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Kapitel 1

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Die Straße der Gelüste

Die Straße der Gelüste, so nennen die Einwohner von Harwich diese Straße. Sie trägt als Einzige kein Namenschild. Denn ihr Name existiert nur nachts. Nachts, wenn die Gefahr am größten ist. Meist eine Gefahr für junge Frauen, wie Cassie.

***

Aus einem Fenster eines Mittelreihenhauses brannte Licht und eine Türe ging auf, aus der noch mehr Licht und Lärm strömten. Neugierig warf Cassie im Vorbeigehen einen Blick hinein und merkte viel zu spät, wie sie gegen einen sitzenden Kartenspieler stieß. Er und sein Gegner spielten vor dem Wirtshaus Karten. Bei dem Spiel ging es um einige Pfund. Der ältere Kartenspieler sah sie böse an und meinte: „Pass auf, wo du hinläufst!“

„Verzeihung!“, entschuldigte sich Cassie bei ihm mit einer sanften, weichen Stimme und ging weiter.

Zwar verstand er, wegen dem vielen Lärm aus dem belebten Wirtshaus, nicht, was die fremde Gestalt im dunkeln Umhang zu ihm gesagt hatte, aber die hohe, weiblich klingende Stimme und das schöne Gesicht, das er für einen kurzen Augenblick unter der tiefsitzenden Kapuze sehen konnte, machten ihn neugierig. Wohin geht sie? Um dies zu erfahren warf er seine Karten auf den Tisch und sagte zu seinem Gegner im Gehen: „Ich muss weiter!“

„Hey, das Spiel ist noch nicht zu Ende“, rief ihm der Gegner sehr verärgert nach.

Doch Alan verschwand in der dichten Menschenmenge und hörte seine Worte nicht mehr. Sein ganzes Interesse hing allein nur an dieser Frau im dunklen Umhang. Eine Hure?

***

Cassie wunderte sich über die vielen Menschen auf dieser Straße. Und eines hatten sie fast alle gemeinsam. Die Fröhlichkeit. Cassie wusste nicht woher ihre gute Stimmung kam, aber als einer sie an der Hand packte und sie sich zu ihm drehte, roch sie den Stimmungsmacher aus seinem Mund. Wein!

„Hey Kleine, willst du es nicht mit mir versuchen?!“

Cassie wollte etwas erwidern, doch dazu kam sie nicht. Denn er packte sie unsanft bei den Schultern und drückte sie gegen eine Wand. Vor Schreck spürte sie nicht wie kalt und nass sie war. Seine dicken, dreckigen Finger zerrten an den Schnüren ihres Mieders und sein feuchter, übel riechender Mund fand den Weg zu ihrem Nacken. Cassie versuchte den Mann mit aller Kraft wegzudrücken, aber es gelang ihr nicht, obwohl er einen halben Kopf kleiner war als sie.

Ein nächtlicher, kühler Sommerwind erfasste das quietschende Schild über ihr und wiegte es hin und her. Auf ihm stand mit großen Buchstaben FRAUENHAUS. Wer ein wenig mehr Lebenserfahrung hatte als Cassie, wusste wo er sich befand. Nicht umsonst heißt diese Straße bei Nacht, die Straße der Gelüste, dessen Herz das berühmte Frauenhaus ist. Wo eine Frau die einfachste Arbeit verrichten kann, die es auf der Welt gibt. Nämlich, sich einem Mann hingeben, der dafür bezahlt. Was sie verdienten war nicht viel und trotzdem sahen sie nicht einen Penny davon. Denn das ganze verdiente Geld wanderte an den Eigentümer des Frauenhauses. Er war ihr Herr und Arbeitgeber zugleich.

Aus dem Frauenhaus drang Licht und lautes Lachen. Heute Nacht war das alte Gebäude zu voll, um so viele angereiste Seemänner zu befriedigen. Deshalb boten mehrere Huren ihre Dienste auch im Freien, vor dem Frauenhaus, an. Der Frauenwirt stand an der Theke und rieb sich zufrieden die Hände.

„Diese Nacht wird uns viel Geld einbringen“, sagte er zu seiner Frau mit großer Gier, die sein Herz ergriffen hatte.

Aber weder ihre glanzlosen Augen, noch ihre Mimik verriet wie glücklich sie darüber war.

„Bitte, lassen sie mich los!“, flehte Cassie.

Als er auf ihr Bitten nicht reagierte schlug sie mit ihren Fäusten gegen seinen Rücken. Doch es war nicht stark genug, um ihn von seinem Tun abzubringen.

Nur wenige Meter von ihnen entfernt stand eine junge Hure und hörte das junge Mädchen unter Tränen flehen. Sie war vielleicht nur zwei Jahre älter als Cassie selbst, aber voller Erfahrung, was Männer anging. Cassie erinnerte sie an sich selbst. Wie sie als junges Mädchen einst angefangen hatte ihren Körper an junge und alte Männer zu verkaufen. Sie ekelt sich noch heute vor ihnen, aber irgendwie muss sie ja an Geld kommen, um zu überleben. Die junge Hure wandte den Blick ohne jegliches Mitgefühl von Cassie ab und widmete ihre volle Aufmerksamkeit einem jungen Seemann.

Auch ich musste einst da durch und keiner hat mir dabei geholfen. So werde auch ich dir nicht helfen, ging der jungen Hure durch den Kopf, als sie sich dem jungen Mann anbot.

Im Hintergrund spielte eine Mundharmonika. Ein Hund jaulte zu der Melodie und das störte keinen. Stattdessen übertönte er manche unangenehme Geräusche. Wie das von Cassie und das vielleicht von einer anderen Hure. Denn nicht jede Hure verrichtete freiwillig ihren Dienst. Es war nicht selten, dass eine junge Hure missbraucht wurde und ihr keiner dabei half.

Plötzlich packte jemand den älteren Mann von hinten und zerrte ihn von Cassie weg.

„Lass die Finger von ihr, Mann! Ich habe sie zuerst gesehen“, sagte Alan zu dem Mann. Mit der einen Hand hielt er den älteren Mann am Kragen fest und mit der anderen formte er eine Faust und drohte ihm zuzuschlagen.

„Ist schon gut, ist schon gut.“

Alan konnte seine Angst förmlich riechen. Er ließ den Mann schließlich los und konnte ihm nachsehen, wie er blitzschnell um die Ecke verschwand.

Unter Tränen band Cassie ihr Mieder wieder zu. Für den ersten Moment glaubte sie, er habe sie gerettet, aber, als er sie zu schnell über den Rücken warf, dass sie gar nicht reagieren konnte, wurde ihr bewusst, dass sie sich gewaltig geirrt hatte. Was danach kam war für jede Frau das Schlimmste, was es auf Erden gab.

Mit Cassie auf dem Rücken marschierte Alan auf den Hafen zu. Kein Mann und keine Frau wollten dem armen, wehrenden Ding helfen. Denn das Mitleid war längst über die Jahre im Herzen gestorben.

Einen Schurken zum Bräutigam

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