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2. Schreiben

Ein gelebtes Leben zu reflektieren ist einfacher als sich auszumalen, wie es werden könnte. Der Zeitpunkt des Reflektierens bestimmt die jeweilige Sichtweise. Es wird gefiltert, was einem wichtig erscheint. Vieles ist in Vergessenheit geraten, weil es für das weitere Leben keine Rolle spielt. Manches vergisst man einfach.

Dankbar nehme ich an, was geblieben ist in meinem Gedächtnis, was die eigene Auswahl bewahrt hat. Es ist nicht immer die leichte Seite des Lebens, an die man sich erinnert, aber überwundenen Schmerz fühlt man meistens als Erleichterung. Die vergangene Zeit kehrt zurück durch Ereignisse, die mit der Vergangenheit noch in Verbindung stehen und man erlebt sie deshalb sehr nah. Manchmal so lebendig, dass das Leben im Zeitraffer einem erschreckend kurz vorkommt.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens kommt auf. Die Zeitspanne, die Farbigkeit und die Bewegtheit der Gefühle werden wieder ins Bewusstsein geholt.

Tief atmen.

Das Leben spüren.

Die Gefühle werden wieder lebendig.

Schreiben ist rein menschlich. Einzig darin unterscheidet sich das Tier Mensch von anderen Tieren. Den übrigen Tieren genügt es einfach zu leben und sie folgen ihrem Weg.

Ich beschreibe mich mit Buchstaben. Ich spiele mit ihnen, seit ich schreiben gelernt habe. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Ich betrachte mich in meinem jetzigen Zustand. Welche Lichtverhältnisse der jeweiligen Zeit haben meine Erscheinung beeinflusst, welche Erlebnisse mein Denken?

Meine Gefühle durch die Musik auszudrücken kam später. Das Erlernen eines Instruments bedarf viele Jahre Beschäftigung mit den motorischen und geistigen Fähigkeiten. In jedem Moment des Musizierens sucht man die Übereinstimmung mit sich selbst und mit dem Klang. Ein ganzes Leben lang eine Bemühung mit sich ins Reine zu kommen.

Betrachte ich ein Bild, richte ich mein Auge auf das, was ich sehen will oder auch nicht. Aber der Klang durchdringt uns, und es ist nicht möglich meinen Körper der Bewegung der Schallwellen zu entziehen. Ich bin selber ein Teil der Resonanz. Schreiben ist viel intimer.

Meine Gedanken kann ich selbst heimlich zurechtschneiden, wie ich es für richtig halte. Geschriebene Buchstaben kann man wieder löschen, wenn sie für einen selbst keine Bedeutung mehr haben.

So spiele ich immer mit meinen Buchstaben. Zuerst auf koreanisch, später auch auf deutsch. Und inzwischen auch viele Male in beiden Sprachen, mit kleinen Zeitverschiebungen. Ich übersetze die beiden Sprachen von der einen in die andere, um den Sinn in der anderen Kulturebene wiederzuerkennen.

Dort treffe ich meistens mich selbst.

Es gibt bei bestimmten Wörtern, wie Geburt, Leben, Freude, Trauer, Abschied und Tod, kein Missverständnis der richtigen Übersetzung. Es gibt nur einen Unterschied in der Intensität der Gefühlsebene. Geschriebene Wörter helfen, unsere Erinnerung wieder ins Leben zu holen.

Meine viel zu früh verstorbene Schwester gab mir von ihr geschriebene Zeilen als Abschiedsgeschenk, als sie wieder nach Korea flog, nachdem sie mich in Deutschland besucht hatte.

Diese Zeilen trage ich immer und überall bei mir. So lebt meine Schwester in mir, ganz lebendig.

„Dort, wo wir verweilten“ Wir sprachen nur mit unseren Augen . E s war trotzdem so warm, wie ein kommender Frühling.

Am Ende der kalten Wintertage grüssen uns Forsythienblümlein .

In uns den Abschied tragend,

nahmen wir das Lachen der Kinder auf.

Wir teilten unsere Haut und unser Blut , deshalb wagten wir nicht zu sprechen .

Um die schlaflose Nacht des Reisenden kreist die Liebe ganz zäh –Wie der ruhig fließende Fluss hinter dem Haus

schreiten Du und Ich weiter unsere Wege .

Manchmal gewollt gegen die Strömung , manchmal gewollt festhaltend die Zeit . Machtlos stehen wir vor dem Geschehen . L ass uns nicht an den Abschied denken.

Mit dem Licht des Morgens,

das uns ein Wiedersehen verheißt,

verlasse ich Dich mit einem Lächeln.






Ich vergaß den Schmerz des Abschieds, weil ich die Nähe spürte durch ihre geschriebenen Worte.

Der männliche Baum

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