Читать книгу In Ungnade - Band I - Nataly von Eschstruth - Страница 6

III.

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„O Zeit, du selbst entwirre dies, nicht ich,

Ein zu verschlungener Knoten ist’s für mich!“

König Heinrich II. V Aufz. I. Sz. Shakespeare.

Eine Dame?!“

Wie von einem Schlage getroffen, zuckte Aurel aus seiner Regungslosigkeit empor. „Eine Dame?“ fragte er leise, und er trat dem Sprecher einen Schritt näher und sah ihn dabei mit den unheimlich aufglühendem Blick und so grell blinkenden Zähnen an, dass der Adjutant ganz betroffen einen Schritt zurück wich.

„Allerdings ...“ stotterte er, „aber ich bitte Sie von vornherein, sehr verehrter Herr von Buchfeld, keine falschen Schlüsse zu ziehen! Die Legationsrätin, Gräfin Judith Vare, erwartet Sie in meinem Zimmer, Ihnen in jeder Weise Hilfe und Unterstützung anzubieten und Ihnen als erste Dame der Gesellschaft ihr Beileid auszusprechen!“

Buchfeld stützte sich schwer auf den eichenen Tisch, er sah erschreckend bleich aus. „Aus welchem Grunde? Stand mein Bruder der Gräfin und ihrer Familie näher wie andern Persönlichkeiten der Residenz?“

„In gewisser Beziehung, ja! Die Gräfin hat sich stets voll wärmsten Interesses Ihres Herrn Bruders angenommen, und weil General von Dahlen, Ihr Herr Onkel, den jungen Mann ihrer besonderen Fürsorge empfohlen, so hat die ebenso einflussreiche wie tonangebende Frau ihn bereits als Fähnrich in die Gesellschaft eingeführt.“

„Ah! — Gräfin Vare also! Ich habe es nie begreifen können, dass man Ortwin gegenüber eine so seltene Ausnahme machte, und glaubte, er habe es dem Onkel allein zu verdanken.“ Der Blick des Sprechers ruhte sekundenlang auf der Bahre, dann flüsterte er noch leiser denn zuvor, als wolle er den stillen Schläfer nicht durch diese Frage stören. „Wer ist Gräfin Vare? Ich bin völlig fremd in den hiesigen Hofkreisen und möchte etwas unterrichtet sein, ehe ich der Dame entgegentrete.“ Mit einem leichten Wink der Hand schritt er dem Kameraden voran in das Nebenzimmer und setzte den Schellenzug in Bewegung, den Burschen des Verewigten herbeizurufen. Es lag etwas ganz Absonderliches in seinem Wesen, etwas Raubtierartiges, Forschendes und Lauerndes, als gälte es ein Wild zu beschleichen.

Der Adjutant schien eilig. „Gräfin Vare lebt als Witwe des ehemaligen holländischen Legationsrats gleichen Namens hierselbst, weil sie vor ihrer Verheiratung die Stelle einer Hofdame bei der hochseligen Grossherzogin bekleidete. Darf ich Sie wohl bitten mir zu folgen — ich möchte die Gnädigste nicht allzulange warten lassen —“

Aurel regte sich nicht, er stand vor ihm, wie ein Bild von Stein. „Sie nannten die Gräfin einflussreich und tonangebend?“ fragte er mit klangloser Stimme, „ist sie jung — schön und reich?“

„Letzteres wohl in hohem Masse, denn sie macht eines der ersten Häuser hier; ob schön? das ist Geschmacksache, man findet sie mehr geistreich und interessant, und jung? Mon Dieu, Verehrtester, das ist eine heikle Frage, eine Frau ist stets so alt, wie sie aussieht und Gräfin Vare ist eine Sphinx, deren Rätselaugen Jahr für Jahr unverändert in die Welt blicken! Ausserdem ist sie —“

„Hat sie Kinder?“ fragte Buchfeld kurz und schroff dazwischen.

„Nein; die würden auch in ihrem Hause nicht am Platze sein. Die Gräfin ist mehr Diplomat und Staatsmann als Weib. Man nennt sie die Vertraute und Ratgeberin des Grossherzogs, seine rechte Hand in allen, selbst den wichtigsten Angelegenheiten!“ Herr von Parlow trat vertraulich näher und fuhr eifrig fort: „Haben Sie denn nicht die Skandale in allen Zeitungen gelesen, welche in letzter Zeit den Namen der Gräfin so vielfach in Verbindung mit Königlicher Hoheit nannten? Nein?! Unfasslich! Alle Welt ist voll davon! Es erschienen in ausländischen Zeitungen unerhört indiskrete Artikel, welche die Verhältnisse unserer Residenz, militärische, ministerielle und gesellschaftliche, in geradezu unbegreiflich gut unterrichteter Weise beleuchteten! Aber darüber später, ich beschwöre Sie, mir jetzt zu folgen. Sie sind jetzt für kurze Zeit vertreten, und wenn Sie gestatten, kehre ich während der Dauer Ihrer Unterredung an die Bahre des Verewigten zurück!“

Aurel nickte schweigend, wie in tiefem Traum, vor sich hin, ein Aufglühen ging durch sein Auge, er hob entschlossen das Haupt. „Gehen wir!“ stiess er durch die Zähne hervor.

Vor dem Zimmer des Adjutanten stand er plötzlich still und legte die Hand über die Augen. „Ich ersuche Sie um eine Gefälligkeit, Herr Kamerad. Treten Sie vorerst ohne mich ein und melden Sie der Gräfin mein Kommen, dann erst benachrichtigen Sie mich; ich — ich möchte der Dame gern allein gegenübertreten!“

Parlow blickte den Sprecher frappiert an. Er begriff diesen absonderlichen Wunsch nicht recht, aber er schrieb ihn der momentanen, so sehr hohen Erregung des Bedauernswerten zu, und nach prüfendem Blick in die etwas verstörten Züge, aus welchen die Augen jedoch völlig klar und zurechnungsfähig schauten, trat er mit zustimmendem Gruss nach der Thür.

Noch einmal hielt ihn Aurel zurück. Seine Stimme klang heiser. „Führt diese Nebenthüre zu Ihrem Schlafzimmer, Herr von Parlow?“

„Allerdings ...“

„Ich bin Ihnen eilig gefolgt, die Erregungen der letzten Stunden haben vielleicht Spuren hinterlassen, Sie gestatten noch einen Blick in den Spiegel?“

Wunderlich! Auf ein derartiges Verlangen hätte der Adjutant den Kameraden in diesem Augenblick am wenigsten taxiert; er begriff nicht, wie ein Mensch inmitten eines solch grossen Seelenschmerzes an derartige Äusserlichkeiten denken konnte, da es aber gar penible Leute gibt, die in keiner Lebenslage die Form verletzen, und es ihm ohnehin natürlich schien, dass man einer Gräfin Vare gegenüber ganz besondere Umstände mache, so riss er voll liebenswürdiger Hast die Thür auf, entzündete schnell ein Licht und flüsterte: „In fünf Minuten hole ich Sie ab!“ Im nächsten Moment war er auf demselben Weg, wie er gekommen, verschwunden.

Der Spiegel stand vor Buchfeld, aber der Premierleutnant würdigte ihn keines Blickes. Sein Auge überflog das Zimmer. Richtig, eine Seitenthür, welche in das Gemach führt, in welchem Gräfin Vare auf ihn wartet. Er hört, wie sie mit Parlow spricht, eine weiche, tiefklingende Stimme, voll, wie eine Glocke.

Eine Totenglocke, welche Ortwins Lebensglück zu Grabe geläutet! Aurel presst mit hasszitternden Lippen die Hände gegen die Schläfen. Wehe jenem Weib, wenn sie es ist, die er sucht! Ihn soll keine Maske täuschen, er wird sie ihr von dem Antlitz reissen, ehe sie es ahnt. Und Rache wird er an ihr nehmen, Rache für den Bruder, den sie in den Tod getrieben, und Rache für ihn selbst, den sie durch solch ein Sterben zum haltlosen, wüsten Gesellen gemacht! Aurel fühlt es, an der Bahre droben hat ein Dämon gestanden, der schlug ihm giftige Krallen in das Herz. Er hat ihm die Waffe noch rechtzeitig aus der Hand genommen und ihn erinnert, dass er noch eine Mission auf Erden zu erfüllen habe: Rache! Rache an einem Weib! Wie ein fernes, fernes Echo hallt eine Knabenstimme durch seine Gedanken, die einst voll jubelnder Begeisterung des Ahnherrn Devise wiederholt: „Bin ich ein Schandbub, dass ich ein Weib verrate?!“

So sprach ein Dahlen. Aber Aurel ist ein Buchfeld, und die Traditionen seiner Familie sind ein wildes, rachelustiges Bekämpfen und Rächen. Ein ungefüges und trutzig rohes Geschlecht sind seine Vorväter gewesen, und ihr später Nachkomme fühlt es in diesem Augenblick, dass auch durch seine Adern das zügellose, leicht gereizte Blut der Ahnen rollt. Es hat sich lang genug verleugnet, nun aber schäumt’s empor, wie der Gebirgsbach, den Wetterfluten unter Donner und Blitz geschwellt haben.

Nein, er ist kein Dahlen! Er hohnlacht über Memmen, die ihre stolzen Nacken unter einen Pantoffel ducken! Er fragt nicht danach, ob sein Gegner im Stahlkleid oder im Weiberrock vor ihm steht, er packt ihn und schlägt ihn zu Boden! Welch ein kluger Mann würgt Löwe und Tiger und beugt vor der Schlange das Knie?!

Horch, wie die Stimme drinnen singt und klingt! Eine Lurlei will den arglosen Knaben bethören, dass er auf sie schaut und hört und nicht das Opfer sieht, welches der Abgrund zu ihren Füssen verschlungen! Täusche dich nicht, Verruchte! Die nächste Minute soll’s zeigen, ob du schuldig bist, und ist’s der Fall, dann schlag das Schuldbuch auf, der Bruder des Gemordeten rechnet ab mit dir!

Die Thür, welche nach dem Flur hinausführt, öffnet sich. „Ist es Ihnen jetzt gefällig, mir zu folgen?“ flüstert Parlow.

„Ich bin bereit! Verbindlichsten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit.“ Und Buchfeld legt die Hand auf die Klinke, welche die Thür nach dem Wohnzimmer öffnet.

Der Adjutant macht eine jähe Geste. „Bitte, von dem Flur aus einzutreten!“ ruft er leise und hastig. Die weissen Zähne des Kameraden blitzten ihm wunderlich zu, da er das Haupt zum Gegengruss neigt — er hat ihn wohl nicht verstanden — seine hohe Gestalt verschwindet lautlos hinter der grünen Wollportiere.

„Fatal, die Gräfin erwartet ihn von der anderen Seite!“ denkt Parlow. „Je nun, es ist nicht mehr zu ändern!“ Und er schritt hastig über die Schwelle, die Allmächtige des Hofes voll ritterlicher Aufmerksamkeit an der Treppe zu erwarten.

Aurel aber war ohne das mindeste Geräusch in das Zimmer getreten, darinnen ihn Gräfin Vare erwartete. Sie stand von ihm abgewandt und schaute nach der Flurthür, sie hörte es nicht, dass Buchfeld eingetreten. Das war’s zum ersten, was er gewollt und bezweckt hatte: einen Blick in das Antlitz dieser Frau, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Er stand und sah sie an. Eine zierliche, mittelgrosse, schlanke Gestalt stützte sich mit kleinen Händen auf einen Sessel; bedurfte sie des Halts für den nächsten Augenblick? Nein, ihre Finger ruhen leicht auf einem Sessel und thuen es nur der anmutigen Stellung wegen. Ein Trauergewand wallt in langen, weichen Falten an ihr nieder und liegt wie ein dunkler Schatten weit über dem Teppich, Kreppschleier umhüllen Hinterhaupt, Nacken und Schultern, und das schwarze Samtdiadem, welches sie auf dem Haupt zusammenhält, gibt der ganzen Erscheinung etwas Majestätisches. Ein feines, bleiches Profil wendet sich dem Beschauer zu. Es scheint kein schönes, aber eigenartiges Angesicht zu sein, welchem es zugehört. Die Augen sind starr nach der Thür gerichtet, die schmalen Lippen fest geschlossen. Weiche, beinahe melancholische Ruhe liegt über der graziösen Gestalt, und Aurel zieht die Brauen finster zusammen — sollte er sich getäuscht haben? Sein Blick streift an ihr nieder und glüht auf. Diese Ruhe ist Verstellung! Der Kleidersaum zittert und regt sich ununterbrochen, weil der Fuss nervös hin und her zuckt. Das ist Diplomatenmanier! Das Gesicht aus Marmor — aber in den Fingern, in den Fussspitzen, da pulsiert das Empfinden, welches man gewaltsam zwingen will!

Parlows Schritt klingt auf dem Flur. Sie bebt nicht zusammen, sie neigt nur den Kopf wie eine tauschwere Blüte, und ihre Augen öffnen sich weit, mit feuchtschimmerndem Blick. Aber das Geräusch auf dem Korridor verhallt, und statt seiner rauscht eine Portiere leise, ganz leise hinter Gräfin Vare.

Mechanisch fast wendet sie das Haupt. Aurel steht ihr gegenüber, und sein Antlitz mit den starr blickenden, tief umschatteten Augen, hebt sich geisterhaft bleich von dem dunklen Hintergrund ab.

Ein Aufschrei, leise und kurz, gellt ihm entgegen. Voll zitternden Entsetzens, die Hände abwehrend erhoben wie in eisigem Grauen, taumelt die Gemahlin des Legationsrats zurück. „Ortwin!“ ringt sich’s von ihren Lippen, und mit aschfahlem Angesicht klammert sie sich an den Schreibtisch, als wolle sie in die Knie zusammenbrechen. Weit aufgerissen haften ihre Augen auf der gespenstischen Erscheinung, und sie wiederholt noch einmal wie im Aufstöhnen voll Todesangst: „Ortwin!“

Da flackert es in Buchfelds Augen auf wie ein wilder, grausamer Triumph; seine Hand ballt sich über dem Herzen. „Gefunden!“ frohlockt es in seinem Innern, „so kann ein gut Gewissen nicht erschrecken! So zeichnet nur die Schuld das Antlitz ihrer Opfer!“

Langsam tritt er näher, sich tief, sehr tief vor der Gönnerin seines Bruders zu verneigen. „Vergebung gnädigste Gräfin, wenn Sie mein Eintreten überrascht hat — ich glaubte mich von Herrn von Parlow angemeldet.“

Seine Stimme klingt ruhig, tief und kalt.

Die junge Witwe muss eine unglaubliche Selbstbeherrschung besitzen; schon bei dem ersten Laut seiner Worte richtet sie sich hochatmend, jählings empor. Wie fortgehaucht ist der Ausdruck bebender Furcht in ihren Zügen, sie presst nur die beiden Hände gegen die Brust und antwortet mit der weichen, wehmutsvollen Grazie, wie sie zuvor über ihrer Erscheinung geschwebt: „Gott im Himmel, wie gleichen Sie Ihrem Bruder, Herr von Buchfeld!“

„Wir glichen uns, ohne uns je ähnlich gesehen zu haben!“ entgegnet er düster. „Gnädigste Gräfin werden das am besten beurteilen können, denn, wie ich hörte, hat mein unglücklicher Bruder viel und gern in Ihrem so gastlichen Hause verkehrt!“

Er spricht monoton, weder in seinem Wesen noch in seinem Blick liegt etwas Verbindliches; steif und finster steht er ihr gegenüber.

Sie reicht ihm herzlich beide Hände entgegen, aber sie lässt dabei die Wimpern tief über die Augen sinken und sieht ihn nicht an. Ihre Stimme klingt wieder unsicherer.

„Ja, der arme, unglückliche junge Mann!“ haucht sie, „wer hätte ihn wohl besser gekannt als ich, die ihn voll mütterlicher Freundschaft, dem guten General zuliebe, in meinem Hause aufnahm, wie ein eignes Kind! Ich habe schon viel Schweres im Leben durchlitten, Herr von Buchfeld, aber die Qual jenes Augenblickes, da mir das furchtbare Ende meines armen, armen Dahlens gemeldet wurde, die übersteigt alles Vergangene!“ — Sie spricht wohl die Wahrheit, ein Frösteln geht durch ihre Glieder, und wie sie beinahe gewaltsam die Augen aufreisst, Aurel anzusehen, tritt abermals der Ausdruck des Grauens in ihre farblosen Züge.

Der Premierleutnant verneigt sich abermals, sein umschatteter Blick haftet regungslos in dem ihren, und es deucht ihm, als gehe ihr solches Anschauen durch Mark und Bein. Da er schweigt, fährt sie voll nervöser Erregung fort: „Vergeben Sie es meiner Aufregung und meinem Schmerz, wenn ich Sie belästige und Sie mit Fragen quäle, Herr von Buchfeld, welche Ihnen vielleicht indiskret erscheinen! Wenn Sie aber wüssten, wie nah Ihr lieber Bruder, dieses junge, harmlose Kind, mir in der Zeit unseres regen Verkehrs getreten, so würden Sie meine Teilnahme begreifen! Nehmen Sie Platz! Lassen Sie mich von allem sprechen, was mein Herz so überhoch erfüllt — und glauben Sie mir, dass Sie die treueste und aufrichtigste Freundin des Verewigten vor sich sehen!“ — Sie reicht ihm abermals, wie mit einem gewaltsamen Ruck die Rechte entgegen und zieht sie schnell, zusammenzuckend, wieder zurück. Was für eine entsetzliche Art und Weise hat dieser Mann, die Hand zu geben! Er führt die ihre nicht galant an die Lippen, er umfasst sie kaum, kalt, leblos; ohne die seine im mindesten Druck zu schliessen, berührt er knapp die schlanke, sonst so devot respektierte und gefeierte Hand der Gräfin. Er murmelt etwas Unverständliches und setzt sich in Entfernung ihr gegenüber an den Tisch. Sein Blick scheint sie zu bannen, der ihre kehrt immer wieder zu ihm zurück, obwohl solch ein Anschauen die Legationsrätin so nervös macht, dass rote Flecken der Erregung auf ihre Wangen treten. Sie will ihn nicht ansehen, aber es liegt etwas Magisches in diesen geisterhaft dunklen Augen — in dem ganzen Angesicht, welches sie durch seine unheimliche Ähnlichkeit mit dem Bruder entsetzt.

Sie atmet schwer, die Jetperlen glimmern und blitzen auf ihrer Brust. „Hat Ihnen mein armer junger Freund denn nie von mir geschrieben, Herr von Buchfeld, dass Sie mein Kommen begreiflich finden?“ haucht sie, das schwarzgeränderte Taschentuch gegen die Lippen pressend, aber ihr Gesicht erhält einen Ausdruck hoher Spannung, und durch die langen, dunklen Wimpern schillert es lauernd zu ihm herüber.

„Nein, gnädigste Gräfin! Ortwin kannte mich als einen ausgesprochenen Feind aller Geselligkeit und alles Verkehrs, er hat mich infolgedessen nie mit Themen unterhalten, welche mir seine Briefe verleidet haben würden!“

Das war sehr unhöflich gesagt, aber es passte so ganz und gar zu diesem steinernen Gesicht, dass die Gräfin, die so unglaublich verwöhnte Allmächtige des Hofes, sehr interessant aufhorchte. Ein schnelles, feines Lächeln ging um ihre Lippen, es sollte wohl wie Wehmut aussehen.

„So hat er Ihnen über sein Thun und Handeln wohl nur in militärischer Beziehung Mitteilung gemacht?“

Aurel antwortete abermals durch eine zustimmende Neigung des Hauptes.

„Glauben Sie — oder wissen Sie vielleicht, ob Ihr Bruder ausser Ihnen noch einen sehr vertrauten Freund besass?“ — Ihre Finger spielten lässig mit dem Taschentuch, aber sie zitterten dabei.

Er hob jäh das Haupt. „Nein! Warum diese Frage?“ Langsam schlug sie die Augen auf und verschlang die Hände wie in grossem Schmerz. „Weil ich hoffe, durch Sie — oder einen nahestehenden Kameraden Aufschluss über das furchtbare, unbegreifliche Ende meines armen Schützlings zu erhalten!“ rief sie voll Leidenschaft. „Sie glauben gar nicht, wie es mich kränkt und schmerzt, dass ein Freund, wie Ortwin, dem ich in mütterlicher Liebe so nahe stand, dass er mir rückhaltslos alles und jedes anvertraute, was sein Herz und seinen Sinn bewegte, dass der für ewig von mir scheiden konnte, ohne eine Zeile — ein Lebewohl zu senden, welches seine grauenvolle That motiviert!“

Aurel hatte sich erhoben; er stand regungslos und schaute auf das eigenartige, gefährliche Weib hernieder. Er war nicht Herr seiner Gefühle, er wusste nicht, was sich in seinem Auge spiegelte, er sah nur, dass die Schlange, welche den Liebling ins Herz gestochen, sich unter seinem Blicke wand.

„Haben Sie, die Fremde, schon ein Recht über solch ein Scheiden zu klagen, was soll ich erst thun, ich, der nie etwas Lieberes gekannt auf der Welt, als wie diesen Bruder, und der ihn auch für ewig von sich lassen musste, ohne eine Silbe zu erfahren, was dieses Kind an Herz und Seele in den Tod getrieben?!“

„Er hat Ihnen nichts hinterlassen ... keine Papiere, keine Eingeständnisse ... kein .. kein Tagebuch oder Aufzeichnungen?!“ Man hörte das Herz der Fragerin durch ihre Stimme klopfen, ihr Auge hing voll verzehrender Angst an den Lippen des Gegenüberstehenden.

Der Premierleutnant schüttelte das Haupt. Ein seltsames Zucken ging um seine Lippen und gab dem Gesicht etwas Grausames, Hartes. „Nichts; es liegt ein tiefes, unheimliches Dunkel über der unseligen Veranlassung, welche ihm die Pistole in die Hand gezwungen. Den Freunden und Kameraden meines Bruders ist sein jähes Ende ebenso unbegreiflich wie mir, und da der Grund und die Ursache seiner Handlungsweise weder auf dienstlichem noch pekuniärem Boden zu finden ist, so kann man sie wohl einzig auf dem der Geselligkeit suchen! Ortwin war ein fast täglicher Gast in Ihrem Hause, Frau Gräfin! Wäre es nicht viel natürlicher. Sie stünden jetzt vor mir, nicht um zu fragen, sondern um des Rätsels Lösung zu bringen?“ Er trat ihr einen Schritt näher und neigte sich mit fascinierendem Blick dicht über sie. „Sollten Sie in der That keine — gar keine Mutmassung hegen, wahr und wahrhaftig ahnungslos sein? Denken Sie nach, überschauen Sie im Geist die Stunden, welche der Entschlafene unter Ihrem Dach verlebt, die Gespräche, welche er mit Ihnen geführt, die Geheimnisse seines Herzens, welche er Ihnen anvertraut! — Finden Sie nicht das Samenkorn, aus welchem solch blutige Saat aufspross? Drüben im einsamen Zimmer, nur durch wenig Wände von uns getrennt, liegt der Gemordete und klagt mit schwerer Todeswunde jene Hand an, welche ihn auf solch dunklen Pfad der Verzweiflung gestossen! Es ist mir ein furchtbarer Gedanke, dass diese Hand eine unwürdige, beschmutzte gewesen, und ich würde Gott auf den Knien danken, wenn Ortwin nicht als schlechter, ehrloser Mann in den Tod ging, sondern als ein ritterlicher Sohn seiner Ahnen, — aus unglücklicher Liebe, um eines Weibes willen!“

Gräfin Vare lag bleich und regungslos, das Haupt zurückgelehnt, in dem Sessel. Ihre Augen starrten voll Grauen in das Gesicht, welches sich wie Ortwins Geist näher und näher, gleich einem erdrückenden Alp, auf sie herab neigte. Sie wollte nicht sehen, aber sie musste es! Ihre Zähne schlugen aufeinander, sie rang in verzweifeltem Kampfe gegen ihr thörichtes, furchtsames Herz. Und da die leise flüsternde Stimme endlich schwieg, riss sie sich gewaltsam empor, fasste den grünen Lampenschirm und hob ihn mit zitternden Fingern von der Kuppel. War es sein gespenstisches Licht, welches solch livide Leichenfarbe über den Sprecher goss?

Sie atmete schwer auf. Gottlob, die grelle Flamme zeigte ihr nur fremde, vergrämte und verbitterte Züge und verwischte die Ähnlichkeit mit dem Erschossenen; die Gestalt vor ihr war kein entsetzlicher Schemen mehr, sie war ein Mensch von Fleisch und Bein, ein Mensch, dessen Blick nur sah, was vor Augen war, ein armseliger, schwacher Mensch, der keine Rätsel mehr lösen kann, wenn sie mit einem Toten in das Grab gesunken.

Sie stand hoch aufgerichtet, urplötzlich ganz und gar verändert, vor dem Bruder Dahlens. Ein wunderlicher Ausdruck lag in den graugrün flimmernden Augen, der Blick einer Wildkatze, die ihren Hals noch rechtzeitig aus der gestellten Schlinge zieht. Aber ihre Stimme klang ebenso weich und sympathisch wie zuvor, als sie voll milden Vorwurfs das Haupt schüttelte: „Sie hielten Ihre Worte ganz allgemein, Herr von Buchfeld, und dennoch richteten sich dieselben in schwerer Herausforderung einzig wider mich! Haben Ihnen ein paar skandalsüchtige Zungen vielleicht erzählt, Ihr unglücklicher Bruder habe eine hoffnungslose Neigung zu mir gehegt? Die Welt ist so schnell bereit, ein Verhältnis der idealsten Freundschaft in den Schmutz herabzuziehen! Ich weiss, dass eine nur mündliche Versicherung meinerseits Sie niemals überzeugen würde, und da es eine wunderbare Thatsache ist, dass ganz junge Männer gern für reife Frauen schwärmen, und auch ich, trotz meines bald grauen Haares noch viele Verehrer unter den Sekondeleutnants besitze, so habe ich gewissermassen Ihre Anklage erwartet, Herr von Buchfeld. Darum brachte ich eine Waffe mit, dieselbe auf das einfachste und sicherste zu widerlegen!“

Die Sprecherin zog ein Billet aus der Tasche und öffnete es. Eine Falte senkte sich zwischen ihre feinen Augenbrauen, ein fast schmerzliches Beben ging um den Mund.

„Ich würde niemals an einem teuren Toten eine solche Indiskretion begehen, Herr von Buchfeld, wenn ich nicht dazu gezwungen wäre. Es ist mir ein unerträglicher Gedanke, von dem Bruder meines jungen Freundes, der mir lieb geworden wie ein Sohn, mit Misstrauen behandelt, womöglich gar als die sündige Ursache seiner entsetzlichen That angesehen zu werden. Lesen Sie!

Auf das Höchste überrascht, starrte Aurel sie an. Sie hielt die Wimpern gesenkt, und ihr Busen atmete so erregt, als unterdrücke er ein Aufschluchzen tief gekränkten Ehrgefühls. Sollte er sich dennoch geirrt haben? Sollte diese Frau ...? Er griff nach dem elfenbeinfarbenen Briefblatt, dem wohlbekannten, mit Krone und Namenszug Ortwins, von welchem ihm die runden, vollen Schriftzüge des Lieblings entgegen schauten. Er drückte die kalte Hand gegen die Stirn und las: „Liebe, teuerste Freundin! Ich flehe Sie an, mir bis heute abend auszumachen, was Komtesse Anneliese, der reizende Gegenstand meiner Othello-Eifersucht, für eine Toilette tragen wird! Meine Blüten sollen sich derselben ganz harmonisch anschliessen — denn Sie wissen, allergnädigste Herrin, dass zu einer Ehe vollste Harmonie gehört! Halten Sie mir Ihren graziösen Daumen, auf dass ich heute abend reüssiere! Ich bedecke dafür beim nächsten Wiedersehen die ganze kleine Hand mit den wenigen Küssen, welche auf ihr Platz haben! Treugehorsamst Ihr eifersuchtsrasender, aber dabei riesig glücklicher Ortwin von Dahlen.“

Da stand es, gross, klar, schwarz auf weiss. Aurel rieb sich die Stirn, wie ein Mondsüchtiger. — Komtesse Anneliese! Ein Frösteln durchschauerte ihn. Er schaute über das schwankende Papier hinweg auf die Legationsrätin. Der schwarze Kreppschleier war über die Schulter gewallt und umrahmte ihr schmales, so eigenartig fesselndes Antlitz, Thränen perlten an den dunklen, tief geneigten Wimpern und rollten langsam, wie blitzender Thau, über die Wangen.

Ein Gefühl unsagbarer Unsicherheit und Betroffenheit trieb ihm das Blut schwindelnd in die Schläfen. Sollte er, der Menschenkenner, sich derart geirrt haben? War das Weib, welches er als schuldig verdammt hatte, gegen welches alle Beweise gesprochen, dennoch eine treue Freundin des Verewigten gewesen? Er stand regungslos und sah sie an. Sein Kopf schmerzte ihn, all seine Gedanken waren wirr und zerfahren, sein ganzes Wesen aus dem Gleichgewicht gerissen. „Wer ist Komtesse Anneliese?“ rang es sich wie ein Aufstöhnen aus seiner Brust.

Da schlug Gräfin Vare die Augen auf. „Die Tochter eines Gutsbesitzers, des Grafen Billstein.“ Sie trat dem Premierleutnant lautlos näher und hob voll imponierender Würde das Haupt. „Sie wissen nun, was Sie erfahren wollten, und Sie werden den Willen eines Toten ehren, welcher allein mich und nicht den weiberfeindlichen Bruder“ — ein eigentümliches Zucken hob momentan ihre Lippen über die Zähne — „zur Mitwisserin seiner zartesten und heiligsten Gefühle gemacht! Und darum bitte ich Sie zur Sühne für Ihren kränkenden Verdacht von vorhin, mich in Ihrem Beisein all meine Briefe, welche sicher die Verehrung Dahlens für Anneliese Billstein in ausführlicher Weise behandeln, vor Ihren Augen dem Schreibtisch des Verewigten entnehmen zu dürfen. Hoffentlich hat er dieselben schon persönlich vernichtet, sollte es aber in der furchtbaren Aufregung der letzten Stunden versäumt sein, so halte ich es für meine heilige Pflicht, ein Geheimnis, welches der Tote gewahrt wissen wollte, vor jedem Auge zu schützen.“

Die Gräfin hatte immer schneller und erregter gesprochen. „Geloben Sie es!“ schloss sie mit einem Blick, welcher befahl, und mit einer Stimme, welche bat. Und dazu reichte sie ihm abermals die Hand.

Wie betäubt verneigte sich Aurel. Ihr Auge blitzte auf, er sah es nicht. „Wollen gnädigste Gräfin mir sofort folgen?“ fragte er mit heiserer Stimme. „Der Schreibtisch Ortwins steht zu Häupten der Totenbahre, ich glaube wohl, dass es Ihnen lieb sein wird, mit einem letzten Blick von dem unglücklichen Freunde Abschied zu nehmen.“

Er bemerkte nicht die Wandlung in ihren Zügen, sie hatte den Schleier schon wieder tief verhüllend über das Antlitz gelegt, aber er fühlte den kurzen krampfhaften Druck ihrer Finger in seiner Rechten. „Nein, Herr von Buchfeld!“ sagte sie voll weicher, unendlicher Traurigkeit. „Lassen Sie mich nicht jenes grauenvolle, blutige Bild sehen, welches mir das Andenken an den Entschlafenen in erschreckender Weise trüben würde! Ich kenne Ortwin nur als ein strahlend glückliches, lachendes, sonniges Wesen, über dessen Stirn kaum ein Schatten zog. Der Gedanke, dass eine Todeswunde ihren furchtbaren Purpur darüber ergoss, hat etwas Unfassliches für mich. Ich begreife es nicht und will es nicht glauben — ich will ihn mir in der Erinnerung erhalten, wie ich ihn kannte, und wie er mir nahe stand, lebend, glückstrahlend und sorgenlos! Ich bitte Sie um ihr Ehrenwort, keinen Brief, welcher mit dieser Schrift adressiert ist“ — die Sprecherin legte einen Papierstreifen auf den Tisch — „zu öffnen und zu lesen, und ich verlasse mich darauf, dass sie als Kavalier dieses Wort halten werden! Nach der Beerdigung werde ich Sie von meinem Kommen benachrichtigen. Bis dahin aber steht Ihnen mein Haus mit aller Gastfreundschaft und mit all dem sorgenden Interesse, welches einst Ihrem armen Bruder gegolten, offen, und ich hoffe, Sie werden Gebrauch davon machen. Auf Wiedersehen, Herr von Buchfeld. — Gott mit Ihnen!“

Abermals ein schneller, kraftvoller Händedruck; sie zog die schlanken Finger hastig wieder zurück, aber ihre Augen leuchteten so geheimnisvoll durch den dichten Schleier zu ihm auf, als ob ein Irrlicht durch die Schatten der Nacht tanzt. „Gott mit Ihnen!“ sagte sie, und es klang auch jetzt wie Glockenläuten. —

Aurel stand allein und presste die Hände gegen die Stirn. Jenes Weib war eine Loreley, die ihn in Wirbel und brausende Flut gerissen! Sein scharfer Verstand und sein Gefühl bäumten sich auf gegen die sichtliche Komödie, welche sie mit ihm spielte, und seine Augen, welche den Brief Ortwins gelesen, straften beide Lügen. Ortwin liebte nicht sie, sondern eine andere. Wer aber bewies es ihm auch schwarz auf weiss, dass es diese Liebe war, welche ihn in den Tod getrieben? Die schlanke Gestalt Buchfelds wuchs hoch empor bei diesem Gedanken, und seine Züge erhielten wieder den Ausdruck harter Entschlossenheit wie zuvor.

„Nein, Gräfin Vare, ich will nicht die Briefe lesen, welche jene verruchten Schriftzüge dort tragen, aber in Augen und Mienen, in Menschenherzen und Menschenthaten will ich des Rätsels Lösung suchen, wer den Bruder in den Tod getrieben, die Liebe — oder das Schlangengift der Falschheit, welches man in sein Kinderherz geträufelt!“

Leise, leise wie ein Echo hallte es ihm durch den Sinn: „Gott mit Ihnen!“ und es war, als liege ein zauberhaftes Etwas in diesem Klang, was für Judith Vare sprach.

Sein Haupt sank düster sinnend zur Brust. Und wäre sie oder wäre jene andere schuldig — wie wollte er an ihnen ein gebrochenes Herz rächen? Kann er ein Weib zum Kampfe fordern, Blut durch Blut zu sühnen? Nein, die Hand, welche fassen und würgen will, ist gebunden!

Er lachte herb auf. „Ungleiche Gegner! Wider Weiberlist und Weiberfalsch muss ich ohne ehrliche Waffen um den Sieg ringen, aber ich wage es, und ich rüste mich, die Schlange durch ihr eigenes Gift zu töten! Bin ich ein Dahlen? Nein! ich schlage zu Boden, was wider mich ist!“ Sein Blick schweifte durch das Zimmer. Dicht vor ihm auf einer Etagere, grell beleuchtet, stand eine kleine Marmorstatue: Laokoon. Er pakt die Schlange voll Verzweiflung mit den Fäusten, aber sie sticht ihn als Siegerin in das Herz. — Abermals ein hartes Auflachen; Aurel wirft das Haupt in den Nacken und geht festen Schritts zur Thür.

In Ungnade - Band I

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