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XVI.

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Mich friert! Was thut’s? Im Grab ist’s kälter noch als hier! —

(Prophet.)

Das war ein rastloses Lernen und Studieren! Man hatte ihr freilich gesagt, die Stimme sei nicht sehr bedeutend, aber es könne doch wohl noch etwas Brauchbares aus ihr gebildet werden! — Das war der Strohhalm, an welchen sich Aglaë klammerte.

Frau Rätin Barnexius hatte sich anfänglich sehr um ihre junge Chambregarnistin bemüht und manchen Versuch gemacht, Aglaës Vertrauen und ihre Zuneigung zu gewinnen. Sie lebte mit den drei andern jungen Damen in sehr herzlichem, mütterlichem Verhältnis und bildete mit ihnen gewissermassen eine Familie; an Aglaës beinahe feindseliger Verschlossenheit und ihrem abweisenden Benehmen scheiterte jedoch jede Möglichkeit, sie heranzuziehen und ihr die Einsamkeit erträglicher zu machen, eine Einsamkeit, welche der lebhaften, gesprächigen Frau Rat schier entsetzlich dünkte.

Aglaë empfand dieselbe jedoch als eine Wohlthat. Sie brauchte Ruhe und Stille, um sich von den entsetzlichen Stürmen der letzten Vergangenheit zu erholen, und sie benötigte die Einsamkeit, um ihr krankes, verbittertes Herz von den Wunden zu heilen, welche ihr das Leben und die laute Welt so erbarmungslos geschlagen.

Ihr Zimmer war verhältnismässig behaglich und hübsch, wenngleich es auf die Augen einer der verwöhutesten Millionärinnen einen unbeschreiblich ärmlichen Eindruck machte. Aber mit dem Gefühl eines trotzigen Kindes, welches seinen Willen durchgesetzt, voll Genugthuung in einen sauren Apfel beisst, gewöhnte sich die Vicomtesse an all das Ungewohnte, und da sie sich ihr Leben einrichten konnte, wie sie wollte, so hatte es auch in dieser Gestalt einen gewissen Reiz.

Allerdings war es vorerst eine Unmöglichkeit für die vollständig ungeübte und unpraktische junge Frau, sich nach der Decke zu strecken und eine richtige Einteilung des Geldes zu treffen. Die kleine Summe, über welche sie noch zu verfügen hatte, teilte sie in drei gleiche Teile, um drei Jahre von derselben leben zu können. In drei Jahren musste sie ja auf alle Fälle eine Anstellung an einer Oper gefunden haben, dann bezog sie ihr gutes Gehalt und ernährte sich selber, und während dieser drei Jahre musste sie wohl oder übel alles was sie besass, zusetzen.

Aber es ist unbeschreiblich schwer, sich einzuschränken und sich ein üppiges, elegantes Leben, welches man geführt, so lange man denken kann, abzugewöhnen. Jeder kleine Luxus, der ehemals selbstverständlich gewesen, wird nun zum fressenden Kapital, und Aglaë begriff es gar nicht, wie ihr die Thaler durch die Finger rollten, wenn sie nur die notwendigsten Einkäufe für ihren Toilettentisch machte. — Bis sie einsah, dass es jetzt nicht mehr angehe, täglich das Waschwasser durch köstlich duftende Essenzen angenehm zu machen, Parfüms, Puder, Crêmes, elegante Nadeln und Haarwasser zu gebrauchen, hatten diese kleinen Liebhabereien, die ehedem selbstverständlich gewesen, schon tief in das Geld eingerissen. Auch musste sie viel Reugeld bezahlen, bis sie auf den Gedanken kam, dass sie ihre Kleider, welche begannen, sich abzutragen, auffrischen müsse. Früher wurde alles, was nur im mindesten durch den Gebrauch unansehnlich geworden, ausrangiert und durch neue Kostbarkeiten ersetzt und als die spinnwebfeine, spitzenbesetzte, meist seidene Leibwäsche zu reissen begann, da glaubte die Vicomtesse auch, es müsse sofort neue gekauft werden, und es sei doch unmöglich für eine Dame, andere Wäsche als solch allerfeinste und eleganteste zu tragen! Zum erstenmal aber geriet sie in peinlichste Verlegenheit, denn der Preis der Hemden allein betrug mehr, als sie in einem ganzen Vierteljahr ausgeben durfte.

So schwer und kümmerlich hatte sie sich das Armsein doch nicht gedacht, und so schwer hatte sie das Berechnen und Einteilen auch nicht geglaubt. Wie viel hatte sie vergessen in ihre Wochenrechnung aufzunehmen, was nun ganz entsetzliche, unerwartete Lücken in ihre Kasse riss! — Ein Gefühl der Unruhe und Angst überkam sie, und es kostete sie manch bittere Thräne, stets aufs neue auf alte Passionen und Gewohnheiten verzichten zu müssen. Es war ein zu furchtbar greller Umschwung und Wohl ein Glück für Aglaë, dass ihre beinahe kindliche Naivität sie bewahrte, ihr ganzes Elend und ihre trostlose Lage in voller Schwere zu erfassen.

Wie wunderlich kam ihr der so einfache Mittagstisch der Rätin vor. Ausgekochtes Rindfleisch sollte sie essen! Mit einem einzigen, oft entsetzlich derben und bäurischen Gericht fürlieb nehmen! Anfänglich hatte sie oft die Zähne bei Tisch gehoben und gedankt und war nachher in ein Restaurant gegangen, um zu essen, was ihr behagte. Bald aber sah sie ein, dass es eine Unmöglichkeit sei, derart hohe Preise noch ausser ihrer Pension für Speise und Trank zu zahlen. — Sie weinte Thränen hilfloser Verzweiflung, und weil der Hunger weh that, so lernte sie es, allerdings mit grösstem Widerstreben, mit Fleisch und Gemüse fürlieb zu nehmen!

Voll fieberhaften Eifers übte und sang sie, bis ihr die Lehrer Mässigung anbefahlen, um die Stimme nicht zu überreizen. Ihre gründlichen Vorstudien kamen ihr wesentlich zu Hilfe und brachten sie schneller vorwärts als die meisten ihrer Mitschülerinnen. — Die Zeit zog dahin, und Aglaës kleines Vermögen schmolz mehr und mehr zusammen. Ihre Stimme war zart und wohlklingend, und ihr reizendes Gesichtchen, ihre graziöse Gestalt liessen die Lehrer hoffen, dass Aglaë Lorrain vielleicht doch als eine zweite oder dritte Sängerin noch ihr Glück machen könne.

Endlich, endlich ist die schreckliche Zeit des Studiums beendet. Die junge Frau hat sich über ihre Kräfte angestrengt, sie sieht bleich und gealtert aus und ist bedeutend magerer geworden. — Sie hat ihr Abgangszeugnis erhalten, und weil dasselbe nicht so glänzend ausgefallen, wie sie erwartet, steht sie mit stolz zurückgeworfenem Haupt und zusammengepressten Lippen vor ihren Lehrern, um sich zu verabschieden. Dieselben sind es gewohnt, dass sie um ihre fernere Protektion und Empfehlung gebeten werden, und auch jetzt stehen frische, liebenswürdige junge Mädchen vor ihnen, welche mit dankbar herzlichen Worten Abschied nehmen und sehr bescheiden und höflich bitten, dass die Herren Professoren doch bei Gelegenheit ihren weitgehenden Einfluss und ihre Beziehungen zu Intendanten und Direktoren geltend machen möchten, den unbekannten Anfängerinnen zu einem Engagement zu verhelfen.

Stumm und kalt steht Aglaë beiseite. — Sie hat sich stets abgesondert und zurückgezogen, sowohl von den Schülern, wie von den Lehrern des Konservatoriums, und dieses stolze, verschlossene Wesen hat sie unbeliebt gemacht. Sie steht auch jetzt beim Abschied isoliert, und kein Mensch beachtet sie, obwohl manch ärgerlicher Blick sie streift.

Die einfachen Kleider sind aufgetragen, und Aglaë hat kein Geld, dieselben zu ersetzen. Die Not hat sie gezwungen, eine ihrer ehemaligen eleganten Toiletten anzulegen, und nun steht sie geputzt und prunkend unter den schlichten Genossinnen, die sie stets für sehr reich gehalten haben. Als sie gegangen, wendet sich der alte Professor Kolsch zu einem Kollegen. „Ich weiss, dass das Hoftheater zu X. eine junge Sängerin gebrauchen kann, für deren Partien die kleine Lorrain wohl ausreichen und besonders gut passen würde! Hätte sie mir ein Wort gesagt, würde ich sie gern empfohlen haben!“

„Die Lorrain? — Nein, sie hat auch mir keine derartige Bitte vorgetragen, und ich bezweifle überhaupt, dass sie zur Bühne gehen will! — Allem Anschein nach ist sie recht vermögend und bildete sich aus Passion zur Sängerin aus, um vielleicht hie und da in einem Konzert mitzuwirken!“

„Recht vermögend? Hat sie nicht bei der Rätin Barnexius gewohnt?“

„Das wohl, aber ich denke mir, es geschah dies weniger aus Sparsamkeit als dem Bedürfnis entspringend, sich unter den Schutz dieser sehr gut renommierten Dame zu stellen! Ich entsinne mich, dass man sich in der ersten Zeit erzählte, das Fräulein speise privatim in den ersten Restaurants, weil ihr die Pensionsküche nicht genüge. Ausserdem war sie bis auf das Taschentuch herab geradezu fabelhaft equipiert! Eine Notentasche aus gepunztem Leder mit Silberornamenten und echten Edelsteineinlagen, ein Regenschirm mit massivem Goldgriff, Taschentücher von echten Spitzen, Pelzwerk, wie es kaum eine Fürstin trägt, und soeben — nun, Sie sahen ja selbst diese Toilette, welche sich kaum eine Diva leisten kann!“

„Solche Dinge sind bei einem hübschen Mädchen eher Zeichen der äussersten Armut, einer Mittellosigkeit, welche auf jedwede Weise Geld verdient!“ sagte Kolsch mit ironischem Lächeln.

Der Andere schüttelte hastig das Haupt: „Nein, nein, um Vergebung, Herr Kollege! Die Lorrain hat einen tadellosen Lebenswandel geführt! Unsere Stadt ist gross, aber nicht gross genug, um ein solches Geheimnis bergen zu können! — Die Kleine ist wegen ihres hübschen Gesichtchens aufgefallen, und ich weiss, dass man ihr nachgestellt hat, sogar mit den redlichsten Absichten, aber Stolz und Tugend haben eine chinesische Mauer um sie her gezogen!“

„So, so! freut mich! — Das bestärkt mich allerdings auch in der Annahme, dass sie vermögend ist! Ja, da werde ich das Engagement besser einer andern Schülerin zuwenden, welche bedürftiger ist!“

„Ganz recht! Ich bitte dringend in erster Linie der talentierten Cläre Holz zu gedenken. Sie kennen die Schicksale der armen Waise! Sie will bei ihren wohlhabenden Verwandten kein Aschenbrödel abgeben und zieht vor, ihr Brot selber zu verdienen! Nettes, liebenswürdiges Mädchen, überall bekannt und beliebt, die verkörperte Assimilation!!“

„Gut, gut, — werde an sie denken! Haben recht, lieber Freund, man muss stets zuerst die Bedürftigen versorgen!“

Und man versorgte sie, Aglaë aber war vergessen. Sie stand ernst und resigniert in ihrem kleinen Zimmer und packte ihre grossen Koffer. — Sie wollte nach einer bedeutenden norddeutschen Stadt übersiedeln, wo sie besonders thätige Theateragenten wusste. Die Sonne blinkte durch Wolken und lugte so wässrig in ihr Zimmerchen wie ein Auge, das voll Thränen steht. — Nachdenklich blickte die junge Frau empor, und atmete tief auf. Ihrer Ansicht nach lag nun die schwerste Zeit hinter ihr. — Ja, eine schwere Zeit, in der sie zuerst das Einschränken und Entbehren lernte! Noch liegt sie mit all ihrer Erinnerung auf ihr wie eine Centnerlast, und Aglaë weiss es auch, dass sie nicht spurlos an ihr vorüber gegangen — weder am äussern noch am innern Menschen.

Sie hat das Gefühl, als seien die bunten, schillernden Schmetterlingsflügel, welche sie in heiterem Tanz über Rosen und Lorbeeren dahin tragen sollten, wie sie ehedem Haus Burkhardt so siegesfroh versicherte, als seien diese lustigen Schwingen müde und schwer geworden, als seien sie erlahmt unter dem ersten, mühseligen Flug nach der Tempelpforte der Euterpe!

Ein kleines Stück Wegs war erst zurückgelegt, und doch deuchte es der einsamen Frau, als sei sie viele, viele Jahre älter in dieser kurzen Spanne Zeit geworden. Not und Armut sind zwei Bleigewichte, welche sich sowohl an den Körper, wie den Geist hängen, welche niederziehen aus all den rosigen Wolken der Illusion und Lebensfreudigkeit, hinab in die grauen Nebel trostloser Verzagtheit, die allen Humor ersticken. — Und dieses Stück Lebensweg, arm an Glück und Gold, aber dennoch nicht arm genug, um auch die Not der Verzweiflung kennen zu lehren, ist ein Boden, auf dem das Kräutlein Leichtsinn zumeist still und kraftlos wurzelt. Es wächst nicht und trägt nicht Blüte und Frucht, dennoch treiben Hunger und Durst nicht zum äussersten, aber es verdorrt und vergeht auch nicht, denn dazu fällt immerhin ein zu reichlicher Thränentau darauf nieder. — Auch die kleinen und grossen Keime des Leichtsinns, welche Leben und Erziehung in Aglaës Herz gesenkt, ruhten still unter den Trümmern des Glücks, und noch hatte die junge Frau keine Ursache und Veranlassung gehabt, sie zu geistiger Blüte gross zu ziehen; sie trug stolz das Haupt im Nacken, sass noch im warmen Zimmer bei Speise und Trank, und warf die rosa Brieflein, welche ihr zuflogen, selbstgefällig in die Flammen: „Du sollst dich meiner nicht schämen, Hans Burkhardt, ich bleibe brav und gut!

Der grosse, traurige Wechsel ihrer Verhältnisse und die schwere Lehrzeit, welche der Umschwung von reich zu arm mit sich gebracht, hatten Aglaë wohl viele schwere und bittere Stunden geschaffen, der Umstand aber, dass sie wieder „Aglaë Lorrain“ hiess, dass sie alle gräfliche Herrlichkeit und ihre vornehmen Titel verschweigen musste, der fiel als bitterster Tropfen in den Kelch ihrer Leiden. — Der Hochmut hatte viel zu tiefe, unlösliche Wurzeln geschlagen, um in einer kurzen Spanne Zeit gerodet werden zu können, und dass sie nun, wo sie endlich das höchste Ziel ihres Lebens, eine Grafenkrone, erreicht, dieselbe unbenutzt ignorieren musste, das war die tiefste Wunde, welche das Schicksal ihrer Eitelkeit geschlagen. — Und selbst jetzt, wo sie neben den Koffern sass, welche ihre ganzen Habseligkeiten bargen, wo sie nicht mehr wusste, womit sie in einem halben Jahr ihren Hunger stillen sollte, selbst jetzt galt ihre Sehnsucht nicht dem verlorenen Reichtum, sondern hauptsächlich der Stunde, wo sie es der Welt wieder als interessantes Faktum mitteilen konnte, dass die junge Sängerin droben auf den Brettern eine Vicomtesse sei, welche freiherrlichem Hause entstamme!

Im Geiste las Aglaë bereits die geheimnisvollen Zeitungsnotizen, welche über die vornehme Herkunft der ‚jungen Sängerin aus Passion‘ — ihre Andeutungen machen und sie mit dem Nimbus der Fee im Bettlerkleid umgeben! Wenn nur erst an einem grossen Theater ein festes, glänzendes Engagement erfolgte, dann kann sie ihre bescheidene Maske wieder von sich werfen und sich unbeschadet wieder als Frau Vicomtesse respektieren und feiern lassen! O, was hätte sie darum gegeben, wäre es ihr beim Abschied vom Konservatorium vergönnt gewesen, all den eingebildeten, aufgeblasenen Menschen mit verächtlichem Lächeln sagen zu können: „Nun wisst auch, welche Ehre euch widerfahren! Ich bin die Vicomtesse von Saint Lorrain!“ — Aber es hätte ihr in der jetzigen hilflosen Stellung mehr geschadet wie genützt, — und ausserdem war jetzt noch die traurige Katastrophe des Lehnbergschen Hauses zu weltbekannt, um sich mit diesem gräflichen Namen brüsten zu können. Aglaë beabsichtigt auch nicht, ihn als berühmte Sängerin bekannt werden zu lassen. Geheimnisvolle Andeutungen sind bei weitem interessanter und aufregender als eine bekannte Thatsache. Man soll sich die Köpfe über das Grafenkrönchen, welches ihre Wäsche und all ihre anderen Sachen schmückt, zerbrechen, nun, und dann findet sich wohl ein Prinz oder Fürst, welcher um Herz und Hand dieser aristokratischen Sängerin wirbt. — Ein Prinz! Aglaës müde Augen blitzen auf. —

Wie viele Prinzen führten schon eine Theaterprinzessin heim! Und wie würde ihr dann der gräfliche Titel zu statten kommen! — Sie kehrte zurück zur Gesellschaft! Die Stunde ihres höchsten Triumphes wäre gekommen! Dann hätte sie erreicht, was sie stets ersehnt und trotz der grössten Opfer nicht zuwege gebracht!

Aglaës Phantasie arbeitet wie im Fieber. All die Bilder trotzigen Hochmuts, welche sie blendeten, als sie zum erstenmal den Fuss auf höfisches Parkett setzte, verwirren ihr auch jetzt den Sinn und werden zu trügerischen Irrlichtern, welche in Sumpf und Verderben locken.

Dieser Wahn ist ihr Verhängnis geworden, und er fordert sein Opfer.

Gibt es nicht viele Wege, die nach Rom führen? Der erste, welchen sie einschlug, hat sie irre geleitet, und ihr Schifflein mit den stolz geblähten Segeln litt in den Klippen Havarie; nun bindet sie sich glänzende Flügel an die Schultern, um als lachende, glückselige Genie der Kunst empor zur Sonne zu steigen! Ehemals hielten ihre Hände den schweren goldgefüllten Beutel als Attribut, aber er half ihr nicht empor, im Gegenteil, er zog sie tief hinab in ihr Verderben. — Jetzt schwingt sie die goldene Lyra und die lachende Maske über ihrem Haupt und ist nicht nur mit Worten, sondern auch in der That eine Priesterin der Comödie geworden! Comödie! — Ist sie nicht die mächtigste Göttin des neunzehnten Jahrhunderts! Liess sie jemals ihre Jünger sterben und verderben? Bah, die Comödie, welche Baron Lehnberg und seine Tochter vor der Welt aufgeführt, war zu plump und ungeschickt gewesen, darum machte sie Fiasko. Ihr Vater hatte kein Talent zum Schauspieler, darum verdarb er alles, was die Tochter geschickt insceniert hatte. Diesmal wird Aglaë ihre Rolle besser spielen, und ihre mächtige Protektorin, das Weib mit dem doppelten Gesicht und der zwiefachen Zunge, wird ihr Sieg und Triumph bringen. Und Hans Burkhardt? — Wunderlich, warum muss sie immer wieder zurückdenken an ihre Unterredung mit ihm, nach jenem ersten Diner in ihres Vaters Haus?

Da stand er vor ihr, der Millionärin, als armer, unbekannter, verachteter Bauernsohn, der Sohn des Pächters ihres Landbesitzes! Und er hob stolz und zuversichtlich das schöne Haupt und nahm die Rolle, welche ihm die Priesterin der Comödie angepriesen und trat sie verächtlich unter die Füsse. Da standen sie einander schroff gegenüber, sie, die leichtlebige Evastochter, welche die Maske aufs Schild hebt und Lug, Trug und Verstellung die Wege zum Glück und zur Höhe nennt, und er, der schlichte, ehrliche Mann, dessen Sinn viel zu gerade ist, um krumme Pfade zu gehen, der voll kindlichen Glaubens empor zum Himmel blickt und spricht: „Ich kenne nur einen Weg, den die Füsse des Rechtschaffenen wandeln können. — Das ist der Weg der Wahrheit. Spiele du immerhin Comödie, ich will geradeaus und wahr sein, so wie Gott mich geschaffen, so wie ich bin! Und dann lass uns sehen, wer von uns beiden das Glück erreicht!“

Die Jahre sind vergangen — das Blatt hat sich gewandt! — Sie, die Millionärin, ist ein verlassenes, betrogenes Weib, eine Bettlerin geworden, die kaum noch ein Fleckchen auf der Erde weiss, wo sie ihr Haupt niederlegen soll, und er, der Bauernsohn, dessen sie sich damals schämte, er ist der Herr ihres Schlosses, er ist ein weltberühmter Professor, dessen Wissen ein Segen für die Menschheit, dessen Name eine Ehre fürs deutsche Vaterland geworden.

Er steht hoch in Ansehen, Ehre und Gunst der Welt, ein reicher Mann, der den Schild der Wahrheit so rein und blank gehalten wie seine Ehre und seinen Ruf. — Und Aglaë? — Sie schämt sich ihres Namens, und sie muss es leiden, dass die Menschen die Achseln zucken und sagen: „Sie gehört nicht mehr in unsere Gesellschaft — die Wege, welche durch Lampenlicht und Coulissen führen, sind schlüpfrig und abschüssig, und man weiss genau, wie viele auf ihnen zu Fall gekommen!“

Aglaë hatte das Gefühl, als müsse sie laut aufstöhnend die Hände vor das Antlitz schlagen, aber sie beisst trotzig die Zähne zusammen und hebt das Haupt: „Noch ist nicht aller Tage Abend, Hans Burkhardt, und noch gestehe ich dir den Sieg nicht zu! Eines Tages Wende verändert oft viel, und die, welche bei Sonnenschein ihr Schifflein bestiegen, endeten oft bei Nacht in Sturm und Regenflut! Sieh! Die Sonne draussen hat sich hinter Wolken versteckt, Wind und Hagelschauer geben mir das Geleit ins Leben hinaus, lass sehen, ob mich die Dunkelheit verschlingt, oder ob mir ein neuer Stern aufgeht, welcher noch höher steht und strahlender erglänzt als der deine! Va banque, Hans Burkhardt!“

Monate sind vergangen.

Grau in grau lasten die Nebel auf der nordischen Gross- und Handelsstadt, Winterkälte hat alles blühende Leben zu Tode gefroren, und wo Karneval seine lärmende Musik nicht hinträgt, wo der Strassentrubel fernab verhallt — da ist’s, als liege die Welt in traumlosem Schlaf wie ein armes Weib, welches unter schwerer Last zusammengebrochen.

Im Hafen liegen die Schiffe, ernst, düster und still, wie unheimliche, gespenstische Riesen, welche das Unheil mit schwarzen Fittichen herbeitragen und das Glück auf Nimmerwiedersehen von dannen führen. Der Wind pfeift über das Wasser, in welchem sich mächtige Eisschollen übereinanderdrängen und aufstauen, um in wildgetürmten Blöcken zusammen zu frieren. Es saust und knirscht und pfeift im Tauwerk, und die Stimmen der heimkehrenden Hafenarbeiter verklingen in der Nacht. Wenig Laternen erhellen den Weg.

Auf der Brücke schreitet langsam eine dunkle Gestalt. Eine Dame, fest eingewickelt in dunkeln Mantel, das Haupt durch ein wollenes Tuch geschützt. Sie lehnt sich auf das Brückengeländer und starrt in das dunkle, sich langsam dahinwälzende Wasser hinab. Die gefalteten Hände zittern, ein leises, krampfhaftes Schluchzen erschüttert den vorgeneigten Körper. — Das trübe Laternenlicht streift das bleiche, vergrämte Angesicht. — Aglaë.

Ein Ausdruck dumpfer Verzweiflung liegt auf ihren Zügen, gross und brennend starren die Augen aus tiefen Schatten. Sie ist allein, kein Mensch hört und sieht sie. Ein Sprung in diese düstere, grausige Tiefe hinab, und sie hat überwunden, — sie ist frei von allem Elend und aller Not! — Ein Aufstöhnen der Todesqual! Aglaë krampft die Hände zusammen und lässt den Kopf schaudernd vornüber auf das eisglitzernde Geländer sinken — — es ist so schwer zu sterben!

„Mich friert! — Was thut’s? Im Grab ist’s kälter noch als hier!“ klingt ihr die Melodie wie ein verworrenes Getöse durch den Sturm — und die Vicomtesse von Saint Lorrain taumelt mit leisem Wimmern zurück und klammert sich an den Laternenpfahl. Nein, sie kann nicht sterben — es ist so unheimlich, so schauerlich drunten in der Wassertiefe — und sie möchte so gern — ach so gern noch leben. Ist denn keine Menschenseele auf Gottes weiter Welt, welche sich ihrer erbarmen möchte?

„Hans! Ach, Hans!“ schluchzt sie auf — und wie sie mit irrem Blick in das Schneegestöber starrt, welches beginnt die Luft zu füllen, da steht er wieder vor ihr, der Freiwillige auf der Schildwacht — der verachtete, verleugnete Freund, an welchem sie ehemals vorübereilte, als sei der liebevolle Ruf ihres Namens aus seinem Munde eine Schande für sie! — Und nun soll sie ihn rufen? Soll ihn um Hilfe und Mitleid anflehen — ihn, der es weiss, wie schändlich sie an ihm gehandelt? — Aglaë presst die Hände vor das Angesicht. — Sie will nicht sterben und kann sich doch auch nicht demütigen vor ihm, den sie ehemals unter die Füsse trat.

Warum sagte sie ihm das letzte Mal in kindischem Trotz, wie falsch und schlecht sie gegen ihn gewesen? Warum bekannte sie ihre Schuld und riss damit einen Abgrund zwischen ihm und ihr auf, — den nichts wieder überbrücken kann?

Närrin, die sie ist! Bedurfte es einer Beichte? Hat es der Worte gebraucht, um ihm erst ihr Benehmen klar zu machen? Hat er es nicht längst schon selber gewusst und empfunden, wenn sie ihn durch die verletzendsten Worte kränkte und ihn, den einzigen Freund, nicht wieder in ihres Vaters Haus lud, weil sie sich seines schlichten Namens und geraden Wesens schämte?

Nein, es hätte ihrer Beichte nicht bedurft, er kannte sie und ihr erbärmliches Sein und Wesen! Und sie, gerade sie soll in dem niederdrückendsten Schuldbewusstsein zu ihm kommen, soll ihn zu Hilfe rufen und sagen: „Du hast abermals recht gehabt, Hans Burkhardt, ich bin wie ein eigensinniges Kind in mein Verderben gerannt, nun komm und rette mich vor dem Untergang!“

Aglaë beisst die Zähne zusammen und hebt im alten, starren Trotz das Haupt. Nein, sie kann sich nicht demütigen — nicht vor ihm! Vorwärts — ein paar Wochen kann sie wohl noch das Leben fristen, wenn sie die rote Sammetschleppe und ihr letztes Armband verkauft. — Ihre Koffer sind allerdings schon sehr leer geworden, aber wenn sie ein Engagement findet, gibt man ihr entschieden Kredit, neue Kostüme anzuschaffen. Ein Engagement! Sie hat Wochen und Monate vergeblich darauf gewartet! Sie hat kein Geld gehabt, sich die Wege zu ebnen, und wenn die Armut tugendhaft bleiben will, dann wird sie überall unter die Füsse getreten.

Langsam schleppt sich Aglaë weiter. — Welche Erfahrungen hat sie gemacht, welch eine nichtswürdige Sorte von Menschen hat sie kennen gelernt! Ein hilf- und schutzloses Weib ist ein vogelfrei Wild, — Wolf und Fuchs stellen ihm nach, es niederzureissen.

Eine menschenbelebte Gasse mmmt die Einsame auf. Hellschimmernde Fenster! Musik und wüstes Gejuchze tanzender Matrosen und Dirnen! — Da drinnen ist’s, warm, warm und lustig! Und daheim in Aglaës elender Mansarde brennt kein Feuer im Ofen und kein Licht auf dem Tisch, es ist bitter kalt, — so kalt, dass die verwöhnte Millionärin sogar vor Frost zittert, wenn sie sich auf das harte Lager niederstreckt.

Bratenduft strömt aus den geöffneten Fenstern des Restaurants — — und Aglaë hungert bereits seit dem frühen Mittag. Sie ist ausgegangen, sich für die letzten Groschen Brot zu kaufen. — Ach, und wie weh thut der Hunger! — Sie presst die erstarrten Arme fest gegen sich, aber ihre Schritte werden zögernder, und ihr fieberglänzender Blick schweift in die Fenster. — Es scheint ein übles Lokal zu sein, eines jener berüchtigten Tanzlokale, an denen Hafenstädte besonders reich sind.

Ein altes Weib hat in der Thür gestanden und die junge, schlanke Frauengestalt beobachtet. Sie tritt schlürfend vor und schaut ihr scharf prüfend in das Gesicht. — Ein befriedigtes Grinsen. — Vertraulich fasst sie den Arm der Fremden und flüstert ihr ein paar Worte ins Ohr: „Komm mit Täubchen! Kannst dich selber überzeugen!“ schliesst sie kichernd und will Aglaë zur Thür ziehen.

Mit einem leisen Aufschrei des Abscheus und Entsetzens reisst sich Aglaë los und flieht wie gepeitscht in die kalte, trostlose Nacht hinaus.

Ihr verstörtes Antlitz wendet sich zum Himmel. Thränen stürzen aus ihren Augen: „Ich bin elend, Hans Burkhardt, arm und verlassen, hungernd und frierend, aber ich weiss dennoch, was ich dir gelobt habe, — und ich vergesse es nicht — ich bleibe brav und gut!“

Viele hohe Stiegen führen bis zu der armseligen Dachstube der Vicomtesse von Saint Lorrain. — Schwer atmend, matt zum Umsinken steigt Aglaë Stufe um Stufe empor. Es flimmert ihr vor den Augen, wie ein Schauder des Entsetzens rieselt’s durch ihre Glieder: „Nicht noch krank werden! Herr Gott des Himmels — nur das nicht! Ein schwerer Schritt klingt ihr entgegen. Der Postbote kommt die Treppe herab. Er greift an die Mütze und blickt teilnehmend in das bleiche Gesichtchen des armen Fräuleins.

„Na, Fräuleinchen! Heute habe ich einen Brief gebracht, und er sieht gerade so aus, als ob ’was Gutes drin stünde!“

Sie zuckt empor und nickt ihm hastigen Dank, dann stürmt sie wie neubelebt die schmalen Stufen empor. — Auf der Thürklinke liegt ein Brief. Sie greift mit zitternden Fingern danach. Ein grosser roter Stempel verschliesst ihn. Aglaë nimmt sich keine Zeit, Licht in ihrem Stübchen anzuzünden, sie tritt an die Gasflamme des Treppenhauses und reisst den Umschlag von dem Briefbogen. Die Direktion des Stadttheaters zu X. fragt an, ob Fräulein Lorrain unter nachstehenden Bedingungen die Stellung einer zweiten Sängerin annehmen wolle und bereit sei, in dreimaligem probeweisen Gastspiel zuvor aufzutreten. Falls dem Fräulein die Mittel zu der Reise fehlen sollten, sei die Direktion bereit, den nötigen Vorschuss zu gewähren.

Ein halb erstickter Aufschrei unbeschreiblichen Entzückens! Aglaë umkrampft den Brief und wankt in ihr Stübchen. Dort bricht sie in die Knie und hebt die gefalteten Hände inbrünstig zum Himmel, ihre Lippen regen sich — aber sie bleiben stumm, und dann sinkt ihr Haupt langsam vornüber auf den Stuhl. — So verharrt sie still und regungslos, als schlafe sie. Ein seelischer Schlaf der Erquickung und Läuterung, welcher die grosse Krise mit sich bringt und Tod oder Leben birgt. — — — — Eine fieberhafte Aufregung riss Aglaë gewaltsam empor. Mit dem grössten Eifer begab sie sich an die Vorbereitungen zu der gewichtigen Reise, sang voll unermüdlichen Fleisses die Opernpartien, in welchen sie debütieren sollte und hörte es in übergrosser Aufregung nicht, wie ihre Stimme durch Not und Alterationen gelitten. All ihre Muskeln und Nerven waren gespannt, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen in der Qual des Hangens und Bangens zwischen Furcht und Hoffnung dem Tag entgegen, welcher über Sein oder Nichtsein entschied. — Und er dämmerte endlich herauf, so klar und sonnig blendend, dass der Glanz ihren thränenmüden Augen wehe that.

Comödie. Band 2

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