Читать книгу Comödie. Band 2 - Nataly von Eschstruth - Страница 5

XV.

Оглавление

Was hast du in dem Spiel gewonnen?

Was blieb der wunden Brust?!

Eichendorff.

Wie ein Aufschrei klingt sein Name von ihren Lippen: „Hans! Hans Burkhardt!!“

Sein Antlitz war düster, jetzt hellte es sich plötzlich auf zu einem strahlenden Lächeln. Hastig trat er näher und reichte ihr beinahe ungestüm die Hand entgegen. „Es erstaunt und überrascht Sie, mich zu sehen, Frau Vicomtesse?!“ ruft er, „Gott sei Lob und Dank! So habe ich also doch mit meiner Vermutung recht gehabt, so hat man mich Ihnen gar nicht gemeldet, weil Sie jeden Besuch abweisen lassen! So haben Sie mich nicht auch fortgeschickt, wie jeden Fremden, und ich that recht daran, hier einzudringen, wo meine Anwesenheit zur Zeit notwendig ist!“

Sie hatte sich gefasst, kalt und stolz musterte sie ihn vom Scheitel bis zur Sohle und umschloss mit bebenden Händen fest die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls, ohne von seiner dargebotenen Rechten Notiz zu nehmen.

„Sie irren!“ antwortete sie mit fast feindseligem Blick, „Sie sind mir gemeldet worden wie jeder, der hierher kommt, mit dem Verlangen, sich persönlich zu überzeugen, dass die Vicomtesse von Saint Lorrain wahrlich das stolze Genick gebrochen! Da liegt Ihre Karte, Herr Burkhardt! Ich war allerdings durch Ihren Anblick in hohem Grade überrascht, weil ich es nicht für möglich hielt, dass ein Herr und Kavalier die Thürschlösser einer Dame gewaltsam sprengt, wenn er nicht freiwillig von derselben Eintritt erhält!“

„Aglaë!“ — Halb entsetzt, halb unwillig klang es. Er sah sie einen Augenblick an, als verstehe er sie nicht, dann trat eine tiefe Falte zwischen seine Brauen, und gleichsam, als zwinge er sich, seine Ruhe zu wahren, antwortete er kühl: „Da Frau Vicomtesse den Besuch eines langjährigen Freundes und Spielkameraden so schroff ablehnen, darf ich wohl notgedrungen darum bitten, geschäftlich mit Ihnen verhandeln zu dürfen. — Herr Sauthing, welcher zur Zeit in seinem Büreau unabkömmlich ist, verwies mich direkt an Sie, da meine Pflicht mich schon mit dem nächsten Zug wieder von hier abruft. Herr Sauthing schien wohl einen andern Empfang vorausgesetzt zu haben, sonst hätte er mich Ihnen gewiss als ‚unabwendbares Übel‘ annonciert!“

Erstaunt blickte die junge Frau auf, ihre Haltung war noch immer eine unnahbare. „Geschäftlich? Was haben Sie Geschäftliches mit mir zu besprechen?“ Sie betonte das Wort „Sie!“ so spöttisch herausfordernd, dass ihm das Blut ins Antlitz schoss; der geübte Blick des Arztes erkannte aber sofort, dass er es mit einer nervös überreizten und durch das Unglück kopflos gemachten Dame zu thun habe, mit welcher man nicht rechten darf. Er legte gelassen seinen Hut nieder und antwortete ebenso spottend wie sie: „Das ist eine längere Geschichte, und obwohl Sie mir noch keinen Stuhl angeboten, Frau Vicomtesse, bitte ich dennoch um die Erlaubnis, mich setzen zu dürfen. Ich durchwachte die Nacht an einem Krankenbett und nahm mir auch am Tage keine Zeit zum Ruhen, da mich die Depesche meines Vaters und mein eigenes, aufrichtigstes Mitgefühl unverzüglich hierher zu Ihnen trieb! Hätte ich allerdings geahnt, wie überflüssig dasselbe hier ist, ich hätte mich weniger abgehetzt, um Ihnen zu Hilfe zu eilen!“

Aglaës Antlitz färbte sich höher, sie nahm schwer atmend ihm gegenüber Platz und vermied es, ihn anzusehen. „Hilfe?“ lachte sie bitter auf, „mir kann nur Hilfe durch Gold und Silber werden — und ... verzeihen Sie das harte Wort — ein Mann, der selber unterstützt wird, kann unmöglich ein Füllhorn Hunderttausender ausschütten!“

Er lächelte beinahe amüsiert: „Sehr richtig, ich bin nach wie vor ein armer Schlucker, der vorerst noch gerade genug zu thun hat, um sich selber über Wasser zu halten, aber Sie vergessen, Frau Vicomtesse, dass ich noch einen Vater besitze!“

Sie blickte schnell auf, lehnte hochmütig den Kopf zurück und kniff die Augen zusammen, als habe sie ihn nicht recht verstanden. „Ihr Vater? ... Wie sollte der Pächter meines Gutes in der Lage sein, mir Hilfe zu leisten! Höchstens durch Rat und That — und mit dieser Münze lasse ich mich gerade jetzt durchaus nicht unterstützen. Ich bin meine eigene Herrin, und mein Lebensweg ist mir klar und sicher vorgezeichnet — es bedarf also keinerlei fremder Einmischung.“

„Um so besser!“ Aglaë schlug unwillkürlich die Augen nieder vor dem Blick, welcher sie traf. „So wird meine Mission hier um so kürzer sein. Es scheint, dass Herr Sauthing Sie von den letzten Ereignissen in Moosdorf noch nicht unterrichtet hat?“

„Ereignissen in Moosdorf? Heute ist die Herrschaft unter den Hammer gekommen, es können noch keine Nachrichten von dem Resultat hier sein.“

„Sie unterschätzen unsere Telegraphen. Wollen Frau Vicomtesse sich überzeugen?“

Sie griff hastig und sehr erregt nach der Depesche, welche er aus der Brusttasche zog. Ihre Hand bebte dermassen, dass sie das Papier kaum öffnen konnte. Mit stockendem Herzschlag las sie: „Habe soeben Moosdorf käuflich erworben, ohne Hypothek wird es allerdings nicht abgehen. Reise augenblicklich zu unserer armen Aglaë ab und sage ihr, was ich dir schon brieflich mitteilte. Burkhardt.“

Leichenblässe überzog das Antlitz der Lesenden; wie schwindelnd hob sie die beiden eiskalten Hände an die Schläfen und schloss momentan die Augen. Dann zuckte sie leicht zusammen und starrte Hans mit gläsernem Blick an.

„Ihr ... Ihr Vater ... hat Schloss Moosdorf gekauft?“ flüsterte sie.

Der junge Arzt nickte gleichgültig. „Mein praktischer Vater hat sich diesmal von seinem gutmütigen Herzen übertölpeln lassen, ebenso wie sein Sohn, der nicht ass und trank, weil ihn die Freundschaft und Sorge für Sie zum Bahnhof trieb, die Sorge um eine Frau, welche solch ein Opfer weder verlangt noch würdigt. Mein guter Vater gehört zu dem alten biedern Menschenschlag, der in der Not die treueste Freundschaft hält. Er hat zwar nicht sonderlich viel Grund gehabt, sich dem Baron von Lehnberg verpflichtet zu fühlen, aber die arme, kleine Aglaë, die er ehemals auf dem Arm gehalten, die jammerte ihn in ihrer hilflosen Lage. ‚Hans‘, schrieb er mir, ‚es ist zwar ein Unsinn, solch ein Gut zu kaufen, wenn der Sohn ein Bücherfuchser und Quacksalber geworden ist, aber ich kann nicht fort von hier, ich klebe an der Scholle mit all dem sauern Schweiss, den sie mich gekostet! Und dann um der armen Aglaë willen! Habe gedacht, es sei ihr vielleicht eine rechte Hilfe in der Not, wenn ihr die Heimat erhalten bliebe. Darum fahre selber hin zu der Frau Vicomtesse und sage ihr, die alten Burkhardts liessen sie aus treuem Herzen grüssen, und sie solle nicht jammern und sich grämen — Moosdorf sperre alle Thüren auf, sie heim zu holen! Wir sind ja allerdings nur schlichte, einfache Bauersleute, aber wir wollen die arme, verlassene junge Frau aufnehmen bei uns, als wäre sie unser eigen Kind. Das grosse Schloss ist leer, denn mein Mutterchen und ich, wir bleiben hier in unserm gewohnten, kleinen Nest. Die Frau Vicomtesse aber, die soll nach wie vor in dem Schloss wohnen, und was sie zum Leben braucht, das soll ihr herzlich gern gegeben werden. Luxus kann ich ihr freilich nicht bieten, aber ich denke, ein Frauenherz, das so viel erschrecklich Schweres durchgemacht hat, das hängt nicht mehr an Plunder und Flitterkram. Hörst du, Hans? fahre gleich hin zu ihr — bringe der armen, einsamen Frau Trost und Hilfe, denn sie hat ja wohl niemand auf Gottes weiter Welt. Wir aber meinen es gut mit ihr, und wenn’s ihr recht ist — dann soll sie gleich am nächsten Tage kommen, und der liebe Herrgott segne ihren Eingang bei uns!‘“ Hans schwieg. Er hatte leise, mit wunderbarer Innigkeit gesprochen. Sein Blick leuchtete immer glückseliger, je mehr er die Wirkung dieser seiner Worte in ihrem schönen Antlitz las. Zuerst hatte sie ihn gross, mit weit aufgerissenen Augen, beinahe erschrocken angeschaut, dann trieb ihr die Scham heisse Glut in die bleichen Wangen, und wie gebrochen durch die Wucht solch unverdienter und überraschender Liebe und Güte neigte sie das Haupt in die Hände und schluchzte leise auf wie in verzweiflungsvollem Weh. Sie antwortete nicht, und auch Hans verharrte still, das wunderthätige Wirken dieses Thränenregens nicht zu stören.

Er war nicht nur ein Arzt des Körpers, sondern auch der Seele, und er hatte erkannt, dass Aglaë wohl die kränkste Patientin war, welche er je auf rettende Wege geleitet.

Wie eine Erlösung kam es über sie, es war, als ob diese Thränen die hässliche Schminke unwahren Stolzes und falscher Kälte von ihrem Antlitz fortwuschen, als ob etwas Eisigkaltes in ihrer Brust zu schmelzen beginne. Sie sprang empor und streckte dem jungen Arzt leidenschaftlich beide Hände entgegen. „Ich danke Ihnen!“ stiess sie schluchzend hervor. „Ihnen und Ihren Eltern! — Ich bin nie im Leben solch treue Liebe gewohnt gewesen — ich kann’s nicht begreifen, dass jemand wahrlich von Herzen gut zu mir ist! — Sagen Sie es Ihren Eltern ... und sagen Sie ihnen, dass ich tausendmal danken lasse! Sie haben mir eine grosse Wohlthat erwiesen durch ihr Anerbieten, aber annehmen kann ich dasselbe nicht!“

Hans hielt ihre Hände fest: „Und warum nicht, Frau Vicomtesse? Haben Sie eine andere Heimat gefunden?“

Sie schüttelte trostlos das Haupt.

„Besitzen Sie treuere Freunde, welche für Ihre Existenz sorgen wollen und können?“

„Freunde?“ Das alte, bittere Lachen gellte durch ihr Schluchzen.

„Also auch das nicht. Moosdorf ist mit dem heutigen Tag verkauft, dieses Haus hier müssen Sie räumen, und es bleibt Ihnen nach Abzug aller Kosten und Deckung der Schulden nur ein so kleines Kapital, dass Sie selbst darbend nicht von seinen Zinsen leben können. Was also wollen Sie beginnen? Ich beschwöre Sie zu Ihrem eigenen Besten, sagen Sie, warum lehnen Sie die Einladung meiner Eltern ab?“

Sie rang voll Qual die Hände frei und schlug sie vor ihr brennendes Angesicht. — „O fragen Sie nicht! — Ich kann nicht nach Moosdorf, ich kann nicht von Almosen leben — ich werde wahnsinnig in dem Gedanken, dass ich von einer Barmherzigkeit leben soll, die ich nicht verdiente! — Warum sammeln Sie solch feurige Kohlen auf mein Haupt, Hans?! — Ich bin nie im Leben Ihre ehrliche Freundin gewesen, ich habe nie einen Funken von all den hochherzigen Gefühlen für Sie oder die Ihren empfunden, welche Sie mir jetzt so beschämend entgegenbringen! Lassen Sie mich ausreden! Es ist ein bittersüsses Selbstkasteien! Es ist eine grausige Wohlthat, vor dem Menschen zu stehen und sich selber zu richten in einer Stunde, wo nur von diesem Einzigen noch Rettung kommen kann! — Gehen Sie! Gehen Sie, Hans, ich hab’s nicht verdient, dass Sie mich mit solch unaussprechlich guten und treuen Augen ansehen! Ich bin falsch und untreu gegen Sie gewesen, so lange ich zurückdenken kann! — Mein Spielzeug waren Sie! Mein Zeitvertreib, welchen man missachtend in die Ecke wirft, wenn sich besseres bietet! Geschämt habe ich mich Ihrer und Ihrer Eltern, habe Sie verleugnet und gekränkt bis ins tiefste Herz hinein, habe voll kaltherziger Berechnung die Hände nach Ihnen ausgestreckt, Sie herabzuziehen vor meine Füsse, um Ihnen Herz und Seele zu vergiften, so wie sie mir von Kindesbeinen an durch den Pesthauch modernen Lebens gemordet wurden! — Gespottet habe ich über die Leute im Pächterhaus, habe mein Kleid ängstlich zusammengefasst, wenn ich über ihre Schwelle treten musste, weil ich glaubte, die Atmosphäre der Armut wirke wie Schmutz! — Ich habe den alten Leuten den Sohn nehmen wollen, ihm Bravheit und Redlichkeit zu stehlen, weil es mir für einen kurzen Fastnachtstraum amüsant gewesen wäre, ihn an seiner unglücklichen Liebe verkommen zu sehen, und zu diesen — diesen Leuten sollte ich jetzt gehen, um aufgenommen zu werden wie ein Kind in der Heimat? Ihnen sollte ich alles danken, was ich noch auf Erden wäre?! — Niemals, Hans! — beim ewigen Himmel, ich kann es nicht!“

Er sah ihr traurig, aber voll warmer Herzlichkeit in das flammende Angesicht: „Meine Eltern wissen nichts von all dem Unrecht, dessen Sie sich anklagen, und ich, der es anhören musste, ich vergebe Ihnen von ganzem Herzen, Frau Vicomtesse, und habe nur eine Bitte, welche Sie mir als Sühne zu erfüllen versprechen müssen: Betrachten Sie Moosdorf zeitlebens als Ihre Heimat und vergessen Sie die trüben Bilder, welche Sie sich selbst als Schreckgespenst vor meiner Eltern Thür stellen!“

Sie antwortete nicht, sondern schüttelte nur voll düsterer Schwermut das Haupt.

„Nun, so lassen Sie uns wenigstens einmal vernünftig über Ihre Zukunft sprechen!“ fuhr er in seinem alten, energischen Ton fort, „und wenn Sie es wirklich als Ihre Schuld erachten, ehedem falsch gegen mich gewesen zu sein, so büssen Sie dieselbe jetzt dadurch ab, dass Sie mir künftighin um so ehrlicher vertrauen. Wollen Sie das versprechen, Aglaë?“

Sie schlug mit aufleuchtendem Blick in seine Hand ein. „Ja, das will ich“, atmete sie auf, „Sie sollen wenigstens den Weg kennen, auf welchem ich mich vorwärts kämpfen will, und welcher uns für alle Ewigkeit trennen wird!“

Ein wehmütiges, aber dennoch zuversichtliches Lächeln spielte momentan um seine Lippen. „Lassen Sie mich hören!“ nickte er freundlich.

Sie liess das Haupt wie müde zur Brust sinken und starrte nachdenklich auf das bunte Teppichmuster zu ihren Füssen nieder: „Leider Gottes war mein Vater schon ein reicher Mann, als ich geboren wurde“, begann sie herbe, „und meine Erziehung ist das Resultat seines Parvenüdünkels, welcher von sich und seiner Familie alles fernhielt, was an die niedrige Vergangenheit erinnerte. Die Arbeit, welcher er seinen Reichtum verdankte, verachtete er, weil sie der Lebensinhalt des niedrigen Mannes ist, und jedwede praktische und nützliche Beschäftigung hielt er schmachvoll für die Tochter eines Millionärs, welche Dienstboten genug befehligt, ihre Wünsche sofort erfüllt zu sehen. Meine Mutter war krank und schwach, sie drang mit ihren Ansichten nicht durch und ich ward, was ich jetzt leider Gottes bin, ein unwissendes, hilfloses, nutzloses und überflüssiges Geschöpf. — Ich habe weder ein Examen gemacht, noch so viel gelernt, um es vielleicht jetzt noch nachholen zu können; nicht einmal zur Kindergärtnerin würde ich brauchbar sein, denn ich bin ungeduldig und unduldsam und würde mich niemas in die Rolle einer Untergebenen fügen können. Daran scheitert auch die Möglichkeit, Gesellschafterin zu werden. Wer mag ein unliebenswürdiges, verbittertes und launenhaftes Geschöpf um sich sehen, welches gewöhnt ist, zu befehlen, ohne selber gehorchen zu können. — Vom Haushalt oder wirtschaftlichen Arbeiten habe ich keine Ahnung und gestehe es Ihnen zu meiner Schande ein, dass ich nie im Leben eine Küche betreten habe. Das hielt ich selber unter meiner Würde, denn da ich in den Ansichten meines Vaters erzogen wurde, habe ich dieselben ganz natürlicherweise auch zu den meinen gemacht! — Ich kann also nichts, gar nichts, weder nähen, noch stricken oder kochen, kann nicht malen, nicht unterrichten. Das einzige, was meine ungeschickten Finger als ‚nobele Passion‘ betreiben durften, war Musik. Ich leiste auch nicht viel im Klavierspiel, aber doch genug, um meinen Gesang zu unterstützen, denn eine Gabe legte auch mir die Natur in die Wiege — eine Stimme, welche in viel teuren Stunden geschult wurde, und welche vielleicht für das Theater ausreicht —!“

„Für das Theater?!“ — Hans zuckte leicht empor und blickte die Sprecherin fast entsetzt an: „Was verstehen Sie darunter, Vicomtesse? — Wollen ... wollen Sie etwa zur Bühne gehn?!“

Sie hob resolut das schöne Haupt, ihr Blick war finster, und die alte Bitterkeit durchklang abermals ihre Stimme: „Ja, ich will zur Bühne!“ wiederholte sie beinahe heftig, „denn mir bleibt keine Wahl! Sie haben meinen Entschluss bereits durch Ihr erschrockenes Gesicht und den Ausdruck Ihrer Stimme gerichtet! Sie sehen die leichtsinnige Tochter des leichtsinnigen und gewissenlosen Vaters bereits untergehen in den Flammen, welche das Schicksal auch heutzutage noch über die verderbten Sodomskinder regnen lässt!“ — Sie biss die Zähne zusammen und lachte scharf auf: „Ich kenne die Bühnenlaufbahn, mache mir keine naiven Vorstellungen und betrete resigniert einen Weg, auf welchem man Schmetterling sein muss, um manchen Abgrund überschweben zu können!“

„Warum werden Sie nicht Konzertsängerin?!“

„Weil diese Carriere sehr langsam und unergiebig ist. Ich muss Geld verdienen — eine Konzertsängerin aber braucht viele, lange Jahre, ehe sie sich einen Namen macht und bezahlt wird. Die Opernsängerin hat feste Gage und hat täglich Gelegenheit, sich dem Publikum bekannt zu machen und vorwärts zu kommen! Warum sehen Sie mich so wunderlich an? — Zweifeln Sie etwa an meinen Erfolgen?“

„Ja, ich zweifle stark daran!“

„Und warum? Hörten Sie mich je singen?“

„Nein.“

„Nun also! Was befürchten Sie? Bitte, seien Sie ehrlich und wahr!“

„Ich befürchte, dass gerade die Bühnenlaufbahn sehr wenig geeignet ist für eine Dame, welche nicht Gesellschafterin werden will, weil sie sich da dem Willen einer Gebieterin fügen muss. Einer einzigen Dame! Die Theatercarriere aber ist ein unaufhörliches Sichfügen, Ducken, Demütigen, ein Gehorchen, Bitten und Flehen! — Sie haben nicht eine feine, gebildete Dame zur Brotherrin, deren Wünschen Sie sich unterordnen, sondern eine Reihe der egoistischsten, kaltberechnendsten und rücksichtslosesten Männer, deren Wesen sich von der Energie des Direktors bis zur Roheit des Coulissenschiebers variiert! — Sie sind nicht sogleich Diva, — Sie sind lange Jahre Anfängerin. Sie müssen Rivalinnen neben sich dulden, welche die schöne, vornehme und geistvolle Genossin in Ihnen hassen werden! Man wird Sie und Ihren Stolz kränken bis zur Schmach! Der Weg, welchen Sie gehen wollen, Vicomtesse, ist nicht so blütenreich, wie es für den Fernstehenden den Anschein hat, und ich fürchte, er führt Sie, anstatt empor, so tief hinab, dass Sie für Kreise, darinnen eine Gräfin Saint Lorrain verkehrsberechtigt ist, ein für allemal verloren sind!“

Aglaës kleine Hand, welche in ihrem Schosse lag, erzitterte unmerklich. Sie schüttelte aber energisch das Köpfchen: „Ihre Sorge um mich lässt Sie zu schwarz sehen! Ich habe viele Freundinnen und Freunde beim Theater, welche mir gewiss sehr schnell empor helfen werden!“

„Diese Illusion ist die erste Klippe, an welcher Sie scheitern werden!“

„Warten wir’s ab. — Jedenfalls will ich lieber alles ertragen und dulden, ehe ich von Almosen lebe oder eine dienende Stellung annehme!“

„Sie sprechen von „Ertragen und Dulden“ wie der Blinde von der Farbe! — Haben Sie schon jemals im Leben gehungert? Haben Sie gefroren in dem Bewusstsein, zu arm zu sein, um den Ofen heizen zu können?!“

„Nein, — wie sollte ich!“

Er trat wie in leidenschaftlicher Angst näher und fasste beschwörend ihre Hände: „Aglaë! Seien Sie kein unvernünftiges Kind, welches blindlings in sein Verderben rennt! Ich weiss es, wie bitter die Armut, das Notleiden und Entbehren ist — ich, der willensstarke, körperlich abgehärtete Mann bin in dem Kampf um das Dasein beinahe unterlegen, — wie viel mehr werden Sie, die zarte, sonnenlichtverwöhnte Blüte in solchem Sturm zu Grunde gehen!“

Sie sah ihm voll in die Augen — ein warmer, dankerfüllter Blick, welcher dennoch durch Thränen glänzte.

„Sonnenlichtverwöhnte!“ wiederholte sie leise, — „o nein, Hans, ich bin nicht so verwöhnt, wie es wohl der Welt gegenüber den Anschein hat! Ich habe in der Dunkelheit eines Lebens, dem keine Sonne von Liebe und Glück gestrahlt, manch heimlich Leid erduldet, ich habe an der eigenen Herzenskälte gefroren bis in die Seele hinein! Und doch spielte ich die grosse Comödie der beneidenswerten glücklichen Frau! — Haben Sie meine bösen, frivolen Worte von damals ganz vergessen? — Ich habe sie wahr gemacht, Hans, und habe eine Maske vor das Antlitz gelegt, welche alle Welt getäuscht hat! — Man muss in der Welt Comödie spielen, um zum Ziel zu gelangen, — das sagte ich schon damals und wiederhole es auch heute aus vollster Überzeugung. Und ich will mich auch jetzt wieder danach richten, will weiter Comödie spielen, nicht nur auf der grossen Schaubühne des täglichen Lebens, sondern auf den Brettern, welche die Welt bedeuten! Warum sorgen Sie sich um mich? Ich bin ja eine so gute Comödiantin! Ich habe mir den Titel einer Vicomtesse von Saint Lorrain erspielt, warum nicht auch mein täglich Brot? — Und ob ich dem Sturm gewachsen bin? — Eine schwache Birke ist biegsamer als ein starker Eichbaum, jener wird leichter herabgesplittert in den Staub als sie! — Und nun seien Sie bedankt, lieber Hans, für alles, was Sie mir in dieser traurigen Stunde Liebes gesagt! — Sagen Sie es auch Ihren braven Eltern! Mich aber überlassen Sie getrost meinem Schicksal — mir sind Schmetterlingsflügel gewachsen, die tragen leichter über die Miseren des Lebens hinweg, als Sie glauben!“

Hans atmete schwer auf. „Ist dies mein Abschied, Aglaë?“ —

Sie nickte und lächelte. — „Vielleicht auf Wiedersehen, vielleicht auch nicht. — Ich werde Sie nie in die Verlegenheit bringen, mich verleugnen zu müssen.“

Ein schmerzliches Lächeln bebte über sein schönes, ernstes Angesicht. „Ich sehe ein, dass Sie erst bei der Erfahrung in die Schule gehen müssen, ehe Sie den Weg zurück in die Heimat finden! — Aglaë — vergessen Sie nicht, dass Sie in mir einen Freund besitzen, und wann und wo es auch sei, rufen Sie mich, falls Sie Hilfe brauchen! Verleugnen werde ich Sie nie, Aglaë, — es sei denn ...“

Er stockte und biss sich auf die Lippe, sein Antlitz ward blutrot, — hastig wollte er sich von ihr abwenden. Sie hielt seine Hand fest. Angstvoll sah sie zu ihm auf. „Vollenden Sie, Hans! — bei allein, was Ihnen heilig ist, — wann würden Sie sich meiner schämen?! Wenn ich keine Erfolge habe und ausgepfiffen werde? Wenn ich in Armut und Elend verkomme?!“ —

Er schüttelte beinahe heftig das Haupt, sein Auge flammte.

Wie die verkörperte, edle Männlichkeit stand er ihr gegenüber. „Nein, Aglaë, nicht dann! Im Gegenteil, Ihre Armut, Ihre Not würden mir lieb sein wie ein Feierkleid der Unschuld, welches die Märtyrerin schmückt! — Aber das Gegenteil davon — das gleissende Gewand der Üppigkeit, — das, Aglaë, würde ich verleugnen vor Gott und der Welt, und ein Weib, welches Triumphe und Lorbeeren mit der Ehre bezahlt — das würde für mich vergessen und verloren sein — bis in den Tod!“

Sie stand vor ihm, bleich und ernst, aber hocherhobenen Hauptes. Stumm reichte sie ihm die Hand. Ihre Lippen bebten, es lag etwas feierlich Keusches in ihrem Auge, was er zuvor nie gekannt. —

Krampfhaft presste er ihre schlanken Finger in seiner Rechten, die volle, leidenschaftliche Angst einer Liebe, welche nie erloschen, urplötzlich wieder aufflammt und um ihr Teuerstes zittert, brach durch seine Worte. „Aglaë!“ rief er beschwörend, „nur eines, — eines gelobe bei dem Andenken an deine Mutter; bleibe brav und gut! Strauchle nicht auf dem schlüpfrigen Weg! — Hungere und friere, aber lass nicht von der Tugend!“ —

Eiskalt war ihre Hand. — Fest blickte sie ihm ins Auge, und ihre Stimme klang wie ein Gelöbnis. „Ja Hans, ich will gut und brav bleiben!“ —

„Gott segne dich!“ — — und er riss sich los und stürmte davon. —

Aglaë aber strich langsam über die Stirn, es war ihr, als habe sie geträumt. Mechanisch faltete sie die Hände. Wie lange hatte sie keines Menschen Mund mehr gesegnet — wie lange hatte sie nicht mehr gebetet! —

Ja, es ist hart und schwer arm zu sein, aber arm zu werden ist noch viel tausendmal schwerer. — Ein Fuss, welcher nicht gewohnt ist auf Stein und Dorn zu wandeln, leidet Qual bei jedem Schritt und eine Hand, welche nicht arbeiten lernte, trägt gar manche Schwiele davon, bis sie es nur versteht zuzugreifen und sich zu regen. —

Wie ist es schon so ungewohnt und unbequem, ein einziges kleines Zimmer bewohnen zu müssen; welch eine fremde Beschäftigung, alles, was man braucht, zusammen zu suchen und fort zu legen! Aglaë hatte sich stets von ihrer Kammerfrau bis zur kleinsten Kleinigkeit bedienen lassen, und nun stand sie plötzlich allein und sollte sich sogar selbst frisieren! — Völlig ratlos hielt sie die prachtvollen Haare in Händen und hatte keinen Begriff, wie sie diese ungefügige Lockenfülle in die knappe Modefrisur, welche sie gewohnt war, eindrehen und aufnesteln sollte. — Stundenlang mühte und quälte sie sich ab, bis sie endlich die Arme erschöpft sinken liess und in Thränen der Ungeduld und Verzweiflung ausbrach. — Aber nur einen Augenblick, dann probierte sie die Arbeit aufs neue. Es fiel ihr ein, wie oft sie in wilder, launischer Heftigkeit Madame Laurence faul und langsam gescholten hatte, wenn sie nicht schnell genug mit der Frisur fertig war; wie sie die Ärmste oft zur Verzweiflung gebracht, wenn sie den Kopf auf die Romane neigte und dennoch jähzornig schalt, wenn die Kammerfrau jammerte: „Es ist unmöglich! Vicomtesse müssen das Köpfchen hoch und gerade halten!“ —

Nun hielt sie den Kopf hoch und gerade, aber es war ihr dennoch unmöglich, das Haar zu bändigen. Voll Heftigkeit schüttelte sie es schliesslich in den Nacken zurück. „Nun gut — dann hänge, wie du hängen willst!“ und sie band es mit einer Schleife zusammen und freute sich, dass sie künftig hin schneller fertig sein werde. — O Himmel, welch eine Last ist es doch, für sich selber sorgen zu müssen! Jeder abgerissene Knopf, jedes Band, jeder Nadelstich werden zu den schwierigsten Hindernissen! Aglaë sehnt Madame Laurence nicht zurück. Die Person hat unendlich viel Wohlthaten von ihr genossen, und dennoch versetzte auch sie der toten Löwin noch den Eselstritt beim Scheiden! — Brutal, impertinent markierend, dass aus der Millionärin eine Bettlerin geworden, so verabschiedete sich Laurence ebenso wie alle anderen Dienstboten, welche es Aglaë zuerst in nacktester, ungeschminktester Klarheit zeigten, dass nur das Gold krumme Rücken erzwingt, und dass es ein gar kläglich Ding ist, arm und verlassen zu sein! —

Seit ihren bösen Erfahrungen, welche sie in der Gesellschaft gemacht, hatte Aglaë den Glauben an die Menschheit verloren und das Benehmen ihrer Dienstboten erbitterte sie vollends und riss noch den letzten rosigen Schleier von ihren Augen, welcher die Welt in lichten Farben erscheinen liess. — „Des Daseins ganzer Jammer“ fasste sie an, ein Gefühl grausamster Ernüchterung stahl sich in ihr Herz, und am schwersten und herbsten, was sie in all ihrer Armut betraf, empfand sie den Verlust ihres Glaubens an die Menschheit. — Das Benehmen ihrer Dienstboten hatte sie immer noch mit der Ungebildetheit dieser Leute entschuldigen wollen, aber die Erfahrungen, welche sie auch in den Kreisen derer machte, welche sie für ihre Freunde gehalten, die nahmen ihr auch noch den Rest der freudigen Zuversicht, mit welcher sie ihre neue Laufbahn betreten. —

Welch absonderliches Gefühl, als Aglaë Besuche abstatten wollte und kein Diener, kein Kutscher und keine Equipage mehr da waren, welche ihrer Befehle harrten. — Der Gedanke, eine Droschke oder gar eine Pferdebahn besteigen zu müssen, war ihr entsetzlich, sie zog vor, stolz zu Fuss zu gehen. —

Wenn man in dem weichen Atlaspolster eines Wagens liegt, kennt man keine Entfernung, aber wenn man die langen Strassen Schritt für Schritt messen muss, dann merkt man erst, wie weit das Ziel ist. —

Todmüde erreichte Aglaë die Wohnung der ersten Säugerin, welche früher so manches Diner im Hause des Kommerzienrats besucht und sich stets himmlisch dabei amüsiert hatte! — Lehnberg hatte ihr einmal als Dank für ein Lied ein Brillantarmband überreicht’, welches mehr wert war, wie das ganze Vermögen, welches die Vicomtesse jetzt noch ihr eigen nannte. —

Das Kammerzöfchen musterte die ihr wohlbekannte verarmte Millionärin mit neugierig dreisten Blicken und schien es als grosse Huld zu betrachten, wenn sie sich überhaupt die Mühe nahm, sie zu melden. —

Nach recht langer Zeit erschien sie wieder und brachte die schnippische Antwort, dass ihre Herrin beim Frühstück sei, und da sie Gäste bei sich sähe, könne sie sich nicht gut stören lassen! Wenn Frau von Saint Lorrain ein Anliegen habe, möge sie sich doch schriftlich an ihre gnädige Frau wenden.“ —

Das Blut stieg Aglaë in die Wangen und raubte ihr fast die Besinnung; sie neigte kurz den Kopf und ging. —

Bei einer andern Künstlerin traf sie es nicht viel besser. Sie begegnete ihr allerdings auf der Strasse, aber Fräulein Dornée schien sie zuerst gar nicht zu erkennen und entschuldigte sich alsdann recht malitiös, sie habe die Frau Vicomtesse wirklich gar zu lange nicht gesehen, — als der Herr Kommerzienrat geadelt worden sei, habe sie ihren Besuch gemacht, um zu gratulieren, aber sie habe nie wieder etwas von den Herrschaften gehört! — Die junge Frau glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verlegenheit und begriff es selber nicht, wie sie den Mut gefunden, dieser Dame von ihren Zukunftsplänen zu sprechen. „Wie? Sie wollen zur Bühne? Singen Sie denn überhaupt? O — ja! ich entsinne mich jetzt — eine kleine, zarte Stimme! Mon Dieu, damit wollen Sie eine Opernpartie riskieren? Undenkbar, Verehrteste! ich rate Ihnen energisch ab! Warum werden Sie nicht Schauspielerin? Sie haben dabei doch bedeutend mehr chance! Sie glauben, ich könne etwas für Sie thun? O, Teuerste, welche Naivität! Ich bin einer Regie und Intendanz gegenüber direkt machtlos! — Bedaure sehr, Ihnen bei dieser Carriere absolut nicht behilflich sein zu können!“ —

Und so ging es weiter. Bei den meisten Damen ward sie überhaupt nicht empfangen; die eine hatte Migräne — die andere rief mit lauter Stimme im Nebenzimmer: „Sagen Sie, ich sei ausgefahren!“ — Und wo Aglaë angenommen ward und bereits sehr mutlos ihre Bitte vortrug, sie wünsche Stunden zu nehmen, um sich für die Bühne ausbilden zu lassen, da wehrte man mit solcher Hast ab und versicherte, dass jede Stunde „besetzt, — und beim besten Willen keine mehr einzuschieben sei“, — dass es die junge Frau sehr schnell empfand: Man hatte Angst von dieser Bettlerin keine Bezahlung für die Stunden zu erhalten! —

Es war Aglaë zu Mute, als müsse sie laut aufschreien vor Qual, Scham und Verzweiflung. Sie mied die Strassen, wo ihr Bekannte begegnen konnten, sie zitterte in dem Gedanken an neue Demütigungen. — Der Boden brannte ihr unter den Füssen.

Da kam ein letztes, welches ihren Entschluss, die Residenz zu verlassen, zur Reife brachte. — Ein bereits älterer Sänger, welchen sie aus früherer Zeit auch persönlich als einen der cynischsten und frivolsten Menschen kannte, schrieb ihr ein Billet. Er hatte davon gehört, dass sie Gesangstunden nehmen und zur Bühue gehen wollte. Er bot ihr seine Hilfe und Unterstützung an, ja er verlangte nicht einmal sein Stundenhonorar in klingender Münze ausgezahlt! — Der Inhalt und Ton dieses Schreibens trieben Aglaë Thränen der Empörung und der Scham in die Augen. Sie schleuderte den Brief von sich und presste voll leidenschaftlichen Schmerzes die Hände gegen die Brust. „O Hans! Hans!“ stöhnte sie auf, „ja, du hast recht gehabt — Kränkungen bis zur Schmach!“ — und sie trat zum Licht und vernichtete das Billet in der Flamme. Der rote Feuerschein zuckte über ihr bleiches Antlitz, welches den Blick voll stolzer Energie so starr geradeaus richtete, als sähe sie im Geiste eine hohe Männergestalt vor sich stehen wie damals, als sie aus ihres Vaters Hause scheiden musste. — „Ja, Hans — ich bleibe brav und gut!“ murmelte sie. Und dann ging sie energisch an das Werk, ihre Koffer zu packen. — Fort von hier! Hinaus in die fremde Welt, wo niemand sie und ihr traurig Schicksal kennt, wo sie sich flüchten und verbergen kann vor all den Geisselhieben des Spottes und der Erniedrigung, welche sie hier gefoltert haben. Auf die Hilfe ihrer Freunde durfte sie nicht zählen, sie musste vorwärts aus eigener Kraft, vorwärts zum fernen, fernen Ziel. —

An einem Konservatorium kann sie wohl am besten und unbemerktesten ihre Studien machen, und sie wird in jener fremden Stadt unbekannt sein wie all die tausend dunklen, schlichten Frauengestalten, welche arm und verlassen durch die Strassen schreiten, sich ihr täglich Brot zu verdienen. Der hochklingende Name, welcher ehedem ihr höchstes Ziel und ihre stolzeste Sehnsucht gewesen, den wirft sie von sich wie ein schweres, auffallend buntes Gewand, welches bei der Arbeit hindert und der Hand und dem Fuss nur im Wege ist. —

„Aglaë Lorrain“ steht auf dem weissen Papier, welches drei Treppen hoch an der Flurthür der Frau Rätin Barnexius angeheftet ist. — Unter dem Schutz dieser alten Dame, welche möblierte Zimmer an Schülerinnen des Konservatoriums vermietete, lebte die Vicomtesse von Saint Lorrain still und zurückgezogen, voll fiebrischen Eifers studierend von früh bis spät. Und niemand kannte sie, und niemand ahnte es, dass dieses kleine, unscheinbare Fünkchen unter der Asche ehemals ein so hellfunkelnder Stern am Himmel der Millionenanbeter gewesen.

Comödie. Band 2

Подняться наверх