Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan - Nadja Losbohm - Страница 7

2. Kapitel

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Als wir endlich an den Waldrand gelangten und ich aussteigen konnte, war der Punkt erreicht, an dem mir vor Harndrang schon ganz schlecht war. Sobald meine Füße den Erdboden berührten, fummelte ich an meiner Kleidung herum. Da ich so nötig musste, tänzelte ich hin und her, zappelte herum, was es mir erschwerte, mich aus den Stofflagen zu befreien.

„Junge, du brauchst dringend andere Kleider. Was du trägst, ist viel zu umständlich für solch banale Angelegenheiten. Siehst du, meine Sachen sind viel praktischer“, sprach de Forestier und führte es mir vor. Mit einer fließenden Handbewegung schob er den Stoff seiner Kutte beiseite, ließ hierbei seine braunen Beinlinge aufblitzen und beförderte sein Gemächt zutage. Ungeniert packte er es und fing an, sich vor mir zu erleichtern.

Schockiert weiteten sich meine Augen, und ich schnappte nach Luft. Nicht nur, dass er schamlos seine Nacktheit entblößte. Er trug auch keine Brouche, die gängige Unterhose unserer Zeit. Ich selbst besaß keine, war ich doch gerade erst vom niedrigsten Novizen zum niedrigen Mönch aufgestiegen. Man hatte mich kleidungstechnisch minimalistisch ausgestattet, und ich war an das freie Schwingen um die Mitte herum gewöhnt. Aber er als Bischof hätte sie tragen müssen. Es war unerhört, ein Skandal! De Forestier lachte, und auch Rousel amüsierte sich bei dem Schauspiel köstlich.

„Auf unserer Reise werden wir viel Zeit miteinander verbringen. Wir werden noch weniger Komfort haben als jetzt und wir werden einander in Situationen sehen, die weitaus unangenehmer sind als das hier“, eröffnete er mir. Er schüttelte ab und richtete sich wieder her. „Für Schüchternheit haben wir keine Zeit. Außerdem ist es mir hier zu heiß, um noch mehr Stoff zu tragen, und es bietet mir im Notfall auch mehr Bewegungsfreiheit. Du wirst noch früh genug erleben, was das zu bedeuten hat“, meinte er und zwinkerte mir zu. Ich war verwirrt und entsetzt zugleich. Schwer zu sagen, was dabei schlimmer war: der Auftritt, den er hingelegt hatte, oder die ehrlichen Worte, die er gesprochen hatte? Zugute halten musste ich dem Geschehen, dass es dafür sorgte, dass meine Hände sich beruhigt hatten und stillhielten und ich nicht mehr herumzappelte. Mit mehr Contenance als zuvor konnte ich es de Forestier gleichtun, wenn auch mit einem Funken mehr Anstand und Würde als er – zumindest hoffte ich das.

Nachdem ich mich erleichtert hatte, machte ich mich daran, nach dem Bischof Ausschau zu halten. Ich entdeckte ihn am hinteren Ende des Reisewagens, als er diesen anschob. Am vorderen Ende fand ich den Kutscher Rousel, der die Pferde an den Zügeln gepackt und sie mit sich tiefer in den Wald zog. Es rumpelte und polterte, als das Gefährt zwischen die Bäume rollte. Äste brachen, als sie den Kampf gegen den Kutschwagen verloren. Die beiden Männer ließen sich von nichts beirren, ebenso wenig wie die Pferde. Sie ertrugen das Gezerre, Geschiebe und Knacken und selbst die auf sie zukommende Dunkelheit des Waldes mit stoischer Gelassenheit. Ich kam nicht umhin zu denken, dass sie an derlei Aktionen gewöhnt waren. Alle vier, die Pferde, der Kutscher und der Bischof, waren eine eingespielte Mannschaft, die nicht lange brauchte, bis sie zwischen den Bäumen und Sträuchern verschwunden war, dass man sie vom Weg aus nicht mehr sehen konnte. Den Rest erledigten geschickt platzierte Äste, Zweige und was sich sonst noch so alles auf dem Erdboden finden ließ. Ich hob den Saum meines Habits an, stapfte durch das hochgewachsene Gras und gesellte mich zu den beiden Männern.

„Ah, Michael, wunderbar. Sei so gut und hilf dabei, unser Nachtlager herzurichten“, meinte de Forestier. Er schnaufte nicht einmal aufgrund der Anstrengungen, die es gekostet haben musste, die Kutsche zu bewegen. Er war beinahe dreimal so alt wie ich und besser in Form. Es war schwer zu erkennen im Licht der Abenddämmerung, aber ich vermutete, er vergoss nicht einmal einen Tropfen Schweiß. Ich sah mich um, auf der Suche nach etwas, das ich verwenden konnte. Wenn ich doch nur gewusst hätte, was man dafür benötigt.

„Wonach suchst du, Junge? Etwa nach Blättern, um dir mit ihnen den Hintern abzuwischen?“

Ich drehte mich zu der Stimme um und wurde umgehend von etwas großem, aber Weichem getroffen. Im Halbdunkel waren mir meine Augen keine große Hilfe, um auszumachen, was es war. Nur meine Hände errieten, dass es eine Decke und ein Kissen waren, die mir Rousel zugeworfen hatte. „Solange wir den Luxus noch haben, leben wir auch in ihm. Es wird bald anders kommen“, meinte er und trottete, selbst bepackt mit Schlafzeug, an mir vorbei. Er wusste ganz offensichtlich, was er tat, also folgte ich ihm. Ich beobachtete ihn dabei, wie er zielstrebig eine Stelle ansteuerte. War er hier zuvor schon gewesen oder war er lediglich in der Lage, seine Umgebung geschwind mit wenigen Blicken zu erfassen? Als ich ihn danach fragte, antwortete er: „Hast du einen Wald gesehen, hast du alle gesehen. Ich habe mein ganzes Leben in welchen verbracht. Ich weiß, was ich brauche und finde es schneller, als dass du deinen blaublütigen Schniedel zum Pissen hervorholen kannst.“

Grundgütiger! Was redete er da nur? Seine vulgäre Ausdrucksweise zog mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. Ich musste stehen bleiben, um mich von dem Schock zu erholen. Ich hatte gedacht, der Bischof war schon unverschämt gewesen, aber das! Es war – mir fehlten die Worte! Und überhaupt, wie kam er darauf, mein Schnie – ich sei blaublütig? Dann dämmerte es mir allmählich. Er hatte mich geschwollen reden hören, ganz so wie es die Angehörigen des Adels taten. „Ich bin nicht adelig!“, rief ich ihm nach und rannte wie ein Hündchen hinter ihm her.

„Ach nein? Wieso sagst du dann urinieren und benutzt nicht Worte, die wir alle kennen, Graf Kotz?“, fragte er, blieb stehen und verbeugte sich vor mir. Seine Bewegungen waren formvollendet. Sogar hochwohlgeborene Jünglinge hätten gegen ihn linkisch ausgesehen. Ich hätte mich geschmeichelt gefühlt, dass er sich so viel Mühe gab, wenn ich nicht gewusst hätte, dass er mich damit verhöhnte. Graf Kotz.

„Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich vor dem Bischof einen guten Eindruck machen“, gestand ich kleinlaut.

„Ach so ist das. Du bist ein Arschkriecher.“ Verdutzt starrte ich den Kutscher an. Seine Fremdwörter überforderten mich. „Da ist unser Schlafplatz“, verkündete er und schob mich unsanft aus dem Weg. Schnurstracks lief er an mir vorbei. Immer noch verblüfft über den rasanten Themenwechsel, den er vollzogen hatte, sah ich ihm hinterher. Rousel stakste durch den Wald und schien nach einigen Schritten plötzlich im Erdboden zu versinken. Ich zog scharf den Atem ein, so erschrocken war ich, und vergaß dabei ganz unsere seltsame Unterredung. Ich rief seinen Namen und rannte in die Richtung, in die er verschwunden war. „Hier unten.“

Zwei Schritte von mir entfernt tauchte sein Kopf in etwa auf Bodenebene auf. Da erst erkannte ich, dass sich nicht das Erdreich aufgetan hatte, um ihn zu verschlucken, obwohl es mich nicht gewundert hätte, bedenkt man, welch schmutziges Mundwerk er besaß. Nein, er war einfach eine Böschung hinunter gesprungen. Es war mir ein Rätsel, wie er diese hatte ausmachen können im immer weiter schwindenden Licht. „Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht, Graf Kotz?“, fragte er und streckte seine Hände aus, damit ich ihm meine Decke und das Kissen gab.

„Mitnichten, Lord Latrine“, erwiderte ich. Was er konnte, konnte ich schon lange! Ich warf ihm mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, das Schlafzeug zu und hüpfte die Böschung hinunter. Als ich weich auf dem mit Laub bedeckten Boden gelandet war, entriss ich Rousel meine Sachen wieder und machte mich daran, das Nachtlager herzurichten. Lord Latrine - erm- Rousel lachte herzhaft. Ein Geräusch, welches eher dem Bellen eines großen Hundes ähnelte.

„Du lernst schnell, Graf Kotz. Das muss ich dir lassen“, meinte er und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich hatte bekommen, was ich wollte: Anerkennung. Bedauerlicherweise von dem falschen Mann und für eine äußerst fragwürdige Leistung.

„Wie ich sehe, verstehen sich meine Reisebegleiter. Hervorragend“, sprach es über unseren Köpfen. Der dunkle Umriss de Forestiers ragte drohend in dem Wald auf, den die Nacht fast gänzlich eingenommen hatte. Des Bischofs Größe jagte mir einen kurzen Schreck ein. Wir waren zwar in etwa gleichauf, doch während ich dünner Hänfling kaum einem Hasen Angst einjagen konnte, stellte de Forestier eine beeindruckende und einschüchternde Gestalt dar, so sehr, dass ich die Bemerkung über die zarten Freundschaftsbande, die der Kutscher und ich gerade erst geknüpft hatten, vergaß. Nun, wir mussten nicht unbedingt Kumpel werden und auch Seelenverwandtschaft war mir nicht wichtig. So lange wie er mir nicht weitere sonderbare Spitznamen verpasste, konnte ich gut mit etwas Distanz zwischen uns leben.

„Aber ja, Euer Exzellenz. Hattet Ihr deswegen etwa Zweifel?“, fragte Rousel, Empörung vortäuschend.

De Forestier ließ seine Frage unkommentiert und sprang stattdessen beherzt die Böschung hinunter. Mit wenigen geübten Handgriffen hatte er sich sein Nachtlager selbst aufgebaut. Als er damit zufrieden war, klatschte er in die Hände und nickte, als wollte er sein Werk loben. „Jetzt fehlt nur noch ein wohlig warmes Feuerchen und ein saftiges Stück vom Spanferkel und ich könnte glücklich sterben“, verkündete er und klopfte sich auf den Bauch.

„Das Ferkel ist leider aus. Aber ein kleines Feuer kann ich Euch bereiten“, meinte der Kutscher. Der Bischof nickte und wedelte kurz mit der Hand, was Rousel dazu veranlasste, loszulaufen. „Michael, hilf ihm beim Sammeln des Brennholzes. Wir brauchen nicht viel. Das Feuer darf nicht zu groß werden, damit man es nicht schon von Weitem sieht. Es soll nur als Lichtquelle in der Nacht dienen und uns ein wenig die Hände und Nasenspitzen wärmen.“ Ich nickte und lief Rousel nach.

***

Meine erste Nacht im Freien. Ich kann mich noch an sie erinnern, als hätte ich gestern erst auf dem Laub gelegen, mit dem Rascheln des Blätterwerks, dem Heulen von Wölfen, dem Knacken des Unterholzes, wenn irgendetwas Großes und Schweres durch es pirschte, und dem Kreischen von nachtaktiven Vögeln oder anderen fliegenden Lebewesen in den Ohren. Es war ein einziger Alptraum gewesen! Mit dem Rücken zum Feuer, wild hämmerndem Herzen und weit aufgerissenen Augen hatte ich in den dunklen Wald gestarrt. Durch die furchtbaren Erfahrungen, die ich im Kloster gemacht hatte, als sie in meine Kammer eingedrungen waren, mir den Mund zugehalten und mich davon geschleppt hatten, um mich zu foltern, waren meine Sinne höchst sensibel geworden. Ich bildete mir sogar ein, hören zu können, wie die Regenwürmer aus dem Erdreich krochen und wie Fledermäuse an einem Wildtier hingen und aus dessen Halsader Blut saugten. Es gab einiges, was ich zuordnen konnte, aber auch ausreichend andere Geräusche, die mir unbekannt waren und die mich daher schier um den Verstand brachten.

***

„Das ist nur eine Bache, die sich vermutlich mit einem Keiler in der Suhle vergnügt“, hörte ich de Forestier sagen.

Ich rollte mich herum und sah über die Flammen unseres lächerlich kleinen Feuers zu ihm hinüber. „Woher wusstet Ihr -“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.

„Dein Zittern bringt die Erde zum Beben. Ich höre dein lautes, schweres Atmen und rieche den Angstschweiß.“ Ich setzte mich auf und beäugte ihn. Meinte er das ernst? Der Bischof zuckte mit den Achseln. „Nun ja, die ersten beiden Dinge stimmen. Die dritte Sache dient zum Ausschmücken der Szene“, sagte er und zwinkerte mir zu. Eine Salve verschiedener Geräusche war zu vernehmen angefangen bei röchelnden Tönen und Grunzen bis hin zu wohligem Brummen und Quieken. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die haben andere Sachen im Kopf als dich halbe Portion. Bist du sicher, dass du nicht doch blaues Blut in dir hast, hinter dicken Schlossmauern und mit goldenem Besteck aufgewachsen bist? Andernfalls müsstest du derlei Laute kennen.“

Ich senkte meinen Blick auf die orangeroten Flammen des Feuers. In ihm knackte es und Funken stoben in die Luft. Sie waren kaum größer als das Buchweizenmehl, das aufgewirbelt worden war, wenn meine Mutter Galettes zubereitet hatte. Maman. Der Gedanke an sie versetzte meinem Herzen einen so heftigen Stich, dass es ins Stolpern geriet. Ein unangenehmes Gefühl, noch unerträglicher als das, wenn man mit dem Wagen über jedes tiefe Loch brettert, das den Weg kreuzt, und sämtliche Innereien des Menschen durchschüttelt. Ich hatte das Bedürfnis, mir an die Brust zu fassen und mein Herz festzuhalten, damit es dort blieb, wo es hingehörte, und sich beruhigte. Meine Finger zuckten. Nur im allerletzten Moment konnte ich mich beherrschen, schließlich beobachteten mich de Forestiers aufmerksame Augen. Auch wenn die Erinnerung an Maman mein Herz aus dem Takt gebracht hatte, hatte es mich auch gemahnt und seine Reaktion war sicherlich nicht zufällig gewesen.

Der Bischof hatte mich, wenn auch versteckt, nach meiner Vergangenheit gefragt. Nur wenig später hatte mich das Sprühen der Funken an meine Kindheit erinnert, als wollte es mich ebenfalls warnen und sagen: Denk nach! Sei vorsichtig. Was könnte er über dich wissen? Eine gute Frage. Ja, was hatte man ihm bereits über mich erzählt? Wie viel hatten ihm der Abt oder gar Prior Arnaud verraten außer die Einzelheiten über mein sagenhaftes Abschließen der Ausbildung? War es klug, den Bischof über mein früheres Leben, meine Herkunft in Kenntnis zu setzen? Nicht, wenn du ihn nicht gut kennst, flüsterte es in mir. „Mhh“, machte ich, was de Forestier aufhorchen ließ. Er reckte den Hals und hob die Augenbrauen, bereit zu hören, was ich zu sagen hatte. „Ich stamme ganz sicher nicht von Königen oder Herzögen ab, Euer Exzellenz.“ Eine kurze Antwort erschien mir die beste und ungefährlichste zu sein.

„Dann sind deine Eltern einfache Leute?“

Obacht! Zwei Dinge, die mich aufmerken ließen: die Verwendung der Zeitform und das Wort einfach. Erstens, auf meinen Vater mochte Letzteres zutreffen. Maman hingegen war alles andere als einfach gewesen. Sie war für mich eine Heilige! Zweitens, de Forestier gab zu verstehen, dass er dachte, meine Eltern lebten noch. Es könnte auch eine Falle sein, ein Test. Es war möglich, dass er über alles Bescheid wusste und prüfen wollte, ob ich ihn anlog oder die Wahrheit sagte. Sacre bleu! Was sollte ich tun?

„Bauern“, murmelte ich. Eine sehr kurze Antwort. Auf diese Weise umging ich es aber zu sagen, ob sie es nach wie vor sind oder es waren. Ich fühlte mich unglaublich schlau und wollte schon innerlich triumphieren. Doch zu meinem Leidwesen war der Bischof des nächtlichen Geplauders noch lange nicht überdrüssig.

„Wenn deine Eltern Bauern sind, solltest du erst recht Bescheid wissen, was solche Geräusche“, er lauschte und in der Ferne ertönte abermals Gegrunze, Gequieke und Geröchel, „bedeuten.“ De Forestier lachte lauf und klopfte sich auf den Oberschenkel. Rousel brummte kurz im Schlaf, gab einen beherzten Schnarcher von sich und schlief weiter. Erstaunt über seinen Gefühlsausbruch musterte ich den Bischof. Als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte, wischte er sich die Freudentränen aus den Augenwinkeln und sah zu mir herüber. Dass ich völlig regungs- und emotionslos dasaß, verwunderte ihn dann doch sehr und er wurde schlagartig ernst. „Du hast wirklich keine Ahnung, was?“

***

Zu jener Zeit gab es keinen Aufklärungsunterricht, wie es anscheinend heute der Fall ist, wie mir verlegene Schüler aus meiner Gemeinde berichtet und sich vertrauensvoll an mich gewandt hatten, weil sie mit ihren Eltern nicht über den Fauxpas einer Erektion während des Schauens eines Aufklärungsvideos im Schulunterricht reden konnten. Welch Ironie es war, dass sie ausgerechnet mit mir über solche Dinge sprachen, wo ich doch noch niemals in meinen fast eintausend Jahren mit einer Frau zusammen gewesen bin. Ja, ganz richtig: Ich bin noch – wie sagt man nochmal? - Jungfrau. Ich habe noch nie eine Frau vollkommen nackt gesehen. Geküsst habe ich hingegen schon, aber dazu ein anderes Mal mehr. Jedenfalls was die Veränderungen des menschlichen Körpers in der Jugend angeht und die Gefühle, die aufkommen – darüber hatte man uns im Kloster nichts beigebracht.

Alles, was man uns, den Novizen, eingebläut hatte, war, dass Frauen Sünde bedeuteten und es schon verheerende Folgen für uns hatte, wenn wir sie auch nur ansahen. Dasselbe galt für unsere Gedanken und Handlungen. Welche das waren, sagte man uns nicht. Erst als ich meine erste Erektion und den ersten nächtlichen Erguss hatte, ahnte ich, was sie meinten. Ich schämte mich dafür so sehr, dass sie mir die Schuld an der Nasenspitze hatten ablesen können. Es hatte Folgen für mich gehabt. Schmerzhafte. Obwohl ich es nicht absichtlich getan hatte. Es passierte einfach und ich konnte nichts dagegen tun. Irgendwann gab es sich von ganz allein. Der Lauf der Natur sozusagen.

Nichtsdestotrotz war der Wandel vom Jungen zum Mann schlimm für mich. Niemand hatte mir erklärt, wieso dies oder jenes geschah oder irgendetwas funktionierte. Die Andeutungen, die de Forestier damals in Bezug auf das Leben als Bauern und das Verhalten der Tiere gemacht hatte, ergaben für mich ebenfalls keinen Sinn. Weder auf dem Hof meiner Eltern noch im Kloster von Gourin hatte ich je die Zeugung von neuem Leben gesehen. Mit anzusehen, wie ein Tier geschlachtet, ausgenommen, gekocht oder gebraten wird, um es zu verspeisen, schien zur damaligen Zeit für ein Kind verkraftbar zu sein. Über den Akt der Fortpflanzung von selbigen informiert zu sein, war hingegen etwas Verwerfliches. Deswegen konnte ich von ganzem Herzen und aufrichtig sagen:

***

„Was meint Ihr? Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.“

Der Bischof kratzte sich am Kinn, das dunkle Bartstoppeln zierte. „Ah“, seufzte er, „das Leben hinter dicken Klostermauern, abgeschnitten von der sündigen Welt – es ist ein Segen, nicht wahr, junger Freund?“ De Forestier schaute hinauf zu den dunklen Schatten des sich im sanften Wind bewegenden Blätterwerks. Über sein Gesicht huschten Erinnerungen an vergangene Zeiten. Ob er an seine Ausbildungszeit in einem Kloster zurückdachte? Wo hatte er gelernt? Diese Fragen interessierten mich. Ich wollte den Mann, der dem Bild eines typischen hochrangigen Klerikers so gar nicht entsprach, kennenlernen. Und es war sicherlich von Vorteil, mehr über ihn zu erfahren, ganz besonders in Anbetracht der Tatsache, dass mich seine letzten Worte so sehr an jemand anderes erinnerten. Hatte nicht auch Arnaud mich oft Freund genannt?

Mich fröstelte, was nicht von der Böe herrührte, die über unser Nachtlager fegte. Man stelle sich nur einmal vor, de Forestier und Arnaud wären Novizen im selben Kloster zur gleichen Zeit gewesen und hatten über die Jahre hinweg den Kontakt beibehalten. Saß ich womöglich vor des Priors Zwilling? Nicht in Hinblick auf ihr Äußeres, wohl aber was ihren Charakter und ihre Vorlieben betraf wie zum Beispiel der des Folterns und Quälens? Sollte de Forestier mir durch dieses eine winzige Wörtchen einen Hinweis geliefert haben, mit wem er im Bunde stand? Hatte er es absichtlich getan oder war ihm nur ein Fehler unterlaufen? Mir wurde ganz schlecht bei diesen Gedanken, ich hatte womöglich nur den einen gegen den anderen ausgetauscht. War ich zu leichtgläubig gewesen? Hatte ich der Geschichte zu viel Gewicht beigemessen, weil ich unbedingt fort gewollt hatte? Hatte ich Wahrheit in etwas hinein interpretiert, wo es keine Wahrheit gab?

Meine Gedanken überschlugen sich. Etwas in mir wollte am liebsten sofort aufstehen und davonlaufen. Aber wohin sollte ich? Ich wusste nicht, wo wir waren, hatte keine Ahnung, wohin ich gehen konnte. Was ich wusste, war, dass ich ohne den Bischof und den Kutscher verloren sein würde. Ich hatte nicht nur keinen blassen Schimmer von dem, was die Wildschweine trieben. Ich wusste auch nichts über die Welt, von der ich den größten Teil meines Lebens getrennt aufgewachsen war und in die wir schon bald eintauchen würden. Ich musste der Tatsache ins Auge blicken: Ich war abhängig von den beiden Männern.

Es missfiel mir, aber es stimmte. Ein anderer Teil von mir wollte es mit ein bisschen Vertrauen versuchen. Dieser Teil war neugierig und erpicht darauf, endlich zu sehen, wovon ihm erzählt worden war. Er wollte helfen, schützen, Gutes tun und Wiedergutmachung leisten für mein Versagen als Kind. Wenn dies irgend möglich war. Ein winzig kleiner Rettungsanker tauchte in mir auf. An diesen klammerte ich mich fest: Hätten de Forestier und Rousel mir etwas antun wollen, hätten sie bereits zahlreiche Möglichkeiten dazu gehabt. Ihr Körperbau und nicht zuletzt die Narben und Wunden in ihren Gesichtern, die von ihren letzten Schlachten noch nicht vollständig verheilt waren, zeugten von ihrer Erfahrung im Kampf. Ein jeder von ihnen war problemlos dazu in der Lage, mich allein mit einem Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht zu Boden zu schicken, so dünn, so zerbrechlich, ja geradezu kränklich war ich. Der Bischof hätte mich auch hinterrücks in der Kutsche abstechen können, als ich geschlafen hatte und doch war ich immer noch am Leben. „Mhh“, machte ich zur selben Zeit wie de Forestier. Überrascht sahen wir uns an. Dann lächelten wir.

„Versuch noch ein bisschen zu schlafen. Ich wecke Rousel, wenn er mit der Wache an der Reihe ist.“ Ich nickte und tat, wie mir geheißen wurde. Innerlich gab ich nochmals ein Mhh von mir. Ja, ich will es mit ein wenig Vertrauen versuchen.

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan

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