Читать книгу Einen Schurken zum Bräutigam - Natalie Bechthold - Страница 10

Kapitel 4

Оглавление

machtlos

Ein neuer Tag brach an. Für Ralph und Irene war es ein ganz besonderer Tag. Ihre Hochzeit. Heute ging für Irene ein Traum in Erfüllung, ein Traum, dem sie fast ihr ganzes Leben lang nach jagte. Für Ralph dagegen eine reine Enttäuschung. Für ihn war Irene alles andere, als Lady Cassandra. Fünf Jahre älter als er und längst keine Jungfrau mehr. Eine Frau ohne Geld kam ihm noch bis vor einem Tag nicht in Frage. Wenn das mit Cassie nicht gewesen wäre, dann hätte er Irene niemals geheiratet. Irene besaß nichts, nicht einen Cent, dafür aber einen ausgeprägten Charakter. Es wird mir schwer fallen meiner zukünftigen Frau beizubringen, wer hier das Sagen hat. Doch ich werde es ihr zeigen und wenn es notwendig sein wird, so werde ich sie daran erinnern, weshalb ich sie geheiratet habe, dachte Ralph, als er sich vor dem Spiegel betrachtete.

Zufrieden wand er sich von seinem Spiegelbild ab und verließ eilig sein Zimmer.

In der Hetze und dem ganzen morgendlichen Durcheinander fand Irene noch die Zeit zum Träumen. Die Mädchen, die ihr beim Ankleiden und Frisieren halfen, sahen das Strahlen ihrer dunklen Augen und das verträumte Lächeln ihrer leicht geschwungenen Lippen. Das typische Bild einer überglücklichen Braut, die es kaum erwarten kann ihrem Bräutigam gegenüber zu treten. Ein Glück, das sich jedes junge und unverheiratete Mädchen wünschte und sie zu tiefst beneidete. Und das wusste Irene. Und sie tat auch alles daran diesen Augenblick zu genießen. Die Eifersucht der anderen mittelloser, junger Frauen. Dank dem Schicksal für das große Glück, das ich heute erleben darf. Was für eine tiefe Freude erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke. Bald, schon sehr bald werde ich die Viscountess dieses Hauses sein. Eure Herrin.

„Perfekt!“, sagte die Friseurin und legte mit den letzten Handgriffen Irenes langen, weißen Schleier zurecht.

Lady Cassandras goldene Haarspange mit weißen Diamanten besetzt funkelte verspielt im Tageslicht.

„Sie sind fertig, Miss.“

Irene nahm einen Handspiegel und überprüfte, ob ihr Make-up und das frisierte Haar ihren Wünschen entsprachen.

„Wunderschön!“, antwortete sie zufrieden.

Dann stand sie auf und eines der Mädchen legte ihr einen Schal aus schneeweißem Nerz über ihre nackten Schultern. Nur noch ein letzter Blick in den Spiegel und die Braut begab sich auf den Weg zu ihrer Kutsche.

Wie die Tradition es verlangte, war der Bräutigam, der Viscount of Harwich, längst in der Kirche und wartete auf seine Braut. Miss Irene Hunter. Die Frau, die ihn viel zu sehr liebte, das sie seine Kälte, die er ihr gegenüber empfand und sie auch spüren ließ, nicht wahr nahm. Viel zu dick war der Mantel, den sie aus verträumter, einseitiger Liebe trug, dass seine Kälte keine Chance hatte in sie einzudringen. Tief einzudringen. In ihr Körper, in ihren Geist und ihre Seele.

Viel zu sehr glaubte Irene, in Ralph die Romanfigur gefunden zu haben, von der sie schon seit Jahren träumte. Geprägt aus Stärke und Selbstsicherheit. Ein Mann der ganz genau weiß, wo es lang geht. In dessen Armen sie sich beschützt und geborgen fühlen darf. Ihr Herz sehnte sich nach Ralphs Liebe. Starken Liebe. In der sie sich wünschte zu ertrinken.

Als Irenes Kutsche die Kirche erreichte klopfte ihr Herz vor Freude. Ein Page half ihr aus der Kutsche und sie ging vorsichtig die Stufen hinauf. Und zwar allein. Schade!, dachte sie insgeheim. Ihre Eltern waren schon lange tot und Ralphs Vater, der einzig Lebende, der war nicht einmal von seinem Sohn eingeladen worden. Die Tür stand offen und Irene trat ein. Im Foyer hörte sie eine Orgel spielen. In den Reihen drehten die Gäste neugierig ihre Köpfe zu ihr. Mit einem warmherzigen Blick lächelten sie Irene an und machten ihr Mut auf ihren Bräutigam zuzugehen.

Ralph stand vor dem Altar und wartete auf seine Braut. Er hörte, wie der Orgelspieler das Musikstück zu Ende spielte und zum Hochzeitsmarsch wechselte. Ralph sah auch, wie seine glückliche Braut mit einem strahlenden Lächeln langsam, mit dem Rhythmus des Musikstücks, auf ihn zu kam, aber er hatte für seine Braut kein Lächeln übrig. Kalt und lieblos empfing er seine glückliche Braut und schwor ihr vor Gott und den Menschen ewige Liebe und Treue.

***

Zur gleichen Zeit saß ein älterer Mann in seinem Rollstuhl gefangen. Gefangen in seinem Körper und gefangen in seinem eigenen Dachbodenzimmer. Er ahnte nicht, was in dem Herzen seines Sohnes, genauso wenig in dem Herzen seiner Schwiegertochter vorging. Aber er wusste, dass heute Morgen für das junge verlobte Paar ein ganz besonderer Tag war. Ihre Hochzeit. Natürlich, irgendwo in seinem alten Herzen wäre er gerne eingeladen worden, aber nicht hingegangen. Viel zu groß war der Hass auf seinen eigenen Sohn, der auf Grund einer einzigen Schwäche ihm alles genommen hatte, auch die Freiheit. Und so lebte er seit einem ganzen Jahr, tagein und tagaus, nur vor sich hin. Die Einsamkeit wurde zu seinem Freund.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

„Herein!“, rief der ältere Mann.

Die Tür ging auf und sein Freund trat ein.

„Harvey, welch eine Überraschung. Ich dachte, du wärst auf der Hochzeit.“

Sein alter Freund nahm den Hut ab und sagte: „Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Nein, im Gegenteil. Ich freue mich, dass du gekommen bist. Setz dich doch“, bot Charles seinem Freund den einzigen Stuhl an, den er hatte.

„Danke.“

Doktor Harvey öffnete seinen dünnen Mantel, den er stets immer trug. Denn als Dorfarzt wusste er nie so ganz genau, wo er heute sein wird und welches Wetter ihn erwarte. So auch heute nicht. Und setzte sich.

„Wie geht es dir heute?“, fragte er aus Gewohnheit.

Der alte Mann im Rollstuhl lächelte.

„Seit gestern Abend sehr gut!“

„Das freut mich“, sagte Doktor Harvey, ohne zu wissen, was sein langjähriger Freund damit meinte.

Er nahm seine Brille ab und rieb sich die leichtrot unterlaufenden Augen.

„Du arbeitest zu viel, mein Freund.“

Doktor Harvey seufzte.

„Ja, da gebe ich dir Recht.“

Seine große Erschöpfung stand in seinem hageren Gesicht geschrieben. Er legte seinen Kopf zurück, in den Nacken und schloss für eine Minute die Augen.

„Aber Charles, ich muss.“

„Ich weiß, Harvey. Ich weiß und ich hätte dir sehr gerne dabei geholfen, wenn ich könnte.“

Das hättest du früher tun müssen, wenn du es gewollt hättest, wollte der Doktor sagen, aber entschied sich seine Gedanken lieber für sich zu behalten.

Obwohl Charles die Gedanken seines Freundes nicht lesen konnte, erkannte er selbst seinen eigenen Fehler. Und jetzt zahlte ihm das Schicksal alles zurück. Nie im Traum hätte er einmal gedacht, dass er so ein Leben führen würde. Ein Leben, das eines Gefangenen in seinem eigenen Haus.

„Eigentlich bin ich aus einem anderen Grund hierher gekommen und zwar …“, er holte aus seiner Arzttasche eine Zeitung heraus und reichte sie seinem Freund.

„Es ist besser, wenn du den Artikel selber ließt“, sagte er und schloss erneut seine Augen.

Wie gut ihm das Zurücklehnen tat.

Der großgedrückte, fette Titel MÖRDER aus dem HAUSE DARTON wird gesucht auf der Titelseite fesselte den Blick des Lesers.

Charles Darton las den Artikel und Doktor Harvey entspannte sich in der Stille. Je näher der ältere Mann dem Ende kam, desto blasser wurde sein faltiges Gesicht.

„Ich kann das nicht glauben“, unterbrach Charles entsetzt die Stille und ließ seine Hände sinken.

Die Zeitung raschelte für eine kurze Sekunde.

„Was kannst du nicht glauben, Charles? Es steht alles drin“, sagte der Doktor gefühlskalt.

„Das Harvey!“, und Charles zeigte auf den Artikel: „Sie behaupten, mein Sohn hätte einen Mord begannen. Das kann und will ich nicht glauben.“

Dann schlug Doktor Harvey die Augen auf.

„Vielleicht solltest du es jetzt tun, mein Freund. Die Presse wird die Geschichte nicht einfach so aus der Luft gegriffen haben, sondern wissen, was sie da schreibt.“

„Nein, Caleb ist nicht dumm. Er würde nie einen Mord begehen. Und schon gar nicht an dem Tag der Verlobung seines Bruders.“

„Halbbruders“, korrigierte der Doktor ungeduldig.

„Bruder …, Halbbruder, hin oder her, … nicht Caleb.“

„Kaum ist er wieder da, wird ihm ein Mord angehängt, … findest du es nicht komisch?“, fragte Charles seinen Freund in Gedanken versunken.

„Ich weiß nicht, Charles. Wir wissen beide nicht wo er sich das ganze Jahr rumgetrieben hat. Wer weiß, vielleicht ist Caleb inzwischen ein anderer geworden.“

Es folgte eine kurze Pause.

„Bitte Harvey, du bist der einzige, der mir noch helfen kann, finde für mich die Wahrheit heraus. Bitte!“

Doktor Harvey sah zu seinem Freund und das Mitleid überkam ihn. Eigentlich schuldete er Charles nichts, aber er konnte noch nie Nein sagen.

„Mhm …, nur, wenn du mir etwas versprichst.“

„Alles, mein Freund, alles.“

„Versprich mir dann, dass du es niemandem erzählst.“

„Versprochen!“, und sein Lächeln kam wieder zurück.

„Nun gut, mein Freund, ich muss jetzt gehen. Meine Patienten warten.“

Er schloss seinen dünnen Mantel, setzte seinen Hut auf und meinte anschließend: „Ich werde dir berichten, sobald ich etwas weiß.“

„Danke, mein Freund!“

„Danke mir nicht zu früh“, sagte der Doktor, denn er glaubte nicht an Calebs Unschuld.

***

Kaum war der Dorfarzt gegangen, versank der alte Charles in seine Gedanken.

Ist es nicht komisch? Noch vor einem Jahr war ich ein einflussreicher Mann. Ein Viscount. Charles Darton, der Viscount of Harwich. Wie das schon klingt, lachte der alte Mann in sich hinein. Ja, damals hatte ich noch meinen Titel, mein Vermögen, meinen Besitz, seine Gedanken gingen noch tiefer und er erkannte, damals kannte ich meinen Wert und wusste meine Gesundheit nicht zu schätzen und jetzt, wo alles verloren ist, wird mir bewusst, was für ein Narr ich gewesen bin. Ein Egoist! Obwohl er seine Fehler inzwischen einsah, wusste er, dass er sie nicht mehr rückgängig machen konnte. Sein jetziges, trauriges Schicksal war dafür seine Strafe und die nahm er bereitwillig an, auch wenn es ihm beinahe das Herz brach.

***

Vor einem Jahr bekam der alte Viscount of Harwich einen Schlaganfall. Es stand nicht gut um den alten Mann. In dieser schweren Zeit wurde viel getuschelt. Ein besonders heißbegehrtes Thema unter der Dienerschaft war sein Tod.

„Was, wenn er den Schlaganfall nicht überlebt?“, oder so ähnlich tuschelten sie miteinander.

Ralph kam regelmäßig in das Zimmer seines Vaters und das versetzte die Dienerschaft in ein Staunen. Noch nie hatte der alte Viscount seinem Sohn so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie der Sohn seinem Vater jetzt. Und das allein aus reiner Sorge. Zumindest dachte das die Dienerschaft. Aber in Wirklichkeit wünschte Ralph seinem kranken Vater den Tod, damit er seine Nachfolge antreten konnte, wonach er sich schon sein ganzes Leben lang gesehnt hatte. Und mit jedem Krankenbesuch hoffte er auf seinen letzten Atemzug. Doch sein letzter Atemzug kam nicht dieses Mal, nicht nächstes Mal und auch nicht ein anderes Mal. Stattdessen erholte sich der alte Mann und ehe er sich versah, wurde er für unzurechnungsfähig erklärt. Sein Titel und sein ganzes Vermögen, sowie auch sein ganzer Besitzt wanderten an seinen Sohn und einzigen Erben. Ralph. So gefühlskalt und hinterlistig, wie er war, raubte er seinem Vater sein ganzes Sein.

Nun saß der alte Mann von seinem Sohn beraubt und verbannt im winzigen Dachbodenzimmer und konnte seine Machtlosigkeit nicht nur spüren, sondern auch förmlich riechen. Sein armseliges, veraltetes Mobiliar bestand nur aus einem alten Bett, kleinem Tisch und einem passenden Stuhl. Nicht einmal ein kleines Blumenbukett durfte die Fensterbank schmücken.

„Das hat der neue Viscount verboten“, erklärte ein junges Dienstmädchen.

Ja, der neue Viscount. Mein eigener Sohn.

Natürlich wusste er, warum Ralph das getan hat. Weil Charles Caleb über alles liebte und das hat er niemals zu einem Geheimnis gemacht. Caleb, der Sohn einer Mätresse, war seine Nummer eins und das spürte und wusste Ralph. Anstatt seinen ehelichen Sohn und Erben vorzuziehen schenkte Charles seine ganze Liebe und Aufmerksamkeit seinem unehelichen Sohn, Caleb.

Für Ralph muss es sicherlich ein großer Schlag gewesen sein, als ich ihm erzählte, dass ich Caleb adoptieren möchte.

Ralph wusste ganz genau, wenn Caleb offiziell zur Familie gehört, dann würde ihm nach Vaters Tod alles zufallen. Denn er war um fünf Jahre älter als sein Halbbruder, Ralph.

Der Schlaganfall kam Ralph nur zu Gute. Nur so kam er an das, wonach sich sein Herz all die Jahre sehnte. Der Viscount of Harwich zu werden.

Und jetzt, wo Charles nichts mehr zu sagen hatte, musste er das Leben auf dem Dachbodenzimmer akzeptieren. So akzeptieren, wie es jetzt ist und noch später sein wird. Auch die Entscheidung seines Sohnes, dem Viscount of Harwich, die Frau zu heiraten, die er möchte. Auch wenn sie einen schlechten Ruf hat und mit dem ihren seinen Familiennamen beschmutzte.

„Irene Hunter, wer hätte das gedacht, dass du eines Tages noch zu meiner Schwiegertochter wirst“, lachte er in sich hinein.

„Welch eine erbärmliche, schicksalhafte Fügung.“

Einen Schurken zum Bräutigam

Подняться наверх