Читать книгу Von Gottes Gnaden - Band II - Nataly von Eschstruth - Страница 4
XIII
ОглавлениеWundersame Nacht! — Es dunkelt so früh, — die Wolken jagen wie phantastische Spukgebilde über den fahlen Himmel, und grell, unvermittelt, wie von Geisterhänden launisch geworfen, zucken blasse Mondstrahlen über die stille Welt, wenn die Dunstmassen sich teilen oder gleich flatternden Schleiern zerreissen.
Der Sturm saust daher, wirbelt welkes Laub auf und treibt es dem einsam schreitenden Mann ins Gesicht; kühl, regenfeucht.
Still ringsum, — totenstill, nur in den Bäumen rauscht und ächzt es, und das Hofthor schmettert ins Schloss.
Von Mensch und Tier kein Laut.
Nur dort naht eine dunkle, schattenhafte Gestalt. Der Schritt verklingt in dem weichen Erdreich, kein Mantel flattert und klatscht im Wind, Wigand verschmäht ihn bei seinem abendlichen Rundgang. Langsam, gedankenvoll schreitet er dahin, ahnungslos, dass auf der Veranda, im Dunkel des Pfeilers eine schlanke Mädchengestalt lehut, welche mit vorgeneigtem Köpfchen auf ihn nieder schaut.
Erika.
Ihr Blick umfasst die Gestalt des jungen Mannes, als schaue sie ihn zum erstenmal. Und just, als wolle er ihr liebevoll helfen, schiebt der Mond sein freundlich Gesicht durch die Wolken und verklärt den einsamen Wandrer mit Silberlicht.
Erika sieht ihn vor sich, in der verspotteten Düffeljoppe, in den mächtigen Stiefeln, welche sie sonst so unschön und lächerlich gefunden.
Heute kam ihr kein ähnlicher Gedanke. Sie hat nur noch das Empfinden, eine hohe, markige Männergestalt zu sehen, so fest und eisern, dass alle Versuchung und alle Anfechtung der Welt sie nicht ins Wanken zu bringen vermögen.
Und dann schaut sie in sein Angesicht.
Das Mondlicht umgibt es mit einem Glorienschein — oder liegt es nur an dem Auge der Lauschenden, dass es ihr deucht, von dem ruhigen, treuen Antlitz gehe ein Strahlen aus, ebenso rein, ebenso makellos hell, wie die Seele, welche hinter dieser Stirn wohnt? —
Er sieht nicht glücklich, nicht heiter aus, im Gegenteil, eine stille Resignation, ein fremder Schmerzenszug liegt in dem sonst so liebenswürdigen Gesicht. Und jetzt hebt er das Haupt und blickt zu ihrem Fenster empor, — bleibt zögernd stehen und wartet, ob nicht vielleicht ihr Schatten an der hellen Scheibe vorüber gleitet.
Und der Mond leuchtet noch heller denn zuvor, und Erika sieht mehr, viel mehr, wie sie eigentlich sehen wollte, sie sieht, wie schwer es Wigand heute geworden ist, sich zum Anwalt ihres Glückes zu machen. —
Ein Windstoss pfeift um das Haus, Wolken jagen verhüllend über den Himmel, und Landen schrickt empor wie aus tiefem Traum und schreitet hastig weiter.
Erika aber wickelt sich fester in ihren Shawl und huscht die Treppe hinab, denselben Weg entlang zu eilen welchen Wigand soeben gekommen.
Sie muss hinaus in die frische, stürmische Nacht, sie muss allein sein mit ihren Gedanken!
Noch nie im Leben hat ihr etwas einen so tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, wie Wigands Fürsprache bei ihrer Mutter.
Noch nie ist sie derart überrascht, beschämt und verwirrt gewesen, als wie in diesem Augenblick. Ihr ruhiges Gleichgewicht hat einen Stoss erhalten, der sie auf völlig neue Bahnen drängt. —
Ein Gefühl tiefer, unaussprechlicher Bewunderung erfüllt sie. Sie bewundert plötzlich einen Mann, den sie ehedem nur in Freundschaft achtete, den sie mehr noch voll Übermut und Engherzigkeit belächelt, weil er zu sparsam und vernünftig war, hier in der Einsamkeit einen thörichten Kleiderluxus zu treiben.
Dass er eine treue, opfermutige Seele war, hatte sie nach des Vaters Tod schon zu ihrer eigenen Beschämung erfahren, dass er aber so edel, so selbstlos sein eigen Wollen und Wünschen unter die Füsse trat, um nur sie glücklich zu machen, das hatte sie nicht erwartet, und das traf sie voll erschütternder Gewalt.
Der Gedanke, von ihm geliebt zu sein, peinigte und quälte sie und erfüllte sie dennoch wieder mit einem Gefühl stolzer Freude, in diesem vortrefflichsten aller Herzen so fest und innig beschlossen zu sein!
Und zwischendurch drängen sich ihr unaufhaltsam stets neue Vergleiche zwischen ihm und Joël auf. All ihre phantastisch verblendete Neigung, welche lediglich auf der Schönheit ihres Ideals basiert, kann es nicht verhindern, dass stets neue Schatten auf das strahlende Bild des „Gottbegnadeten“ fallen.
„Nimmt man ihm seine Schönheit, was bleibt noch liebenswertes an ihm?“
Erika presst die Hände vor die Augen; sie will es nicht sehen. Sie klammert sich an die Illusion, dass er ein hochtalentierter Mann, einer jener nervösen, leidenschaftlich gereizten Musiker ist, wie es nun einmal das Schaffen und Arbeiten dieser beklagenswerten Glücklichen mit sich bringt.
Unliebenswürdig! Welch ein berühmter Musiker ist liebenswürdig, welcher ist geduldig, ruhig, kaltblütig wie andere Sterbliche gewesen? — Keiner.
War es aber auch ein Glück für die betreffende Gattin, ihr ganzes Sein und Wesen unter den Ausbrüchen solcher Feuerseele in ein Nichts zusammenschrumpfen zu sehen?
Warum ist es eine eigenartige Thatsache, dass im seltensten Fall die Ehe eines bedeutenden Musikgenies von Bestand ist? Von wie viel geschiedenen und getrennten Ehen kann unser modernes Kunstleben auf dem Gebiet der Musik erzählen, wie wenig dauerhaftes Glück hat es zu verzeichnen!
Erika fröstelt bei diesem Gedanken.
Joël ist schon jetzt rücksichtslos, gereizt und von nervöser Unliebenswürdigkeit, wie soll das mit den Jahren werden, wenn sein aufreibender Beruf an ihm zehrt, wenn ihn Erfolge noch anspruchsvoller, Misserfolge noch verbitterter und grillenhafter machen?
Und doch, kann nicht auch ein grosser, glänzender Erfolg alles zum besten wenden und eine Krise in seinem Charakter herbeiführen, welche den Missmutigen, so lange Zeit durch den Willen des Vaters Unterdrückten und Gequälten, jählings an Leib und Seele gesunden lässt?
Das junge Mädchen möchte sich gern in die Überzeugung hineinleben, aber stets kommt ihr von neuem der Gedanke, dass Joëls Wesen nicht von momentanen Widerwärtigkeiten beeinflusst, sondern stets von unliebenswürdigen Eigenschaften durchsetzt gewesen ist.
Hat Wigand nicht unvergleichlich mehr des Harten und Traurigen durchgemacht? Ist er, der früh Verwaiste, nicht von Kindesbeinen an ein Stiefkind des Glückes gewesen? Hat er nicht stets von ferne stehen müssen, wenn Joël sich im Vollgenuss des Lebens freute, hat er nicht in saurer Arbeit um seine Existenz ringen müssen, viel schwerer und bitterer, als Joël in den drei Monaten seiner „Verbannung“, wo er die Hände im Schoss, wie ein Prinz gelebt und dennoch ununterbrochen gemurrt und getobt hatte?
Angesichts jenes Kampfes um Sein und Nichtsein, wie Wigand ihn zeitlebens geführt, erscheint das kurze Ringen Joëls wie ein Tropfen gegen Meeresflut. Hat Wigand jemals ein Wort der Erbitterung über sein freudloses Dasein laut werden lassen? — Nein! Er dankte voll kindlicher Frömmigkeit und Demut seinem Hergott tagtäglich, dass er ihn durch seine gesunden Hände so reich gesegnet habe, dass er ihm Kraft und Fähigkeit gegeben, arbeiten zu könenn. Wer hat in Ellerndörp jemals ein unfreundliches Wort von Wigand gehört, wer sah jemals ein mürrisches, unzufriedenes Gesicht an ihm?
Wigand, immer Wigand! Warum drängt sich sein Bild stets von neuem verdunkelnd vor das schöne, ideale Angesicht Eikhoffs?
Früher hat Erika ungeduldig solche Gedanken unterdrückt, heute spinnt sie dieselben weiter und weiter aus, mit einer gewissen Absichtlichkeit, als dränge es sie, wenigstens geheim im Herzen ein Unrecht an Wigand gut zu machen.
Nie hatte die Persönlichkeit des stillen, blonden Mannes so umglänzt von Tugend, so edel und bewundert vor Erikas geistigem Auge gestanden wie heute, und nie hatte Wigand einen so herrlichen Sieg errungen, als jetzt, wo er mit blutendem Herz alles verloren gegeben.
Als Landen das Speisezimmer betrat, fand er trotz der vorgeschrittenen Theestunde Erika allein in demselben anwesend.
Einen Augenblick schien es, als steige zarte Röte in ihre Wangen, als beschleiche sie ein für Wigand unerklärliches Gefühl der Befangenheit. Dann trat sie ihm schnell entgegen und bot ihm die Hand. Auch er stand unter einem fremdartigen Einfluss, und um denselben zu brechen, zwang er sich zu harmlosester Unbefangenheit. „Komme ich zu früh, Cousinchen? Ist Tante noch beschäftigt?“
„Sie schreibt an die Geheimrätin und bittet, du mögest sie noch einen Augenblick entschuldigen.“
„Und das sagst du so gelassen, als sei dir dieser wichtige und frohe Brief ganz gleichgültig?“
Sie lächelte. „Das solltest du eigentlich annehmen, lieber Wigand, denn ich abscheulich undankbare Person habe ja noch kein Wort des Dankes für deine so sehr, sehr freundliche Fürsprache gefunden. Verarge es mir nicht! Es kam alles so plötzlich und unvorbereitet, dass es mich völlig konsternierte!“
„Ich glaubte, Freude und Glück könnten in diesem Falle nicht so überraschend kommen, denn Joëls letzter Brief bereitete genugsam auf die Pläne der Mutter vor!“
Sie schien die letzten Worte zu überhören. „Freude und Glück!“ — wiederholte sie nachdenklich, mit leiser Stimme. — „Wer sagt uns, Wigand, ob der Aufenthalt in der Residenz Glück und Freude für mich bedeutet? Ich bin so fremd in der Welt geworden, und werde scheu und befangen wie ein Kind sein! — Wer weiss, wie man mich in der Gesellschaft aufnimmt, wer weiss, ob ich je eine frohe Stunde in einem Ballsaal erleben werde!“
Wigands Stirn umwölkte sich. „Dir in der Gesellschaft eine passende und erfreuliche Stellung zu schaffen, dürfte doch wohl die erste Sorge der Geheimrätin und die liebste Ritterpflicht Joëls sein!“
Erikas Blick haftete auf dem Teppich und schien das wirre, türkische Muster zu verfolgen. Heisse Glut stieg in ihre Wangen. „Das hoffe ich ja auch von Herzen und vertraue in dieser Beziehung der Liebenswürdigkeit meiner Wirte, dennoch hat schon manche Hoffnung getrogen.“
„Warum plötzlich solch schwarze Gedanken, Cousinchen! Verdirb dir doch nicht die Vorfreude durch diese pessimistischen Befürchtungen! Wenn die Residenz mit all ihren bunten Bildern und schönen Eindrücken erst einmal acht Tage den Reiz der Neuheit auf dich ausgeübt, ist das stille Ellerndörp mit seinen in Schnee vergrabenen Einwohnern vergessen!“
Seine Stimme bebte, obwohl er lachte und im Scherz sprach.
Da blickte Erika jählings zu ihm empor und Landen starrte betroffen in ihr liebliches Antlitz. Ihm deuchte es, ihr Auge habe nie so voll warmer Innigkeit auf ihm geruht, wie in dieser Minute. Sie schüttelte beinahe heftig das Köpfchen. „Glaube es nicht, Wigand! Und böte die Residenz mir das Schönste und Herrlichste, Ellerndörp und seine lieben, treuen Herzen werden mir in all der Pracht fehlen, wie das Quellwasser einem Dürstenden!“
Frau Koltitz trat ein, sie hatte die letzten Worte gehört. „Macht ihr Reisepläne, liebe Kinder, so helft auch mir dabei! Nun, da der Brief mit der Zusage expediert ist, überkommt mich die Sorge, wie Erika, dieses junge, unerfahrene Kind, allein die beschwerliche Reise mit dem öfteren Umsteigen bewerkstelligen soll. Die Geheimrätin schreibt, Joël würde die liebe Gastin gern als Reisemarschall abholen, doch sei er momentan mit den Arbeiten, welche die Vorbereitung seiner Opernpremiere mit sich bringe, derart überhäuft, dass an ein Abkommen gar nicht zu denken sei. — Sie bittet, dass ich die Tochter persönlich bringen möchte, aber du lieber Gott, ich habe zeitlebens nie allein in einer Eisenbahn gesessen, habe von Billetlösen und Gepäckexpedieren gar keine Ahnung, denn mein guter Mann besorgte alles und überliess mich lachend meiner schrecklichen Unselbständigkeit. Da dachte ich, lieber, guter Wigand, ob du vielleicht — ob es nicht möglich wäre ... man könnte es wohl einrichten, dass du ein paar Tage abkömmlich bist —“
„Gewiss, meine teuerste Tante! Ich bin momentan durchaus entbehrlich hier, denn Claasen habe ich so weit herangezogen, dass er ganz gut einmal selbständig sein kann!“
Frau Koltitz streckte ihm aufleuchtenden Blicks beide Hände entgegen. „So wolltest du Erika wahrlich das Opfer bringen, du einzig guter Mensch? O, wie danke ich es dir von ganzem Herzen!“
„Lass mich für das ehrende Vertrauen danken, welches du in mich setzest!“ — Der Sprecher war dunkelrot geworden. „Wenn Erika mit meinen Diensten vorlieb nehmen will —“
Da brach der erste, helle Jubellaut von ihren Lippen.
„O, nun ist alles gut, nun werde ich mich nicht mehr vor der Reise, vor der fremden Stadt und den unbekannten Menschen fürchten! Wenn du bei mir bist, lieber Wigand, werde ich mich so sicher fühlen wie in Abrahams Schoss!“
„Und selbstverständlich bleibst auch du ein paar Wochen in der Residenz, Wigand!“ fuhr Frau Henriette eifrig fort. „Du machst Eikhoffs die Freude, der Premiere beizuwohnen und breitest deine schützenden Hände über mein Kücken, bis sie sich in der neuen Umgebung heimisch und flügge fühlt. Du bedarfst ebensowohl der Zerstreuung, wie Erika, und du weisst doch: — geteilte Freude ist doppelte Freude!“
„Herrliche, herrliche Idee!“ klatschte Erika glückselig in die Hände. „Lieber Wigand, du musst bei mir in der Residenz bleiben. Du darfst mich nicht meinem Schicksal überlassen. Hörst du? Ich bitte dich von ganzem, ganzem Herzen darum. Wenn du willst, dass ich mich in der Fremde wohl fühlen soll, so bleibe bei mir!“
Die Hand des jungen Mannes, welche sich auf die Sessellehne stützte, zitterte und sein Antlitz flammte in heissem Entzücken. Wie tauchte die Sonne des Glücks noch einmal so unerwartet an seinem verdüsterten Lebenshimmel auf!
Er wusste nicht, was er in seiner ersten Erregung sagte, er hatte nur das eine Empfinden, dass er seit dem Tod des Obersten noch nicht wieder so froh und heiter in dem Gutshaus von Ellerndörp gewesen.
Erika war wie ausgewechselt. Eine schier mutwillige Freude überkam sie; Lachen und Scherzen hin und her, die Abendstunden flogen dahin wie im Traum.
Als sie schliesslich das Köpfchen auf die weissen Kissen neigte, die Ruhe zu suchen, ward sie sich bewusst, dass dieselbe bereits in ihr Herz eingezogen war, ehe Schlaf und Traum ihre Stirn geküsst.
Das Bewusstsein, Wigand als Schutz und Schirm in der Nähe zu behalten, hatte etwas Tröstendes und Beruhigendes für sie. So heftig wie ihr Herz bei dem Gedanken an Joël erzitterte, so still und friedlich schlug es, wenn sie an Wigand dachte, gleich einem Kind, welches sich mutig einer Gefahr entgegen wagt, wenn treue und sichere Hand es führt.
Modder Dörten hörte die Nachricht von der Abreise der jungen Herrschaften mit sehr gemischten Gefühlen. Als Erika am andern Morgen mit hochklopfendem Herzen hinabeilte, der getreuen Hüterin des Hauses das hochwichtige Ereignis mitzuteilen, fand sie Frau Hagen zu ihrer Überraschung nicht in den Küchenräumen vor.
Liesing lächelte verschmitzt und neigte sich näher zu dem Ohr der jungen Herrin. „Töven’s ’n beten, gnä’ Frölen, se sitt all wedder bi’n Swin un flennt em wat vor!“
„Beim Schwein sitzt sie?“ entsetzte sich Erika, „in dem Schweinestall?“
„Nee, am Morgen lätt se de Säu all rut! Kieken Se in lütten Gaarden, da wart’ se ihr Söting!!“ — Und diesen Scherz herzhaft belachend, nahm die Sprecherin unter jeden Arm ein Brett mit backfertigem Brod und steuerte energisch nach dem Backhaus hinüber
Erika aber wandte sich dem kleinen Garten zu, woselbst sie Modder Dörten finden sollte.
Schon von fern hörte sie ein seltsames Gemisch von menschlichen Zärtlichkeitslauten und einem mächtigen, hochbehaglichen Grunzen, wie es gewöhnlich nur aus dem Kofen tönt.
Behutsam lugte das junge Mädchen um die Ecke der Gartenmauer, von wo aus das entlaubte Fliedergebüsch freien Ausblick auf den kleinen Rasenplatz hinter dem Wirtschaftsgebäude gewährte.
Ein überraschendes Bild zeigte sich.
In dem matten Schein der Spätherbstsonne auf der weissbereiften Erde rollte sich ein riesiges, überfettes Schwein auf dem Rücken, in wohligem Behagen mit den vier kurzen Stummelbeinen um sich schlagend und laut aufquiekend und grunzend, wenn Frau Dörten ihm kitzelnd an den Hals fuhr. Die alte Frau kniete neben dem lieben Borstentier, in höchster Lustbarkeit mit spitzem Finger die Sau in den Hals piekend, unter jedesmalig neckender Wiederholung: „Un’ da makt he piek! — und da makt he piek! — piek — piek!“ — was die alte Moke jedesmal als unbändigen Witz mit lautem Quieken anerkannte.
Modder Hagen war aber gar nicht so ausgelassen, wie es auf den ersten Blick schien. Während all ihrer Heiterkeit liefen grosse, dicke Thränen haltlos über ihre Wangen, welche sie jedesmal vorher abwischte, ehe sie „piek, piek“ machte.
Einen Augenblick stand Erika in starrem Staunen, umsonst nach einem tiefen Sinn in diesem kindlichen Spiel zu suchen.
Endlich trat sie vor, schlug die Hände zusammen und rief: „Um alles in der Welt, Muting, was soll denn das bedeuten?!“
Die Alte wandte ihr wehmütig das thränenfeuchte Gesicht zu und wischte mit dem Handrücken unter der Nase her. — „Ach dau leive Good!“ seufzte sie zum Herzbrechen, „wenn man dat Veih erst so schick hat, un’ hät’s so wiet, un wenn’s dann an’t slachten geiht ... ach dau leive Good!“ — Der Schürzenzipfel fuhr unter erneutem Jammer über die Augen.
„Jetzt soll schon geschlachtet werden?“
„Nee, in nächste Tid noch nicht — äwerst — bal achtern Fest ... un de arm’ leive Sau ahnt sik all gar nich, wat ’r passirn sull, und dorüm will ik ihr bi lütten an’s Slachten gewöhn’!“
Erika biss sich auf die Lippen, um ihre Heiterkeit zu bemeistern. „An das Schlachten wollen Sie das Schwein gewöhnen?! Aha, jetzt verstehe ich! ‚Un dann makt he piek —“ das bedeutet den Fleischer!“
„Jo, jo, so is!“ nickte Fru Hagen melancholisch. „Wenn de Slachter dann bigaht un’ ihr sticht, glövt de arm Mokking, et is ok’n Snaak! On merkt’ nich so!“
„Ja, das ist sehr gut, das wird sie völlig darüber hinweg täuschen, wenn sie sich einbildet, es sei alles nur ein Scherz! Aber hör, Modder Dörten, ich komme mit einer Neuigkeit!“
„Wat Tausend?!“
„Vetter Wigand und ich fahren für ein paar Wochen in die Residenz!“
Die Alte schnellte empor und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „As Brutlüt??!“
Erika schrak jählings zusammen. Unbemerkt war Wigand um das Haus gekommen und stand hinter ihr.
Beide starrten sich einen Moment an und wurden blutrot.
Landen fasste sich zuerst und trat gelassen näher. „Ich begleite das gnädige Fräulein, damit ihr unterwegs nichts zustossen kann. In der Residenz aber soll sie tanzen und lachen und scherzen, vergnügt und lustig sich amüsieren, wie es ihren Jahren zukommt. Wenn sich Fräulein Erika dann den Herrlichsten von allen unter den Herren der Residenz ausgesucht hat, bringt sie ihn heim zu uns, und wir feiern Hochzeit in Ellerndörp!“ — Er sprach ruhig die letzten Worte, sogar scherzend, und dennoch klang seine Stimme anders wie sonst.
Modder Dörten aber zog ingrimmig die Brauen zusammen. „So möt kummen! — Setten Se uns’ Frölen den infamigten Daugenixen nur so recht vör de Näs — dat sik so’n Windhund, wie’n gewissen Jemand ut de Residenz for ganz und gar hier indrängt! Allzu gaud is dömlich, Herr Baron ... äwerst — ik will nichts seggt heven!“
Und damit riss die Alte die noch immer in ausgelassener Munterkeit spielende Sau unsanft am Schwanz, ihrer Freiheit ein energisches Ende zu bereiten, kniff empört die Lippen zusammen und zerrte den vierfüssigen Liebling so eilig nach dem Stall, als fürchte sie, ein gehasster Stadtherr könne auch nach Mokking seine begehrlichen Hände ausstrecken.
„Aber, Dörten, seien Sie doch nicht so wunderlich!“ Fru Hagen schüttelte den Kopf, dass die weisse Nüschenhaube wirbelte. „Nee, — bin ich ok nich, äwerst ihr, Kinnings, ihr ...“ sie presste abermals trotzig den Mund zusammen und stemmte sich gegen die widerspenstige Bache, dass sie kirschrot wurde, „man tau, oll Swin, suss sollst zur Straf bi’n Frölen sine Stadtherrnhochtid upfreten waren!“
Diese Drohung war so entsetzlich, dass Mokking sein Ringelschwänzchen angstvoll beilegte und sich, laut aufgrunzend, durch die enge Stallthür klemmte, Modder Hagen verschwand nebenan, und Erika und Wigand machten kurzer Hand Kehrt und eilten in entgegengesetzter Richtung davon.
Sie kamen sich beide recht kläglich vor, denn Mutter Hagens Zorn war ein gerechter.
Erika schoss es plötzlich selber durch den Sinn: „Warum willst du eigentlich fort? Ist es nicht blamabel, sich den Stadtherren wie ein zierlich serviertes Schaugericht vor die Nase setzen zu lassen? Sie ging ja nur um eines einzigen willen, und dieser konnte den Weg zu ihr just so gut finden, wie sie zu ihm.“ — Das war ein ärgerliches Empfinden, und wenn es ja auch neben der Freude und Aufregung nicht lange Bestand hatte, so hinterliess es doch ein Samenkörnlein, welches in ihrem Herzen Wurzel schlug. —
Wigand erging es kaum besser. Er durchmass mit Riesenschritten das bereifte Ackerland. Eigentlich wollte er nach der Wintersaat ausschauen, aber er hatte weder Augen noch Gedanken dafür.
Vor seinen Ohren klang noch immer Fru Hagens zürnende Stimme: „Allzu gaud is dömlich.“
Es lag eine gewisse Wahrheit darin. Wer dem Gegner ohne jeden Widerstand sofort das Feld räumt, der ist ein Feigling, und wer nicht in ehrlichem Kampf seines eignen Vorteils gedenken will, der ist dumm.
Und beides widerstrebt ihm. Verlangt es die Liebe und Treue wahrlich, sich selber wie ein Opfertier geduldig dem fremden Stahl zu neigen?
Nein, es gibt genug ritterliche und ehrliche Waffen, um für sich selbst zu kämpfen.
Er legt Joël kein Hindernis in den Weg, er verschmäht es, durch List oder Intrigue sein Bild aus Erikas Herzen zu drängen, aber er weicht auch nicht vor ihm: er stellt sich zuversichtlich an seine Seite. — Ist es ein Unrecht, dass er sich nun auch einmal bemühen wird, sich der Geliebten in vorteilhaftem Licht zu zeigen, er, welcher bisher stets bescheiden im Schatten stand? Nein!
Er hat ja lange genug in der Welt, in dem eleganten Haus- und Gesellschaftskreis der Geheimrätin verkehrt, es wird ihm nicht schwer werden, den ungewandten langweiligen Landmann abzustreifen, um im Salon neben Joël zu bestehen. Kleider machen Leute, und seine kleinen Ersparnisse ermöglichen es ihm, sich für die paar Wochen seines Aufenthaltes in der Stadt angemessen zu equipieren.
Wigand errötet beinahe bei diesem Gedanken. Es kommt ihm so unwürdig vor, einer Äusserlichkeit irgend einen Erfolg zu verdanken, und dennoch, die Welt verlangt es, und gegen andere unvorteilhaft abstechen, kann auch eine unwürdige Stellung veranlassen.
Landen hat sich ja früher auch gut gekleidet, ohne irgend welchen Luxus zu treiben, und wenn er in der Einsamkeit des Landlebens, in Feld und Wiese, bei Sturm und Regen die elegante Façon eines städtischen Kleiderkünstlers sparte, so war es nur natürlich und vernünftig.
Er würde sich jetzt im Hause der Geheimrätin auch dann besser gekleidet haben, wenn Erika nicht zugegen wäre, lediglich, weil es der Takt erfordert, nicht um durch solch kleinliche Mittel auf das junge Mädchen zu wirken.
Wird es Erika überhaupt bemerken?
Ja, er glaubt es, denn er kennt ihren ausgesprochenen Schönheitssinn und weiss, wie just die schöne Aussenseite Joëls ihr naives Herzchen entzückt hat!
Allzu gaud is dömlich!
Mutter Hagen hat recht. Er will auch fernerhin gut sein, aber nicht mehr allzugut.
Er will sich um anderer willen nicht ganz und gar vergessen, sondern sich offen und ehrlich an dem Wettstreit beteiligen, anstatt voll mutloser Bescheidenheit den Sieg verloren geben, ehe er einen Kampf gewagt.
Die nächsten Minuten brachten ihm andere Gedanken. Er entdeckte interessante Wildfährten und wurde von ein paar Knechten angesprochen, welche den Versuch machten, einem neuen Terrain, welches bisher brach gelegen, Torf abzugewinnen.
Das Resultat war kein günstiges und Wigand zerbrach sich den Kopf, wie dieses Land wohl auszunützen sei. In der landwirtschaftlichen Schule der Residenz sollten in nächster Zeit Vorträge über Moorkultur, das Urbarmachen und Kultivieren des Landes gehalten werden, wie gut lässt sich sein angenehmer Aufenthalt in der Residenz mit solch nützlichem Studium verbinden!
Mutter Dörten und ihr weiser Urteilsspruch wurden momentan aus seinen Gedanken verdrängt, ohne jedoch darin gelöscht zu werden. Auch hier glich er einem Samenkorn, welches seinerzeit reiche Frucht tragen wird. —
In freudiger Hast und Erregung flogen die nächsten Tage dahin.
Ein Besprechen, Beraten und gegenseitiges Hilfeleisten führten Mutter und Tochter Koltitz in dieser kurzen Zeit mehr und inniger mit Wigand zusammen, wie in der langen, trostlosen Zeit seit dem Tode des Obersten.
Obwohl die ersten Schneestürme über die Heide brausten und Ellerndörps Dorfgasse sich einzupuppen und einzuspinnen begann, wie die Raupe für einen langen Winterschlaf, lachte dennoch hinter den Mauern des Gutshauses das sonnigste Leben, so froh und hoffnungsvoll wie nie vorher.
Wigands natürliche und aufrichtige Liebenswürdigkeit feierte manch heimlichen Sieg und manch heimliche Bitte stieg aus dem Herzen der Mutter zu Gott empor, wenn sie an die Heimkehr ihrer lieben Wandervögel dachte.
Was in dem stillen Frieden der Einsamkeit zu phlegmatisch und blind neben einander hergeht, ohne die notwendige Anregung aufzublicken und zu erkennen, das rüttelt oft das stürmische Leben und Treiben der Welt aus dem Schlafe, und was hier täglich sich fern gegenüber steht, ohne sich zu erreichen, das treibt die Hochflut da draussen einander in die Arme. Vielleicht, — vielleicht reisst sie es auch für ewige Zeiten auseinander. —
Endlich waren die Koffer gepackt.
Hochklopfenden Herzens drückte Erika das weiche Filzhütchen auf den zierlichen Kopf und liess sich von Mütterchen den warmen Reisepelz um die Schultern legen, dieweil Modder Dörten, trotzdem sie unversöhnlich schmollte, eine mächtige Tasche voll Reiseproviant herzuschleppte.
Ali watschelte schnuppernd neben ihr her und selbst Erikas zärtlichster Abschied von diesem Adoptivsohn des Hauses Hagen konnte keine weichere Stimmung in der pikierten Pflegemutter hervorrufen.
„Wenn de leive Good de Harten to lütt schaffen hätt, sorgt he wul förn doppelt groten Magen!“ bemerkte sie anzüglich und Erika flog ihr laut lachend um den Hals und versicherte: „Wat bist förn narrschen Bullerballer, Olling! Kiek nur Dag for Dag nach’n Weg ut! Wenn ik mit’n Utlänner as Schatz antaufahren kumm’, sost schon min grotet Hart kennen lern’!“
Wie reizend stand ihr dieser Übermut! — Die Wangen lachten wie Rosen unter dem zarten Schleier und die Augen blitzten, als wären zwei helle Sternlein vom Himmel gefallen.
Wigands Blick umfing das reizende Bild voll Entzücken und das Gefühl, sich für ein paar Stunden ganz und gar nur ihrem Dienst weihen zu dürfen, hatte etwas Stolzes und Erhebendes.
Das stand ihm gut!
Modder Dörten lachte das Herz unter Thränen, als die ritterliche Gestalt des jungen Mannes neben Erika erschien, als er sie mit einem so strahlenden Lächeln in den Wagen hob, als entführe er sie für sich selber zum Eigentum, nicht aber einem andern in die Arme.
Lange standen die Ellerndörper und schauten dem Wagen nach, bis er fern am Saum der Heide verschwand.
Schnee wirbelte nieder und das Gutshaus lag so still und einsam, als könne nie wieder ein Frühlingstag voll Licht, Lust und Leben darin anbrechen!