Читать книгу Comödie. Band 2 - Nataly von Eschstruth - Страница 4
XIV.
ОглавлениеSo bin ich heruntergekommen —
Und weiss es doch selber nicht, wie?! —
Uhland.
Nach welchem Bahnhof befehlen der Herr Baron?“ fragte der Diener mit erwartungsvollem Gesicht, den Hut in der Hand am Wagenschlag stehend.
„Zuerst bei Herrn Bankier Sauthing vorfahren.“
Derselbe rüstete sich gerade zur Fahrt in die Oper, aber er empfing zuvor den Kommerzienrat. Auch dieser war eilig. „Lieber Freund, eine grosse Bitte, verwahren Sie während meiner Reise diese drei Teilschlüssel von meinen Geldschränken, mein Schwiegersohn empfing die dazugehörigen Partner und ist die einzige Persönlichkeit, welche weiss, dass ich Ihnen dieses Trio in Haft gab!“
„Teuerster Baron, ich verreise selber morgen für vier Wochen!“
Lehnberg lächelte, seine Augen glühten auf: „Ah, thatsächlich, Sie verreisen? Hörte bereits davon läuten! Aber gleichviel, ich kehre unter zwei Monaten auf keinen Fall zurück. Schliessen Sie die Schlüssel ruhig in Ihren Sekretär, sie haben ja für Uneingeweihte nicht den mindesten Wert! Ich bitte von Herzen darum, habe wahrhaftig keine Zeit, noch zu jemand anderem zu fahren, mein Zug geht bereits in einer halben Stunde ab!“
„Wo reisen Sie so plötzlich hin, lieber Baron?“
Lehnberg lächelte verschmitzt: „In Wien, sagt er, muss man sein, sagt er!“ sang er, bereits zum Hut greifend, „das Gastspiel der kleinen Dorelli ist hier beendet — da gebe ich ein Stück Wegs das Geleite!! Also hier die Schlüssel.“
„Ja, ich verschliesse sie gern, aber während vier Wochen sind sie alsdann für niemand, auch für Sie nicht zu erreichen!“
„Gut! Gut! — Ganz famos! — Glückliche Reise!!“
„Viel Vergnügen!“
Und abermals sprang der Kommerzienrat in den Wagen; sein feistes Gesicht glänzte, er rieb sich die Hände und warf sich sehr behaglich zurück! „Zum Centralbahnhof!“ befahl er.
Dort entliess er den Wagen und die Dienerschaft sehr eilig, da die Frau Vicomtesse in das Theater fahren wolle. „Sollte die Gnädigste fragen, wohin und wie lange ich reise, so sagen Sie: „In geschäftlichen Angelegenheiten nach Wien, in fünf Tagen bin ich zurück. Den Brief an die Frau Vicomtesse liess ich bereits besorgen.“ — Als die Diener ihn verlassen, engagierte Lehnberg einen Dienstmann, nahm eine Droschke zweiter Klasse und fuhr zum Nordbahnhof. Er vertauschte den Klapphut mit einem weichen Reisefilz, schlug den Kragen hoch empor und setzte sich eine blaue Brille auf — beinahe unkenntlich gemacht, betrat er den Perron.
Vier Wochen waren vergangen. Eine Neuigkeit allarmierte die Residenz, wie sie seit Menschengedenken nicht annähernd sensationell die Gemüter erregt hatte.
Der Vicomte von Saint Lorrain hatte sowohl sein eigenes, wie auch das Vermögen seiner Gemahlin bis auf den letzten Heller durchgebracht. Man sprach von Spielverlusten, unglücklichen Spekulationen, und seiner grenzenlosen Verschwendungssucht. Die Scheidungsklage war von der jungen Frau bereits eingereicht. Man sagt, ein Zufall habe sie von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt, kurz nachdem in die bereits recht unglückliche Ehe eine kleine Wendung zum Bessern eingetreten sei. Der Vicomte sei von der Reise zurückgekommen, um sich mit seiner Gemahlin auszusöhnen. Sein Verlangen, mit ihm nach Paris überzusiedeln, habe sie jedoch auch jetzt wieder hartnäckig zurückgewiesen. Ja, man wollte wissen, dass sie bereits einen Prozess gegen ihren Mann anstrenge, welcher sich schier unglaubliche Eigentumsrechte auf ihr und sogar ihres Vaters Vermögen anmasse.
Eine hohe Schuld habe der Vicomte am Zahlungstermin nicht abtragen können, weil der Herr Schwiegervater verreist und seine Geldschränke für ihn verschlossen gewesen wären, und nun hätten sich die Gläubiger an Frau Aglaë gewandt. Da sei die Bombe zum platzen gekommen. Sogar die Diamanten wie der ganze Schmuck der Vicomtesse sei bereits von ihm versetzt worden, und die Gläubiger legten Beschlag auf das Palais mit dem gesamten kostbaren Inventar, weil in der Ehe des jungen Paares Gütertrennung nicht ausgemacht sei.
Man erwarte voll fiebernder Aufregung die Rückkehr des alten Lehnberg, der diesem Skandal ein Ende bereiten solle.
Aglaë habe sich jedoch sofort von ihrem nichtswürdigen Gatten getrennt und bewohne das Haus des Vaters. Hatte schon diese Nachricht in der ganzen Stadt gewirkt wie ein Funken im Pulverfass, so ward sie an Überraschendem und Sensationellem doch noch übertroffen durch das folgende Gerücht, welches anfänglich nur als „on dit“, bald aber als effektive Tatsache bekannt und mit nie gekannter Aufregung besprochen wurde.
Der Kommerzienrat Baron von Lehnberg war mit einer Balleteuse durchgegangen! Sein ganzes Vermögen hatte er flüssig gemacht und mitgenommen und nebenbei so viel Schulden hinterlassen, dass seine Tochter vollkommen mittellos und verarmt zurückbleibt.
Wie ein Sturmwind daher fegt und alles emporwirbelt in die Lüfte, so schüttelte die hochgradige Aufregung das Publikum fast aller Gesellschaftsschichten, und erst jetzt zeigte es sich so recht, wie ausserordentlich unbeliebt Aglaë und Lehnberg überall gewesen. Man hörte kaum ein Wort des Mitleids, im Gegenteil, manch’ schadenfrohes Lachen wurde laut, und man sagte achselzuckend, dass die Bäume doch niemals in den Himmel wachsen sollen! Unter einer Grafenkrone wollte es ja das hochmütige Fräulein nie thun! Und als der Herr Vicomte glücklich angebissen hatte, platzten Vater und Tochter beinahe vor Hochmut! Jetzt aber würde Frau Aglaë wohl Gott auf den Knien danken, wenn sie statt ihrem so sehr vornehmen Herrn Gemahl den schlichtesten bürgerlichen Ehrenmann geheiratet hätte!
In den Hofkreisen erregte es grossen Unwillen und Entrüstung, dass der Franzose in solch’ empörender Weise seine hiesige Gastrolle abschloss. — Man hatte ihm nie so recht getraut und ihn für etwas abenteuerlich gehalten, aber die Empfehlung seiner herzoglichen Tante erzwang ihm gewissermassen die Aufnahme in der Gesellschaft.
Man erzählte sich als sehr bezeichnende Tatsache, dass der Vicomte sein ganzes Vermögen längst durchgebracht und in Paris für einen berüchtigten Spieler gegolten habe; nach dem Lebenswandel des Schwiegersohns hätte sich der Kommerzienrat jedoch niemals erkundigt, ihm sowohl wie Aglaë habe es genügt, vor der Verlobung das sichere Factum zu erforschen, dass Saint Lorrain aus einer sehr vornehmen und alten Familie stamme. Das war allerdings eine Thatsache, — aber fast an jedem Baum gibt es eine wurmstichige Frucht, und auch der Stammbaum der Saint Lorrain hatte in dem letzten Sprossen Louis eine solche getragen. Er war ein leichtsinniger Fant, in schlechter pariser Gesellschaft völlig verdorben und ein Glücksritter geworden, welcher, auf den leider noch immer so leicht geblendeten deutschen Michel bauend, in Deutschland nach einer Millionärin gesucht hatte, welche eitel und thöricht genug war, sich und all ihr Hab und Gut einem Abenteurer mit der Grafenkrone anzuvertrauen!
Der alte Lehnberg war doch nicht so einfältig und beschränkt gewesen, wie man ihn genommen hatte. Er durchschaute endlich den Herrn Schwiegersohn, sah die Katastrophe kommen und machte sich rechtzeitig aus dem Staube.
Aber Aglaë? Was wird aus ihr?!
Man zuckte gleichgültig die Achseln. Wie man’s treibt, so geht’s! Mag sie sehen und es nun erkennen lernen, wie es armen Leuten zu Mute ist, auf welche sie früher voll Verachtung herabgeschaut.
Der Vicomte war ohne weiteres abgereist, als er von der Flucht des Schwiegervaters und den absolut trostlosen Verhältnissen überzeugt gewesen war. Der Scheidungsprozess nahm seinen Verlauf, und die Vicomtesse von Saint Lorrain versuchte, so gut es ihr bei der völligen, verzweifelten Fassungslosigkeit möglich war, die Angelegenheiten mit den Gläubigern zu ordnen. Wie man sagte, sollte die Herrschaft Moosdorf, welche der Baron seiner Tochter noch als Eigentum hinterlassen, zwangsweise verkauft werden.
Aglaë sass in dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters, wo sie soeben den nunmehrigen Besitzer des Hauses empfangen hatte. Diese Angelegenheit war geregelt, und blieb ihr vorerst nichts, als die wenigen Schmuckstücke, welche sie in einer kleinen Schatulle in ihrem Ankleidezimmer für den täglichen Gebrauch bereitstehen hatte. Auch auf ihre Toiletten hatten die Gläubiger, meist selber sehr reiche Leute, verzichtet, und nun handelte es sich nur noch darum, ob durch den Verkauf von Moosdorf so viel einkam, dass ihr nach Abzug der Schulden noch ein kleines Kapital übrig blieb. Dann musste es sich entscheiden, ob aus der Millionärin thatsächlich über Nacht eine Bettlerin geworden. Leichenhafte Blässe bedeckte das Antlitz der jungen Frau; ihre Augen schauten aus tiefem Schatten müde und übernächtig, und das schwarze Wollkleid liess ihr elendes Aussehen noch schärfer hervortreten. Aber trotzdem lag kein leidender oder unglücklicher Zug in dem schönen Antlitz, vielmehr eine Energie, welche ihm sonst fremd gewesen, und eine leidenschaftliche Erbitterung, welche voll düsterer Glut aus ihren Augen sprühte. — Das Unglück hatte sie getroffen, und sie hatte es dem Namen nach kennen gelernt, der eigentliche Begriff des Wortes Armut aber war ihr noch fremd. Noch war in ihrer Umgebung alles unverändert, noch liess sie die Grossmut ihrer Gläubiger im Besitz des Hauses, bis Moosdorf verkauft war, noch quälte sie keine Sorge um ihr tägliches Brot. Und darum war ihr Stolz, ihre schroffe Heftigkeit noch nicht gebrochen, im Gegenteil, das Bewusstsein, durch ihren furchtbaren Sturz aus der Höhe, durch ihr entsetzliches Schicksal der Gegenstand der Schadenfreude der ganzen Residenz geworden zu sein, reizte sie auf zu feindseligster Opposition, und weil sie annahm, dass nur Neugierde die ehemaligen Freunde zu ihr trieb, schloss sie sich unversöhnbar ab von der Mitwelt und gab Befehl, keinerlei Besuch bei ihr zu melden oder vorzulassen.
Mit sarkastischem Lachen warf sie die Visitenkarten von sich und ballte die kleinen Hände unter den Folterqualen der Scham und Demütigung. Da hob sie den bittern Kelch ihres Elendes abermals an die Lippen, aber auch jetzt nippte sie nur daran, und es waren noch viele, viele Wermutstropfen zu schlürfen, bis er zum Boden geleert war, bis sie durch die schwere Schule des Schicksals gegangen, welche ihr beschieden war.
Eine Karte von einem ehedem sehr treuen Freund des Hauses, Professor Wendhausen, welcher ihr voll herzlicher Aufrichtigkeit seine Hilfe und seinen Beistand anbietet. Aglaë knäult das Papier zwischen den Händen und beisst die Zähne zusammen. Sie will und braucht keine Hilfe, sie wird schon fertig werden in der Welt! Es wäre ja schlimm, wenn alle Frauen, die plötzlich verarmen, gleich Hungers sterben sollen! Sie will kein Mitleid! Sie will allein ihren Weg gehen und ihr Fortkommen niemand zu danken haben! — Sie hasst die Menschen! Sie mag niemand mehr hören und sehen, sie hat abgeschlossen mit allem.
In Fetzen fliegt das Billet zum Kamin hinab, und Aglaë stützt zornig das Köpfchen in die Hände und denkt gar nicht daran, dem Professor überhaupt zu antworten. Was soll diese Freundlichkeit auch anderes bedeuten, als einen versteckten Hohn, als eine edle Rache für die Beleidigung, welche sie ihm und Hans Burkhardt damals auf dem Bazar angethan? Er liess sich seit jener Zeit nicht mehr in ihrem Hause sehen, weil er beleidigt war, jetzt aber, wo sie im Elend ist, will er über sie triumphieren und will seine Genugthuung haben in dem Gedanken, dass die stolze Schöne sich nun demütig und hilfeflehend an seine rettende Hand klammern soll. Und so wie er — so denken alle, die ihr solch’ gnädige Anerbieten machen, die sie aufnehmen oder ihr Unterstützung angedeihen lassen wollen.
Ein wilder, leidenschaftlicher Kampf durchtobt ihr Herz. Sie geht mit erregten Schritten in dem Zimmer auf und nieder, sie überlegt mit fiebernden Pulsen, was sie beginnen soll, wenn der Erlös von Moosdorf ihr keine Existenz sichert. Sie besitzt keine Talente — kann weder malen, noch sticken, noch schriftstellern; das bisschen Musik nützt ihr leider nichts!
An ihrem Kleidersaum raschelt etwas. Sie blickt mechanisch danach zurück. Ein Stück Theaterzettel: „Die Hochzeit des Figaro!“ Sie war noch vor kurzer Zeit in die Oper gefahren und hatte spottend einer bekannten Dame gesagt: „Welch eine entsetzliche Debutantin! — Die Person benahm sich ja wie ein Stock und vergass vollkommen, dass sie Comödie zu spielen hatte, und so gut wie sie, singe ich die Arien der Gräfin auch noch! Ich hoffe nicht, dass man uns diese Thränenweide dauernd engagiert!“
Aglaë zuckte jählings zusammen, ihr Auge blitzte auf. Singen! — Sagte man nicht, sie besitze eine schöne, kräftige und klangvolle Stimme? Hatte man ihr nicht unzählige Elogen und Komplimente über ihren dramatischen Vortrag gesagt? — O, sie glühte stets vor Wonne und Begeisterung, wenn sie in strahlender Pracht, befriedigt und fröhlichen Herzens im Musiksaal ihres Vaters stand und eine höfliche Menge in atemlosem Lauschen an ihren Lippen hing. — Wie sang die Tochter des Millionärs die „Bettelarie“ so wunderbar ergreifend, dass kaum ein Herz ungerührt blieb? Wie konnte sie, der aller Herzen zu Füssen lagen, so unaussprechlich traurige und klagende Lieder von verlorener Liebe und verlorenem Glück, von Falschheit und Verrat singen! — Und sie sang meisterhaft. Sie hatte ja stets im Leben so vorzüglich Comödie gespielt und immer damit Glück gemacht, warum soll sie, die Priesterin der Comödie, dieselbe nicht auch zum Beruf, zum Inhalt ihres Lebens machen?
Die dunklen Augen der jungen Frau glühen auf, ihre Wangen brennen plötzlich in heissem Purpur. Ihre alte, ungestüme Lebensfreude überkommt sie. — Sie will Sängerin werden! — Ihr Entschluss ist gefasst! — Wie viel teure Stunden hat sie genommen! Es wird nur noch einer kurzen Ausbildung bedürfen, um sie reif für die Bühne zu machen. Ihre wundervollen Toiletten werden ihr dabei noch sehr zu statten kommen, sie erspart durch sie die grosse Anschaffung kostbarer Kostüme. All ihr Leid und ihr Elend ist vergessen, Aglaë lebt nur noch in dem Gedanken an ihre künstlerische Laufbahn.
Der Himmel hängt ihr voller Geigen — sie sieht in rosige, lockende Fernen, sie sieht plötzlich das Ideal und den Traum ihrer Jugend verwirklicht! Das flotte, übermütige Bretterleben hatte sie stets gereizt und angezogen! Sie verkehrte ja früher mit Vorliebe mit Künstlern, bis sie in Paris in allzu nahe Berührung mit einem derselben kam und ihr Hochmut eine Scheidewand zwischen ihr und „diesen Leuten da unten!“ aufrichtete. Das alles aber war vergessen; sie dachte nur an die Zeit, wo sie alle Bühnengrössen noch im Hause ihres Vaters empfing, wo sie mit den Herren kokettierte und mit den Damen sehr intim war, um desto besser in die Mysterien jener Welt hinter den Coulissen eindringen zu können!
Alle diese Leute waren ja sehr liebenswürdig zu ihr gewesen, und wenn nun auch der Verkehr aufgehört hatte, seit sie Baronesse Lehnberg geworden, je nun, so war dies ja doch nur ganz begreiflich gewesen! Als sie in die Hofkreise eintrat, konnte sie doch unmöglich noch derartige Beziehungen aufrecht erhalten.
So wie sich die Sache mit Moosdorf entschieden hat, wird sie sofort zu einer der Damen fahren und ihren Plan mit ihr besprechen. Man wird ihr gewiss allseits behilflich sein, und sie wird dann nach Wien oder Prag, München oder Berlin an die Oper gehen und sich allabendlich applaudieren lassen.
Aglaë schellte — es kam niemand. — Sie schellte abermals, zornig und anhaltend. — Seit sie nicht mehr die Millionärin war und die Verhältnisse sich im Hause so sehr geändert hatten, waren die Dienstboten unerträglich geworden. Auch jetzt trat endlich ein Diener mit mürrischem und undevotem Wesen ein.
„Dieser Brief sollte an den Rechtsanwalt besorgt werden! Wie kommt es, dass er noch hier liegt?“ herrschte sie den Mann an.
Er zuckte nachlässig die Achseln. „Es wird wohl niemand Zeit gehabt haben!“ entgegnete er frech.
Aglaë stieg das Blut in die Wangen. „Ist jetzt etwa mehr Arbeit wie sonst? — Ist es früher jemals vorgekommen, dass ein Befehl ignoriert wurde?“
Der Bursche lächelte spöttisch.
„Ja, früher! früher bekamen wir auch unsern Lohn bezahlt!“
Die junge Frau zuckte zusammen. „Nun — und geschieht das jetzt etwa nicht?!“
„Na — wer soll uns denn nach dem allgemeinen Bankrott bezahlen?“ — war die rüde Antwort, „wir halten aus, weil wir vertröstet sind, dass die Frau Vicomtesse nach dem Gutsverkauf noch etwas ausgezahlt bekäme, und auch nur darauf hin geben die Kaufleute noch Kredit, dass wir die Wirtschaft führen können!“
Aglaë war wie schwindelnd stehen geblieben. Dies war das erste Mal, dass man ihr derartig zu begegnen wagte, dass man ihr die Missachtung zeigte, welcher die Armut zumeist ausgesetzt ist. — Je höher sie stand, desto schwerer und fühlbarer der Fall.
In ihrer alten, imponierend stolzen Weise richtete sich Gräfin Saint Lorrain empor. „Sie werden noch heute Ihren Lohn sämtlich ausgezahlt bekommen!“ sprach sie blitzenden Auges. „Und nun augenblicklich den Brief hier besorgt, sonst sind Sie auf der Stelle entlassen.“
Dieser Ton verblüffte. War der Bankrott am Ende doch nicht so arg? — Einen scheu schielenden Aufblick, eine unterthänige Verneigung und James verschwand.
Aglaë aber sank auf einen Sessel nieder und weinte heisse Thränen schwer verletzten Stolzes. — Sie erwartete Sauthing, den einzigen Menschen, mit welchem sie in kalter Geschäftsmässigkeit als Konkursverwalter verkehrte. Er sollte die Leute sofort ablohnen und entlassen. Aglaë wollte allein fertig werden.
Und wieder war es der Gedanke an ihre künstlerische Laufbahn, welcher sie aus ihrer verzweifelten Stimmung emporriss! Ein fieberndes Interesse für alles, was die Bühne anbetraf, ergriff sie, und sie fasste nach den Zeitungen, die Opernkritiken der letzten Zeit gründlich zu studieren! Hatte ihr doch einst eine berühmte Sängerin gesagt, ihre besten Lehren habe sie aus den Recensionen ihrer Rivalinnen empfangen, daraus habe sie gelernt, was sie thun und lassen müsse, um jene in ihren schwachen Seiten zu überflügeln.
Aglaë hatte fast nie zuvor eine Zeitung in die Hand genommen. Politik, Börse, Marktberichte und Annoncen waren ihr unendlich gleichgültig, der Geruch der frischen Druckerschwärze geradezu widerwärtig. — Jetzt empfand sie nichts davon, mit Ungestüm durchforschte sie die Blätter.
Plötzlich stutzte sie. Ein gross gedruckter Name fiel ihr in die Augen. „Doktor Hans Burkhardt, Privatdozent an der Universität zu X. veröffentlichte in einer sechsten Vorlesung der überstark besuchten Versammlung ärztlicher Autoritäten seine neueste sensationelle Forschung auf dem Gebiete krebsartiger Leiden.“
Wer? Hans Burkhardt?— Der kleine Pächtersohn, der Bauernjunge aus Moosdorf?! — Aglaë starrt auf die Zeitung nieder wie im Traum, „er hält Vorlesungen? Er ist der plötzlich aufgetauchte Wunderapostel, welcher ein Mittel gefunden haben will, Krebsleiden zu heilen? Ja, richtig ...“ Aglaë entsinnt sich, dass man davon gesprochen, dass das neue Heilverfahren einen Sturm der Aufregung entfacht hat, dass es ein ganz junger Arzt sei, welcher sich mit dieser Forschung in die Reihe der ersten medizinischen Grössen emporgeschwungen habe, — aber den Namen? Nein, den hatte sie nie beachtet, denn sie hielt sich schaudernd die Ohren zu, wenn von einer so ekelhaften Krankheit die Rede war! Gott sei Dank, sie war gesund an Leib und Seele! Sie brauchte sich nicht für Leute und Dinge zu interessieren, welche sie absolut nichts angingen!
Jetzt mit einemmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Dieser neue Stern am Himmel der Wissenschaft war ihr Hans, ihr alter, lieber Freund Hans. — Und sie hatte das soeben erst durch einen Zufall erfahren — soeben erst! Wie war’s nur möglich gewesen, dass er nie davon geschrieben! Geschrieben? Die junge Frau zuckte plötzlich zusammen und legte die Hand über die Augen. Wie konnte sie das wohl erwarten, nach der schändlichen Behandlung, welche sie ihm angedeihen liess! — Sie sah ihn noch stehen in der Kirche, fernab unter der Menge, den klaren Blick auf sie gerichtet — verächtlich, beinahe empört über diese stolze, Comödie spielende Braut! Nicht unter den Gästen wollte sie ihn an jenem Tage sehen, denn er hätte ja den glänzenden Zug schimpfiert durch sein ärmlich, schmucklos Kleid und seinen klanglosen Namen, sie verleugnete ihn, weil sie sich seiner schämte!
Und er sollte ihrer noch gedenken? Die Zeit, da er wahrlich ihr Freund Hans gewesen, die war lange, lange vorüber. — Aus dem Freund aber war ein Feind geworden, der die hochmütige Frau Vicomtesse hasste um ihrer Treulosigkeit willen, der ihr schon damals gegenübergetreten war mit dem Betteldünkel der Armut, welcher sich ihren Millionen nicht beugen wollte. So stolz und feindselig hatte ihr kein Mann je zuvor gegenübergestanden wie Hans Burkhardt, denn damals war ihre goldgefüllte Hand noch frei, und welch ein anderer Mann in der Lebensstellung Hans Burkhardts hätte sie wohl zurückgewiesen, wenn sie ihm entgegengeboten worden wäre?
Er aber, er warf stolz das Haupt in den Nacken und zertrat die goldschillernde Schlange, welche ihm als Versucherin aus dem Tausendgüldenkraut entgegenfunkelte!
Aglaë ist verbittert bis zum Hass gegen Gott und die Welt. Früher hatte sie noch oft an Hans gedacht, mit mildem, versöhnlichem Herzen, welches ihn herbeirief wie eine liebe Traumgestalt in die grauenvolle Wirklichkeit! Da wähnte sie ihn noch arm, vergessen und bedauernswert, da hatte es noch einen gewissen Reiz für sie, aus ihrer Höhe nach ihm hinab zu schauen, wie die gefangene Königstochter sich herniedersehnt zu dem Schäfer, der allmorgens seine Herde am hohen Schloss vorübertreibt. — Jetzt hatten sie aber die Rollen getauscht, und Aglaës eitles Herz zuckte auf und revoltierte gegen den Gedanken, dass er, der Verachtete, plötzlich hoch stehe im Glanz, und dass sie und ihr Lebensschifflein gesunken seien, so tief, tief, dass kein Emporkommen wieder möglich war!
Wahrlich nicht? Aglaës Augen blitzten auf. — Noch ist das Lied nicht aus! — Noch gibt es eine lockende, strahlende Zukunft, reicher an Lorbeer und Gunst, als wie die eines armseligen Doktors, der vor seinen Studenten und Ärzten ein paar Reden hält und seine ganze Kunst nur in dumpfe Krankenstuben tragen kann! — Er wird zeitlebens am Boden kleben, da, wohin ihn Elend, Not und Krankheit seiner Patienten bleischwer ziehen und festhalten! Aglaë aber wird auch künftig ein Schmetterling mit goldenen Flügeln sein, wird lachend, singend und sorglos über Rosen und Lorbeer dahinschweben, eine Genie des Glücks, der Gesundheit und Lebenslust!
Und dennoch ärgert sie sich, als sie stets neue Nachrichten in der Zeitung findet, welche Hans Burkhardt feiern, welche sein Verdienst lobpreisend anerkennen und von Auszeichnungen und Beweisen der Liebe und Bewunderung erzählen, welche ihm allseits gezollt werden. — Sie schleudert das Blatt von sich, und wandelt, aufs heftigste erregt, in dem Gemach auf und nieder: Wie mag er jetzt triumphieren und über den Sturz der Frau Vicomtesse von Saint Lorrain höhnen! — Sie sieht im Geiste sein stolzes, mitleidloses Gesicht, wie er kalt lächelnd vor sich hinnickt und sagt: „Wie man’s treibt, so geht’s! Sie hat eine grosse, grosse Lügencomödie vor der Welt gespielt, und die Millionen, in welchen sie gestrahlt, und mit welchen sie einem Abenteurer die Augen blendete, waren von Flittergold! — Nun ist die Comödie aus, aber der Schluss war ein böser Knalleffekt, — die ganze Herrlichkeit rutschte in die Versenkung! — Ich aber! Ich bin als Selfmademan emporgestiegen auf die Höhe, welche sie nicht mehr behaupten kontte, — nun stehe ich oben und blicke auf sie herab!“
Heisse Glut steigt in die farblosen Wangen der jungen Frau. Stolz, Eitelkeit, brennende Scham! Ihr Trotz ist aber noch ungebrochen, und jener Bettelhochmut, den sie früher so oft verspottet, der zeichnet nun auch ihr sein finster Mal auf die Stirn. Mit gefalteten Brauen und einem gereizt aufsprühenden Blick starrt sie auf den Diener, welcher zwischen den Portieren steht.
„Was wollen Sie?“
„Gräfliche Gnaden, es ist ein Herr drunten, welcher sich absolut nicht abweisen lässt. Er hat mir befohlen, seine Karte abzugeben und ihn bei Frau Vicomtesse zu melden.“
„Welche Zudringlichkeit! — Vielleicht ein Käufer oder Auktionator, welcher mich persönlich behelligen will! — Zeigen Sie die Karte, wie heisst er?“
Unwirsch nimmt sie das weisse Blatt entgegen. Sie zuckt zusammen, ihr Haupt neigt sich jählings vor, ein scharfes, höhnisches Lächeln spielt um ihre Lippen. „Doktor Hans Burkhardt!“ murmelt sie lesend. Und dann steht sie da, schwer atmend, mit zitternden Lippen.
„Darf ich den Herrn eintreten lassen, Gräfliche Gnaden?“
Ein flammender Blick trifft den Frager: „Nein!“ ruft sie leidenschaftlich, „tausendmal nein! — Bestellen Sie, ich sei für niemand zu sprechen, für niemand!“
„Befehl!“
Die Portiere schliesst sich; wie ein Aufstöhnen ringt es sich aus Aglaës Brust!
Auch er kommt, sie durch sein Mitleid zu demütigen, auch er kommt, sich an ihrem Elend zu weiden! — Was soll er, der arme Schlucker, der wohl eine grosse Entdeckung machte, aber keine Millionen erwarb, was soll er wohl anderes bei ihr wollen? — Helfen kann er ihr nicht, Trost und Mitleid will sie aber nicht! Und sie will dem „berühmten Mann“ nicht die Genugthuung gewähren, dass er sich schulmeisternd vor sie hinstellt und ihrer Comödie eine Kritik schreibt! Sie ist und bleibt die Vicomtesse von Saint Lorrain, die Trägerin eines der vornehmsten Namen, den ihr keine Macht der Welt, weder Armut noch Elend und Verlassenheit rauben können und er wird ewig der Sohn eines armen Pächters bleiben, wenn er auch zehnmal Professor wird! — Sie wird nie vergessen können, dass er auf dem Besitztum ihres Vaters der Sohn eines Untergebenen war, dass ihr Platz im Schloss, der seine nur im Pachthaus gewesen!“
Noch ist ihr Stolz durch diesen Schicksalsschlag nicht zerschmettert, und Aglaë räumt niemand, selbst Hans Burkhardt nicht, das Recht ein, sie zu bemitleiden und sich über sie zu erheben!
Ein Gefühl leidenschaftlichen Ingrimms überkommt sie, der sinnlose Trotz eines Kindes, welches dem Abgrund entgegen läuft und dennoch eigensinnig nach der Hand schlägt, welche es rettend erfassen will.
Ein lauter Schritt im Nebenzimmer.
Aglaë wendet jäh das Haupt und starrt auf die Portiere, welche mit energischer Hand zurückgeschlagen wird. Leichenblässe bedeckt ihr Antlitz, sie krampft die Hände zusammen und ringt nach Atem.
Vor ihr steht Hans Burkhardt.