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3. Kapitel: Annäherung

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Es dauerte nicht lang: In der nächsten Woche stand sie wieder vor der Tür und huschte zu meinem Lehrerpult. Ohne Scham und bar jeder Gnade. Zuerst glaubte ich, dass sie ihren Sohn jeden Tag abholte und schimpfte sie innerlich eine anhängliche Gluckenmutter. Wie immer nutzte ich jede gedankliche Akrobatik, um die Kontaktschnur zu einer Person, die mir nähertreten wollte, in meinem aufkeimenden Misstrauen – menschlichem Kontakt wich ich innerlich aus – sauber zu durchtrennen. Bis ich viel später entdeckte, dass es nur Donnerstags war, zum qualvollen Ende der letzten Vormittags-Stunde.

„Sie haben heute Direktorenwahl?“ fragte sie erheitert.

Ich freute mich, sie zu sehen, gleichzeitig aber beneidete ich ihre gute Laune und wollte sie deshalb nur loswerden. Ich hätte es ihr gleichtun können. Jeder Gleichklang jedoch verwandelte sich in der Mühle meiner Skepsis sofort in einen Gegenstrom.

„Ja, gleich nach der Stunde.“

„Wollen Sie sich auch aufstellen, als Direktor?“

„Nein, das wäre mir viel zu anstrengend“, gab ich zu. „Es ist ja schon so genug Bürokratie, was wir hier haben. Das reicht mir völlig.“

„Kann ich mir vorstellen, wär` auch nicht mein Ding.“

„Freilich ein undankbarer Job“, setze ich hinzu. „Wer möchte den schon machen. Da muß man es drei Seiten Recht machen: den Politikern, den Lehrern und den Eltern. Eine Zwickmühle. Jeden Tag zerrieben zwischen den Mahlsteinen energischer Widerstreiter.“

„Da haben Sie Recht“, stimmte sie mir bei. „Fade G‘schicht, Lehrbücher durchsehen, Elternbeschwerden entgegennehmen...“

Meine Antwort: Ein genervtes, gestresstes Gesicht beim Blick auf die lärmenden, kreischenden Kinder im Saal, als träfe sie die Schuld an Allem. Waren letztere nicht bis vor drei Jahren mein Vorwand gewesen, das Schrei-geplagte kinderreiche Zuhause zu meiden, wo ich jede Sekunde nutzte, um auf die schmale Kopfsteinstrasse in der Altstadt auszuweichen, wo mein Rad schon an der Regenrinne vis à vis ungeduldig auf mich wartete. Meine Rosinante würde meine verkrampften, kurzen Muskeln aufweichen und mich unerkannt durch die schweigende Touristen-Masse der „ersten Welt“ in meine abendliche Anonymität entführen.

„Eltern können auch teilnehmen an der Wahl,“ versuchte ich den Ball an sie zurückzuspielen. Erziehungsberechtigte – das war etwas Lästiges, sich Einmischendes. Man konnte diese Mütter nie zufriedenzustellen. Hier ergab sich eine Gelegenheit, wenigstens sie loszuwerden: Mit einer Wahlkarte! Meine Antwort schien sie zu erhellen. Ihr Interesse schickte einen violetten Lichtstrahl in meine tägliche Eintönigkeit. Damit hatte ich kaum gerechnet. Ich dachte, es würde sie langweilen, der Schulbetrieb, die Arbeit, die ich hier verrichtete. Aber im Moment schien ihr die Teilnahme an unserem Betrieb eine willkommene Abwechslung. In ihrer Begeisterung änderte sich auch meine Sicht der Versammlung, ja des ganzen Schulbetriebs, als hätte sie mit einem Strahl der prismatischen Buntheit, die ihre Welt erhellte, mein Schuldasein in helle Farben getaucht.

„Jetzt gleich?“

„Ja, kommen Sie ruhig auch vorbei. Oben im Veranstaltungssaal!“

Sie nickte. „Ich habe etwas für Sie“, antwortete die Mutter und kramte in ihrem Leder-Rucksack.

Es waren Bilder der Renaissance, ausgedruckt.

„Sehen Sie, bei El Greco, den „Tränen des Heiligen Petrus“, das Licht über seinem Kopf? Das ist, was ich Ihnen und den Kinder das letzte Mal gezeigt habe. Und dieses Photo hier zeigt dasselbe,“ deutete sie auf eine Photographie, bei der über dunklem Photopapier ein Kronleuchter-förmiger Lichtkegel in weiss-gelben Strahlen auf schwarzem Hintergrund zu sehen war. Sonst nichts, nur Dunkelheit.

„Da sitzt eine Person auf einem Schiff von Napoli nach Genua.“ Ich versuchte mir das Meer und die Gicht im lauen Mittelmeerwind vorzustellen, aber mir gelang kein Schluss auf einen Kronleuchter.

„Das Licht kommt aus dem Kopf der Person“, schloss sie.“Sie sitzt auf dem Schiff.“

Interessiert, aber überrumpelt nahm ich die Farb-Kopien entgegen, darunter auch Bibeltexte über „die kühle Brise des Heiligen Geistes“. Ich war weder gläubig, noch hatte ich die Muße, mich nach sechs Stunden Unterricht hiermit auseinanderzusetzen. Aber ihre Lebendigkeit, diese Freude und Energie faszinierten mich. Sie kam noch öfter vorbei und brachte mir Leder, Holzarbeiten oder versuchte mich zu neuen Ideen für den Werkunterricht und damit zu mehr Leben zu motivieren. Wie jetzt unternahm sie drängend alles, um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken. Doch es vermochte mich kaum aufzuheitern. Meine Adern hingen über Kanülen an Infusionsbeuteln auf dem Ständer der städtischen Angestellten. Anstatt Blut floss bürokratisches Leichengift durch sie hindurch.

Schon kam Pichler, der Musiklehrer hinzu.

„Shankar-Mama“, sprach er die Mutter an, „kommen Sie auch zu den Wahlen?“

„Ich heisse Saskia“, reichte sie Hansi die Hand. „Ich werde sehen.“

„Das hoffe ich“, meinte Pichler.

„Sie sind doch so g‘scheit, wieviel Sprachen sprechen Sie?“

„Sieben“, entgegnete die Mutter.

Mich ärgerte, wie Pichler das aus ihr herauswurmte. Mir war das bisher nicht gelungen. Wie immer fehlte mir das Interesse an der anderen Person. Oder traute ich mich nicht fragen? Im Moment erfüllte mich die Nähe von Pichler zur „Shankar-Mama“, wie er sie warm und liebevoll nannte, mit Neid.

„Sehen Sie, so klug“, „nicht wahr Herr Mittelfeind, so g‘scheit ist sie“, nickte er mir aufmunternd zu, als hätte ich den Zug zu ihr schon längst verpasst. Als spräche er also für mich persönlich in der Vergangenheit. Ich stimmte genervt zu.

„Da muß sie unbedingt zu den Wahlen kommen“.

Saskia kam. Sie setzte sich in die letzte Reihe, zwei Reihen direkt hinter mich. Ich fühlte mich mild beobachtet. Nach dem Studieren der Lichtphotos und der Bilder, die sie mir mitgebracht hatte, entwickelte ich ein echtes Interesse. War das wirklich eine magnetische Kraft, die sie mir und den Kindern so beiläufig gezeigt hatte? Das Pneuma über den Handflächen eine Art Erleuchtung? Obwohl ich der Nähe von Menschen generell abgeneigt war, wünschte ich heute, weiter hinten direkt neben ihr zu sitzen. Ihr Blick war eine positive, aufmerksame und liebevolle Beobachtung. Ich verteilte die Zettel zur Wahl und reichte ihr einen. Es schmeichelte meiner Eitelkeit, dass sie mich dabei wichtig nahm.

Meine Familie – privat fast mein einziger Umgang – folgte mir selten bis gar nicht zu meinem Arbeitsplatz und fast nie zu einem meiner Konzerte. Selten genug fühlte ich mich ernst genommen. Es tat mir gut, beachtet zu werden. Saskia war geladen von Energie. Sie hatte Feuer. Und sie war definitiv interessiert, das spürte ich in jeder meiner Poren. Sie setzte sich ganz aussen ans Ende der Bankreihe, die langen, dünnen Beine hoch übereinandergeschlagen. Die hohen Stiefel staken weit aus der Sitzreihe, als wollte sie damit betonen, eigentlich nicht dazuzugehören. Und das tat sie auch nicht. Alleine schon wegen ihres dunklen Teints, der selbst im tiefsten Winter den Süden in den Saal holte. Aber noch weniger wegen der würdevollen Haltung.

Ihr Abstand zu den Geschehnissen besaß eine Geradlinigkeit, Unverrückbarkeit, als würde sie gleich einer Karyatide die Säulen des Tempels halten und ein Aufstehen von ihr das ganze obere Schulgebäude inklusive der Putten zum Wanken bringen. Wohl war ihre Aufmerksamkeit deswegen in höhere Sphären gerichtet, um den hübschen Kopf in der Waage zu halten. Trotz dieser steifen Anmut einer mythologischen Gestalt strahlte sie intensive Wärme, ja Mütterlichkeit aus.

Im Wissen, ihr Interesse und ihre Beobachtung geweckt zu haben, tänzelte ich im hölzernen Barocksaal wie ein Geck in meinen roten Schuhen vor ihr her. Meine Eitelkeit war geweckt. In diesem Moment hätte ich es nicht nur mit einer Kanephore der griechischen Antike, sondern mit einem ganzen Harem davon aufgenommen, mein Haupt umschwirrend, das Dampfbad mir eingiessend, in dem sie mich mit Rosenwasser verwöhnen sollten, stolz & schwatzend. Im lauwarmem Thermenwasser über türkisen Kacheln aus 1001 Nacht würde ich mich gehen lassen, wie ein griechischer Gott unter Nymphen. Sie würde mich umhegen, pflegen und lieben und wenn sie alles gegeben hätte, dann würde ich zur nächsten eilen, um unersättlich nach mehr zu bitten. Genau in dem Moment, wo sie mir alles opfern sollte, in dem Augenblick, da sie ganz sie selbst war, gefangen in ihrer eigenen Großmut und Großzügigkeit, in der Sekunde, da sie ihren ganzen Liebbreiz vor mir entfaltete, würde ich sie fallen lassen, wie ein Senkbeil an einem Lot bis auf den Grund des Brunnens, der sie nährte. In diesem Augenblick würde ich ihr die Enttäuschung ansehen und damit endlich Klarheit über ihre Gefühle für mich gewinnen. Ich kannte mein Spiel und ich hoffte oder redete mir zumindest ein, sie wusste, dass ich es mit ihr spielen würde. Mein Sadismus heizte die Situation auf.

Aus dem Hades des Schulstaubes auf die Bühne des großen, mittelalterlichen Versammlungssaales, den die aus den Dachträgerenden geschnitzte Engel seit Jahrhunderten stumm beobachteten, hatten sich unter dem riesigen hölzernen Kronleuter mit Kerzen-Imitaten, die sicher einmal echt waren, inzwischen drei potentielle Direktoren versammelt. Heraus stach wegen ihrer blonden, tourpierten Haare eine an eine Heurigen-Besitzerin erinnernde Mitfünfzigerin, die glaubte, mit ihren Zenzi-Allüren die Menge für sich einzubacken. Keiner konnte sich jedoch dafür erwärmen, von ihr wie ein Kindergartenkind behandelt zu werden. Daneben präsentierte sich eine strenge, teuer in dezente Designer-Tücher gekleidete Hochgewachsene der Oberschicht mit kurzen schwarzen Haaren, die in ihrer Aufmachung ebensogut als Bundespräsidentin kandidieren hätte können. Jedes Wort von ihr konnte ich mitgeschreiben und aufs Klo hängen. Man sah ihr die Nähe zur Kirche genauso an, wie ihre Parteitreue zu den Konservativen, deren Zugehörigkeit sie bei jedem zweiten Satz in moralischer Härte herausstrich. Dabei erntete die dürre Vollprofessionelle jedesmal einen schielenden Seitenblick der blondierten sozial-treuen Vollbusigen. Das hohe verbale Niveau der unterkühlten Schwarzen stammte aus der Vizeregentschaft am Gymnasium für Hochbegabte, die sie in ihrer heutigen Rolle aufs Spiel setzte. Fast verschwindend klein wirkte hinter den aufgeplusterten zwei Hühnern ein trotz Brille stark kurzsichtig wirkender Familienvater, der als dritter Kandidat nur die Ausbildung als Fußballschiedsrichter vorzuweisen hatte. Er versuchte angestrengt, seine mangelnde Qualifikation mit der Infragestellung des Status Quo und der Aussicht auf Befreiung der Lehrerschaft von allen Pflichten und Zwängen wettzumachen. Was ihm trotz seines fortgeschrittenen Alters und der trockenen, scheu vorgetragenen Agenda hinter seinem Grauschleier der Blindheit gegenüber dem Glanz dieser Welt vis à vis der ausgeschmückten Damen wie ein junger Freak aussehen liess. Das Fehlen jeglicher Berufstrophäen versuchte er mit seiner Erfahrung als Familienvater und hemdsärmeligem Pragmatismus wettzumachen. Sein Sportgeist aus einem Leibesübungs-Gymnasium in Ottakring, der verwahrlosten, aber kulturell aufstrebenden Arbeitervorstadt Wiens, verfehlte nicht den Applaus, zumal die Lehrer den geifernden Furien weniger trauten, als der sachlichen Ehrzeiglosigkeit eines amtsmüden Gleichgesinnten.

Angestachelt von der Bühne der falschen Eitelkeiten befand ich mich zwei Reihen vor den Augen meiner Persephone selbst ihrer Gunst empfohlen und reichte ihr den Wahlzettel, als müßte sie den Liebeskelch trinken und damit mich nominieren.

„Wen werden Sie wählen?“, fragte sie meine Wiener Maske interessiert. Ich tat dabei so, als würde ich sie mit jeder ihrer Antworten selbst schon erobert haben. Es gefiel mir, zu gefallen.

„Den Herr´n natürlich.“

Sie schaute mich verwundert an, entgeistert über mein Interesse, ahnte sie doch genau, dass es mir keinen Pfifferling bedeutete, wer das Haus in Zukunft zu regieren hätte. Undankbarer Job – in meinen Augen – hatte ich nicht meine Schlichen und Tricks, wie ich mich vor zuviel Arbeit drücken konnte, seit zwei Jahrzehnten in diesem Haus in allen Lagen geübt und brauchte demnach um meine pragmatisierte Stellung nicht zu fürchten.

Sie öffnete ihre Handflächen und schaute sie andächtig an.

„Sie müssen die Entscheidung vibratorisch fällen“,

meinte die Spynx kyryptisch.

„Nur die zweite Kanditatin aus der Begabtenschule ist kühl. Sie hat das Kaliber für den Job, trotz ihrer augenscheinlichen Härte, die doch nur vorgespielt ist.“

Sie streckte den linken Zeigefinger hoch.

„Sie fühlt sich unterlegen. Deshalb.“

Die prompte Reaktion verblüffte und faszinierte mich gleichzeitig. Jedoch fiel es mir schwer, einen wohlwollenden Gedanken an das drahtige, hochambitionierte Mistgestell zu wenden. Sie hätte uns Lehrer aus der gewohnten Bahn gerissen, um auf unserem schweißgeplagten Rücken Karriere zu machen.

„Mir gefällt der Direktor aus Ottakring“, meinte ich. „Er ist ein Prolet, aber die Lehrer haben sich fast einstimmig für ihn entschieden“, urteilte ich unserer geheimen vortäglichen Lehrerkonferenz und dem Applaus entsprechend.

„Er hat die meiste Erfahrung, ist ein Mann mit legeren Vorstellungen, bleibt am Boden der Tatsachen, ist also leicht zu handhaben. Die zweite Kandidatin ist von der Kirche, streng, neu und katholisch. Wir trauen ihr nicht über den Weg. Sie würde das ganze Haus auf den Kopf stellen.“

„Ganz heiß, der Ottakringer“, entgegnete sie enttäuscht.

„Sie müssen Ihre Hände sprechen lassen“, argumentierte sie weiter,

„anstatt nur auf ihren egoistischen Vorteil zu schauen.“

Verdutzt drehte ich meine Handflächen wiederholt nach aussen.

„Ich werde ihnen einmal zeigen, wie das geht“, setzte Sie auffordernd lächelnd hinzu.

„Aber nicht jetzt, Sie müssen doch ihre Zettel verteilen.“

Ich war verwundert und gleichzeitig entzückt darüber, dass sie im Gespräch mal wieder die Oberhand gewann. Ich spürte ihre Aufmerksamkeit auf mir, wie etwas sehr Intensives, etwas Grösseres und zugleich Angst-Einflössendes. Zurück zum Stapel Papier in meiner Hand! Ich hatte meine Aufgabe komplett vergessen. Mir war Ort und Zeit entschwunden, als wären wir schon immer hier gestanden, auch schon als die ganze Menschheit dieser Stadt unser nicht gewahr war, als dieses Haus nicht stand, als noch niemand wußte, dass jemals jemand Kinder unterrichten, geschweige denn mit deren Eltern sprechen würde. Und da verschwand sie, das lange Bein zurück an ihren Körper geschlagen, sanft entfliehend, in vollkommener Ruhe mit sich selbst.

Unbewußt erwartete ich sie seitdem jeden Donnerstag. Oft kam es zu einem kleinen Gespräch über eine Anekdote. Fast immer, wenn sie mich vor der Klassentüre oder auf meinem Weg ins Lehrerzimmer, wo ich alle sieben Sachen einsammelte, anhielt, tauchte aus dem Nichts das Musikgenie Pichler auf, um unser Gespräch zu unterbrechen und sein Lieblingsthema – die Musik – aufzutischen. Oft wollte er nur unsere Aufmerksamkeit auf seine lapalienhaften Wehwehchen lenken. Er lobte die Mutter kontinuierlich, als würde er mich damit auffordern, es ihm gleich zu tun. Es lag ihm etwas daran, mir zu zeigen, wie man um sie warb, aber dergleichen Umgarnung war nicht mein Metier. Ich glaubte nicht an die Etikette, die Floskel, diese fahlen Vorhänge auf der Bühne der Höflichkeit. Für mich war sie ein Rätsel. In erster Linie galt es daher, Vorsicht walten zu lassen und die Kontrolle zu behalten. Verwirrung war das Mittel zur Herrschaft. So sprach ich einmal ausgelassen mit ihr, das andere Mal tat ich so, als wären wir uns nie begegnet. Dabei überwachte ich ihre emotionalen Reaktionen danach, ob sie von meiner Schroffheit etwa verletzt war.

Sie hingegen tat, als hätte sie mein Versteckspiel nicht gesehen. Die Aula belebte sich unter ihrer Gegenwart so, als wäre sie immer hier gewesen. Heute brachte sie mitten im Unterricht einen Bildband über die Wiener Neuzeit mit und knallte ihn auf mein Pult, mit der Bemerkung: „Für ihre Kinder.“ Ich brachte kein Wort heraus.

Auch schien sie jede Stimmung von mir zu bemerken, eher beiläufig, als inständig. Als wäre meine Hochspannung nur Nebensache. Dabei glaubte ich, dass sie sogar sehr großen Anteil daran nahm. Doch war ihr daran gelegen, meinem hochsensiblen Gemüt keinen Wert beizumessen. Als gälte es, ein anderes, höheres Ziel für mich ins Auge zu fassen. So war es auch, als mein Sohn Anfang Februar mit dem Liebhaber meiner Noch-Frau nach Madagaskar in den Urlaub fuhr. Schlimm genug, dass sie seit 18 Jahren – der dreifachen Zeit, die wir es zusammen mit den drei Kindern ausgehalten hatten – einen Liebhaber hatte. Noch dazu den besten Freund des Hauses, der in den Ferien oder zu Hause immer bei uns gewesen war. Wahrscheinlich hatte sie ihn sogar in unser Ehebett eingeladen. Barbara verriet es mir erst vor drei Jahren. Danach besorgte mir meine Tochter eine eigene Wohnung: „Damit ich nicht verrückt werde“. Fünfzehn Jahre lang also hatte ich nichts bemerkt. Oder wollte ich nichts bemerken?

Ich war immer ein Einzelgänger gewesen, in einem früheren Leben vielleicht ein Höhlenbewohner, mit Sicherheit jedoch ein Mönch. Vielleicht ein Jesuit auf der Wanderschaft in den Bergen Niederösterreichs? Ob ich mich am Mariahilfberg in die Einsiedlerhöhle zurückzog, um nur allein mit mir zu sein? Mußte ich deswegen im jetzigen Leben karmisch das Joch des Lehrers aushalten, ständig gequält, laufend gepiesakt von der mich umkreischenden Brut? Nun war ich längst ausgezogen aus ihrem schmutzigen Haus, doch erinnerten mich die mitleidsvollen Blicke unserer Kinder stets an das unglückliche Ehegeschehen. Zöglinge merken alles. Meine Tochter, mit Ihrem Kontrabaß und ihren Allyren ein Ebenbild meiner Noch-Frau, die Klavierlehrerin und Organistin war, hatte jedenfalls alles genau mitbekommen. Sie war ja auch die Älteste, thronende Richterin und Hohepriesterin über unsere Ehe.

Jedenfalls mußte diesen Monat mein Lieblingssohn mit dem Nebenbuhler Urlaub machen. Wer in unserer Familie konnte sich ein Ticket nach Madagaskar leisten? Mein Lehrergehalt und die paar Schulstunden der Mutter – als Organistin war sie längst nicht mehr gefragt – reichten gerade für einen fünftägigen Skiurlaub im Winter, Sommerferien in Kroatien und die zwei Wohnungsmieten aus. Jedenfalls war mir an diesem Tag schrecklich zu Mute. Die Vorstellung alleine, den Sohn fröhlich an der Seite des Schamlosen, des Bevorzugten und Bessergestellten zu wissen, reichte aus, um meinen tagtäglichen Grieskram auf die Spitze zu treiben.

Der Eindringling merkte das. Sofort. Ein Stromschlag aus meinem sturmgeladenen Trafo reichte aus, um ihr ein Bild von meinem Zustand zu geben. Ohne Umschweife stach sie durch meine stumme Ummantelung gerade wie ein spanischer Dolch mitten in meine offene Wunde.

„Sound-Engineer“ ist ihr Sohn? Dann kann er mir helfen“, meinte sie freudig.

„Ich veranstalte ein Konzert im Mai und wir haben noch keinen Tonmeister.“

Ich spürte, sie würde alles tun, um mich freudig zu stimmen. So gab ich klein bei.

„Im Moment weilt er in Afrika, auf Madagaskar“, gab ich unumwunden zu, um ihr die weitere Recherche zu sparen, denn ich spürte, sie würde nicht aufgeben, bis sie es erfahren hätte.

„Madagaskar?“ fragte sie.

„Da muss er aufpassen, da hatten Sie vor einem Jahr noch einen schlimmen Ausbruch der Lungenpest. Ist es das, was Ihnen Sorgen macht?“

„Nein“, gab ich unumwunden zu und drehte mich weg, um einer weiteren Befragung aus dem Weg zu gehen.

Sie brauchte nicht weiterzufragen. Ihr ehrliches Mitgefühl war mir Trost genug. Nähe, das war etwas, für das ich noch nicht bereit war, es spüren zu können.

Etwa eine Woche später schaute ich in der fünften Stunde beim Öffnen der großen Flügeltüre des Zeichensaales in Richtung Musikzimmerstiege und erblickte ihre Rückansicht beim Aufstieg der Stufen. Ihre langen schwarzen Haare waren kurz eingelockt und hingen heute hoch über dem Angora-Pulli und der roten Lederhose. Rote Schuhe. Wie aus meiner Kollektion. Aus Solidarität? Oder passten sie besser zu den Beinkleidern? Mehr verwunderte mich ihr Entfliehen ins Reich der Musik. Sie stieg ohne sich umzudrehen, eleganter, als sonst, hinauf. Ich musste erfahren, was sie dort wollte. Lehrkörper war sie keiner und die Direktion befand sich am gegenüberliegenden Stiegenaufgang. So wartete ich eine Weile, in der ich glaubte, dass sie selbstverständlich wieder hinunterkäme, in der Erkenntnis, sich im Weg geirrt zu haben: Aber sie kam nicht.

Um meine Neugierde zu überwinden, schlich ich auf leisen Sohlen nach Unterrichts- Ende schließlich hinauf und prüfte alle Klassenzimmer. Die Tür des zweiten Raumes im Obergeschoss stand einen leichten Spalt offen. Da vernahm ich auch schon ihr lautes, jüdisches Lachen, wie aus einer anderen Welt. Nie hätte ich es gewagt, mich so laut, überhaupt so ausgelassen zu äussern, weniger noch in diesen Räumlichkeiten, in denen jeder den anderen hören, sich über einen lustig machen konnte. Im Wald, alleine, vielleicht, aber so ungeniert vor aller Kinder Ohren? Auf einmal beschäftigte mich diese unverhaltene Lebensfreude. Zumal sie heute einem Anderen gewidmet schien. Habe ich es versäumt, mein Interesse lebhafter zu zeigen? Habe ich es überhaupt bewiesen? Nein. All diese Monate, es musste ein halbes Jahr vergangen sein, tat ich keinen Schritt in ihre Richtung.

Keiner wußte von meinen Beweggründen und keiner merkte sie. Meine Stille war mein Versteck und gleichzeitig meine Geissel. Niemand konnte meine Intentionen wahrnehmen, bemerkte ich sie doch selbst oft kaum. Meine Emotionen waren wie ein verschlossener Raum. Ich hatte ihn zugesperrt und den Schlüssel dazu weggeschmissen. Ich wußte es selbst nicht genau: Interessierte ich mich für diese Person? Oder kam sie mir nur merkwürdig vor, gegensätzlich zu meiner Vermummtheit? In meinem Kopf war alles möglich. Er verdrehte Liebe in Hass und Zuneigung in Neid, Wut oder Ärger.

Meine mißliche Lage ließ mir keine Wahl: Ich mußte zum Türspalt hineinsehen. Da stand sie, zum Pult gewandt, Musiksklave Pichler vor ihr kerzengerade auf dem Stuhl – wie festgezurrt zur Exekution. Sie hielt die rechte Hand mit einem leichten Abstand vor seine Stirne und die linke hinter seinem schmalzigen, umgewaschenen Haar, als wollte sie ihm das Öl hinauspressen. Ein mystischer Hauch ging von ihrer Gestalt aus. Keine Frage: Sie zauberte die Götter herbei, anstatt wie ich im Moment Stromschläge auszuteilen.

„Im Hinterkopf ist die Vergangenheit“, erörterte sie dem stupifizierten Pichler ihre Handhaltung.

„Im Frontallappen, im Vorderkopf ist die Zukunft. Wenn sich Beides im Gleichgewicht befindet, dann bist Du in der Gegenwart.“

„So einfach geht das?“ säuselte der gedutzte Hansi, halb eingeschlafen im Morgenmantel ihres lieblichen Heilverfahrens.

„Ja. Du mußt nur mit Deiner Aufmerksamkeit zehn Zentimeter über dem Kopf bleiben. Die Vibrationen, die über die Hände fließen, machen den Rest. Zu Hause kannst Du das mit Deiner rechten Hand wiederholen. Du wirst sehen, es geht genauso schnell.“

„Jetzt bin ich ganz müde geworden.“

Pichler nickte fast ein, so stark sank er mal links, mal rechts vom Stuhl.

„Weil Du zu sehr auf der aktiven Seite, auf dem rechten Sympatikus warst, pendelst Du nun in die Gegenrichtung, um das auszugleichen. Das macht dich müde“. Erklärte die Sphinx.

Halte die rechte Hand Richtung Erde – die andere bleibt offen, und leite so die Negativität der lethargischen, linken Seite ab, bis die Emotionen nur noch aus Freude bestehen...das weckt Dich wieder auf.... so, jetzt machen wir uns an Deine Nebenhöhlenentzündung, das ist hier, das Hamsa, an der Nasenwurzel.“

Pichler war wie versklavt. Diesmal nicht von der Musik, sondern von deren Muse.

Das war mein letzter Eindruck. Denn genau in dem Moment huschte ihr Sohn im Gang um die Ecke, sah mich und ich floh, so schnell ich konnte, wieder in mein Reich hinunter.

Der lebendige, immerpräsente Pichler, sollte er mir ihr Interesse entrissen haben? Hatte ich wieder mit meiner abweisenden Art, meiner Isolation jemanden von mir gewiesen? Für immer verloren? Gewiss, ganz sicher war es mein Schicksal, allein zu bleiben. Darin lag ja der Grund, warum ich mich nicht um Anschluß, nicht um Freundschaft bemühte. Die Untreue, das kalte Abwenden, ich ahnte es leise, lange vor dem Herannahen. Die reflektierte böse Absicht wartete quasi an der Türschwelle auf mich. Umso mehr noch fürchtete ich die Heuchelei, das Undurchschaubare der Absichten, die vielleicht heute hell glänzten und schon morgen sich als Zur-Schau-Stellung entpuppten, als berechnende, unbarmherzige Täuschung, nicht ahnend, dass ich mich selbst in meiner Erwartungshaltung spiegelte. Dieses Lachen, ihr kakophones Lachen, hatte es nicht auch etwas Blasphemisches, einen sarkastischen Unterton? Würde sie schliesslich über meine Unbeholfenheit lachen und erhaben über meine Leiche schreiten, so , wie ich es mit Pichler tat?

Einfacher, angenehmer als jeder innige Kontakt zu Menschen, der mich letztendlich mit einer Enttäuschung über mein eigenes Verhalten konfrontieren konnte, erschien mir immer noch der Rückzug zur Musik, zu Konzerten im hermetischen Saal, wo jeder Zuhörer in sich schwieg. Denselben Zweck verfolgten meine Radio-Abende zu Hause, jedenfalls Aufenthalte in Gefilden, wo die Sprache nicht mehr wesentlich war, wo das, was vermittelt wurde, sich stumm, ohne die leiseste Anwandlung, etwas Vorspielen zu wollen, bar jeder Unaufrichtigkeit äußerte. Die Tonkunst bat keine Chance zur Lüge, sie war eine Zuflucht vor meinem Gewissen und ich hörte sie, wann immer Emotionen aufrauschten und nach einem Griff in meinem Herzen suchten. Die Töne kamen in Meereswellen und kehrten meine unbesuchte, unbetretene Bucht wie ein Besen, schwemmte den Sand meiner stillen Höhle aus, holte sich die toten Muscheln, Schalen und Krebse zurück. Nichts hielt sich fest in mir, kein Wesen umklammerte mich, an keines wollte ich gebunden sein. Alles gab ich dem Wasser hin, um nach der Flut scheinbar wieder allein mit mir im Reinen zu sein.

In hundert Gedanken versunken und dadurch bar jeder Trauer über die Untreue meiner neuen Bekanntschaft unterrichtete ich meine restlichen Nachmittags-Stunden. Fast war ich erleichtert, einem sich anbahnenden Abenteuer entkommen zu sein. Wie immer nach einer anstrengenden Doppelstunde mit Achtklässlern umklammerte mich beim Hinausgehen an der Tür ein Schüler mit seinen Anliegen. Er suchte meine väterliche Zustimmung zu seinem Kunstwerk. Müde kam ich ihm nach, da stürzte die Jüdin zu mir, ließ alle mythologischen Hüllen fallen und ging in Enthusiasmus auf.

„Ich habe heute mit allen Musikklassen meditiert“, platzte sie in mein Gespräch hinein. „Und dann noch mit dem Musik-Lehrer!“

Mein Neid hatte sie längst abgetan. So stieß ich sie jetzt in Gedanken weit von mir fort.

„Und dem Pichler treibe ich seine Nebenhöhlenentzündung aus“, protzte sie weiter.

Sie fixierte meine starken Unterarme, als würde sie im nächsten Augenblick hineinbeissen. Ich fühlte mich wie eine steife Stelze, nackt, entblößt, auf den Spieß gesteckt, dem Verzehr preisgegeben und brachte kein Wort hinaus.

„Ich bin so glücklich“, strahlte sie und schwebte die Treppen hinab.

Meine Reaktion zählte nicht mehr. Sie hätte auch lange auf sich warten lassen – ihre gute Laune frohr mich fest wie einen Kaltblüter in andalusischer Sonne. Die Schüler standen im Mittelpunkt, die Kinder des Musiklehrers über mir. Sie hatte mich ausgespiehen wie der Brunnengötze am Gang vis à vis, in den Schatten gestellt, als hätte ich, in meiner Erwartungshaltung übergangen, darauf gewartet, wie ein eingeklappter Regenschirm im Sommer in die Ecke geworfen und vergessen zu werden. Ich hatte keine Handhabe. Meine Verdachtsmomente hatten sich selbst prophezeit, meine Angst und mein Zögern wieder einmal einen Querbrater heraufbeschworen.

Mir war klar, sollte ich ihre Aufmerksamkeit wiedergewinnen wollen, müßte ich mir etwas einfallen lassen, aus meiner Beobachtungsposition kommen und aktiv am Gespräch teilnehmen. Genau das war ungleich schwierig für mich, bedeutete es doch, etwas zu erwarten. Jede Erwartung zielte jedoch in meinen Augen auf eine Enttäuschung. Wie hasste ich selbst die Antizipation anderer. Eine Verabredung allein, zu einem fixen Termin, einem abgestimmten Tag, war mir ein Greuel. Konnte nicht im letzten Moment ein interessanteres Vorhaben dazwischenstoßen? Und war ich dann nicht gehindert, die einfachere Alternative zu leben, sondern gezwungen, es zumindest einem Dritten recht zu tun? Wen würde ich eher enttäuschen? Jeden Moment, jede Sekunde konnte sie zurückschnellen und mir in die offenen Augen fahren. Wie eine Schnecke würde ich in mich zurückkriechen. Ich hörte das knirschende Geräusch eines zerbissenen Gehäuses. Es hinterließ einen fahlen Geschmack und einen Knoten im Hals.

Diesen Donnerstag wartete ich, am Marterpfahl der Klassentafel gebunden. Alle Trafos meiner Seele sammelten sich zur knisternden Elektrizität eines Hochspannungswerkes. Sie bemerkte die Anspannung in der Luft, sah sie an meiner Körperhaltung. Unsere Verlegenheit ließ uns im Klassenzimmer verweilen, in der Atmosphäre des Moments verharren, als hätte man uns hinter dem Pult an einem unsichtbaren Elektrozaun angepolt. Sechs Monate währte das Semester. Wir konnten nicht mehr vor- noch zurück. Ich fühlte mich eingesperrt, gefangen in meiner Brust. Das Klassenzimmer mutierte zu meiner Gefängniszelle.

Still beobachteten wir gleichzeitig die Schüler bei ihren Buben-Mädchen-Spielen. Wir wußten dabei, dass wir dasselbe sahen. Zumindest schien es so. Schon lange sprachen wir miteinander ohne ein Wort zu wechseln. In der Stille verschmolz uns der Druck zu einer Person. Da platzte ich heraus:

„Meine Eltern haben mich als Mädchen erzogen“, fing ich an.

„Mein Bruder war ja schon da und meine Mutter wollte unbedingt eine Tochter.“

Es war die Wahrheit und dennoch wirkte es, als entschuldigte ich mich mit einem fadenscheinigen Vorwand dafür, passiv in meinem unerkannten Eck zu verweilen, während ich sie jede Kommunikationsarbeit leisten ließ.

„Witzig“, konterte sie und beobachtete fasziniert mein feminines Hüfte-Wiegen, welches gleichzeitig zu ihr hingezogen und abgestoßen schien, eine schlangenhafte Unentschiedenheit meines stets am Wohlwollen des Gegenüber zweifelnden Gemütes.

„Meine Mutter erzog mich als einen Jungen auf einer Bubenschule. Sie wollte unbedingt einen Knaben. Dabei gebar sie zuerst meine ältere Schwester.“

Die Vorstellung war wirklich komisch. Ein Rollentausch.

Ich musste sie interessieren mit einem mystischen Thema. Ich versuchte es mit dem bisschen Esoterik, das ich beiläufig aus Frauenmündern oder Magazinen aufgeschnappt hatte.

„Meine Persönlichkeitszahl ist eine 9“, prustete ich unzusammenhängend hinaus.

„Die NEUNER-Persönlichkeit ist ein Idealist und Visionär. Diese Menschen haben verschiedenste starke, oft extreme Erlebnisse in ihrem Leben, können dadurch aber zu echter Weisheit und Grösse gelangen“, brüstete ich mich wie der Enterich am Sonntag morgen.

Sie war verdutzt über meine ungebetene Eröffnung. Das Thema war ihr unbekannt und mein bisschen Metaphysik ganz offensichtlich vom Flohmarkt. Daneben gegriffen. Sie schielte unbeholfen auf einen Notensatz, den ich am Pult liegen gelassen hatte.

„Sie spielen auch Musik?“, wandt sie ein und rettete mich damit galant aus meiner Verlegenheit.

„Posaune,“

„Klassik?“

„Jazz“, aber ich höre gern Klassik. „Als Orchestermitglied hätte ich als Posaunist zu wenig zu tun, da wäre mir fad“, gab ich wahrheitsgetreu zu. „Da kommt ein Bläser nicht so oft zum Zug, wie etwa ein Geiger.“

„Da haben Sie wohl Recht“, meinte sie, „Bläser spielen meist nur kurze Sequenzen. Bei uns zu Hause wurde ein Leben lang Klavier gespielt“, setzte sie hinzu. „Bach, Mozart, Bruckner und Beethoven...“

Nun hatte ich einen Ansatzpunkt. Konzerte waren das einzige gesellschaftliche Ereignis, welches ich abseits meiner Lehrverpflichtung, die ich privat als Posaunenlehrer fortsetzte, pflegte. Nachdem man die meiste Zeit still saß oder stand, blieb nicht viel Platz für innige Konversationen und ich konnte mich im Auditorium in mein geliebtes Schweigen hüllen. Reden mußte ich als Lehrer genug. Mit dem gebührenden Abstand eines Vorgesetzten. Und was sagten schon Worte? Konnte man nicht mit Worten das Gegenteil ausdrücken, was man im Herzen empfand? Waren es nicht nur Floskeln voller Lüge im Samtgewand?

Nächsten Donnerstag schickte ich alle Kinder früher hinaus. Es war schon spät, aber ich sah ihren Sohn draußen auf seine Mutter warten. Sicher würde sie noch kommen und niemand könnte mich davon ablenken, eine längere Unterhaltung anzuknüpfen. Da hörte ich schon ihre hohen Absätze auf dem alten Steinfußboden im hallenden Gang. Indem ich meinen Oberkörper ihr zudrehte, fing ich sie auf. Sie konnte mir nicht entkommen.

„Heute ganz alleine?“

„Ja. Die Racker sind Gott sei Dank alle früher fertig geworden“, gab ich vor.

„Dann müssen Sie alles selbst aufräumen?“ fragte sie.

„Nicht der Rede wert“, meinte ich. „Das mache ich jeden Tag. Da kann ich mich einstellen auf das Konzert heute abend“, schob ich mit einem aufmunternden Lächeln ein. Sie kam mir zur Hilfe und wir räumten einträchtig die liegengebliebenen Malsachen in die Regale.

„Was spielen Sie denn?“

„Ich höre diesmal zu. Bruckner im Musikverein.“

„Bruckner. Auf der Orgel?“

„Nein. Die Philharmoniker spielen heute die 5te Symphonie, die Phantastische.“

„Die Philharmoniker? Die habe ich früher jede Woche gehört,“ lächelte sie in Nostalgie getaucht. „Dort war ein Geiger, den ich einmal interviewt habe. Es sind die Personen, die einen mit Orten verbinden,“ wähnte sie in Anspielung auf meine Homophobie.

Ihr Sohn rief sie ungeduldig hinaus.

„Ich bin immer am Stehplatz, da kann ich auch nach der Pause hineinhuschen. Ich weiss ja nie, wann ich mit dem Unterrichten fertig bin“, setze ich rasch hinzu, bevor sie verschwand.

Ich hoffte, sie würde kommen.

Der EIndringling

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