Читать книгу Von Gottes Gnaden - Band II - Nataly von Eschstruth - Страница 5

XIV.

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Frau Geheimrätin Eikhoff empfing Erika persönlich an der Bahn und war ganz entzückt von Wigands scharmanter Idee, der Premiere der Dorflurle beiwohnen und Joëls Triumphe schauen zu wollen. Sie reichte ihm in ihrer etwas kokett graziösen Weise beide Hände entgegen und wandte sich dann abermals zu Erika, das junge Mädchen nach einem schnellen, scharf musternden Blick zum zweitenmal in die Arme zu schliessen.

„Tausendmal willkommen, meine kleine Heideblume! Ich freue mich unbeschreiblich, den guten Engel von Ellerndörp endlich mit Augen zu schauen! Und wie allerliebst hat sich die kleine Schelmin zurecht gemacht. Ganz chic und d’après la dernière mode! Man glaubt ja gar nicht, dass man Besuch vom Lande empfängt! — dabei frisch und rosig wie eine Maienknospe!! Bei einer solch jugendlichen Tochter wird es wahrlich sehr glaubhaft erscheinen, wenn ich alte Frau sie der Welt als Töchterchen zuführe!“

„Wie schmeichelhaft würde dies für mich sein, gnädigste Tante, und wie schön, könnte die Welt recht viele Ähnlichkeit zwischen mir und dieser schwesterlichen Pflegemama entdecken!“

Frau Elly kniff momentan die Augen zusammen.

„Nun höre ein Mensch, wie allerliebst das Heideröschen Elogen zu sagen versteht!“ — Wieder zog sie die Kleine sehr huldvoll an sich, wandte sich dann in lebhafter Weise an den elegant galonierten Diener zurück und erteilte ihm ihre Befehle in einer Weise, welche das vorüber wogende Publikum unwillkürlich auf die schöne Frau aufmerksam machen musste.

Wigand erkannte sie kaum wieder.

Die Geheimrätin hatte sich auffallend verändert. Ihr ehemaliges Phlegma war einer muntern, beinahe allzu jugendlichen Lebhaftigkeit gewichen und ihre Vorliebe für sentimentale schwarze Spitzen und geheimnisvoll verhüllende Schleier hatte einem völlig entgegengesetzten Geschmack Platz gemacht. Sie trauerte nicht mehr. Ein zartes, crêmefarbenes Capothütchen, von Marabus umrahmt, mit Metallstickerei in Kupfer effektvoll geschmückt, gab den dunklen Stirnlöckchen eine reizende Folie und hielt den duftigen Gazeschleier, welcher das Antlitz umspannte.

Ein kupferfarbenes Sammetkostüm zeigte gelblichen Pelzbesatz, hochmodern gearbeitet und bis auf das seidene Futter herab kostbar und elegant. Als sie in den Wagen stieg, verrieten sich ein gleichfarbiger Atlasunterrock und die passenden seidenen Strümpfe.

Ein Hauch von Veilchenduft umwehte die elegante Frauengestalt und Erika konnte sich dem eigenartig bestrickenden Zauber, welcher von ihr ausging, nicht verschliessen.

„Selbstverständlich wohnst du bei uns im Hause, Wigand, dearest boy!“ — atmete sie auf, als sie sich neben Erika behaglich in die Wagenpolster zurücklegte, gleichzeitig aber schnellte sie wieder empor und klopfte noch einmal ungeduldig an das Wagenfenster.

„Das Gepäck soll per Droschke nachkommen, Heinrich! — Jetzt ist keine Zeit zum warten! James! — James!!“

Der Kutscher bog sich nach dem Fenster vor.

„Befehl, gnädige Frau!“ —

„Zufahren, was die Riemen halten! — In der Leipzigerstrasse Station machen! Heinrich soll die Einladung zum Diner bei dem Grafen Nesslar abgeben. Wenn möglich Antwort. — Zu!“ —

„Befehl, gnädige Frau.“

Auf lautlosen Gummirädern sauste die Equipage in die belebten Strassen hinein und Frau Elly nahm ihr unterbrochenes Thema wieder auf. „Also du wohnst bei uns, Wigand! Ich habe dir dein altes Stübchen zurecht machen lassen, obwohl es für dich grossen Herrn jetzt etwas eng und primitiv sein wird! — Ihr glaubt aber nicht, Kinder, wie es zur Zeit drunter und drüber geht bei uns! Joël hat so enorm viel Wünsche betreffs Einladungen, dazu etliche Freunde von ihm ebenfalls als Logierbesuch während der Premiere, — Menschen, welche wir anstandshalber einladen mussten! Zum Beispiel den jungen Baron Bastolff, Sohn des Ministers zu X., — dann den Kommerzienrat Solfing, immens reicher Mann, angebetet in musikalischen Kreisen! Er hatte seinen Haushalt aufgelöst, um den Winter in Kairo zu verleben, will aber der Dorflurle zuliebe noch bleiben! Da bat Joël ihn, bei uns Wohnung zu nehmen! Solche Gäste aber machen Ansprüche und verursachen Kopfzerbrechen und da müsst ihr doppelt nachsichtig sein, liebe Kinder!“ —

Die Worte sprudelten von ihren Lippen und Wigand fand kaum Zeit zu danken und sie der vollsten Bescheidenheit und Dienstwilligkeit ihrer Ellerndörper Einquartierung zu versichern.

„Ja, meine teuerste Erika! ich rechne stark auf deine Hilfe als Vicetochter des Hauses! Mon Dieu ... ich sage permanent ‚du‘ und annektiere dich schon ganz und gar! — Lassen wir es dabei, Herzchen! Warum immer Sekt abwarten, um Schmollis zu trinken! Wir vereinfachen die Sache, nicht wahr?“ — und wiederum zog sie die Kleine an sich und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.

„Und nicht so unaufhörlich devot zu mir sein, Heideblümchen, das ist langweilig! Wenn ich dir nicht zu alt bin, betrachte mich als Freundin! Trotz des erwachsenen, berühmten Sohnes ist mein Herz wirklich noch ganz jung und mitfühlend geblieben!“

Häuser, Parkanlagen, Menschen, Wagen und Pferde wirbelten wie ein Traum an ihnen vorüber und all das ungewohnte Leben und Treiben übte einen seltenen Reiz auf die empfindsame Seele des jungen Mädchens aus.

Wigands Stimme liess sie jählings auflauschen.

„Wie geht es nun eigentlich Joël, liebe Tante! fühlt er sich jetzt wohl und zufrieden in seinem Wirkungskreis! Und bist du überzeugt, dass derselbe auch dauernd sein Glück ausmachen wird?“ —

„Fraglos, lieber Wigand! Wie ein Fisch im Wasser fühlt er sich in seinem ureigentlichen Element. Wie sollte es auch anders sein! Bei dieser phänomenalen Begabung! Du ahnst ja gar nicht, Wigand, was er in der Dorflurle geleistet hat! Etwas Grosses, Unsterbliches, etwas noch nie Dagewesenes! Intendanten und Kapellmeister sind ja rein von Sinnen vor Begeisterung. Die Sänger und Sängerinnen wie elektrisiert! Sie danken meinem Sohn kniefällig für diese Partien, in welchen sie ungemessene Lorbeeren ernten müssen. Joël wohnte den Proben natürlich bei — und ich konnte es mir auch nicht versagen, schon hie und da im voraus zu naschen, ich fuhr auch gestern mit in das Theater! — Himmel, welche Musik! welche Melodien! Der Intendant sagte mir, er sei überzeugt, dass die Zukunftsmusik in den Händen meines Sohnes ruhe! Und wie gelassen und ruhig nimmt Joël die Ovationen auf, welche ihm schon jetzt gebracht werden! — Man vergöttert den Jungen ja! — O ihr werdet ihn sehen, Kinder, ein Gott, ein König unter Vasallen! Und wie wird das nun erst werden, wenn der riesige Erfolg der Dorflurle die ganze Welt in Flammen setzt!“

Mit strahlenden Augen lauschte Erika.

„Hat er denn erforscht, wer ihm den Operntext geschrieben hat?“ fragte sie leise, heiss erglühend und mit gesenkten Augen.

„Nein! denk dir, Herzchen! all sein Forschen ist erfolglos geblieben! Aber fraglos hat ein ganz bedeutendes Genie das entzückende Libretto speziell für ihn geschaffen. Das Geheimnisvolle steigert sich sogar noch, seit in einem der ersten Journale der köstlichste aller Romane: ‚Truggeister‘ erscheint. Alle Welt ist entzückt davon! Man spricht nur noch von dem neuen Roman und zerbricht sich den Kopf darüber, wer hinter dem Pseudonym ‚E. von der Heid‘ sich verstecken mag! Fraglos ist es eine hervorragende Persönlichkeit der Residenz, welche über unsere Künstler- und Militärkreise trefflich unterrichtet ist! In dem menschenscheuen, verbitterten Major a. D. glaubt man mit Sicherheit eine hiesige Persönlichkeit wieder zu erkennen, aber mon Dieu ... wie viele verbitterte Pensionäre gäbe es nicht! — Viel näher liegt die Vermutung, dass mit dem Helden, dem schönen, so unglücklich beanlagten Sänger unser erster Tenor gemeint ist, — man stolpert über manch kleine Thatsache, welche sehr geschickt, hie und da ein wenig verschleiert — in die Handlung eingeflochten ist. Nun — mit einem Wort — dieser Roman regt alle Gemüter auf und macht enorm von sich reden. Und das Seltsamste ist, dass Joël darauf schwört, ‚Truggeister‘ und ‚Dorflurle‘ seien die Werke ein und desselben Künstlers. Viele Redewendungen und Ausdrücke stimmen allerdings genau überein, ein Hauch von mädchenhafter Schwärmerei liegt zeitweise über dem Ganzen, andrerseits aber wieder eine Kraft der Gestaltung und eine Fülle überraschender Gedanken, welche nur in einem Männerkopf oder dem einer sehr geistreichen Frau gereift sein können!“ —

„Und Joël hat nicht versucht, das Pseudonym zu lüften?“ —

„Gewiss, mein lieber Wigand! Aber die Redaktion scheint mit ihrem interessanten Geheimnis kokettieren zu wollen, sie versichert in höflichsten Worten, verpflichtet zu sein, den wahren Namen der Autorin verschweigen zu müssen!“ —

„Der Autorin! Also doch eine Dame?“ —

Die Geheimrätin knöpfte voll nervöser Erregung an ihrem Handschuh und streifte die matten Goldreifen der Armbänder etwas höher daran empor.

„Auch in dieser Beziehung war der Chefredakteur ein Schelm! In dem einen Brief spricht er von dem Autor — in dem andern von der Autorin. Gleichviel, Joël amüsiert sich unendlich in dem Gedanken, dass dieses verschleierte Bild von Saïs fraglos Farbe bekennen wird, wenn die Dorflurle mit Erfolg aufgeführt wird.“ —

Sowohl die Geheimrätin wie Wigand hatten nicht beobachtet, wie Erikas Köpfchen während dieser Unterhaltung zur Brust sank, gleich einer tauschweren Blüte, wie glühende Röte immer höher und höher die Wangen färbte, bis unter die goldigen Stirnlöckchen hinauf.

Die Equipage hielt noch in der Leipzigerstrasse vor der Wohnung des Grafen Nesslar, der Diener riss soeben wieder eilfertig den Schlag auf und meldete, den Hut devot in der Hand haltend: „Zu Befehl, gnädige Frau. Der Herr Graf waren anwesend und werden mit viel Vergnügen von der liebenswürdigen Einladung Gebrauch machen.“

„Gut, weiter fahren!“ — Die Geheimrätin sah sehr blasiert aus, aber ihre Augen blitzten unter dem Gazeschleier auf.

„Natürlich, er kommt, ich konnte es mir denken, — die Menschen kommen ja alle so rasend gern zu uns, und was diesen Grafen Nesslar betrifft“ — Elly lächelte müde und neigte den Kopf vertraulich gegen Erikas Schulter: „so gibt er sich noch ganz besondern Hoffnungen hin! Er hat nämlich eine Schwester, ein schönes, imposantes Mädchen, Vollblutaristokratin, dabei reich und talentiert — und ... hahaha — bis über die Ohren in meinen Joël verliebt! — Armes Ding! Ich glaube nicht, dass mein arroganter Schlingel auch nur das mindeste für sie fühlt, — es fliegen ihm ja die Herzen wie Heuschreckenschwärme entgegen, und habe ich es schon als Danaïdenarbeit verworfen, all seine Anbeterinnen zu kennen oder noch Notiz von den seufzenden Jungfräuleins zu nehmen!“

„Macht Joël diese allgemeine Anbetung nicht ganz nervös?“

„Zeitweise ja, wenn man ihn allzusehr mit Liebe oder Hass quält. Im grossen ganzen gehört es jedoch zu seinem Lebenselement, sich verehren und lieben zu lassen. Frauengunst ist für ihn Luft zum Atmen, er kann nicht ohne sie existieren, aber er achtet sie eben auch nicht höher als wie eben Luft! — Was ihn heute anregt und erheitert, ist morgen schon ein überwundener Standpunkt. Ist ja auch gut so! Ein Künstler muss frei sein; will er stets an einem und demselben Punkt kleben, erlahmen seine Schwingen und tragen ihn nicht mehr zur Sonne empor!“

Der Wagen hielt vor einem eleganten, prächtig geschmückten Portal und die Sprecherin richtete sich hastig empor.

„Nous voilà, meine lieben Kinder, nochmals herzlich willkommen und gegrüsst in unserem Heim! Du kennst dich ja noch aus, mein guter Wigand! Bitte, betrachte dich heute noch ebenso als Sohn des Hauses wie früher! — Für Erikachen werde ich persönlich sorgen!“

Im Vestibül brannte bereits das Gas in mächtigen Kristallkuppeln, welche zwei Karyatiden aus Goldbronze über blumengefüllte Vasen empor hielten.

Der Portier stand neben dem Gitterthor, welches die innere Flurhalle von der Durchfahrt absperrte und ein elegantes Kammerzöfchen mit Haube und weisser Tändelschürze hüpfte die Treppe herab, nach dem Handgepäck des gnädigen Fräuleins zu fragen.

„Lassen Sie sich von Heinrich geben!“ nickte Elly der Knixenden eilig zu. — „Apropos, hat die Schneiderin geschickt?“

„Vor einer halben Stunde erst, gnädige Frau! Ich war schon ausser mir vor Ungeduld!“ versicherte Doris mit viel theatralischer Entrüstung. „Habe ihr auch gesagt, dass gnädige Frau ganz empört über solche Unpünktlichkeit seien und künftighin alles wieder von Gerson nehmen würden!“

„Gut, ganz gut, Doris. Wo ist mein Sohn?“

Doris musterte ziemlich ungeniert Herrn v. Landen und knixte abermals. „Der gnädige Herr lassen sich bei den Herrschaften vielmals entschuldigen, er ist telephonisch zu Borchardt gerufen. Zum Thee hofft der gnädige Herr indess wieder zurück zu sein.“

„O schade, schade! Bitte, verzeiht ihm, liebe Kinder! Der arme Junge ist momentan gar nicht Herr seiner Zeit, es lastet gar zu viel auf ihm! — Denkert! Wo ist Denkert?!“

Der Portier trat geschäftig vor. „Zu Befehl, gnädige Frau!“

„Haben Sie das Blumenarrangement bestellt? — Wird es richtig an die Adresse geschickt werden?“

„Janz jewiss und wahrhaftig, gnädige Frau! Schmidt meinte, für det Fräulein habe er so zu sagen alle Tage wat uff Bestellung.“

„Gut.“ Frau Elly legte den Arm um Erika und führte sie die Treppe empor. „Es handelt sich nämlich um die Diwa, welche die ‚Dorflurle‘ singen wird, eine sehr verwöhnte Person, welche sich natürlich auch in Joël verliebt hat! Aus ‚Geschäftsinteresse‘ schickt er ihr täglich ein paar Blumen, um sie auf Feuer und ... bei Stimme zu erhalten. O Kind, du ahnst nicht, was alles bedacht sein will! — So, endlich sind wir am Ziel!“ — sie schob Erika und Wigand in einen Salon, dessen Pracht im ersten Augenblick schier erdrückend wirkte. — „Gott sei Dank! solch ein Reisetrubel ist fürchterlich. Doris, nehmen Sie dem gnädigen Fräulein Mantel und Hut ab, bitte Wigand, thue desgleichen! Und dann ruht euch erst mal ein paar Minuten aus und nehmt im Esszimmer einen kleinen Imbiss; unsere Theestunde liegt nämlich ungewohnt spät, nach Schluss der Oper!“

Dem jungen Mädchen wirbelte der Kopf. Es kam ihr vor, als sei sie aus ihrer tiefen Ruhe und Einsamkeit in einen sinnverwirrenden Strudel gestürzt, welcher ihr momentan den Atem benahm. Dazu wirkte die Enttäuschung, nicht einmal von Joël empfangen zu werden, sehr niederdrückend für sie. Was aber hatte sie auch anders erwartet? Die Liebe ist ja für ihn nur eine amüsante, kleine Abwechselung im täglichen Leben, und die Einladung seiner Mutter nichts anderes, als eine bezahlte Quittung für die Gastfreundschaft, welche ihr Sohn in Ellerndörp genossen.

Wigands Blick streifte verstohlen ihr Gesichtchen, welches nicht mehr so rosig aussah wie zuvor.

„Es wird gut sein, wenn Erika heute frühzeitig zur Ruhe geht, liebe Tante; die Reise hat sie doch ein wenig angestrengt, wie man für alles Ungewohnte zuerst Lehrgeld zahlen muss.“

Frau Elly blickte überrascht auf. „Willst du nicht auf Joël warten, mein Herzchen? Es kann höchstens zwölf Uhr werden, bis er heute zurückkehrt!“

Erika küsste die Hand der Sprecherin. „Mit deiner gütigen Erlaubnis ziehe ich mich heute lieber sogleich auf mein Zimmer zurück, liebes Tantchen. Joël weiss, dass für mich die Mitternachtsstunde eine fast nie geschaute Zeit ist und wird mich sicher entschuldigen.“

„Natürlich wird er das, petite. Sehr recht, dass du dich nicht inkommodierst, hier im Hause lebt man ganz ohne jede Rücksicht, lediglich nach eigener Façon! Also du willst dich bald zurückziehen! Schön, ich werde Doris sofort benachrichtigen!“

Wigands Augen leuchteten. Selten hatte eine solch glückselige Freude sein Herz erfüllt, als in diesem Augenblick, wo Erika auf die Gunst verzichtete, den „Gott“ Joël heute noch wieder sehen zu dürfen.

Als Erika ihm die Hand zur „guten Nacht“ bot, nickte sie ihm mit einem Blick zu, in welchem deutlich zu lesen war: „Wie gut, dass du hier bist!“

Aber Landen war viel zu ungeübt im Enträtseln dieser stummen Sprache, um ihren Sinn zu verstehen.

Joël war nicht wenig überrascht, Erika nicht im Salon seiner Mutter anzutreffen, als er eine Stunde nach Mitternacht dort eintrat. Er war überzeugt gewesen, dass die Kleine mit sehnsuchtskrankem Herzchen auf sein Kommen warten würde und sollte sich dasselbe auch bis zum grauenden Morgen verzögern.

War er es etwa anders gewohnt? Die Damen verwöhnten ihn ja so über die Massen, dass seine Ansprüche durch die schönen Verehrerinnen selbst bis zur Arroganz gesteigert wurden. Nun nahm er selbst den höchsten Tribut schwärmerischer Anbetung als sein gutes Recht in Anspruch. — Und das kleine Heidekind will opponieren? Je nun, man muss in diesem Fall mit der Anstrengung der Reise rechnen, welche selbst das liebeheisseste Herz tyrannisieren kann.

Es ist ja ihr eigenes Pech, wenn sie ein paar Stunden länger auf ein Wiedersehen warten muss.

Wigand begriff nicht, wie die Geheimrätin dieses Nachtleben auf die Dauer ertragen konnte. Als Erika sich zurückgezogen, hatte sie etwas unmutig beklagt, um der Kleinen willen eine Soupereinladung abgelehnt zu haben und überlegte, was sie nun mit dem endlosen Abend beginnen solle.

Just in diesem Moment überreichte der Diener ein stark duftendes Billet.

Hastig riss es Frau Elly aus seinem goldgepressten Umschlag.

„Von Mister Smith! scharmant!“ — stiess sie aufatmend hervor, — „mit zwei Billets für die neue Operette! Joël kann ja keinen Gebrauch davon machen, aber du schliesst dich wohl als dritter im Bunde an, lieber Wigand? Du kannst es ohne jeden Skrupel! Mister Smith ist ein steinreicher Mann, nicht ein amerikanischer, sondern englischer Nabob, nebenbei sehr vornehm und geistreich, aus allerbester Familie. Wir lernten ihn in Korfu kennen und attachierte sich der allerliebste Mensch so ausserordentlich an uns, dass er uns sogar hierher in die Residenz folgte. Also nimm sein Billet ruhig an, mein Junge, es wird ihn lebhaft interessieren, dich als Verwandten unseres Hauses schon heute kennen zu lernen, denn in Zukunft begegnest du ihm täglich in meinen Salons.“

„Du bist sehr gütig, liebe Tante, wirst es mir aber wohl nachfühlen können, dass ich von einem gänzlich Unbekannten unmöglich ein Geschenk annehmen kann! Dasselbe zu bezahlen, würde meinen Verhältnissen nicht entsprechen, denn was ich hier für Vergnügungen ausgeben kann, möchte ich doch gern so anwenden, dass es Erika in erster Linie zu statten kommt, zum Beispiel, wenn ihr verhindert seid, sie auszuführen und ich als Begleiter notwendig werde.“

„Du bist eine rührende Seele, Wigand, und drehst den Spiess in ganz aufopfernder Weise um! Eigentlich wäre es doch an den Damen Koltitz, dass sie dich in jeder Weise für deine unbegreiflich selbstlose Mission in der Streusandbüchse Ellerndörp entschädigten! Aber wie du denkst, mein Guter! Ich liebe es nicht, wenn mich jemand beeinflussen will und nötige darum meine Ansichten auch keinem andern auf. So lass dir, bitte, allein ein Souper servieren und entschuldige deine rücksichtslosen Wirte!“

Sie sah nach der Uhr und drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel.

„Doris soll meine perlgraue Toilette so schnell wie möglich rüsten und der Wagen in einer Stunde bereit stehen.“

„Befehl, gnädige Frau.“

Noch einmal betrat die lebenslustige Witwe, strahlend in Juwelen und Seidenglanz, den Salon, um sich von Wigand zu verabschieden.

„Findest du eigentlich, Wigand, dass ich mich in der Zeit unserer Trennung sehr verändert habe? Die Leute behaupten, ich würde zu stark, das beeinträchtige meine Figur!“ fragte sie, den Kopf von dem Spiegel zurückwendend.

Landen wurde dunkelrot vor Verlegenheit. Er war so gar nicht gewohnt, Elogen zu sagen und Redensarten zu machen.

„Ich finde, dass du jünger und schöner wie je aussiehst, liebe Tante, und war ganz überrascht, als ich dich zuerst sah“, stotterte er aufrichtig.

Frau Elly lächelte sehr huldvoll und klopfte ihm mit dem Fächer die Wange. „Kleiner Schmeichler, du! Welch ein Glück, dass ich dir deine Elogen gleich zurück geben kann! Du hast es deiner Tante treulich nachgemacht und bist ebenfalls kaum wieder zu erkennen.“

Und dann überliess sie ihn seinem Schicksal.

Wigand beschloss, eine kurze Promenade durch die Strassen zu machen, um etliche Einkäufe zu erledigen. Um elf Uhr, nachdem er seiner Ansicht nach lange genug gehungert hatte, trank er einsam seinen Thee in dem Speisesaal, welcher seine Gaskrone wie zum Hohn über die leeren Plätze an dem Tisch in vollem Glanz erstrahlen liess.

Ein solcher Luxus hatte ehedem nicht in dem Hause des Geheimrats geherrscht. Die ganze Villa erleuchtet, ein Souper für vier Personen, welches von einer einzigen nur benutzt wurde.

Um zwölf Uhr kehrte Frau Elly heim. Sie hatte bereits unter den Linden soupiert und war sehr animiert und heiter. Mit Joël hatte sie sich im Restaurant getroffen, er hatte ihr versichert, bald nachzufolgen.

„Wirst du dich nicht zur Ruhe begeben, liebe Tante?“

„Jetzt schon? — ich bitte dich! Nun habe ich ja erst den einzig ruhigen Moment, um einen Blick in neue Bücher zu werfen!“ — —

Sie entzündete sich eine Cigarette und las.

Wigand begriff nicht, wie Frauennerven ein solches Leben auf die Dauer aushalten konnten.

Der nächste Morgen gab ihm die Aufklärung.

Mit wahrhaftem Entsetzen stand er um acht Uhr in dem Korridor. Die Dienerschaft begann soeben, die Salons zu reinigen. Zugluft durch offene Thüren und Fenster, hochgeschlagene Portieren und zusammengerollte Teppiche. — Kein warmes, gemütliches Plätzchen.

„Wann pflegt meine Tante zu frühstücken?“ —

Das Stubenmädchen lächelte: „Gnädige Frau schellen gewöhnlich gegen zwölf Uhr nach dem Kaffee und pflegen ihn im Bett zu trinken. Das zweite Frühstück nehmen die Herrschaften gemeinschaftlich um zwei Uhr. Dann fährt gnädige Frau aus, Visiten oder Einkäufe zu machen. Um sechs Uhr dinieren die Herrschaften hier im Hause, meist mit Gästen oder folgen anderen Einladungen.“

„Hm ... kann ich nicht schon früher Kaffee trinken? Jetzt gleich? ... und wo?“ —

„Gewiss, Herr Baron. Fräulein Koltitz hat auch schon auf ihrem Zimmer gefrühstückt. Heinrich kann ja sofort auch in dem Zimmer des gnädigen Herrn servieren!“

„Und Herr Eikhoff?“ —

„Hält die Mahlzeiten genau so inne, wie die gnädige Frau!“

„Schläft also noch?“ —

„Schläft noch, bis gegen zwölf!“ —

„Danke schön. Und bitte recht bald Kaffee.“

Das war ja furchtbar! — Wie hielten die Menschen ein so widernatürliches, ungesundes Leben aus!

Wigand überlegt, wie man sich die Zeit hier am besten einteilt. Soll Erika dieses aufreibende Nachtleben mitmachen — was unvermeidlich ist, will sie an der Geselligkeit und an den Vergnügungen der Eikhoffs teilnehmen, so wird sie bald ebenso ermattet in den hellen, lichten Tag hinein schlafen, wie diese entnervten Residenzler.

Aber er! auf Wochen hinaus kann er ein derartiges Dasein nicht fristen. Gott sei Dank, finden die akademischen Vorträge in den Morgenstunden statt. Wenn Joël und seine Mutter mit verschlafenen Augen zum zweiten Frühstück erscheinen, hat er den wichtigsten Teil seines Tagewerks schon hinter sich.

Als die Salons, heute etwas beschleunigt, in Ordnung gebracht sind, tritt Wigand ein.

Er trifft Erika bereits eifrig mit Staubwischen beschäftigt und in hohem Grade entzückt und interessiert, all die unzähligen kostbaren Nippes, Bronzen, Krystalle und Malereien zu besichtigen.

Sie begrüsst den Vetter sehr heiter und guter Dinge, versichert ihm, vortrefflich geschlafen zu haben und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, dass man erst gegen zwei Uhr den Verwandten einen doch etwas sehr verspäteten „guten Morgen“ sagen kann.

Andere Städte, andere Sitten. Man muss sich so gut wie möglich die Vormittagstunden zu vertreiben suchen. Eine Promenade vor den herrlichen Schaufenstern der Strasse ist eine stets neue Quelle des Amüsements und in mancher Weise ein Kunstgenuss.

Erika jubelte wie ein Kind, als Landen vorschlägt, den schönen Sonnenschein sofort zu benutzen. Der vielen Droschken, Lastwagen und Pferdebahnen wegen bietet er dem jungen Mädchen den Arm, um den Strassendamm mit ihr zu passieren.

Unwillkürlich schreiten sie auf dem Trottoir so weiter, denn es geht sich sicherer und angenehmer unter dem bahnbrechenden Schutz eines Herrn, wenn rücksichtslose Passanten vorüber drängen.

So viel und ausschliesslich wie hier, haben die beiden jungen Leute in Ellerndörp nie verkehrt, sie sind auf einander angewiesen, sie suchen und finden sich, eins ergänzt das andere. Die Grossstadt und der Aufenthalt in Joëls Vaterhaus, von dem Wigand gefürchtet, dass er Erika und ihn für immer trennen werde, führt sie einander inniger und vertrauter zu, wie der jahrelange, gemeinsame Aufenthalt in Ellerndörp.

Die kalte Winterluft hat Erikas Wangen gerötet, mit strahlenden Augen kehrt sie heim, kaum noch daran denkend, dass das Wiedersehen mit Joël näher und näher rückt.

Wigand sucht sogleich sein Zimmer auf, Erika tritt zuvor in den Salon, ihre Briefmappe vom Schreibtisch abzuholen.

Sie sieht allerliebst in dem weissen Pelzwerk aus, und der elegante Mantel, welchen Frau Koltitz nebst einer sehr reichen Auswahl von Toiletten aus einem der ersten Geschäfte bezogen, hebt ihre schlanke Figur in vorteilhaftester Weise.

Sie ist eilig und bemerkt es nicht, dass im Nebenzimmer Joël Eikhoff an seinem Diplomatentisch arbeitet. Er erhebt sich hastig und schreitet auf dickem Smyrnateppich lautlos zur Portiere.

Einen Augenblick wartet er vorsichtig, ob Wigand oder seine Mutter der Eingetretenen folgen werden, als er sich überzeugt, dass er mit dem jungen Mädchen allein ist, tritt er ihr jählings in den Weg.

Seine Augen leuchten ihr in der ganzen verführerischen Schönheit entgegen, nicht ganz natürlich, aber sehr wirkungsvoll dramatisch streckte er ihr die Hände entgegen.

„Erika!“

Sie erschrickt so gewaltig, dass sie kaum einen leisen Aufschrei unterdrücken kann. Flammende Glut steigt in ihre Wangen, ein reizendes Gemisch von Freude und Verlegenheit verklärt ihr anmutiges Gesichtchen.

„Joël ... welche Überraschung — Sie sind jetzt schon hier?“

Er hält ihre Hände und neigt sich tief zu ihr nieder. „Ja, ich bin schon hier, kleine Heideblume! Ich opferte ohne Besinnen ein paar Stunden Schlaf, ich, der ihn jetzt wahrlich notwendig gebraucht, um Sie so bald wie möglich begrüssen zu können, — aber Sie grausame Turandot hatten gestern abend keine Zeit mehr für mich!“

Wie vorwurfsvoll seine Stimme klang, wie er ihre Hände so leidenschaftlich in den seinen presste.

Erika war wie betäubt, ihre Verlegenheit grösser noch wie zuvor. Sie versuchte die Hände zu befreien, vergeblich! — „Gestern abend? gestern nacht meinen Sie wohl, Joël, Sie, der es doch wissen sollte, dass die Heideblumen die Augen schliessen, wenn die Sonne sinkt!“ —

„Auch dann, wenn ein kühner Gesell die rosige Erika gepflückt und in den prächtigen, bunten Garten der grossen Welt verpflanzt hat?“

„Dann braucht sie immer noch Zeit, um sich an diesen übermächtigen Wechsel und Wandel zu gewöhnen!“

„Gut, mag dies der Balsam des Trostes auf die Wunde sein, welche mir die gestrige Enttäuschung geschlagen. Jetzt will ich Sie willkommen heissen, tausendmal willkommen in meinem Hause, welches Ihnen hoffentlich lieb und behaglich werden wird, wie ein eigenes!“ — Er zog ihre Hände abwechselnd an die Lippen und legte einen Ausdruck in seine Stimme, der ihr Herz erbeben machte.

Der alte Zauber, welcher allmählich seine Kraft verloren, umstrickte sie von neuem und die Verwirrung des Augenblicks war zu gross, um sie klar und scharf sehen zu lassen wie sonst.

„Haben Sie mich auch nicht vergessen in der langen Zeit unserer Trennung, schön Bäschen?“

Wie verklärt schaute sie auf, ihre ganze Seele lag voll süsser Innigkeit in diesem Blick. „Wie könnte das wohl möglich sein!“ schüttelte sie das Köpfchen.

„Wenn Sie mir noch gut sind —“ er neigte sich flüsternd, mit fascinierendem Blick näher, „kann Ihr Aufenthalt hier ein entzückender und beglückender für uns beide werden! Sie ahnen noch nicht, wie man Sie um das Vorrecht beneiden wird, unter einem Dach mit mir zu wohnen! — — Ah ... Mama. Ich höre ihren Schritt.“ — Er trat jählings zurück, stützte sich voll grösster Harmlosigkeit auf einen Sessel und fuhr mit vollkommen veränderter Stimme heiter fort: „Also eine Morgenpromenade haben Sie schon gemacht? — Mille diables, welch eine barbarische Idee! Das werden Sie sich mit grösster Geschwindigkeit hier abgewöhnen. Ah, meine schöne Mutter! Küsse die Hand, Gnädigste! Gut geruht? Und zur Feier der Gäste heute auch etwas früher wie gewöhnlich zur Stelle?“

„Guten Morgen, meine lieben Kinder! Jawohl, ich bin früher wie gewöhnlich bei euch, dafür aber auch in recht unfertiger Façon!“ Sie blickte lächelnd auf ihr raffiniert elegantes Negligee nieder und liess sich die Hände küssen. „Und Erika kommt bereits von einem Spaziergang heim, wie mir Doris starr vor Staunen mitteilte. Wird sich bald legen, diese Passion; heute sehen wir allerdings nur Gäste zu Tisch bei uns, aber morgen Premiere, und dann Nacht für Nacht die Feste! Am Ende der Woche schläfst du auch bis zwölf Uhr, petite!“

„Sie sehen so erhitzt aus, Bäschen!“ lächelte Joël, mit schnellem Blick in das noch immer vor Verlegenheit glühende Gesichtchen. „Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?“

„Nein, nein, mein Jungchen, Erika legt besser in ihrem Zimmer ab! Nicht wahr, Herzchen? Und dann kommst du schnell wieder zu mir zurück! Ich möchte nämlich mal die unvermeidliche Toilettenfrage mit dir erörtern, ob du für die Campagne, welche dir bevorsteht, auch genügend gerüstet bist!“

„Davon kannst du doch überzeugt sein, Mamachen; sieh sie doch an, wie allerliebst und chic sich selbst ein Heideblümchen anziehen kann, wenn Geschmack dahinter sitzt! — Vor Erika ist mir absolut nicht bange, aber das Exterieur des guten Wigand lastet wie ein Alp auf mir. Bei ihm ist kein Ding unmöglich in dieser Beziehung, selbst eine Düffeljoppe und Schmierstiefeln zum Diner nicht! — Wie sah er gestern abend wieder aus! — rasend! — Hätte ich ihn auf der Strasse begegnet, hätte ich: „Guten Morgen, Onkel Bräsig!“ gerufen!“

„Er beabsichtigt, sich neu zu equipieren!“ — wagte Erika begütigend einzuwerfen, aber bei dem Anblick des hypereleganten jungen Herrn vor ihr fiel der Kontrast zwischen den Pflegebrüdern auch ihr etwas beängstigend auf. —

„Na, dann haltet die Daumen, Kinder, dass er nicht zu irgend einem Winkelschneider läuft und die grosse Ausgabe an antidiluvianischem Schnitt wieder einspart. Ich kann mich leider nicht darum bekümmern, weiss so wie so nicht, wo mir heute der Kopf steht. Jetzt will ich noch auf einen Moment in die Probe fahren und dann ... ach so, meine Damen ... gut, dass es mir einfällt, leider — ich sage leider! — kann ich heute nicht mit euch frühstücken, ich musste gestern abend mein Wort geben — wie das so ...“

„Armer Schelm! — unterbrach Frau Elly, hinter dem Spitzentuch gähnend. „Was will man denn schon wieder von dir!!“ —

„Muss mit der Dorflurle und ihren Partnern Austern essen, Mamachen! — hilft nichts — die Mädels sind es gewöhnt, dass man ihnen die Cour macht!“ —

„Natürlich — natürlich. Ich verstehe. Selbstredend beurlauben wir dich. Sei nur präcise zum Diner zurück, du weisst, es kommt recht viel auf einzelne Persönlichkeiten an!“ —

„Unbesorgt, — ich bin so pünktlich, dass die Sonne sich künftighin bei mir nach der Zeit erkundigen soll!“ —

Er verabschiedete sich und ging. Erika zog sich in ihr Zimmer zurück, um abzulegen. Ihre Schläfen hämmerten. Ein beinahe erloschenes Feuer war jählings wieder in ihrem Herzen aufgeflammt, aber seltsam — schon zogen Rauchschatten verdunkelnd darüber hin. Im ersten Augenblick hatte Joëls Benehmen einen tiefen berauschenden Eindruck auf sie gemacht und ihr Auge geblendet, — je mehr aber das Blut wieder aus ihren eigenen Wangen wich, desto klarer blickte auch ihr geistiges Auge.

Warum änderte er sein Benehmen so vollständig, als die Geheimrätin eintrat? Schämte er sich seines Empfindens oder fand er dasselbe ungehörig? Ja, das war das richtige Wort dafür. Die Art und Weise, wie er ihre Hände drückte und küsste, wie er sie ansah, war nicht respektvoll, und auch die leidenschaftlichste Liebe darf einer Dame gegenüber nie den Respekt ausser acht lassen, will sie nicht zur Beleidigung werden.

Erika grub die Zähnchen in die Lippe. In Joëls Augen ist ja die Liebe nichts anderes, als eine amüsante kleine Episode, welche täglich die Heldin wechselte. Auch sie ist ihm nichts anderes, als die Vertreterin solch einer entwürdigenden Eintagsrolle.

Warum hat Wigand sich niemals eine ähnliche Kühnheit erlaubt, wie sein Pflegebruder? Warum ist seine Verehrung so völlig andrer Art, derart, dass ein junges Mädchen in seiner Gegenwart nie voll Scham zu erröten braucht, dass sie sich in seiner Gegenwart beschützt und ritterlich behütet weiss, als schritten Pflicht und Ehrgefühl verkörpert an ihrer Seite? —

Wigand hat wohl niemals die Liebe derart in den Staub getreten wie Joël, sie auch niemals so tief, tief im Sumpf gesucht, wie er!

Erika ist eine viel zu feinfühlige Natur, um nicht instinktiv den unlauteren Hauch zu empfinden, welcher die sonst so peinlich elegante, parfümierte Erscheinung des jungen Dandy umgibt. Und in dieser Beziehung steht sie noch vor einem Rätsel, welches weder ihr Herz noch ihr Verstand lösen können.

Ist Joël wirklich die gottbegnadete, geistig so hoch entwickelte, ideale Persönlichkeit, welche laut der mütterlichen Versicherung ein unsterbliches Werk geschaffen — wie kann alsdann sein Denken und Empfinden doch so niedrig stehen, — wie kann neben der strahlenden, fleckenlosen Vollkommenheit des Genies so viel Unbeständigkeit, Leichtsinn und Untugend bestehen? —

Ist es nicht ganz natürlich, dass die Kunst einen Menschen veredelt? — Ist wirklich derjenige gottbegnadet, welcher so wenig göttliche Regungen in seinem Innern nährt? —

Wunderbares Ringen und Kämpfen zwischen Herz und Verstand! — In derselben Stunde, welche ihr Herz in hochauflammender Liebe einem Mann von neuem entgegen trug, richtete ihr Verstand denselben so erbarmungslos und scharf wie noch nie vorher. Sie hob das Köpfchen voll stolzer Entschiedenheit auf den Schultern. Mochten Hunderte von Weibern und Mädchen ihre Liebe und sich selber wegwerfen an einen Mann, welcher sie, cynisch lächelnd — gleich wie eine Rose pflückt, um sie tags darauf gelangweilt beiseite zu werfen; — bei einer soll ihm kein Sieg und Lohn werden. Das schlichte Heideblümchen neigt sich nicht einer jeden Hand, welche es zur Kurzweil entblättern will. —

Von Gottes Gnaden - Band II

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