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Оглавление4 . Drei Geburtstage
Mein erster Geburtstag steht im Pass.
Der zweite Geburtstag, mein eigentlicher biologischer Geburtstag, soll genau ein halbes Jahr davor gewesen sein. Und den Tag, als ich einen deutschen Pass bekam und meinen eigenen koreanischen Pass abgeben musste, weil Südkorea und Deutschland kein Abkommen über eine gleichzeitige Staatsangehörigkeit beider Staaten hatten, nannte ich selbst den dritten Geburtstag.
Bis ich 50 wurde, feierte ich den ersten Geburtstag, obwohl es nicht der richtige war. Irgendwann hat meine Mutter mir erzählt, dass der Geburtstag, der in meinem Pass steht, nur der Anmeldetag für das neugeborene Kind war. Meine Eltern haben genau ein halbes Jahr nach meiner Geburt meine Ankunft auf der Erde in einem Einwohnermeldeamt gemeldet. Es gab damals, nach dem Koreakrieg, nur eine einzige Meldebehörde weit und breit und die lag sehr weit entfernt von unserem Wohnort. Das Land war völlig ausgebrannt. Die Menschen auch. Es gab keinen Zug, keinen Bus, kein Taxi und noch nicht mal ein Fahrrad. Kein Telefon, kein Postamt, und kein digitales Anmeldeformular. Vor allem kein Essen.
„Ich musste mich zunächst um dich und auch um mich kümmern nach der anstrengenden Geburt. Und deine fünf Geschwister, noch kleine Kinder, waren auch noch da und warteten auf ihre Mahlzeit. Wir, dein Papa und ich, warteten, bis ich eines Tages soweit war, zu Fuß zur Anmeldebehörde gehen zu können, denn der Fußmarsch hin und zurück dauerte ein paar Tage“, sagte meine Mutter, als ich fragte warum sie mich so spät angemeldet haben.
Ich bin nicht im Krieg geboren, aber unmittelbar danach. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg fing im Juni 1950 der Koreakrieg an. Zwischen dem Koreakriegsende 1953 und der Regierungsbildung 1957 herrschte Chaos auf allen Ebenen. Genau in dieser Zeit bin ich geboren.
In einem unruhigen Land ohne Halt und Struktur, da Korea vor dem zweiten Weltkrieg fast 40 Jahre lang japanisch besetzt war und nach den zwei Kriegen nur langsam eine Struktur und eine ordentliche Regierung aufbauen konnte.
Früher feierte man in Korea zwei Geburtstage ganz groß. Den ersten Geburtstag aus Dankbarkeit, weil das Kind das kritische erste Lebensjahr gut überstanden hatte und den sechzigsten aus Dankbarkeit diesen erreicht zu haben.
Bei der ersten Geburtstagsfeier, „DOL 돐“ genannt, legt man viele Dinge auf einen Tisch und beobachtet, was das Kind als erstes berührt. Danach, so heißt es, weiß man, was aus dem Kind wird. Greift ein Kind zuerst das Geld, so wird es reich werden. Greift ein Kind den Stift, so wird es Schriftsteller. Und so weiter.
Bei der sechzigsten Geburtstagsfeier, „HANGAB 한갑“, stellt man viele Speisen auf den Tisch, die man mit Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn teilt.
Viele meiner gleichaltrigen Freunde aus Korea hatten dasselbe Problem wie ich mit ihren Geburtstagen. Wir lachten eines Tages gemeinsam, als wir feststellten, dass wir mit unserem Schicksal der vielen Geburtstage nicht ganz allein dastanden. Wir hatten bis dahin alle geschwiegen, weil wir uns für unsere Eltern schämten, dass sie versäumt hatten, unsere Geburt rechtzeitig anzumelden.
Und da war auch die Angst ein „Brücken-Kind“ zu sein. Es gab viele Waisenkinder nach dem Koreakrieg, die unter der Brücke lebten. Waisenhäuser gab es ja nicht. Einige der Kinder waren so klein, dass sie nicht einmal sagen konnten, wer ihre Eltern oder Geschwister waren. Sie konnten bei mitfühlenden Menschen bleiben, die den weinenden Kindern am Straßenrand ihre Hand reichten.
Das Leben trägt viel Kraft in sich.
Aber die gegenseitige menschliche Zuwendung ist es, die unser Leben lebenswert macht.
Der Tag an dem ich meinen deutschen Pass bekam, ist mein dritter Geburtstag. Auch wenn ich auf dem Papier nun Deutsche bin, fühle ich mich Korea nicht weniger zugehörig. Sich zugehörig zu fühlen hat nichts damit zu tun, bei welcher Behörde man gemeldet ist. Mein Name und Geburtsdatum, wo ich geboren bin, wo ich zurzeit lebe und wie mein Geburtsname war, steht alles in meinem Pass.
Dennoch fand ich in meinem Inneren Raum für eine veränderbare Identität. Dies ermöglicht es mir, mich in der Fremde heimisch zu fühlen.