin fixierte mich durch die Kamera und brüllte: »Acht Uhr heute Abend, unten am Fluss, wenn du Glück hast, sind sie dann noch nicht tot.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Schlagartig wurde er ernst und sah wieder in die Kamera. » … und hast du jemals Glück gehabt, Tascha?« Es folgte dieses irre Lachen, dann war der Bildschirm schwarz.
Die CD war zu Ende.
Ich versendete die Daten per E-Mail, an die Adressen, die ich in Joshs Programm unter dem Eintrag Bewahrer finden konnte. Vielleicht hatte ich ja doch Glück.
Als ich den Computer ausschaltete, fiel mein Blick auf die Wand hinter dem Bildschirm, dort hing ein Bilderrahmen mit einem Spruch.
Donec eris sospes, multos numeribasamicos,
terpora si fuerint nubila, solus eris.
Solange du glücklich bist, wirst du viele Freunde zählen,
wenn die Zeiten trübe sind, wirst du alleine sein.
Was hatten die alten Vampire nur immer mit ihrem Latein, ich verstand es nicht. Aber der Spruch passte.
Meine beiden besten Freunde waren weg, es waren trübe Zeiten angebrochen und ich war allein.
Allein mit meinem Monster.
Ich blickte auf den schwarzen Bildschirm und sah darin meine Augen, wie sie sich spiegelten, sie glühten, die Lava drehte sich im Kreis, das Feuer loderte kurz.
»Ich bin auf dem Weg mein Geliebter, ich komme zu dir«, meine Stimme glich einem Reibeisen, »in perpetuum, für immer und ewig.«
Ich stand auf und ging langsam aus dem Büro.
»Ich komme …«
Abermals stand ich auf der Stadtmauer, der beißende Wind wollte mich mit aller Macht von den Zinnen wehen, hinab in die Tiefe reißen.
Ich aber stand ganz still, die Arme ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt.
Ich tankte Kraft, stand auf dem bröckeligen Gestein der alten Mauer und konzentrierte mich.
Zuerst sah ich noch Ansgars Auge auf dem Bildschirm vor mir und wie die Lava kurz rotierte.
Dann war auch dieses Bild weg und ich sah nur noch eine rote Wand vor mir, eine Wand aus Nebel. Ich ahnte, dass ich nur hindurch treten brauchte und die Lösung lag vor mir, dann wusste ich genau, was geschehen würde und geschehen musste.
Ich stand vor der riesigen Wand, sie war höher, als ich blicken konnte, sie schien das ganze Universum einzunehmen. Ich streckte meine Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen die nebelige rote Masse.
Der Nebel driftete ein wenig auseinander, machte meinen Fingern Platz. Wie roter Qualm, kräuselte er sich um meine Fingerspitzen. Ich zog die Hand zurück und fuhr mit dem Daumen über die anderen Finger, der Nebel war eiskalt, dann kam die Wärme. Die Fingerspitzen, die eben noch den Qualm berührten, wurden warm, richtiggehend heiß.
Ich schloss meine Augen und holte tief Luft und trat durch die Nebelwand.
Es war ein Gefühl, als tauchte ich in Eiswasser, es war kalt, die Kälte berührte meine Haut, ließ sie gefrieren, drang durch sie hindurch und kroch in meinen Körper. Augenblicklich erstarrte alles in mir zu Eis, dann war ich durch.
Hinter dem Nebel sah es genauso aus wie davor. Das Eis in mir schmolz, es verflüchtigte sich fast schlagartig und eine herrliche Wärme breitete sich in meinem Körper aus.
Es war anders, als die Wärme, die entstand, wenn ich Blut trank. Es war heißer, viel heißer. Innerlich kochte ich, so stellte ich mir die Hölle vor. Nur verspürte ich keinerlei Schmerzen, bloß dieses Gefühl der Hitze in mir. Ich fühlte mich ausgesprochen gut.
Ich riss meine Augen auf und sah die Dunkelheit vor mir, spürte den kalten Wind auf meiner Haut. Aber die Wärme war noch in mir, ich konnte sie fühlen.
Ich machte einen Schritt nach vorne und fiel in die Tiefe, der plötzliche Windstoß riss meine Haare nach oben und zerrte an meinen Sachen.
Sanft landete ich auf meinen Füßen und lief los.
Mein Geliebter, ich komme.
Ich kam am Fluss an und hielt die Nase in den Wind. Ansgar konnte ich nicht riechen, er verströmte keinen Geruch. Aber ich hatte die Fährte von Josh aufgenommen und von Justin. Ich folgte ihnen. Es führte mich an den Bürogebäuden vorbei. Hinter jeder Ecke, in jeder Gasse vermutete ich eine Falle. Befürchtete, dass Justin plötzlich vor mir stand und mich angriff. Aber alles war ruhig, ja geradezu unheimlich still.
In einiger Entfernung hörte ich einen Hund heulen, das lenkte mich eine Sekunde ab.
Ich wurde gerammt und flog im hohen Bogen durch die Luft. Ich war noch nicht ganz gelandet, da packten mich schon unzählige Hände und drückten mich zu Boden. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, keinen Zentimeter mehr rühren.
Ich blickte mich um, sechs Vampire hielten mich an Armen und Beinen fest, ich kannte ein paar von ihnen. Josh hatte mir von ihnen erzählt, sie gehörten noch dem harten Kern der Vernichter an, er hatte sie bis heute nicht schnappen können. Dann sah ich Dennis vor mir, er grinste mich an und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt.
»Hab ich dich doch erwischt«, seine Stimme hatte mit seiner früheren nichts mehr gemein.
»Los, packt sie, wir tragen sie zu den Anderen.«
Ich wurde hoch gehoben, je einer an meinem Arm und je zwei an meinen Beinen. Ich kam mir vor wie eine Antilope, die gerade erlegt wurde und jetzt zum weiteren Verzehr in die Höhle getragen wurde.
Ich war wütend auf mich selbst, aber so brauchte ich Ansgar und Josh nicht suchen, ich kam wie von selbst zu ihnen.
Die Vampire trugen mich am Flussufer entlang, wir passierten mehrere Gebäude, bis wir zu einer langgestreckten Lagerhalle gelangten.
Schon von außen konnte ich das Knurren und Geifern von anderen meiner Art hören, noch bevor ich ihren staubigen, pergamentartigen Geruch roch.
Dennis hielt uns die Tür auf, ließ die Vampire mit ihrer Beute vorgehen. Als ich an ihm vorbei getragen wurde, blickte er mich kurz an und knurrte:
»Gleich ist es aus mit dir, mein Schätzchen.«
Sie trugen mich weiter in die Halle hinein, eine Wand mit Flügeltüren, Dennis öffnete eine von ihnen und schloss sie hinter uns gleich wieder.
Ich blickte mich in dem rechteckigen Raum um. Er war bevölkert mit etlichen Vampiren, alles niederträchtige Schurken, die Gefolgsleute der Vernichter, schätzte ich. Gegenüber an der Wand befand sich eine große Fensterfront, in die ich in die Dunkelheit draußen blicken konnte.
Genau davor hingen Ansgar und Josh an ihren Ketten, die an der Decke befestigt waren.
Sie sahen beide schlimm aus, bluteten aus verschiedenen Wunden und ihre Haut war kalkweiß, weißer als je zuvor.
Die Vampire holten aus und schmissen mich durch die Luft. Ich landete ungefähr in der Mitte des Raumes, nicht weit entfernt von Ansgar und Josh.
Fast im gleichen Augenblick stand Justin vor mir, er hielt ein Schwert in der Hand.
»Hallo, Tascha.«
Sein Grinsen war vom Wahnsinn durchzogen, seine Augen riesengroß, sie leuchteten mich an.
Er ist total verrückt geworden, schoss es mir durch den Kopf.
Das war auch der Grund, warum die anderen ihm folgten. Ich hatte mich schon im Stillen gewundert, wie ein neuer Vampir so viele alte um sich versammeln konnte. Normalerweise hörten sie nicht auf ihn.
Er war ein Neuling, ein Frischling, sie würden ihn auslachen und er konnte froh sein, hinterher nicht in Flammen aufzugehen, als Strafe für seine Arroganz.
Aber Justin hatte es geschafft, er hatte zusammen mit Dennis die alten Vampire mobilisiert und für sich gewinnen können. Er hatte sie zu den Vernichtern gemacht, wahrscheinlich auch dank seines Wahnsinns.
»Hallo Justin, lange nicht gesehen«, meinte ich munter zu ihm, »du siehst … echt ziemlich verrückt aus.«
Er lachte nur. »Das kann sein, ich habe ja auch verrücktes Blut in mir.«
Ich blickte auf den Boden vor mir und dachte: ja mein Blut trägst du in dir.
Aber ich mag alles sein, böse, schlecht und verdorben. Ich habe vielleicht auch meine Seele verspielt, die Reinheit meiner Art verraten und meine Unschuld verloren. Aber ich bin ganz bestimmt nicht verrückt.
Ich spürte die Wut in mir hoch steigen, fühlte die Hitze, von eben. Etwas von dem roten, eisigen Nebel schien noch in mir zu sein. Er dehnte sich in meinem Inneren aus, füllte die Grenzen, gab mir die Kraft, um dieser Sache hier gewachsen zu sein. Langsam hob ich meinen Blick und sah vor meinen Augen kleine Feuerbälle explodieren.
Justin zuckte zurück, dann hob er sein Schwert.
Er hielt es mir an den Hals, seine Augen glühten gelb.
»Jetzt gleich ist es aus mit dir, Tascha Schätzchen.«
Er hob das Schwert an, presste die Lippen zusammen.
Da geschahen zwei Dinge fast gleichzeitig, ich hörte Ansgar hinter mir.
»Nein!« Seine Stimme klang rau und ich konnte einen Moment nicht sagen, ob ich sie in meinem Kopf hörte, oder in meinen Ohren.
»Doch.« Justin grinste kurz, da hatte ich meine Antwort.
Im gleichen Augenblick flogen die Türen auf und Vampire stürmten den Raum, alte Vampire, in altertümlichen Gewändern. Der hohe Rat, endlich.
Justin blickte erschrocken zu Seite und ich rammte ihm meinen Fuß in den Leib. Er klappte mit einem Keuchen zusammen.
Die Luft war erfüllt von Knurren, Brüllen und Geschrei. Überall sah ich Schwerter blitzen und Blut spritzen. Eine wunderhübsche, blonde Vampir-Frau lief an mir vorbei und warf mir ein Schwert zu, dabei sah sie mich an und zwinkerte kurz mit einem Auge, sie waren golden, wie goldene Lava. »Vae victis«, sagte sie dabei und ihre Stimme klang sanft. Das war Lea, ich war mir sicher, Lea die Löwenstarke.
Ich fing das Schwert auf, keine Sekunde zu spät, denn schon sauste Justins Stahl auf mich nieder. Ich konnte noch das Schwert hoch reißen und den Schlag abfangen, er hätte mich in der Mitte längs zerteilt. Ich sah die wütenden Augen von Justin, hörte sein Knurren und Brüllen, so hatte er sich das nicht vorgestellt.
Er wendete sich um, wollte fliehen, da wurde er von einem Vampir gerammt, ich hatte nicht gesehen, wer es war und er flog im hohen Bogen durch die Luft.
Ich lief hinterher, er prallte mit dem Rücken gegen jemand anderen und begrub ihn unter sich. Justin wollte sich hoch rappeln, er hatte sein Schwert verloren, aber ich war schneller. Mit einem Streich meiner Waffe brachte ich ihm eine tiefe Wunde quer über den Rücken bei. Er schrie auf, lief auf allen Vieren, bevor ihn mein Schwert erneut traf. Er kreischte wie verrückt und fiel hin, er drehte sich auf den Rücken und blickte mich an. Seine Augen waren riesengroß, rund und sehr braun, so normal, wie sie nur sein konnten.
»Tascha, mein Liebling, du willst mir doch nichts zu leide tun.« Seine Stimme war leise und flehend. Ich erhob mein Schwert und erstarrte in der Bewegung.
Ich sah in seine Augen, nahm den Tumult um mich herum nicht mehr wahr, starrte ihn nur noch an.
»Tascha, ich liebe dich doch, mein Monster ist nicht mehr, ich bin wieder der Alte, mein Liebling, mein kleiner Schatz. Verzeih mir, was ich dir angetan habe, ich war irre.«
Er schloss kurz die Augen und der Lärm um mich herum wurde sofort lauter. Schon schlug Justin seine Augen wieder auf und verdrängte jegliches Hintergrundgeräusch aus meinem Kopf, ich war weiterhin wie erstarrt.
»Wir könnten doch wieder zusammen sein, nur du und ich.« Seine braunen Augen suchten meinen Blick, verschlangen ihn, begannen mich mit in ihre unendlichen, grausamen Tiefen zu reißen. Fast war ich versucht ihnen nachzugeben, ich brauchte nur einen Schritt nach vorne zu wagen, die alles verschlingenden Brunnen würden mich willkommen heißen, würden mich mit Freuden empfangen.
Justin versuchte sich zu erheben.
»Wir könnten zusammen sein, für immer und ewig.«
Ich zwinkerte einmal, das Gebrüll und metallische Klirren der Kämpfenden war wieder da.
»In perpetuum?«, murmelte ich heiser.
»Was…?« Justin schien kurz irritiert.
Ich hob mein Schwert an und brüllte:
»Ich hasse dich.«
Dann ließ ich meinen Stahl auf ihn niedersausen. Ich sah noch, wie seine Augen größer wurden, wie sie mich fixierten und erneut versuchten, sich mit meinem Blick zu vereinen, um mich von meinem Vorhaben abzubringen.
Aber er hatte keine Macht mehr über mich, wenn er die je gehabt hatte, wirklich besessen hatte.
Mein Schwert traf ihn im Brustkorb und bohrte sich tief hinein, er stieß ein wahres Löwengeschrei aus und krümmte sich ein bisschen. Ich stieß mein Schwert so tief hinein, dass es durch ihn hindurch, auf der anderen Seite in den Boden fuhr.
Gestützt auf den Schwertgriff, schloss ich kurz meine Augen, ging zu Justins Kopf, riss ihn schnell herum. Mit einem gewaltigen Krachen brach sein Genick.
»Wir sind Quitt, möge ein höheres Gericht über dein weiteres Schicksal entscheiden.«
Ich erhob mich und sah mich in dem Raum um, es brannte. Überall waren kleine Feuerstellen zu sehen, von den geköpften Vampiren. Die Mitglieder des hohen Rates und der Bewahrer kämpften noch vereinzelt. An der hinteren Wand standen einige Vampire, die Vernichter, sie wurden bewacht von Conrad und Oberon, der hohe Rat hatte sie als Gefangene genommen. Dennis stand auch dabei, er blutete stark und sah wütend aus.
Ich sah mich nach meinen Freunden um, die Ketten waren leer, sie schwangen noch leicht. Darunter saßen zwei Gestalten in alte Gewänder gehüllt.
Mit steifen Schritten ging ich zu ihnen. Gerade fiel neben mir der letzte Kopf. Alarich riss die Arme in die Luft und brüllte. Der letzte der Vernichter war gefallen.
Der Sieg war unser.
Vorsichtig näherte ich mich Lea und Eleonore, sie knieten bei Ansgar und Josh.
Eleonore strich Josh gerade sanft über die Stirn. Beide Frauen flüsterten miteinander, ich konnte sie nicht verstehen, es war zu schnell und zu leise für meine Ohren.
Ich ging auf die andere Seite, zu Ansgar und blickte ihn an. Er sah furchtbar aus, er sah tot aus. Ich fiel neben ihm auf die Knie.
»Ansgar, mein Geliebter«, ich hörte keine Antwort, weder in meinem Kopf noch sonst eine. Ich blickte Lea an, sah zu Josh, seine Augenlider zuckten, die Lippen bebten, zum Glück, er lebte noch.
Mein Blick fiel wieder auf Ansgar, seine weiße Haut schien noch weißer zu sein, die Lippen völlig farblos. Die tiefe Halswunde hob sich strahlend ab von seiner hellen, fast glänzenden Haut.
Erneut warf ich einen Blick auf Lea.
»Was…?«, zu mehr war ich nicht fähig. Ihre goldenen Augen sahen betrübt aus, die Lava drehte sich träge im Kreis. Lea zuckte kurz mit den Schultern und wendete ihren Blick ab.
Eleonore ergriff meinen Arm, hielt mich fest.
»Natascha.« Auch ihre Augen waren von goldener Farbe. Ich erinnerte mich, dass sie Eleonore, die Barmherzige hieß. Ich wollte aber jetzt keine Barmherzigkeit, ich wollte nur eins: Dass es Ansgar wieder gut ging, dass seine Stimme in meinem Kopf erklang, dass er lebte.
Um uns herum war es still geworden, ich blickte mich um. Der hohe Rat und einige Mitglieder von den Bewahrern standen um uns herum. Sie senkten die Köpfe, die Hände steckten in ihren langärmeligen Gewändern.
Ich konnte es nicht fassen, sie alle gaben Ansgar schon auf, sie dachten alle, dass er tot sei. Ich wollte es ihnen am liebsten entgegen schreien: Wie könnt ihr nur, wie könnt ihr ihn schon aufgeben, er ist doch einer von euch.
Sie gedenken nur der vielen Toten, die Stimme in meinem Kopf war so leise, das ich sie mir genauso gut nur eingebildet haben konnte.
Ich blickte schnell auf Ansgar, er lag noch genauso da, wie vorher, wirkte wie tot.
Ansgar? Fragte ich in Gedanken, Ansgar, sag doch was, irgendwas, bitte sprich mit mir. Ich widerstand der Versuchung ihn an den Schultern zu rütteln.
Non omnis moriar, da war sie wieder, die Stimme, so leise wie ein Windhauch. Ich werde nicht sterben.
»Bitte«, flüsterte ich und legte meine Kopf auf seine Brust,
»du darfst auch nicht sterben.«
In meinen Gedanken schickte ich ihm: Ich liebe dich, bitte verlass mich nicht, wir gehören doch zusammen, In perpetuum. Mein Geliebter, bitte bleib bei mir.
Meine süße mellila, wie könnte ich dich je verlassen.
Du hast es fast getan, selbst in Gedanken klang meine Stimme verzweifelt.
Ich weiß, das ist inexcusabilis, unentschuldbar, verzeih mir.
Wie geht es dir? Er sah noch genauso tot aus, wie eben noch.
Jetzt wieder besser. Du bist da, und wahrscheinlich riechst du wieder so teuflisch gut wie immer. Ich werde nur etwas länger brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Nur etwas Zeit.
Du hast alle Zeit der Welt, mein Geliebter. Ich werde dir etwas zu trinken besorgen und dann gehen wir nach Hause.
Ja, nach Hause, …das hört sich gut an.
Ich stand auf und drehte mich um, die Gefangenen wurden gerade abgeführt, Justin lag bei Conrad auf dem Arm, er würde für seine Heilung auch einige Zeit benötigen. Dann wird er seiner gerechten Strafe zugeführt.
Ich griff mir den nächstbesten Vampir, der neben mir stand und frage ihn: »Hat hier jemand eine Konserve dabei? Ansgar braucht dringend frisches Blut zu trinken.«
Der junge Vampir sah mich verständnislos an »Frag Alarich.«, er drehte sich um und ging den Gefangenen hinterher.
Alarich, dachte ich, ich kann doch nicht so einfach zu dem Obersten des hohen Rates gehen und nach ein bisschen Blut fragen.
Ich drehte mich zu Ansgar um, er wirkte nach wie vor leblos. Ich suchte nach Alarich. Er stand mit Lea, Eleonore und Falk zusammen, sie unterhielten sich leise. Ich trat an die Gruppe heran und räusperte mich leise. Sie stoppten ihre Unterhaltung und wendeten sich mir zu.
»Entschuldigt bitte, aber es ist von äußerster Wichtigkeit.«
»Sprich, mein schönes Kind«, Alarichs Stimme war brüchig wie altes Papier, er lächelte mich an.
»Ansgar braucht dringend frisches Blut, hat… hat jemand von euch zufällig etwas dabei?« Ich kam mir total dämlich vor, als würde ich um Drogen betteln.
Alarich lächelte nur noch mehr, seine goldenen Augen glühten kurz auf, dann zog er eine Blutkonservendose aus seinem Umhang und reichte sie mir.
»Mit den besten Wünschen für ihn, meine kleine Schönheit.«
»Ich danke Euch«, damit nahm ich die Dose an mich und war schon wieder auf dem Weg zu Ansgar.
Ich warf mich vor ihm auf die Knie und riss die Dose auf. »Ansgar, bist du wach?«
Hm-m? Hörte ich in meinem Kopf.
Ich hab hier etwas, damit bist du schnell wieder auf den Beinen. Ich hob seinen Kopf an und versuchte die Dose an seinem Mund anzusetzen, es lief daneben.
So geht das nicht, dachte ich frustriert. Ich trank einen Schluck, behielt das Blut in meinem Mund, beugte mich zu Ansgar herunter und drückte mit einer Hand seinen Mund auf. Vorsichtig legte ich meine Lippen auf seine und ließ das Blut in seinen Mund laufen. Nochmals nahm ich einen Schluck aus der Dose und küsste ihn.
Ich sah ihn schlucken. Sehr gut.
Beim vierten Mal legte er seinen Arm um meinen Nacken und erwiderte den Kuss. In meinem Kopf vernahm ich seine Stimme jetzt lauter, da mi basia mille, … gib mir tausend Küsse.
»Später, komm erst mal wieder hoch, ich trage dich nicht.«
Würdest du mich nicht tragen, wenn ich unfähig wäre zu gehen? Das glaube ich dir nicht.
Er öffnete die Augen, die rote Lava war verschwunden, nur noch der feine Ring und die braune Farbe, die nun ganz langsam im Kreis dahin floss. Kein Feuer leuchtete in der Pupille, sie war mattschwarz, ohne jeglichen Glanz.
Er blickte mich an. Du hast ihn erledigt. Das war sehr tapfer von dir, einfach hierher zu kommen, sehr tapfer … und überaus dämlich.
Seine Stimme in meinem Kopf knurrte, wie kannst du dich nur in solch eine Gefahr begeben? Wie kannst du nur so … so dumm sein?
Ich senkte den Blick, und schickte ihm meine Gedanken: Aber er wollte dich umbringen, dich und Josh. Ich … ich musste kommen, ich wollte wenigstens versuchen euch zu helfen. Ich habe die anderen informiert und dann bin ich los zu dir.
Ich hob vorsichtig meinen Blick, noch grimmiger als zuvor starrte er mich an.
Du hättest auch nicht anders gehandelt, schickte ich hinterher.
Nein, aber hier geht es nicht um mich. Du hättest sterben können, er hätte dich erledigen können.
Ansgars Augen wurden ein bisschen größer Du hättest tot sein können und ich wäre alleine.
»Nein, du wärst gestorben, wenn…«
Das ist das Gleiche, unterbrach er mich unwirsch. Versprich mir, dass du dich nie wieder in solch eine Gefahr begibst, nie wieder, hast du mich verstanden?
Ja, antwortete ich kleinlaut. Ich versuchte krampfhaft an nichts zu denken, aber das ging einfach nicht. Du wärst jetzt tot, das ist das Gleiche, die Worte schwirrten mir durch den Kopf. Tot sein, dass Gleiche wie alleine sein?
Für mich schon. Er schloss wieder seine Augen. Ich muss mich dringend ausruhen, gehen wir jetzt nach Hause, bitte.
Ich half ihm auf, schwer lastete er auf meinen Schultern. Ich schleppte ihn zu seinem Wagen und ließ ihn einsteigen. Dann steuerte ich in Richtung unserer Wohnung.
Unterwegs überlegte ich, dass ich eigentlich noch etwas Anständiges für Ansgar zu trinken besorgen musste, menschliches Blut.
Da fuhr ich gerade an ihr vorbei, ich konnte mein Glück kaum fassen, mir wurde eine Beute auf dem Tablett serviert.
»Ansgar?«, flüsterte ich ihm zu, »schaffst du es, sie durch das Fenster zu ziehen?«
Er sah auf, ihm waren die Augen wieder zugefallen, ja, ich denke schon.
Langsam fuhr ich an den Straßenrand heran, ließ die Scheibe an der Beifahrerseite herunter und hoffte inständig, dass Ansgars Anblick sie nicht verschreckte, jedenfalls nicht bevor …wir nahe genug dran waren
»Entschuldigung, hallo, Entschuldigung, ich glaube ich habe mich verfahren, können Sie mir helfen?« Sie kam näher an den Wagen, näher zum Fenster. In einer schnellen Bewegung hatte Ansgar sie gepackt und in das Auto gezerrt.
Unterwegs luden wir ihren toten Körper an der Mülldeponie ab, wie immer.
Ansgar ging es nach seiner Mahlzeit bedeutend besser, er war noch nicht vollständig hergestellt, aber ich konnte wieder sein Blut durch seinen Körper rauschen hören.
Ich parkte den Bentley und wir gingen in unsere Wohnung.
Ansgar ließ sich schwer auf das Sofa fallen und schloss die Augen.
»Willst du nicht lieber ins Bett und dich da ausruhen?«, fragte ich ihn erstaunt.
»Nein, noch nicht«, er klang erschöpft. Ich wollte gerade an ihm vorbeigehen, da schnellte sein Arm vor, er packte mich und zog mich auf sich drauf. Seine Bewegungen waren annähernd so schnell wie immer. Ich konnte mir einen kleinen, erschreckten Schrei nicht verkneifen. Sofort hörte ich seine Stimme in meinem Kopf, verzeih mir bitte, das wollte ich nicht.
Er strich mit seiner Nase über meine Wange und atmete meinen Geruch ein.
»Hm-m, du riechst so gut. Wenn ich daran denke, dass ich fast nie wieder deinen Geruch in mich hätte einsaugen können, wird mir ganz übel.« Er packte mit beiden Händen mein Gesicht und blickte mich an. Seine Lava-Augen glühten und kleine Feuer flackerten immer wieder auf.
»Nie wieder darfst du dich so in Gefahr begeben, hörst du, nie wieder.« Er ließ mein Gesicht los und umarmte mich fest.
»Nichts ist das wert, gar nichts.«
»Doch«, flüsterte ich heiser, »du bist es wert, du bist jede Gefahr wert, mein Geliebter, jede.« Erneut ergriff er mein Gesicht mit beiden Händen und blickte mir tief in die Augen.
Te amo, in perpetuum. Hörte ich ihn in mir drin Ein Schauer lief mir über den Rücken, ich schickte ihm meine Gedanken zurück: Ich liebe dich auch, für immer und für ewig.
Dann trafen seine eisigen Lippen auf meine und ich saugte seinen Geruch tief in mich ein.