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Kapitel 3

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Im Schloss Harwich

Alan klopfte an Harringtons Tür. Doch ein - Herein - blieb für den alten Seemann aus. Warum sollte sie mich auch herein bitten, immerhin wird sie hier gefangen gehalten, rief sich Alan ins Gedächtnis. Gefangene haben in der Regel nichts zu sagen.

„Ich komme rein“, warnte Alan Cassie.

Dann nickte er Harrington zum Zeichen und dieser steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Harrington ließ seinen Onkel eintreten, aber er selbst wollte lieber draußen bleiben.

Cassie saß auf einem dunklen Stuhl aus Mahagoni und spielte unruhig mit einer braunen Schleife ihres goldenen Kleides. Mit einem traurigen Blick sah Alan das junge Mädchen an und wusste nicht, wie er jetzt am besten vorgehen sollte. Er wollte sich doch so gerne bei ihr entschuldigen.

„Guten Morgen, Lady Whitbread Ha...“, begann er und brach dann doch ab.

Reumütig biss er sich auf die Zunge. Hoppla, das war kein so guter Anfang. Besser, sie erfährt es von ihm. Schließlich war es nicht meine Idee, dass er sie heirate.

„Ich bringe Ihnen das Frühstück“, sagte Alan und stellte das silberne Tablett auf dem Schreibtisch seines Captains ab.

Mit - Ihnen - wollte Alan ihr den Respekt erweisen, der einer Adeligen zusteht.

„Mögen Sie schwarzen Tee? Er ist aus Indien und schmeckt wirklich gut“, fragte er und deckte die freie Fläche.

Als sie aber nicht antwortete entschied er, ihr doch den Tee einzuschenken. Wenn sie es jetzt nicht möchte, dann vielleicht etwas später. Und Cassie sah ihm verbittert dabei zu. Eine Geste der Dankbarkeit blieb aus. Alan erwartete von ihr auch nichts. Nein, sie schuldete ihm nichts, sondern er ihr. Und zwar eine Entschuldigung. Eine dicke, fette Entschuldigung.

„Ich ...“, er stand immer noch mit dem Rücken zu ihr und zögerte.

Ist es nicht lächerlich?, fragte er sich. Ein alter Seemann entschuldigt sich bei einem jungen Mädchen. Nein! Sie war nicht irgendein junges Mädchen, sondern eine Lady. Einer Lady darf so etwas nicht zustoßen. Aber was machte sie auf der Straße der Gelüste, wenn sie eine Lady ist?, schoss ihm diese Frage durch den Kopf. Das geht dich nichts an!, sagte ihm eine innere Stimme.

„Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen“, begann er noch einmal.

Cassie hielt inne und lauschte seinen Worten.

„Dass ich Sie entführt und hierher gebracht habe.“

Die braune Schleife ging auf, wie auch ihr Herz. Beladen mit Kummer und Schmerz, Angst und Verzweiflung.

„Es tut mir wirklich leid!“, seufzte er und ging zur Tür.

Nun war es raus. Aber so ganz frei fühlte er sich nicht von seiner Schuld.

„Warum ...?“, ihre angenehme Stimme zitterte.

Plötzlich blieb Alan stehen und antwortete leise, ohne sie dabei anzusehen.

„Weil ich Sie für eine Hure hielt!“

„Sehe ich denn aus wie eine?“, schrie sie beinah und weinte anschließend.

„Nein!“, beschämt eilte er hinaus.

Harrington, der alles mit angehört hatte, stand draußen, neben der geschlossenen Tür und sah reumütig auf seine kräftigen Hände. Was habe ich nur getan? Das Herz einer jungen, unschuldigen Frau gebrochen. Und es mit Bitterkeit und Hass getränkt. Dann formte er aus seinen Händen zwei Fäuste.

Ich bin auch derjenige, der sie vor Ralph gerettet hat. Kein anderer hätte das jemals getan, redete sich Harrington ein und glaubte, sie sei ihm einen Dank schuldig.

Mit der Heirat hoffte Harrington seine schmutzige Tat vertuschen zu können, für das allein er verantwortlich war und die Ehre der jungen Lady wiederherstellen zu können, ehe jemand davon erfuhr.

Ralph hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Er hätte sie zwar geheiratet, aber nur, um an ihr Geld ranzukommen. Alles Weitere hätte ihn nicht interessiert. Auch nicht, wenn sich die gute Gesellschaft den Mund um ihre Flucht zerrissen hätte, die in Captain Harringtons Armen ein Ende nahm.

Das Erste, die Heirat, habe ich schon hinter mir. Gut! Das war auch das Leichteste vom ganzen Übel. Und jetzt kommt das Schwerste und das Letzte. Wie bringe ich es ihr bei? Harrington ließ schließlich seine Fäuste wieder sinken und sah zum Horizont. Das Schiff schaukelte mit der frühen Hektik. Denn die Mannschaft war längst auf den Beinen und ein jeder ging an seine Arbeit. Es würde mich nicht überraschen, wenn es heute regnet, stellte Harrington an dem grauen, zugezogenen Himmel fest. Anschließend, ohne eine Antwort auf seine Frage gefunden zu haben, entfernte er sich von der Tür, ohne sie vorher abzuschließen.

***

Am späten Nachmittag trat Alan zu seinem Neffen, der an der Reling stand und eine Pause machte.

„Hast du es ihr schon gesagt?“, fragte der ältere Mann.

Harrington trank die letzten, wenigen Schlucke aus seiner Flasche und antwortete: „Nein.“

„Ich denke, du solltest es jetzt tun.“

„Ich weiß, ...“, aber nicht wie, dachte Harrington den Satz zu Ende.

Was hält ihn nur davon ab?, fragte sich der Seemann.

Er sah in das Gesicht des jungen Mannes und ahnte, was der Grund dafür sein konnte. Angst. Die Angst, es falsch anzugehen. Mit nicht richtigen Worten Cassie noch mehr Angst einzujagen.

„Manchmal können so kleine Dinge so schwierig sein“, sagte Alan und merkte, wie sich sein Neffe bei den Worten verspannte.

Harrington war ein kühner Mann. Zeigte nie seine Gefühle. Und kannte kein Mitgefühl. Seine Art konnte Alan mit einem einzigen Wort bezeichnen und zwar mit - Hart -. Passend für seinen Job, als Captain. Doch das Mädchen war nicht sein Job. Sie war eine junge Frau. Eine Frau mit Gefühlen, die verletzt waren. Nur die Liebe kann ihre Wunden heilen. Und diese Liebe schuldete der Captain ihr. Aber vorher muss er sie selbst finden.

„Hier, versuch es damit.“

Harrington nahm das in papiereingewickelte Päckchen und fragte: „Was ist das?“

Er wollte es gerade öffnen, als Alan seine Hand darauf legte und ihn daran hinderte.

„Lass sie es tun. Es ist das Kleid deiner Mutter.“

Harrington nickte.

„So, und jetzt solltest du unbedingt zu ihr gehen, denn ihr habt nicht mehr viel Zeit.“

Als Harrington sich von der Reling entfernen wollte hörte er noch seinen Onkel sagen: „Warte, und nimm auch das noch mit. Es war einmal ein Geschenk deines Vaters an deine Mutter.“

Harrington sah in das kleine, braune Beutelchen hinein und entdeckte darin einen goldenen Ring mit einem roten Stein besetzt.

„Der Rubinring wird ausgezeichnet zu dem Kleid passen.“

Und er glaubte seinem Onkel.

***

Plötzlich ging die Tür auf und Cassie zuckte erschrocken zusammen. Sie erkannte den Captain sofort und senkte ihren Blick. Harrington merkte das, aber ließ sich nichts anmerken, stattdessen schloss er die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Cassie hatte den ganzen Tag auf diesen Moment gewartet. Mit großer Angst und einer Menge unbeantworteter Fragen, wie: Wird er mich frei lassen? Was Harrington nicht wusste, war, dass sie noch immer auf demselben Platz saß, wie vor einigen Stunden, als sein Onkel noch bei ihr war und noch länger.

Ein unangenehmes Schweigen herrschte in der Luft. Und Harrington fragte sich, wie er es brechen konnte. Auch, wie wird sie das auffassen, was ich ihr zu sagen habe?

Langsam kam er auf sie zu, das Geschenk hinter dem Rücken versteckt und stand eine Minute schweigend vor ihr. Ihr trauriger Anblick tat ihm leid. Langsam kamen ihm Zweifel, ob er das Richtige getan hat. Er hat ihr schon einmal wehgetan und zwar heute Nacht. Musste er es unbedingt noch ein zweites Mal tun, hier und jetzt? Ja! Ich tat es nur zu ihrem Besten. Und das muss sie jetzt erfahren, auch wenn ich ihr noch einmal das Herz breche, redete er sich ein. Wäre es nicht einfacher, wenn er ihr zu einer Flucht verholfen hätte? Zum Beispiel nach Südafrika oder in das ferne Amerika? Doch, natürlich. Für einen Feigling schon. Aber er wollte für seine Tat gerade stehen, wie sonst auch immer. Während er vor ihr so da stand merkte er, wie viel Mitleid er mit diesem Mädchen hatte. Für einen Mann hätte er nicht ein bisschen Mitleid übrig. Doch wie groß sein Mitleid für sie auch war, eine Entschuldigung für seine verhängnisvolle Tat kam ihm nicht in den Sinn. Dafür war er viel zu stolz.

Cassies Hände lagen auf dem Schoß und zitterten leicht. Ihr Kopf war leicht geneigt. Caleb sank in die Knie und versuchte ihr in die Augen zu sehen. Doch sie hinderte ihn daran, indem sie rasch das Gesicht von ihm abwandte. Glatte gold-blonde Haarsträhnen fielen ihr über das tiefe Dekolleté. Welch ein verführerischer Anblick!, dachte Harrington bei sich. Typisch, englische Mode.

Harrington hüstelte und wartete, bis sie ihr hübsches Gesicht zu ihm drehte, wie es sich gehört, wenn man miteinander spricht. Doch, als sie es immer noch nicht tat, legte er seine kräftige, raue Hand auf die Ihre und war überrascht, welch eine Wirkung sie in der nächsten Sekunde zeigte. Und dann sah er die Angst in ihren kristallblauen Augen. Dieselbe Angst, die er längst kannte. Um ihr so schnell wie möglich die Angst wieder zu nehmen überreichte er ihr das Geschenk im hellbraunen Papier eingewickelt.

„Hier, das ist für dich.“

Überrascht und unabsichtlich gefror ihr Blick auf seinem Gesicht. Noch nie hatte ein Schänder seinem Opfer etwas geschenkt. Warum tut er das?, fragte sich Cassie. Anstatt eine passende Antwort zu finden, fand sie, dass der Schuft vor ihr gut aussah. Eiskalte, blau-grüne Augen und schwarzes, kurzes Haar. Über der Oberlippe hatte er eine Narbe, die bis zu der kurzen, geraden Nase reichte. Obwohl er doppelt so alt war wie sie faszinierte sie sein Anblick. Noch nie habe ich einen so schönen Mann gesehen.

Als Cassie sich immer noch nicht rührte, legte er ihr das Geschenk auf den Schoß. Sofort kam Cassie zu sich und öffnete es. Während sie es vorsichtig öffnete bewunderte Harrington heimlich ihre Schönheit. Noch nie hatte er bisher so schöne, kristallblaue Augen gesehen, wie die von Cassie. Eine feine, gerade Nase und leicht gerötete Wangen. Ein Muss für jeden Künstler ihr schönes Gesicht auf einer Leinwand fest zu halten. Wie viele Männer werden mich dafür beneiden, dass du allein mir gehörst. Meine schöne Gemahlin. Bei dem Gedanken musste Harrington lächeln. Tja … , und da wären wir wieder. Die Stunde der Wahrheit. Und sein Lächeln verschwand wieder.

Cassie nahm den purpurroten Stoff vorsichtig in ihre Hände und faltete ihn auseinander. Entzückt leuchteten mit jedem Mal ihre Augen auf. Ein Kleid. Ein wirklich sehr schönes Kleid. Mit den Fingern fühlte sie seine Weichheit und Geschmeidigkeit.

Harrington sah ihr leichtes Lächeln und wusste, dass ihr das Kleid gefiel. Als seine Mutter das Kleid zum ersten Mal trug war sie fünfunddreißig Jahre alt. Längst eine erwachsene Frau. Und wie alt ist sie? Siebzehn, erinnerte er sich noch ganz verschwommen an den Zeitungsbericht vor einer Woche. Ein halbes Kind noch. Harrington schämte sich für seine Tat. Nun sag es endlich! Entschuldige dich für dein Vergehen, sagte ihm eine innere Stimme. Sonst wird es keinem von euch beiden leichter. Harrington fasste seinen ganzen Mut zusammen und öffnete den Mund, als Cassie ihn unerwartet mit ihrer Frage wieder schloss.

„Warum? Warum tun Sie das?“, und zeigte auf das Kleid.

Perfekt. Der Zeitpunkt ist wirklich perfekt. Jetzt musst du es ihr sagen, sonst …

Ihre kristallblauen Augen sahen ihn eindringlich an und Harrington verließ der Mut.

Diese Augen…

„Ich …“, er stockte und wand das Gesicht von ihr ab.

„Ich dachte, es wird dir gefallen.“

Cassie war überrascht diese Antwort zu hören. Alles hatte sie erwartet, nur nicht das. Aber noch viel mehr überraschte sie, wie schnell der Captain die Flucht ergriff. Wovor hat er nur Angst?, fragte sie sich.

Nur der Captain allein kannte die Antwort auf ihre Frage. … sie schreien nach der Wahrheit. Und für diese Wahrheit fand er keinen Mut. Feigling!, fluchte er.

„Ich warte draußen auf dich“, sagte er noch, ehe er die Tür hinter sich schloss.

Dann legte sie ihr goldenes Kleid ab und schlüpfte in das neue Kleid. Das purpurrote Kleid mit goldenen Fäden. Und es passte ihr wie angegossen. Ja, das wird ihm gefallen, stellte sie fest, als sie sich im großen, ovalen Spiegel mit kunstvollem, goldenem Rahmen betrachtete. Ihr Lächeln strahlte, beinahe zu echt. Obwohl Cassie Kleider liebte, wollte sich ihr Herz nicht hundertprozentig an dem Geschenk erfreuen. Sie seufzte. In diesem Moment ging die Tür auf und der Captain kam, ohne vorher anzuklopfen, herein. Ihm stockte der Atem, als er Cassie vor sich im purpurroten Kleid erblickte. Ihr gold-blondes, langes Haar fiel ihr lose über die Schultern. Fasziniert von ihrer Schönheit verschlug es ihm zunächst die Sprache. Ihre Blicke trafen sich. Eigentlich müsste ich ihm jetzt für das Kleid danken, erinnerte sich Cassie an das Gute Benehmen. Aber so einfach wollte es ihr nicht über die Lippen kommen. Wäre er jemand anders, dann, so war sich Cassie sicher, würde es mir viel leichter fallen. Zu schmerzhaft war noch die Erinnerung an die letzte Nacht.

„Du bist sehr schön!“, und damit meinte er sie nicht nur in dem Kleid.

Ein Traum jeden Mannes.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er ihr ein Kompliment gemacht hatte und errötete. Noch nie hatte er zuvor einem ein Kompliment gemacht, nicht einmal einer Frau. Wieso ausgerechnet jetzt? Nur Weicheier machen das.

„Danke“, sagte Cassie pflichtbewusst und ahnte nicht, was gerade in seinem Kopf vorging.

Anschließend senkte Cassie den Blick, aber nicht aus Verlegenheit. Und das rief Harrington ins Gedächtnis, weshalb er eigentlich zu ihr gekommen war.

„Komm, lass uns gehen! Unsere Kutsche wartet“, er streckte ihr seine Hand entgegen, wie es für einen Gentleman gehört, und wartete.

„Wohin wollen Sie mich bringen?“

Und er sah wieder die Angst in ihren schönen Augen.

„Keine Angst! Es wird dir nichts geschehen. Vertrau mir!“

Ja, das - Vertrau mir! - war gerade richtig, dachte Harrington mit einem Sarkasmus.

„Und mein Name ist Captain Caleb Harrington, aber du darfst zu mir Caleb sagen.“

Als Caleb sich ihr vorstellte lächelte er. Er ahnte nicht im Geringsten wie sein einfaches Lächeln ihr Herz verzauberte und den Wunsch in ihr weckte, ihm zu folgen. Und schon in der nächsten Minute saß sie mit ihm in der Kutsche. Ihr kam der Gedanke an eine Flucht. Doch, als sich Alan ihr gegenüber setzte verlor sich der Reiz.

Schließlich fuhr die Kutsche los.

Irgendwann fuhren sie über eine Birkenallee, die Cassie sehr bekannt vorkam. Sie führte zum Schloss Harwich. Das Anwesen ihres Verlobten. Ralph Darton Viscount of Harwich.

Oh nein!, erinnerte sich Cassie. Was wollen sie hier mit mir? Mich ihm ausliefern? Nur so konnte sich Cassie dies erklären. Cassie bekam Angst. Eine große Angst, die sie den beiden Herrschaften verschwieg.

***

Die Kutsche hielt vor den Stufen zum Eingang an und Alan stieg als Erster aus. Ganz unerwartet nahm Captain Harrington Cassies linke Hand und steckte ihr einen Ring an. Es war der Rubinring seiner Mutter. Und dann half er ihr schnell aus der Kutsche.

„Wie lange werdet ihr brauchen?“, fragte Alan, während er sich neben dem Kutscher setzte.

„Ich schätze, vielleicht eine Stunde“, antwortete Caleb.

„Gut, dann bis später“, verabschiedete sich der ältere Mann und dirigierte den Kutscher, wohin er fahren müsse. Denn seit seine liebe Schwester tot ist, wollte er das Haus der Dartons nicht betreten. Zu viele Erinnerungen hielten den älteren Bruder davon ab.

„Wir hätten etwas später kommen sollen“, sagte Captain Harrington leise zu sich selbst, als er und seine junge Gemahlin die Treppe hinaufgingen, wo zwei Diener am Eingang auf sie warteten. Wieso?, fragte sich Lady Cassandra. Und warum muss ich einen Ring an der linken Hand tragen? Ein Ring an der linken Hand ist ein Symbol für Ehe und das wusste sie zu gut. Was verheimlicht er mir? Neugierig warf sie im Laternenlicht einen Blick darauf und musste gestehen, dass er wunderschön und sehr wertvoll war.

***

Oben angekommen nahm einer der Diener das jungvermählte Paar in Empfang und bat den Captain ihre Einladung kurz zu zeigen.

„Seit wann braucht der Bruder des Viscounts eine Einladung?!“, lachte Captain Harrington und tätschelte die Hand seiner jungen Gemahlin.

„Verzeiht bitte, ich …“, lächelte der Diener verlegen.

„Schon geschehen“, sagte der Bruder des Viscounts ganz schnell und legte ihm entschuldigend eine Hand auf die Schulter.

„Komm, meine Liebe, wir sind spät dran“, drängte der Captain seine Gemahlin, ehe die Zwei es sich noch anders überlegten.

Über dem Marmorboden schalten ihre schnellen Schritte, bis sie eine massive, weiße Tür erreichten. Und hinter dieser Tür hörte Lady Cassandra eine leise Musik. Der Ballsaal. Sofort gefror ihr das Blut in den Adern.

Von hinten eilte ein Diener herbei.

Der Mann an ihrer Seite nahm eine aufrechte Haltung an. Mit erhobenem Haupt zeigte er Mut. Mut, seinem Bruder entgegenzutreten. Und Stolz, die schönste und reichste Frau an seiner Seite zu haben. Die Frau, mit der sein Halbbruder bis vor wenigen Stunden noch verlobt war. In diesem Moment genoss Lady Cassandra seinen Anblick. Und sie musste zugeben, dass sie ihn sympathisch fand. Daran ist nur sein gutes Aussehen schuld, entschuldigte sie sich. Wie seltsam, dass ich noch nie etwas von Ralphs Bruder gehört habe, wunderte sie sich. Sie sah zu ihm auf und fand nicht eine einzige Ähnlichkeit mit seinem Bruder.

Ein Diener in weißer Uniform öffnete dem Gästepaar die Tür und wünschte ihnen einen schönen Abend. Als Antwort lächelte Lady Cassandra freundlich und wünschte sich den Tod.

Ein lieblicher Duft eines Damenparfüms hing in der Luft und versüßte den Empfang einer Ballnacht. Das neue Gästepaar merkte, wie sich alle Augenpaare auf die Tanzfläche richteten. Im Hintergrund spielte ein kleines Orchester.

Neugierig, wem die ganze Aufmerksamkeit galt, kam das Paar näher. Und staunte nicht schlecht, was sie da sahen.

Ralph Darton Viscount of Harwich tanzte mit einer Frau im dunkelblauen Kleid. Das dunkelbraune, beinahe schwarze Haar trug sie hochgesteckt, geschmückt mit einer weißen Blume. Einer Rose, vermutete Lady Cassandra und merkte nicht, wie winzige Dornen der Eifersucht in ihr Herz stachen. Wer ist sie? Hatte sie noch das Recht danach zu fragen? Nein! Nicht mehr. Mit meiner Flucht ist es längst vorbei.

Wie zwei Schmetterlinge schwebte das Paar über die Tanzfläche und die Gäste sahen gespannt dabei zu. Captain Harrington grinste, als er die Tanzpartnerin seines Halbbruders erkannte. Wer denn sonst, als nicht Irene Hunter, das kleine Flittchen aus den Kindertagen. Interessant zu welcher Alternative du gegriffen hast, Bruderherz.

Als der Tanz zu Ende war klatschten alle Gäste, mit Ausnahme von der jungen Lady und ihrem Gemahl, erfreut in die Hände. Sofort setzten die Musikanten erneut an und junge, wie auch ältere Paare strömten auf die Tanzfläche. Unter ihnen befand sich auch das ungeladene Paar.

Während der Captain mit seiner Gemahlin tanzte behielt er seinen Bruder im Auge. Lady Cassandra spürte Captain Harringtons Anspannung, folgte einem seiner heimlichen Blicke und war davon überzeugt, dass er ein anderes Ziel verfolgte, als sie seinem Bruder auszuliefern. Aber welches? Seine Anspannung und Nervosität widersprach dem Vergnügen, dass er jedem vorzuspielen versuchte.

Sie ist so glücklich, war Lady Cassandra überzeugt, die Mimik der Braut richtig gedeutet zu haben, wie ich es während meiner Verlobung niemals war. Zu schade! Vielleicht hätte mir das Schicksal dann so einiges erspart, dachte sie und sah den Captain dabei vorwurfsvoll an.

Das Musikstück nahm sein Ende und der Viscount und seine Braut gingen mit vollen Gläsern Champagner zu ihren Freunden. Unauffällig folgte das ungeladene Paar den beiden. Captain Harrington beabsichtigte noch ein wenig zu warten, bevor er sich seinem Halbbruder stellte. Wie wird er reagieren, wenn er erfährt, dass ich ihm seine Verlobte ausgespannt habe?, fragte sich Harrington. Ein Diener kam mit einem Silbertablett vorbei und fragte das schweigsame Paar, ob sie etwas trinken wollten.

„Sekt oder Champagner?“

„Schatz, was hättest du gerne?“, fragte Harrington seine Gemahlin.

„Ein Glas Sekt, bitte“, antwortete sie lächelnd.

„Für meine Gemahlin Sekt und mir den teuersten Wein, den ihr habt.“

„Tut mir leid, Master Caleb, aber der Viscount und seine Braut haben für heute Abend nur Champagner und Sekt vorgesehen. Ich hoffe, ich kann Sie auf morgen vertrösten.“

Morgen, ja morgen wäre meine Hochzeit, dachte Lady Cassandra.

„Wieso das, muss mein Bruder etwa sparen?“, scherzte Harrington und merkte nicht, wie sich mehrere Blicke aus purer Neugier auf ihn richteten.

„Hat die Mitgift seiner Braut nicht sein Budget gesprengt?“

Die Gäste tuschelten grinsend miteinander.

Spätestens jetzt müssen mich genug Gäste erkannt haben und unter ihnen ist bestimmt jemand von der Presse. Oh Caleb!, ärgerte sich Cassie.

Noch nie hatte jemand aus meiner Familie einen schlechten Ruf, ich werde die Erste sein, wenn sie durfte, so hätte sie jetzt geflucht.

„Sei unbesorgt, Roger, bei mir darfst du eine Ausnahme machen. Mein Bruder wird mir gern verzeihen“, sagte er und lächelte ganz frech.

Und Roger glaubte ihm.

Lady Cassandra kehrte den tratschenden Gästen den Rücken zu und versuchte nicht hinzuhören, was sie über sie erzählten. Ihr Blick sank traurig zu Boden. Caleb fiel das auf und bekam sofort Mitleid mit ihr. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Bald ist alles vorbei.“

Bald kam auch schon der Diener mit den gewünschten Getränken.

Der Captain nahm ihm zwei volle Gläser ab, bedankte sich und reichte seiner Gemahlin das gewünschte Glas mit den Worten: „Komm, lass uns jetzt zu meinem Halbbruder gehen.“

Als die junge Lady diese Worte hörte, drehte sich ihr Magen um. Nein, bitte nicht!, las Harrington das Flehen in ihren Augen. Doch er ignorierte ihre stumme Bitte und zog sie sanft an der Hand, damit sie ihm folgte.

Schließlich standen sie hinter ihm, ihrem Ex-Verlobten, dem Viscount of Harwich, und neben ihm stand seine Braut.

Captain Harrington berührte die Schulter des Bräutigams und dann standen sie Gesicht an Gesicht. Der Jüngere überrascht und der Ältere frech grinsend. Bruder gegen Bruder.

Caleb hob sein Glas und prostete seinem Bruder provozierend zu: „Auf dein neues Eheglück, Bruderherz!“ Und trank das Glas leer.

Ralph kochte innerlich vor Wut, als er den für morgen reservierten Rotwein in seinem Glas erkannte.

„Und danke für deine Einladung“, grinste Caleb seinen Bruder vorwurfsvoll an und stellte sein leeres Glas auf ein Tablett, das ein Diener im Vorbeigehen bei sich trug.

Plötzlich berührte Irene Ralphs linke Hand, als sie sich zu ihnen drehte und hinderte somit unbeabsichtigt den Gastgeber die Wahrheit zu sagen.

„Ich habe es gern getan“, zu diesen Worten setzte Ralph noch ein künstliches Lächeln auf.

Caleb kannte die Wahrheit. Es gab keine Einladung für den einzigen Bruder.

„Ich denke, meine Braut kennst du schon, deshalb nimm es mir nicht übel, wenn ich meine Aufmerksamkeit wieder meinen Gästen widmen werde“, und damit glaubte Ralph das Gespräch mit seinem Halbbruder beendet zu haben.

Einige der umstehenden Gäste hörten mit welcher Grobheit der Gastgeber zu seinem Bruder gesprochen hatte und verstummten. Neugierig lauschten sie in seine Richtung.

„Gewiss, deine schöne Braut kenne ich sogar sehr gut. Nicht wahr Irene?“ Caleb schenkte Irene sein Lächeln. Es war das Lächeln, mit dem er Frauenherzen immer höher schlagen ließ. Und auch dieses Mal verfehlte es nicht seine Wirkung. Denn Irene lächelte schüchtern zurück.

Ein Glück für Cassie, die das hinter seinem Rücken nicht sehen konnte.

„Aber vielleicht möchtest du meine Gemahlin kennenlernen?“, das - meine Gemahlin - sprach Caleb sehr betont aus und weckte Ralphs Neugier, die ihn in der Drehung, wieder zu den Gästen, inne halten ließ. Seine Gemahlin …, wie konnte er so schnell geheiratet haben? Ralph setzte ein künstliches Lächeln auf, drehte sich wieder zu seinem Halbbruder und beglückwünschte ihn zu seinem Glück, fragte ihn aber nicht nach ihrem Namen.

„Danke-danke, Bruder, aber du sollst sie auch noch sehen“, lachte Caleb und versuchte diesen verletzenden Augenblick wie einen Scherz aussehen zu lassen.

„Darf ich vorstellen?!“, und Cassie kam hinter seinem Rücken hervor.

Der Schrecken seiner Worte stand ihr im Gesicht geschrieben.

„Lady Cassandra Whitbread Harrington.“

Cassie lief kalter Schweiß über den Rücken, als Caleb ihren neuen Namen aussprach.

„Du Hure!“, konnte Ralph nicht anders, als er in der jungen Frau seine Ex-Verlobte erkannte.

Erschrocken zuckte Cassie zusammen.

Die Herumstehenden sogen hörbar die Luft ein und warteten gespannt, was als nächstes käme.

„Ralph, ich bitte dich! Nicht heute zu unserer Verlobung“, versuchte Irene ihren Verlobten zu bremsen.

Denn ihr bedeutete dieser Tag sehr viel und zu gern hätte sie ihn in guter Erinnerung behalten.

„Wenn heute nicht unsere Verlobung wäre, dann hätte ich dich zu einem Duell herausgefordert“, sprach Ralph diesmal leiser mit zusammengebissenen Zähnen zu Caleb.

„Und du, …“, zeigte er mit dem Finger auf Cassie: „Dich …“

„Pschhhht …!“, unterbrach Irene ihren Verlobten, der unbeabsichtigt wieder lauter wurde und schlug mit der Hand sanft seine Hand weg.

„Wir haben Gäste“, erinnerte sie ihn wieder.

Nein, Ralph wollte nicht aufhören. Noch nicht! Er hatte längst nicht alles gesagt.

Ralph trat einen Schritt näher. Näher zu Cassie, die vor Angst sich am liebsten versteckt hätte.

„An meiner Seite, als Ehefrau, hättest du alles haben können. Ein großes Haus, unzählige Kleider, Schmuck und Diener, die sich um dein Wohlergehen gesorgt hätten.“

Cassie schüttelte den Kopf.

„Ralph, das hatte ich doch schon, auch ohne dich. Was mir fehlte, war deine Liebe.“

Aber Ralph wollte ihr nicht zuhören. Zu groß war der Zorn, der sein Herz in Besitz nahm. Da war kein Verständnis für die Gefühle dieser jungen Frau.

„Dieser Ball war für dich bestimmt.“

Und das stimmte auch. Wenn es nach Ralph ginge, so hätte keins stattgefunden. Es war allein ihr Wunsch vor der Hochzeit ihre Verlobung mit Freunden zu feiern. Wie einst ihre Eltern.

„Dieses Kleid …“, Ralph zupfte an dem traumhaften, dunkelblauen Kleid seiner Verlobten: „Ist deins. Ich habe es extra für dich in London anfertigen lassen.“

Irene wurde verlegen. Sie spürte, wie sie rot anlief.

„Ralph …“, doch er hörte nicht, wie sie leise zu ihm sprach.

„Nein, stattdessen bevorzugst du lieber das Kleid einer Mätresse.“

Cassie sah auf ihr purpurrotes Kleid herab und wünschte sich, sie hätte es niemals angezogen. Denn, wie schön das Kleid auch war, es stand unter ihrer Würde dieses Kleid zu tragen. Hätte sie es gewusst, so hätte sie Calebs Geschenk niemals angenommen.

„Und lass mich raten. Bestimmt trägst du auch noch ihren Ring“, spottete Ralph.

Unerwartet hob Cassie den Kopf.

„Jetzt ist genug!“, platzte es aus Cassie heraus und zeigte somit ihren Mut.

„Ja, ich trage das Kleid, das du nicht besonders magst und auch den Ring. Und ich muss sagen, es ist ein schöner Rubinring.“

Zum Beweis hob Cassie ihre Hand und hielt sie ihm entgegen.

„Wir wissen beide ganz genau, dass du mich nur wegen meines Geldes heiraten wolltest. Liebe war für dich nicht einmal ein Begriff.“

Hui, meine Katze kann ja ihre Krallen zeigen, sah Caleb stolz auf seine Frau hinab.

Dann ergriff Cassie Calebs Hand.

„So, und jetzt ist es besser, wenn wir gehen.“

Caleb tat es gut, als er hörte, dass seine Geschenke Cassie etwas bedeuteten.

Er grinste zu seinem Halbbruder: „Du hast ja gehört, was meine Frau gesagt hat.“

Um ihm noch ein letztes Mal eins auszuwischen legte Caleb Cassies Hand an seine Lippen und küsste sie ganz sanft. Calebs freches Zwinkern ließ Ralphs Wut überkochen. Wenn Irene ihren Verlobten nicht am Arm festgehalten hätte, so wäre Ralph mit Fäusten auf seinen Bruder losgegangen.

„Komm langsam runter“, sprach Irene leise auf ihren Verlobten ein und streichelte sanft seinen Rücken.

Sie ist gegangen. Aber ich bin noch bei dir und werde nicht von dir gehen, dachte Irene insgeheime. Denn dafür liebe ich dich zu sehr.

Irene wusste ganz genau, dass ihr zukünftiger Mann sie nicht liebte. Aber sie hoffte, dass er das eines Tages tun wird. Morgen nimmt sie den Platz der Braut ein. Aber später, wenn sich Ralphs Zorn gelegt hat, der für´s erste sein ganzes Herz eingenommen hat, dann wird auch Platz für sie in seinem Herzen geben. Als Geliebte, beste Freundin und einzigartige Ehefrau.

Keinem der neugierigen Gäste war entgangen, wie Ralphs Fäuste vor Wut zitterten.

„Komm, lass uns wieder zu unseren Gästen gehen.“

Ralph schluckte seinen Zorn gewaltsam herunter, setzte ein künstliches Lächeln auf und führte seine zukünftige Frau auf die Tanzfläche. Er hielt es für das Beste, erst einmal für wenige Minuten abzutauchen. Die Gäste, die alles mitbekommen hatten, sollen lieber ihre eigenen Schlüsse ziehen. Denn er hatte keine Lust mit Fragen bombardiert zu werden. Irene war natürlich alles Recht. Sie fügte sich ihm gerne. Schließlich wird er in wenigen Stunden ihr Ehemann sein. Ein Ehemann, den sie sich über zwei Jahrzehnt gewünscht hatte. Ein Mann aus dem Adel. Mit Gut und Geld gesegnet. Davon träumt jede Frau aus ihren Kreisen. Nur nicht jede hat das Glück dazu, wie sie.

Nach diesem Tanz küsste Ralph entschuldigend die Hand seiner Verlobten und eilte als der Viscount of Harwich zu seinen Geschäften. Welche es ausgerechnet heute Abend an ihrer Verlobung waren, wollte er ihr nicht verraten.

Nicht ahnend, was sein Halbbruder im Schilde führte, führte Captain Harrington glücklich und zufrieden seine Gemahlin durch den Saal, hinaus auf die Schlossterrasse. Im Vorbeigehen nahm er eine gelbe Rose aus einer Vase.

„Ich muss sagen, du hast wirklich Geschmack. Gelbe Rosen in Kristallvasen, dunkelblaues, enganliegendes Kleid und …“, er sah ihr tief in die Augen, als sie sich viel zu nah gegenüberstanden: „Ein Kuss wäre jetzt gerade richtig.“

Mit frechem Mut senkte er seinen Kopf und wollte sie auf die Lippen küssen. Doch Cassie war schneller und stieß ihn wütend von sich weg.

„Untersteh dich, mich jetzt zu küssen!“

„So, nicht jetzt, aber später?“, lachte er.

„Und das …“, sie zog verärgert den Rubinring von ihrem Finger.

„… kannst du gleich wieder zurück haben.“

„Nein, behalte ihn!“, wurde er wieder ernst.

Er nahm den Ring und steckte ihn ihr wieder an.

„Es ist dein Ehering.“

„Du scherzt!“

„Nein, Cassandra! Es ist mein voller Ernst. Ab heute Morgen bist du meine gesetzliche Ehefrau.“

Cassie öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber schloss ihn wieder, weil sie keine Worte fand. Stattdessen nur Fragen.

Ihre Augen wurden glasig.

„Wie …?“

Caleb nahm vorsichtig ihre Hände und war erstaunt, dass sie es zuließ.

Cassies Stimme zitterte.

„Wie soll das gehen? Du hast mich nicht einmal gefragt, ob ich es werden möchte. Und … ich war nicht einmal dabei, als du mich `angeblich´ geheiratet hast.“

Eine Träne riss sich los und lief ihr über die Wange.

„Ich weiß!“, sagte er mitfühlend.

„Und …“, begann Caleb und brach wieder ab, als er nicht mehr sicher war, ob er die richtigen Worte gefunden hatte.

Ach, bestimmt. Sag es einfach! Du bist doch sonst so mutig, warum nicht auch jetzt?!

„Und du brauchst auch nicht dabei zu sein. Du bist noch nicht volljährig“, meine Anwesenheit reicht vollkommen aus, wollte er noch dazu sagen, hielt es aber dann doch für besser, es nicht auszusprächen. Sie muss mich nicht noch mehr hassen, als sie es jetzt schon tut.

Als sie dies hörte fing sie an zu weinen, so, dass sein Herz brach. Jetzt hätte sie sich von ihm losreißen können und davon laufen, aber sie tat es nicht. Zu sehr beschäftigte sie der Kummer, als sie daran denken konnte.

Caleb zog sie an seine Brust und umarmte sie in ihrem Schmerz. Mit geschlossenen, tränenden Augen lag Cassies Kopf an seiner Schulter. Sie ignorierte die leise Musik, die aus dem Ballsaal nach draußen drang und glaubte für einen Moment dem Albtraum entronnen zu sein, bis Caleb leise an ihr Ohr flüsterte.

„Ich wollte dir damit nur helfen.“

Sie warf den Kopf zurück.

„Wie, indem du mich an dich kettest?!“, warf sie ihm empört zurück und versuchte sich von ihm wegzudrücken.

Doch er gab sie nicht frei.

„Ja … und nein!“

Sie schüttelte nur den Kopf. Nein, das kann nicht sein.

„Du hast es doch selbst gehört. Er nannte dich Hure“, versuchte er sie daran zu erinnern und merkte nicht, wie er Cassie noch stärker an sich drückte, als zuvor.

„Und heute Abend hast du es nur einmal gehört. Was meinst du, wie oft hättest du es als seine Ehefrau anhören und ertragen müssen?“

Das wusste Cassie nicht. Jedenfalls viel zu oft, als ihr Herz das ertragen könnte.

„Du hättest mir besser zu einer Flucht verholfen, als mich zu heiraten.“

„Ja, sicher. Und dann, wenn etwas mit dir passiert wäre, hätte ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen müssen, oder?“

„Zum Beispiel.“

Caleb hielt zornig die Luft an.

„Eine Schuld mehr hätte dich jetzt auch nicht umgebracht. Und jetzt lass mich wieder los!“

Caleb ließ sie los.

„Ich bin kein Feigling. Ich stehe zu dem, was ich getan habe.“

„Ach! Du bist doch genauso wie dein Bruder, willst nur an das Geld meines Vaters, gib es zu!“

In dieser Sekunde hätte er sie am liebsten geohrfeigt. Denn noch nie hatte ihn eine Frau zuvor so zur Weißglut gebracht, wie Cassie jetzt.

„Du weißt gar nichts!“

„Ihr Männer seid doch alle gleich.“

Er griff nach ihrer Hand und ließ sie seinen eisernen Griff schmerzhaft spüren.

„Jetzt reicht’s! Ich habe genug gehört.“

Und zerrte sie von der beleuchteten Schlossterrasse in den Garten.

„Ich bin aus wichtigeren Gründen hierher gekommen, als mit dir einen Krieg anzufangen“, murmelte er vor sich hin.

Was kann so wichtig für ihn sein?, fragte sich Cassie, als er sie durch ein Labyrinth aus Hecken führte.

***

Über dem winzigen Fleckchen Erde, wo noch vor wenigen Sekunden sich ein Paar gestritten hatte, brannte ein schwaches Licht aus einem kleinen Dachfenster. Das Fenster stand weit offen und ließ die warme Abendluft herein. Ein sanfter Windstoß berührte den weißen Vorhang und ließ von ihm wieder ab. Zu schwach war er, um ihn zum Tanz aufzufordern. Jemand, vom Alter gezeichnet, saß neben dem Fenster und lauschte dem Abend. Lauschte den Stimmen unter ihm, die miteinander stritten. Und eine dieser Stimmen erkannte er.

„Caleb.“

Tränen der Freude rannen ihm über die Wangen. Gefolgt von einem Lächeln der Zuversicht, dass seine Tage der Gefangenschaft längst gezählt sind.

***

Es war dunkel und der Mond verlor sich in den Wolken. Irgendwo, aus irgendeinem Baum, war das Rufen einer Eule zu hören. Caleb kniete vor das Grab seiner Mutter und legte eine gelbe Rose vor ihren Grabstein. Mit einer Laterne leuchtete Cassie auf das graue Gestein und las neugierig dessen Inschrift.

Melisse Harrington, 17.November 1825 – 29.April 1862

Schweigend hing er in seinen Erinnerungen. Es waren nicht viele, an die er sich erinnern konnte. Sieben kurze Jahre, was war das schon?!

Cassie kniete sich neben ihn und flüsterte in die Nacht: „Deine Mutter?“

„Mhhh-mhhh.“

„Wie war sie so, deine Mutter?“

„Sie war sehr nett. Lachte viel. Ja“, Caleb lachte in sich hinein: „Sie liebte das Leben. Und sie war verdammt sehr schön.“

„War das der Grund, warum sie die Mätresse des …“, Viscounts wurde, wollte Cassie fragen, stattdessen überlegte sie sich schnell anders und verbesserte die herab klingende Frage: „… deines Vaters wurde?“

„Nein!“, schüttelte Caleb den Kopf.

„Mein Vater kannte meine Mutter schon viel früher. Sie war die Tochter einer Magd, im Hause meiner Großeltern. Und somit auch weit unter dem Adelsstand, um einen Lord, wie meinen Vater, heiraten zu können.“

„Mhm, ich verstehe“, sagte Cassie leise mitfühlend und erriet den Fortgang seiner Geschichte.

Dann stand er wieder auf, nahm ihr die Laterne ab und leuchtete auf das nebenstehende Familiengrab. Interessiert zählte Cassie die Namen auf dem riesigen Grabstein. Es waren neun. Sieben Generationen, sowie die Daten es verrieten. Vier davon waren noch Kinder, als sie der Tod holte. Drei Jungen und ein Mädchen. Der letzte Name war das einer Frau. Helen Thomas Darton Lady of Harwich. Ralphs Mutter, wenn sich Cassie recht erinnerte.

„Aber …, wo ist Dad?“

Caleb zählte noch einmal die Namen. Aber auch dieses Mal zählte er nur neun.

„Der Name meines Vaters fehlt.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja.“

„Wie kann das sein?“, fragte er sich.

„Er ist doch vor einem Jahr gestorben. Lang genug, um seinen Namen auf das Grabstein eingravieren zu lassen.“

„Vielleicht ist er gar nicht gestorben?!“

Caleb sah verwirrt auf seine Frau und ahnte nicht, dass sein Blick ihr Angst einjagte.

„Tut mir leid, war nur so ein spontaner Gedanke“, entschuldigte sich Cassie.

„Wenn es wahr ist, dann hat Ralph mich angelogen“, sprach er leise, mehr zu sich selbst.

Plötzlich hörte Cassie Gras rascheln. Der Wind konnte es nicht sein. Denn wie ein Reisender ist er weiter in den Süden gezogen und hinterließ eine angenehme Erinnerung an wohltuende Stunden.

Vielleicht ist es eine Maus, die einen Weg durch das dichte Gras zu ihrer Höhle sucht, in der hungrige Mäusekinder auf sie warten. Oder auch eine Katze auf Mäusejagd. Alles war Cassie recht, nur nicht das.

Wie aus einem Nichts schlug jemand mit einem Holzklotz auf Caleb ein und traf ihn unglücklicherweise am Rücken. Mit einem kurzen Aufschrei prallte er mit dem Gesicht gegen den riesigen Grabstein, verletzte sich an der Stirn und landete anschließend seitlich auf dem Boden. Rote Blutsfäden zogen quer über sein Gesicht. Die Laterne fiel zu Boden und zerbrach. Die Kerze erlosch und tauchte alles, was sie umgab, in die tiefste Dunkelheit. Rasch drehte sich Caleb auf den Rücken, ohne auf seine Kopfschmerzen zu achten und suchte in seiner Hosentasche nach einem Klappmesser, den er zur Sicherheit immer bei sich trug. Cassie hörte sein Klicken, konnte ihn aber an seinem Geräusch nicht erkennen und auch nicht zuordnen, wem der Gegenstand gehörte.

Cassie stand noch immer auf demselben Fleck und lauschte gebannt in die dunkle Nacht. Vor ihren Augen war alles Schwarz. Und auf einmal wurde es ganz still. Ist er noch da?, fragte sie sich.

In derselben Minute tauchte der Mond hervor und gab einen Schatten zu erkennen, wie er mit einem Klotz über Caleb gebeugt stand.

Dann fuhr der Holzklotz blitzschnell hinunter und Cassies Schrei zerriss die warme Nachtluft.

Caleb, der die Gefahr längst gerochen hatte, stach sofort auf seinen Gegner blind ein und spürte, wie der Schattenmann anschließend sein Ziel verfehlte. Der Klotz verlor sich auf dem Boden und der Fremde fiel bäuchlings auf die kalte Erde, und rammte das Messer noch tiefer in die Magengegend ein. In der Stille hörten beide noch wie der Fremde zum letzten Mal Atem holte.

„Komm, wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden“, sagte Caleb zu Cassie noch im Aufstehen.

„Aber wir können ihn doch nicht einfach so liegen lassen?!“

Cassie spürte seinen festen Griff um ihre Hand.

„Wir müssen!“, sagte er nur kurz und knapp und zog sie hinter sich her.

„Aber vielleicht lebt er noch.“

„Scheinbar hast du es bereits vergessen – er wollte mich vor wenigen Sekunden noch töten.“

„Nein, das habe ich nicht, aber so würde dich jeder für seinen Mörder halten. Ich meine, mit deiner Flucht machst du dich verdächtig.“

Die beiden gingen den Weg zurück, durch das Labyrinth aus grünen Hecken, aber kamen diesmal aus einem anderen Ende heraus.

„Das ist mir schon klar, aber keiner wird mir Glauben schenken, egal was ich sagen werde.“

„Warum bist du dir so sicher?“

Dann drehte er sich zu ihr und sah sie an. Sah das Mädchen an, das noch zu sehr an eine unschuldige Welt glaubte. Zu gerne hätte er ihr die Gründe dafür erklärt, aber einige Stimmen im Hintergrund hinderten ihn daran.

Besorgt warf er einen kurzen Blick in alle Richtungen und meinte anschließend: „Ich erkläre es dir später.“

Bald saßen sie in der Kutsche und fuhren zum Hafen. Noch heute Nacht verließ das Schiff Melisse den Hafen von Harwich, auf der Flucht vor falschen Anschuldigungen.

Einen Schurken zum Bräutigam

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