Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan - Nadja Losbohm - Страница 9

4. Kapitel

Оглавление

Es dauerte nicht lange, bis mich das stetige Schaukeln der Kutsche und die Monotonie der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft schläfrig machten. Immer wieder fielen mir die Augen zu, ob nun aus diesen Gründen oder weil ich einiges an Schlaf in meinem Leben nachzuholen hatte. Ich kannte derlei nicht: Eintönigkeit und Langeweile. Im letzten Jahrzehnt war jeder meiner Tage einem strengen Ablauf gefolgt, von dem es kein Abweichen gegeben hatte. Wenn ich an einen Moment der Untätigkeit denken sollte, fiel mir keiner ein. Ich gähnte herzhaft und setzte mich etwas aufrechter hin in der Hoffnung, dass es der Müdigkeit entgegenwirkte.

„Hast du es dir so vorgestellt?“, erscholl de Forestiers Stimme aus der schräg gegenüberliegenden Ecke des Wagens. Ich zuckte mit den Schultern. „Du darfst ruhig ehrlich und offen sein, Michael. Nur keine Scheu“, ermutigte er mich.

Mhh“, machte ich. Ein wenig Offenheit und Wahrheit sind wohl in Ordnung. „Ihr habt mir hanebüchene Dinge erzählt, Eure Exzellenz, die meine Neugierde entfacht und mir, obwohl ich noch nicht alles weiß und noch weniger gesehen habe, Alpträume bereitet haben. Versteht es nicht falsch, ich bin nicht erpicht auf große Aufregung. Davon hatte ich wahrlich genug.“ Meine Stimme war mit den letzten Worten immer leiser geworden und brach schließlich gänzlich ab.

De Forestier rieb sich über eine schorfige Stelle an seinem Kinn, die ihn juckte, ein Zeichen, dass die Heilung eingesetzt hatte. „Du meinst solche Aufregung wie die, die zu den Narben auf deinem Rücken geführt hat?“ Mir stockte der Atem. Meine Augen weiteten sich. Fassungslos starrte ich den Bischof an. Wieso hatte er mich nicht am Fluss darauf angesprochen, sondern hatte vorgegeben, sie nicht gesehen zu haben? Und ich – wie hatte ich sie vergessen können? Warum war ich so unachtsam gewesen und hatte mich mit den hässlichen, widerwärtigen Wundmalen und Striemen, die sich von meinen Schultern über meinen gesamten Rücken bis zum oberen Teil meines Gesäßes zogen, gezeigt?

Weil ich glücklich gewesen war, die Vergangenheit für diese wenigen Momente vollkommen hinter mir lassen zu können, und es genossen hatte, so etwas Normales zu tun wie dem Erfrischen in einem klaren, reinen Fluss. Diese kurze Zeitspanne war für mich ein Stück des Himmels gewesen. Ich wandte den Kopf zur Seite und sah mürrisch aus dem Fenster. Hätte ich doch bloß dem Schlaf nachgegeben. Dann müsste ich jetzt nicht diese unangenehmen und belastenden Blicke von de Forestier ertragen, der darauf brannte, mehr zu erfahren.

„Du musst es mir nicht erzählen, Junge. Manches, das wir in unserem Vorleben durchgemacht haben, bleibt lieber begraben, als dass wir es immer wieder hervorholen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass ich dich deswegen ausfrage. Aber lass mich noch dieses dazu sagen: Es tut mir sehr leid.“

Während er gesprochen hatte, hatte ich mir die Landschaft besehen. Ich stimmte ihm zu, dass schmerzhaftes Vergangenes es nicht wert war, wiederholt ins Gedächtnis zu treten. Dabei konnte niemals Gutes herauskommen. Man konnte es ohnehin nicht ändern oder rückgängig machen. Ich sah de Forestier in die Augen und presste ein Wort des Dankes hervor. Der Ärger darüber, dass er die schändlichen Narben gesehen und ich sie ihm bedenkenlos präsentiert hatte, ebbte nur sehr langsam ab. Der Bischof nickte und lächelte flüchtig. „Ich glaube, seitdem du weißt, wohin es für dich geht, hast du nur das Ziel vor Augen“, kam er auf unser ursprüngliches Thema zurück, „Ziele sind zweifellos gut. Doch viel wichtiger als sie sind die Wege zu ihnen. Diese Reise, Michael, wird für dich lehrreich sein. Ich weiß nicht, ob du unsere Welt, seitdem ich dir von den dunklen Kreaturen erzählt habe, die in ihr wüten, mit anderen Augen siehst. Vermutlich nicht, denn eine gesunde Portion Skepsis steckt in deinen Knochen. Auch mir fiel es einst schwer, die Geschichten zu glauben. Über etwas zu hören, ist stets anders, als etwas zu sehen. Das ist das Erste, was ich dir in Bezug auf unser Ziel beibringen kann. Du wirst vielerlei Dinge lernen und die Welt anders wahrnehmen. Du wirst auch viel über dich selbst herausfinden und Neues an dir entdecken, von dem du nicht wusstest, dass es in dir schlummert. Du wirst zu einem anderen Mensch werden.“

Ich hing an seinen Lippen, fasziniert von dem Geflecht, das er gewoben hatte. Der Abschluss klang für mich jedoch beinahe wie eine Drohung. Würde es wirklich so dramatisch, so einschneidend werden, diese Reise, dieses Abenteuer? Mein Herz raste vor lauter Aufregung und Spannung. Ich war hin- und hergerissen zwischen Angst vor dem Unbekannten und Freude auf den Wandel, der mir zufolge de Forestiers bevorstand.

Ein lautes Klopfen hinter meinem Kopf zerriss den Schleier der Verzauberung und des Rätselhaften, der sich über mich gelegt hatte, und Rousels Stimme rief: „Scaër , Eure Exzellenz.“ Ich blinzelte den Bischof verwirrt an. Seufzend wandte er sich dem Fenster auf seiner Seite zu, schob mit einer Hand den Vorhang beiseite, um hinauszusehen. Ich rutschte mit meinem Hintern über den Damast mit seinen edlen Stickereien und warf ebenfalls einen Blick nach draußen. Ich wusste nicht, was oder wer Scaër war: ein Ort, ein fremdes, kriegerisches Volk oder eine Tierart. Ich sah keine exotischen Lebewesen, ob nun auf zwei oder vier Beinen, und die Landschaft unterschied sich nicht von der, die ich seit dem Vortag vor der Nase hatte. Ich zuckte verständnislos mit den Schultern, registrierte aber eine Bewegung neben mir, als der Bischof den Arm hob und mit dem Finger auf die linke Seite zeigte. Ich lehnte mich weiter vor, verrenkte mir fast den Hals, als ich in die Richtung sehen wollte. Doch mein Körpereinsatz wurde belohnt. Dort in der Ferne, weit am Horizont gelegen, entdeckte ich Gebilde so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers. Es waren die Häuser einer Ortschaft namens Scaër, wie de Forestier mir erklärte.

„Nicht groß, nicht hübsch, nicht alt, erst vor ein paar Jahren angesiedelt“, sagte er gelangweilt und tat meine Begeisterung, die ich bei dem Anblick von mehr als einem Haus und von etwas anderem als den verhassten Klostermauern zeigte, mit einem Winken seiner Hand ab. „Immerhin haben wir es bis hierher geschafft. Ein Fortschritt, wenn auch ein kleiner“, meinte er und gähnte beherzt.

„Bedeutet es“, begann ich atemlos zu sagen, da ich ganz aufgeregt war, „wir sind bald da?“ Er lachte, als er das Leuchten in meinen Augen sah.

„Du bist wie ein Welpe, der zum ersten Mal zum Spielen auf die Wiese gelassen wird. Mit heraushängender Zunge und großen runden Augen besieht er sich die unbekannte Welt, tollt zwischen Blumen umher und jagt Schmetterlingen nach“, meinte er glucksend. Das Feuer in meinen Augen erlosch. Er verglich mich mit einem Hund? Als er die Veränderung an mir bemerkte, lachte er schallend. Er lehnte sich vor und tätschelte meine Wange. „Humor, Michael, du brauchst viel mehr Humor. Er würde dir gut stehen. Doch um deine Frage zu beantworten: Nein, wir sind noch lange nicht da. Wir werden bald den gewohnten Pfad entlang des Flusses“, er deutete zum Fenster auf der anderen Seite der Kutsche, durch das ich die glitzernde, verlockende Oberfläche des Flusses sehen konnte, „verlassen und uns mehr nach Nordwesten halten, bis wir in etwa zwei Tagen, so Gott will, in Concarneau eintreffen. Dort wird das Wetter hoffentlich erträglicher sein als dieser Glutofen von Scaër.“ Er blähte die Wangen auf und pustete die Luft aus. Ein dumpfer Ton ertönte, als er seinen Kopf zurück gegen die Wand lehnte. „Ein Nickerchen tut jetzt sicher gut“, flüsterte er, schloss die Augen und begann umgehend zu schnarchen. Ich zog einen Flunsch und blickte wieder aus dem Fenster auf die langsam verschwindenden Häuser Scaërs. Der Bischof mochte sich ausruhen und schlafen wollen. Doch meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Zu gleichen Teilen herrschten in mir Missmut über seinen Vergleich und freudige Nervosität. Zwei Tage, zwei Tage!

***

Ich lege den Stift aus der Hand und strecke meine Finger aus. Die Gelenke knacken. In den Muskeln wütet ein lieblicher Schmerz vom Halten des Schreibutensils. Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe auf. Auch wenn ich äußerlich wie ein einunddreißig Jahre junger Mann aussehe, straft mein schmerzender Rücken dem Lügen. Ächzend richte ich mich auf, dehne und strecke mich. Es ist Zeit für eine Pause, denke ich und verlasse meinen Schreibplatz. Ich vertrete mir die Beine, indem ich langsam durch die Gänge meines unterirdischen Heims schlendere. Meine Fingerkuppen streichen über die kühlen steinernen Höhlenwände, denen durch das matte, gelbe Licht der Lampen an ihnen Wärme verliehen wird. Ich passiere die geschlossenen Türen der verschiedenen Räume, bis ich an die Treppe gelange, die hinauf in mein Büro führt. Ich gehe sie langsam hoch, verharre einen Moment lang auf ihr und schaue zurück auf dieses Wunderwerk, in dem ich leben darf. Es ist atemberaubend und einzigartig.

Ehrgefühl steigt in mir auf. Ja, ich fühle mich privilegiert, es mein Zuhause nennen zu dürfen, und doch verspüre ich außer dem Wehmut und gar Einsamkeit, als ich die Stille wahrnehme, die die ganze Anlage erfüllt. Ich fühle mich mit einem Mal allein. So sehr, dass es mich zu überwältigen droht und ich das Geländer vor mir umfassen muss, um nicht zusammenzubrechen. Ich lege den Kopf in den Nacken, schließe die Augen und stoße ein Seufzen aus. „Nein“, hauche ich und schüttele den Kopf, „ich darf mich dem nicht hingeben.“

Entschlossen drücke ich den Rücken durch, lächele und denke mit Dankbarkeit an das, was ich habe, und nicht mit Gram an das, was mir vielleicht fehlt. Ich setze meinen Weg fort, betrete mein Büro und gehe zu dem Wandteppich, der hinter meinem Schreibtisch hängt. Es ist ein bewundernswertes Werk der Webtechnik, nahezu ein Kunstwerk, das das Abbild der Heiligen Maria, Mutter Gottes, zeigt. Der Teppich ist fast so alt wie ich, wenn nicht sogar älter, und war ein Geschenk von Gerbert de Aurillac gewesen, den ich einst als Papst Silvester II kennengelernt hatte. Ich keuche überrascht auf und mache mir in Gedanken eine Notiz, dass auch er unbedingt Erwähnung finden muss in meinen Tagebüchern. Er war ein interessanter Zeitgenosse gewesen, der ebenso wie ich aus armem Hause stammte und doch zu Großem bestimmt gewesen war. Auch die Begeisterung für die Astronomie teilte ich mit ihm. Ich nicke. Ja, ich muss par force über ihn und die Zeit mit ihm schreiben.

Meine Finger streichen zärtlich über sein Geschenk, dessen Schönheit die Zeit keinen Abbruch getan hat. Die Farben, nun verblasst, hatten vor Jahrhunderten kräftig geleuchtet: Rot, Blau, Grün und Gold. Doch nach wie vor wirkt das Bildnis naturgetreu und lebendig. Ich strecke meinen Arm zur rechten Seite und finde dort das Seil, das den Teppich zur Decke hinaufbefördert. Ich ziehe an ihm. Das gütig lächelnde Antlitz der Heiligen Maria, Mutter Gottes, gleitet an mir vorbei nach oben und enthüllt das hinter ihr verborgene Geheimnis: meinen eigenen kleinen Garten.

Ich öffne die Glastür. Ein kühler Windhauch schlägt mir entgegen und zerzaust mein Haar. Ich trete auf die oberste Stufe der Steintreppe und überlege, ob ich ganz hinausgehen soll. Die Möglichkeit, dass mich jemand sieht, besteht nicht. Eine etwa vier Meter hohe Ziegelmauer umgibt die kleine Oase, in der Kastanienbäume, Wildblumen in den verschiedensten Farben, Efeu, Fliedersträucher und Farne stehen, und bietet mir Schutz vor neugierigen Blicken. Ich kümmere mich nicht um ihn, schneide kein Gras und stutze keine Hecken. Alles ist in seinem natürlichen Zustand belassen, und die Vielfalt kann ich mir nur damit erklären, dass der Wind die unterschiedlichen Samen der Pflanzen gesammelt und hier abgeladen hatte. Ich wandere auch nicht oft durch ihn. Ich weiß nicht, wieso. Ungern denke ich darüber nach, ob es deswegen ist, weil ich Angst habe, von einem Ast erschlagen zu werden und er mich so schwer verletzt, dass ich es nicht mehr zurück auf den heiligen Boden der St. Mary‘s Kirche schaffe und sterbe. Ich fürchte mich nicht grundsätzlich davor, die Kirche zu verlassen und die Verbindung zu ihr zu lösen, die mein Überleben sichert. Sobald ein neuer Jäger oder eine neue Jägerin zum ersten Mal auf die Jagd geht, begleite ich ihn oder auch sie. Bei aller Bescheidenheit, aber ich weiß, dass ich gut bin, sehr gut sogar, in dem, was ich in einem Kampf tue. Ich gehe nie leichtsinnig vor, doch ich habe höchstes Vertrauen in meine Fähig- und Fertigkeiten.

Beinahe muss ich selbst über meine Verschrobenheit dahingehend lachen. Es ist schon seltsam. Bei der Jagd mache ich mir keine Sorgen, mich könnte ein herabstürzender Stein treffen, aber die Gefahr eines Astes, der mich niederstreckt, hält mich davon ab, in den Garten zu gehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich bei der Jagd nicht allein bin? Ich setze einen Fuß vor, stelle mich meinen Bedenken und gehe die Treppe hinunter. Ich folge den Steinplatten, die im hohen Gras fast untergehen, und gelange zum Lampenputzergras. Die Flaschenbürsten ähnlichen Blütenähren gleiten durch meine Finger und kitzeln meine Haut. Ich zupfe mir eine Ähre ab, um sie mit mir hineinzunehmen. Für ein paar weitere Minuten streife ich umher und berausche mich an den Farben und Düften der Gewächse.

Die Erinnerung an meine alte Heimat schleicht sich in mein Bewusstsein. Mit ihrer Schönheit, Fülle und Mannigfaltigkeit kann es das kleine Biotop, auf das meine Welt geschrumpft ist, nicht annähernd aufnehmen. Voller Kontraste steckt das Land, aus dem ich komme. Es gibt öde Gegenden, die trocken und staubig sind. Gleichwohl gibt es prachtvolle Heidelandschaften, die besonders im Licht der untergehenden Sonne ein Augenschmaus sind. Täler mit saftigem grünem Gras und fröhlich sprudelnde Bäche, schroffe Felsen, dichte Wälder und flache Ebenen – für jeden Geschmack ist etwas dabei. Nicht zu vergessen ist natürlich die Küstenlandschaft. Ich ringe nach Luft. Ich bin ganz außer Atem geraten, da ich mich so enthusiastisch an all das erinnere.

Ich befinde, dass es Zeit ist, zurück an den Schreibtisch zu gehen. Nach einer Umrundung des Gartens ist mein Wagemut aufgebraucht, und ich will unbedingt mein Leben weiter aufschreiben. Ich beeile mich auf meinem Rückweg, kann es kaum erwarten, das Kratzen der Feder auf dem Papier zu vernehmen. Als ich endlich auf meinem Platz sitze, lege ich die Ähre des Lampenputzergrases in die linke obere Ecke des Tisches, öffne das Tintenfässchen rechts neben mir, tauche die Spitze der Feder hinein und setze sie auf das Blatt auf.

***

De Forestier hatte Recht. Der Glutofen, die Kargheit, die Monotonie verwandelten sich. Erst waren es kleine Schritte, ein Strauch hier, eine Blume dort, die die Veränderung ankündigten. Doch dann wurden aus ihnen riesige, gewaltige Schritte, ja ganze Wege. Plötzlich waren Felsen zu sehen, zwischen denen Heidekraut und Ginster blühten. Grünes saftiges Gras wiegte sich sacht im Wind. Sträucher wuchsen überall und hier und da bildeten Bäume in Gruppen kleine Wäldchen. Der Duft von Kraut und Blume strömte durch die geöffnete Kutschentür zu uns herein. Die Farbenpracht und Fülle an Gewächsen machte mich ganz schwindelig, und meine Blicke wanderten wild umher. Sie konnten sich nur schwerlich für eine Sache entscheiden, bei der sie verweilen wollten. Ich hatte sogar Tränen in den Augen. Ich konnte kaum begreifen, dass mir erlaubt wurde, all das hier zu sehen. Es grenzte an ein Wunder.

„Du wirst noch viel Schöneres, viel mehr und viel Größeres zu Gesicht bekommen, Michael“, sagte de Forestier. Ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Größer, schöner als das?

„Ich glaube nicht, dass ich das verkraften kann“, sprach ich meinen Gedanken aus.

Er lachte und nickte. „Doch, das wirst du. Ich weiß, dass deine Welt bisher klein ausgesehen hat. Aber nach und nach wird sie wachsen und so groß werden, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Genieße es. Man weiß nie, wie lange es anhält“, sagte er geheimnisvoll. Ich wollte ihn fragen, was sich hinter seinen Worten verbarg, doch da hatte er den Kopf schon gegen die Seitenwand gelehnt und war am Dösen. Ich zog eine Grimasse. Wie konnte er in so einem Moment schlafen und mich mit Rätseln zurücklassen? Ich winkte ab, schloss die Tür und besah mir die wilde Schönheit der Natur durch das Fenster, ihren Anblick so lange genießend, wie de Forestier es mir ans Herz gelegt hatte.

Der Himmel verfärbte sich bereits und sorgte dafür, dass sich die Landschaft in einem anderen Licht und neuen Farben präsentierte. Ob Baum, ob Strauch, ob Heidekraut, ob Fels – alles wirkte dunkler, satter, intensiver. Ich beobachtete, wie Insekten aus dem Dickicht in die Luft aufstiegen, sich sammelten und in einem Ball aus schwarzen Punkten in die Nacht davonflogen. Ein Käuzchen, sitzend in dem Forst, an dem wir soeben vorbeifuhren, zu dem der Zugang durch verschieden große Felsen versperrt war, sandte seinen abendlichen Gruß aus. Er riss mich aus der Trance, in die mich das Ruckeln des Wagens hatte sinken lassen, und ich erinnerte mich, dass es doch auch für uns an der Zeit sein musste, das Nachtlager aufzuschlagen. Wieso hielt Rousel dann nicht an? Behutsam legte ich meine Hand auf de Forestiers Knie und rüttelte daran.

„Eure Exzellenz“, sagte ich leise, schließlich wollte ich ihn nicht zu Tode ängstigen. Er brummte nur im Schlaf und drängte seinen Kopf weiter in die weichen Vorhänge, die ihm als Kissen dienten. Ich rüttelte ihn erneut und rief dieses Mal: „De Forestier!“ Mit einem Fluchen fuhr er hoch und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um, bis sein Blick auf mir zu ruhen kam.

„Michael, ist alles in Ordnung?“, fragte er und wischte sich mit den Händen über das Gesicht, als wollte er damit den Schlaf vertreiben.

Mhh“, machte ich und nickte. Auch mir schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte mich mit seiner abrupten Bewegung erschreckt. „Es tut mir leid, Euch geweckt zu haben, aber ich habe mich gefragt, wann wir anhalten, um das Nachtlager aufzubauen“, erklärte ich.

De Forestier beäugte mich, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Er schnalzte mit der Zunge und fragte: „Hast du die letzten Stunden damit verbracht, dir die Landschaft anzusehen?“

„Ja, wieso?“, fragte ich.

„Und ist dir dabei irgendwo eine Stelle aufgefallen, die geeignet gewesen wäre, um die Kutsche dorthin zu lenken?“ Ich grübelte für einen Moment nach, musste jedoch verneinen. Mir war nichts dergleichen aufgefallen. „Da hast du es. So sehr diese Gegend auch den Geist zu verzaubern vermag, das Herz des Reisenden macht sie schwer. Sie bietet zahlreiche Verstecke für einen einzelnen Mann, aber keines für ein Gefährt wie dieses“, sagte er, lehnte sich vor und klopfte neben meinem Kopf gegen das Holz. „Hey, Rousel, halt an!“, schrie er mir laut ins Ohr, sodass ich zusammenfuhr.

Die Kutsche stoppte augenblicklich. De Forestier schwankte, drohte auf mich zu fallen. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich fangen und wandte sich zur Tür. Verwirrt beobachtete ich ihn dabei, wie er sie öffnete und unter Ächzen und Stöhnen ausstieg. Als er draußen stand, reckte und streckte er sich, um Schlaf und Steifheit aus seinen Gliedern zu vertreiben. „Ich werde mit Rousel den Platz tauschen, sodass wir die ganze Nacht hindurch fahren“, verkündete er. Ich zog scharf den Atem ein. Ich wollte gar nicht so entsetzt dreinschauen, wie ich es tat. Doch ich hatte die Kontrolle über meine Gesichtszüge verloren. Ich sollte mit Rousel, dem übellaunigen Kutscher, der mich nicht ausstehen konnte, über Stunden auf so engem Raum allein sein? „Möchtest du dich zu mir gesellen, Michael?“, fragte der Bischof. „Du könntest etwas darüber lernen, wie man einen Wagen lenkt. Es sei denn, du möchtest lieber schlafen“, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu.

Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. De Forestier lächelte belustigt und trat aus meinem Blickfeld, um Rousels Platz einzunehmen. Ich folgte ihm umgehend und überließ dem Kutscher die feinen, weichen Polster und Vorhänge. Auch wenn er mir nicht sonderlich sympathisch war, gönnte ich ihm die Erholung und den Komfort, nach denen er sich nach einer halben Ewigkeit auf der harten Sitzbank, von der aus er uns gefahren hatte, vermutlich sehnte. Sein Seufzen, das er ausblies, als er einstieg und sich hinlegte, bestätigte meinen Eindruck.

„Könnt Ihr Gedanken lesen, de Forestier?“, fragte ich, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gesessen und die kühle Nachtluft genossen hatten. Der Himmel war klar und mit so vielen funkelnden Sternen übersät, als wollten sie mir eine für mich nicht entschlüsselbare Botschaft übermitteln, dass ich wie hypnotisiert von ihrer Anmut und Grazie dasaß. Der grau-silberne Vollmond wirkte dagegen plump und unbeholfen, als wüsste er nicht so recht, wohin mit sich. Er war beinahe etwas störend. Doch wir brauchten ihn. Sein Licht leuchtete uns den Weg, sodass wir dem vor uns liegenden Pfad folgen konnten.

„Wieso fragst du? Weil ich dich eingeladen habe, hier mit mir zu sitzen und dich vor der Zweisamkeit mit Rousel gerettet habe?“, fragte er mit gesenkter Stimme, damit dieser es nicht hörte. Ich schüttelte vehement den Kopf.

„Nein, nein. Ganz bestimmt nicht“, gab ich zurück, was de Forestier zum Schmunzeln brachte.

„Dein Gesicht ist wie ein Manuskript, das in einfacher, verständlicher Sprache geschrieben ist, für jeden lesbar. Deine Gefühle sind dabei die Sprache. Was du brauchst, ist ein Code“, meinte er.

„Ein Code?“, hakte ich nach.

Er nickte. „Eine Geheimsprache, mit der du deine Gefühlswelt verschlüsseln kannst und sie so unlesbar machst für all jene, die sie nicht entziffern sollen. Nur wer in deinen Augen würdig ist, den Schlüssel zu bekommen, dem gibst du ihn.“ Gebannt starrte ich den Bischof an. Er war ihm zwar in keiner Weise ähnlich, und doch erinnerte er mich sehr an Bruder Corentin. Dieser hatte über die Sterne philosophiert auf eine Weise, die dafür sorgte, dass eine Leidenschaft und Liebe in anderen entfacht wurden, die ein Leben lang hielt. De Forestier besaß dasselbe Talent, wenn auch über andere Dinge, die weniger weit entfernt waren als Himmelskörper.

„Ich werde es versuchen“, hauchte ich.

„Sehr gut“, entgegnete er und knuffte mich in die Seite. „Es ist nämlich eine Lebensaufgabe, und ein einmaliges Gelingen bedeutet nicht, dass es immer klappt. Von daher ist es besser, wenn du lieber heute als morgen damit anfängst.“ Als er keine Reaktion von mir erhielt, löste er den Blick von der Straße und sah mich an. Verblüffung trat in sein Gesicht. Mit dem Finger deutete er auf mich. „Siehst du, das meine ich! Das ist es“, sagte er. „Wirklich sehr gut gemacht. Ich kann dir nicht ansehen, was du empfindest.“ Ich blinzelte ein paar Mal und blickte in der Gegend umher. Ich hatte doch gar nichts weiter getan. „Da!“, rief er aus und hüpfte auf seiner Seite des Kutschbocks auf und ab, sodass die Pferde kurzzeitig aus dem Takt gerieten und ausscherten. „Das ist es, was ich gemeint habe. Vorher warst du unlesbar. Jetzt sehe ich dir an, was du denkst, was du fühlst. Siehst du, siehst du? Ich habe Recht.“

Er freute sich wie ein kleines Kind. Wenn ich nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, verwirrt zu sein, hätte ich mich mit ihm gefreut. Ob er auch wusste, dass ich an seinem Verstand zweifelte und mich unwohl fühlte in seiner Gegenwart? Zum schlafenden Rousel in den Wagen zu steigen, erschien mir plötzlich sehr verlockend.

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan

Подняться наверх