Читать книгу Der EIndringling - Natascha Rubia - Страница 6
2. Kapitel: Besuch
ОглавлениеUnd nun stand sie da. Vor meinem Pult. Keine Ahnung, wie sie hineingekommen war. Ich muss kurz in die Waschräume gegangen sein, die Farbtöpfe zu reinigen vor dem Ende der letzten, der sechsten Donnerstagstunde. Sie stand mitten im Klassenzimmer, von den Schülern der 1b umringt. Einige hatten die Handfläche flach auf dem Scheitel liegen und massierten ihre Kopfhaut im Kreise, andere bewegten ihre Hände im Uhrzeigersinn über verschiedene Teile ihrer Wirbelsäule.
Schwarze lange Locken flossen ihr lustig jüdisch vom mutig offenen Gesicht. Sie stand im Mittelpunkt und wusste das. Sie musste in meinem Alter sein und strahlte in ihrem Element. Jeder Mundwinkel von ihr entschied über die Stimmung im Raum. Keineswegs wäre sie eine Person gewesen, welche man stumm erobern konnte. Was immer auf sie zukam, sie entschied selbst. Ihre Aufmerksamkeit war scharf wie ein Lichtstrahl, mit dem sie ihre Umgebung durchbohrte, oder wärmte, Sie brauchte keine Aufforderung dazu. Einen Moment lang überlegte ich, ob meine Geckenschuhe zu ihr hin, oder von ihr weglaufen sollten. Als sie mich sah, blickte ich umständlich an ihr vorbei durch das Fenster auf die Wiese draussen und mir schien, die Statue unseres Beethoven umgaben plötzlich Kinder in munteren Ringelreihen, die Blumen hoch in bunten, tief hängenden Dolden. Es war die Wiese vor Schuberts Haus am Gut Zselíz, dem Landsitz seiner geliebten adeligen Klavier-Schülerin in Ungarn – ich sah sie dort mit den Kindern spielen. Da lag sie im Gras und schaute mich verdutzt, doch positiv überrascht an. In einem Schritt würde ich ihre Laune brechen und sie zu Boden werfen in der Idylle.
„Wollen Sie es auch versuchen?“, unterbrach sie meinen Tagtraum frech. Sie war die Mutter eines Kindes mit indischem Namen, eines zeichenbegabten Buben – einmal aufgewacht, kam mir die Ähnlichkeit in den Sinn.
„Was soll ich tun?“ fragte ich unbeholfen.
„Telefonieren Sie mit Ihrer ausgestreckten rechten Hand um die linke, als sei es eine Wählscheibe“, riet sie mir nickend zu.
„Im Uhrzeigersinn. Nein, alle Finger, zusammen.“
„So?“ fragte ich und vollzog umständliche Kreisbewegungen, als wollte ich mit allen Fingern über das Instrument meiner ausgestreckten linken Hand mich selbst anrufen.
„Genau so.“, stimmte sie zu. Um gleich hinzuzufügen: „Spüren Sie was?“
„Es wird warm“, sagte ich, „heiss“, korrigierte ich, immer noch verwundert, dass diese Mutter scheinbar meine Zeichenstunde ungebeten für ihre Handpraxis übernommen hatte.
„Dann müssen Sie die Hitze aus der linken Handmitte ziehen und wegschmeissen“, ordinierte sie. „Und wieder mit der rechten Hand kreisen. Rechts herum.“
Ich tat es mehrfach.
„Und jetzt?“
„Es wird kühl,“ kommentierte ich. Tatsächlich machte sich in meiner linken Hand eine Art Energie breit, die frisch war, wie kaltes Wasser. Es war ein angenehmes Gefühl. Die Kälte war magnetisch, beruhigend und wohltuend.
„Genau. Und jetzt drücken Sie die durchgestreckte rechte Hand auf Scheitels, auf ihre Fontanelle, die als Baby offen war, Mitte auf Mitte. Massieren Sie den Scheitel im Uhrzeigersinn, wie die Mädchen hier:“
Die Mädchen begannen zu glucksen und sich über mich, den Tolpatsch, lustig zu machen, indem sie mir vormachten, was ich zu tun hatte. Das war es für mich. Ich spürte nichts mehr.
Nur das warme, wohlwollende, zugeneigte Lächeln der Mutter. Sie meinte es gut mit mir. Konnte sie was dafür, dass die Gören meine Tölpelei für ihren Schalk nutzten?
„Haben Sie über dem Kopf kühl gespürt?“
Ich bejahte, mehr aus Zuneigung, als aus Wahrheitsliebe. Kurz blickte ich an ihr hoch, die elegante Kleidung, die hohen Schuhe, vor allem die aufkeimende Nähe waren mir peinlich und ich begann, mitten im Lärm der umgebenden Begeisterung über die Kinder zu sprechen. Es durfte laut sein, in meiner Klasse.
„Was haben die Kinder gespürt?“ fragte ich verlegen.
„Die Mädchen sehr viel“, meinte sie.
„Ja, die Mädels sind den Buben vorraus“, gab ich zu.
Ich blickte um mich. Die Augen der Kinder glänzten. Die Geister aller bösen Witze, des Sarkasmus und der Streiterei wichen keifend dem ehrlichen Enthusiasmus, Zaubern zu können. Eine Art aufkommende Offenheit jagte sie die hohen Wände entlang. Die Kinder strahlten vor Freude bar jeder Bosheit. Es war eine gloriose Stimmung im Zimmer, ähnlich dem Gemälde „Das letzte Gericht“ von William Blake. Ich sah die einen am Zimmerende hinabfallen in die Flammen der aufgemalten Hölle und die anderen eklesiastisch die Himmelsleiter zur Decke hinaufsteigen: Endlich fiel die lackierte Arroganz von diesen wohlstandsverwahrlosten Rackern ab, dieser Pest der Wiener Haute Rollée, der ORF-Granden, Botschafter, Philharmoniker, Industrie-Vorstände und Bankdirektoren. Es war, als hätte sie Petrus eingelassen: Nun endlich hatten sie Zutritt zum Verbotenen, zum Mystischen, zum Ganzen. Damit waren sie ihren Eltern für diesen hellen Moment überlegen, welche ja nur Herren des sichbaren Teiles dieser Welt waren, der sie sowieso entsagten, weil sie ihr nie etwas Recht machen konnten. Die Älteren, die Erfolgreichen kannten, wussten immer mehr, als sie, die spontanen Spring-ins-Feld, die die Ärmelschoner noch scheuten und in der Schule ohne Mühe abzustreifen wußten. Wie Zauberer standen sie nun da, von ihrer eigenen Überlegenheit zu schalkhaften Taten angestachelt.
„Die Mädchen sind viel weiter entwickelt, als die Buben, alleine schon von der Größe her“, lächelte die Mutter mir entgegen.
„Man sollte sie besser so nicht mischen, sonst bekommen die Buben einen Unterlegenheitskomplex und kompensieren ihn mit rüpelhaftem Benehmen,“ schloss sie sachlich, aber sinnlich.
„Da haben Sie Recht. Man könnte ruhig die Buben zwei Jahre später zur Schule schicken“, fühlte ich mich frei, die Schulordnung in dieser erregenden Stimmung gleich den Kindern für einen Moment zu brechen.
„Was würden wohl die Eltern dazu sagen“, lachte sie vergnügt, „wo sie doch so stolz sind, in einem ihrer hinterbliebenen Ratzen einen männlichen, klugen Nachfolger zu haben.“
„Oh Gott, ja, die wären undankbar“ lachte ich.
Sie ging vergnügt mit ihrem Sohn aus der Mitte. Ich war perplex und fühlte mich unterlegen. War ich auch „hinterblieben“? Unwillkürlich fühlte ich mich angesprochen. Ich zog meine Brust wie gewohnt ein, um nicht aufzufallen.
Lange sinnierte ich, ob meine Stellung als Autorität in der aufgewühlten Klasse durch Anzweiflung dessen, was im letzten Moment in der Klasse geschehen war, oder durch deren Bekräftigung verstärkt werden konnte. Ich überlegte zu lange und verpasste den günstigen Moment, Position zu beziehen. Längst waren die gurrenden Mädels zusammenpackend hinter ihre Bänke, die Buben laut und balgend aus der Klasse gezogen. Die Zeit, sich wichtig zu machen, war verstrichen.
Genügsam schickte ich mich also an, die Malsachen einzusammeln und das Klassenzimmer zu verlassen. Noch lange dachte ich über den kühlen Hauch auf meinen Händen und den Freigeist dieser Mutter nach. Sie war bestimmt selbständig, nicht pragmatisiert und in einer abgesicherten, stabilen finanziellen Situation, was ihr die Freiheit gab, die Welt einen oder zwei Tage komplett auf den Kopf zu stellen. Sie sah aus, als würde sie täglich ein buntes, ereignisreiches Leben peitschen.
Und ich? Ich war verdammt dazu, hier jeden Tag meine Stunden abzuarbeiten, wie ein Pferd vor dem Pflug des gleichförmigen Ackers. Jahr für Jahr, 21 Jahre schon schnallte man mich vor die gleichen Altersstufen. Oben im Lehrerzimmer angelangt, verglich ich meine Kollegen mit mir: Abgeschuftete gleichförmige Gestalten mit stumpfen Augen. Die Einöde der Wiederholungstäter hatte sich in ihre Kleidung eingefressen. Jeder von Ihnen war unwandelbar mit seinem Stil verschweißt und fiel durch diesen nie aus der eigenen Reihe, gab sich seinen eigenen Charakter, der doch keiner war, indem er die Monochromie ihrer Welt noch unterstrich. Da war die Englisch-Lehrerin mit ihren ewig wollenen schwarzen Strumpfhosen über dicke Beine in Jeansröcken – darüber sich zwangsjackenähnlich ein Rollkragenpullover stülpte. Hatte ich sie je in einer anderen Robe hier angetroffen? Nein. Dort der Latein-Lehrer namens „Maltrovsky“, als wäre in seinen Namen die maligne Haltung gegenüber seinen Schülern eingraviert, stets in altmodischen Hochwasseranzughosen. Waren sie mit Hosenträgern nach oben gebunden, sich selbst damit den Rest an Männlichkeit nehmend, um ewig unter Mutters Herd zu wohnen? Schwer festzustellen unter dem grauen V-Ausschnittpulli, aus welchem immer eine rot-weiss gestreifte Kravatte hervorblitzte, Emblem der Zugehörigkeit zu einer zugeknöpften Nation. Oder war dieses kleine kümmerliche Rot der letzte Lebenswille des totgerittenen Professors? Schwer zu unterscheiden. Die meisten hier waren über die Jahre so monotonisiert, dass sie wie Hamster im Rad ständig in Bewegung schienen, um ihrem Tod davonzulaufen. Ruhe oder Stillstand war ihnen nicht vergönnt: Sie könnten in ihr wahres Stadium zu Staub zerfallen. Sie drehten ihre Finger durch Papiere, Unterrichtsmaterialien, raschelten, kniffen und ordneten unaufhaltsam, um in der Papiermühle am Leben zu bleiben. War ich schon zu einem von ihren Skeletten mutiert?