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Prolog

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Mai 2009

Der Geschmack von Salz haftete an ihren Lippen. Er schien sich überall zu verteilen. In ihren Haaren, an ihrer Kleidung und vor allen Dingen in ihren Körper. Gedankenverloren streifte sie eine Haarsträhne hinters Ohr und verschränkte fröstelnd die Arme ineinander, während sie ihre Strickjacke enger zog. Gegen Abend war es ein wenig kühler geworden aber Liv wollte unbedingt noch einen Spaziergang am Hafen machen, bevor sie sich wieder in ihr Hotelzimmer zurückzog, um ihr blutendes Herz zu verarzten.

Allein schon der Gedanke an die Einsamkeit dieses Zimmers zog ihre Stimmung herunter und vermieste ihr die Schönheit des Sonnenuntergangs, dessen intensiv orange-roten dunklen feuerfarben langsam den Horizont hinab glitten. Tief Luft holend, versuchte sie nicht weiter an den Grund zu denken, weswegen es sie hierher nach Oslo verschlagen hatte. Sie wollte einfach nur die Schönheit der Stadt zwischen Wald und Meer genießen und Manuel Dewenders Existenz vergessen. Er hatte ihr unbewusst das Herz gebrochen und ihre Seele gestohlen, während er noch nicht einmal ahnte, welchen Schmerz es ihr zufügte, an ihn zu denken, bei dem Versuch ihn ein für alle Mal aus ihren Gedächtnis zu bannen.

Am besten wäre es, wenn sie eine Amnesie bekäme, fuhr es ihr durch den Kopf, aber dann würde sie all die anderen schönen und weniger guten Momente ebenfalls vergessen, die sie geformt und zu der Person gemacht hatten, die sie heute war. Liv Bachmann, in Oslo geboren, in Deutschland aufgewachsen und nun zurückgekehrt an dem Ort, wo ihre Mutter ihr einst das Leben geschenkt hatte. Einem Ort voller Magie und Menschen, denen sie sich zugehörig fühlte, seit dem Augenblick, in dem ihre Füße norwegischen Boden berührten. Ja vi elsker dette landet, lautete die erste Zeile der norwegischen Nationalhymne, ja wir lieben dieses Land. Ja jeg elsker dette landet, dachte Liv und ließ ihren Blick über das Meer schweifen, auf dem sich Schiffe und Fähren wie geschäftige Bienen tummelten. Ja, ich liebe dieses Land.

Ein Moment der Stille senkte sich herab und drängte die geschäftigen Geräusche des Abends in den Hintergrund. Liv fühlte sich wahrlich zuhause angekommen, obwohl sie nie hier gelebt, geliebt und gelitten hatte. Aber das war etwas, das man ändern konnte, mischte sich ihre innere Stimme in das Geschehen ein und Livs ansonsten voller Mund presste sich zu zwei dünnen Linien zusammen. Sie fragte sich, ob sie tatsächlich hier leben wollte und alles in ihr, wusch wie eine heftig donnernde Welle über sie hinweg, während pure Zustimmung von ihrer inneren Stimme in ihr Bewusstsein gespült wurde.

Hilse, flüsterte der Wind, hilse min datter. Willkommen meine Tochter. Erschrocken fuhr sie zusammen und war froh, dass niemand sie zu bemerken schien, als sie sich vorsichtig umblickte. Warum nur passierte ihr das immer wieder? Weshalb konnte sie Dinge sehen und hören, die anderen Menschen offensichtlich verborgen blieben. Wieso war sie so dermaßen aus der Art geschlagen und konnte kein normales Leben führen? Weil du die bist, die du bist, Tochter. Phantastisch, dachte Liv und machte wieder kehrt, einfach nur phantastisch. Ihre Schritte wurden schneller und sie erwischte gerade noch die Bahn, die sie zurück zu ihren Hotel brachte. Livs Augen glitten über die Menschen, eine Mischung aus Touristen und den Menschen Oslos. Zu welcher Kategorie sollte sie sich zählen, fragte sie sich und blickte nachdenklich nach unten, wo die Schatten, der immer noch untergehenden Sonne tanzend über den Boden flirrten. Die rhythmischen Bewegungen der Bahn lullten sie ein und eine sanfte Melodie schlich sich leise in ihre Ohren. Sie wusste, dass es ein altes Wiegenlied war, obwohl sie es noch nie zuvor gehört hatte. Jedenfalls glaubte Liv, dass sie es noch nie gehört hatte. Sie hob den Kopf und eine junge Mutter stieg hinzu, leise eben dieses Lied summend, während sie ihr Baby im Arm hielt, während der Vater mit dem Kinderwagen folgte und sich neben seine kleine Familie setzte. Liv überraschte es kaum noch das solche Situationen sie ereilten, auch wenn es diesmal nur ein Lied war, das sich aus der Zukunft oder vielleicht auch aus der Vergangenheit in die Gegenwart geschlichen hatte. Das Baby schien sich an seine Mutter zu klammern und sie blickte aus dem Fenster, während die junge Frau immer weiter summte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und das nächste Mal, als sie wieder auf die Drei blickte, hatte sich die gesunde rosige Hautfarbe des Kindes blau verfärbt. Sie blinzelte geschockt und hielt die Augen einen Moment lang geschlossen, während Liv sich versuchte wieder zu beruhigen. Die Augen wieder öffnend sah sie, dass das Baby, immer noch dieselbe rosige Farbe, wie zuvor sein eigen nannte. Tränen brannten in ihren Augen und sie hoffte, das die mögliche Zukunft, die sie gerade gesehen hatte nicht eintraf. Aber das, so wusste Liv, war nur äußerst selten der Fall und sie hoffte, dass es sich diesmal um einen solchen handelte. Die nächste Haltestelle war ihre und sie stand schweren Herzens auf, auch wenn sie die beiden am liebsten gewarnt hätte. Aber das konnte sie nicht, wusste sie doch, dass der Großteil der Menschen diese Art von Vorhersage verteufelten, weil es ihnen suspekt vorkam und Angst machte. Bedauern ergriff sie und Liv machte sich auf den Weg in ihr Hotel, in der Hoffnung das ihre Voraussage nicht eintraf.

Sie lief und merkte nicht, als sie eine falsche Abzweigung nahm und sich von ihren eigentlichem Ziel entfernte.

Als Liv schließlich bemerkte, dass sie sich verirrt hatte, blieb sie stehen und drehte sich um sich selbst, während der Wind ihre Haut küsste. Sie befand sich vor einen kleinen Park, die Blätter der Bäume raschelten als tuschelten sie über ihr törichtes gedankenverlorenes Verhalten. Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich anhand einer Karte zu orientieren, die sie aus ihrer grau-silbernen Umhängetasche nestelte.

Relativ schnell hatte sie sich wieder orientiert und wollte sich gerade wieder auf den Weg zurück begeben, als ein Haus ihre Aufmerksamkeit erregte. Es hatte einen Vorgarten, in dem wunderschöne rote, gelbe und weiße Rosen blühten und ein kleiner Weg in der Mitte führte zu einem heimelig wirkenden Haus, von dem sie wusste, das es 1711 erbaut worden war. Wie magisch fühlte sie sich von dem Haus angezogen und hielt ohne Weiteres darauf zu, während sie von Glück sagen konnte, das momentan kein Auto die Straße befuhr und sie diese ohne Zwischenfall überquerte. Vor dem Haus blieb sie erneut stehen, musterte es und eine Welle an Gefühlen spülte über sie hinweg, die sie nur schwer wieder unter Kontrolle bringen konnte. Das Gedächtnis dieses Ortes war stark von den Gefühlen der Menschen in Beschlag genommen, die ihn bewohnten oder einmal hier gelebt hatten. Liv konnte das nie wirklich differenzieren, auch wenn sie seitdem sie in der Lage war zu denken, mit diesen Gaben lebte, die sie schon lange nicht mehr als Fluch betrachtete, auch wenn das, was sie mitunter sah, nicht gerade das gelbe vom Ei war. Was in den meisten Fällen der Fall war, dachte sie traurig und versuchte herauszufinden, warum sie so stark auf eben dieses Haus reagierte.

Aber noch, bevor sie sich auf die Schwingungen des Ortes einstellen konnte, um tiefer vorzudringen und mehr heraus zu bekommen, öffnete sich die Türe und sie stand einem fast perfekten Spiegelbild von sich selbst gegenüber. Liv zuckte zusammen, während ihr Puls sich beschleunigte und das Blut mit einer Geschwindigkeit durch ihre Adern jagte, von der Liv beinahe schwindelig wurde. Sie betrachtete die andere Frau und stellte fest, dass sie zwar Ähnlichkeit mit ihr besaß, aber dennoch Unterschiede vorhanden waren. Ihre Augen waren braun, Livs hingegen blaugrün, ihr Haar war pechschwarz, Livs glich eher einer Schlammpackung, während es erheblich länger war, als das der anderen Frau, das bloß bis über die Schultern reichte und dessen Stufen im Wind wehten. Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte sie leise an, während ihr eine Strähne vor die Augen wehte und kurzfristig die Sicht nahm. Automatisch streifte sie sich diese aus dem Gesicht und holte tief Luft um etwas zu sagen. Aber ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können und so schloss sie den Mund wieder. Die andere Frau lächelte schließlich und öffnete die Arme in einer Willkommen heißenden Geste und Liv runzelte mit der Stirn. Was in aller Welt ging hier vor sich, fragte sie sich und ihr kam es beinahe so vor, als hörte sie das Lachen einer Frau im Wind. „Willkommen“, unterbrach die andere Frau ihre viel zu schnell rasenden Gedanken. „Willkommen,“ wiederholte sie lauter, „auf der Ebene der Götter.“ „Wer sind Sie?“ brachte Liv endlich heraus und das Lächeln der Frau verbreiterte sich. „Ich bin Astrid Lindstrøm“, sagte sie und ergriff ohne Vorwarnung ihre Hände, „deine Schwester.“ Nein, dachte Liv. „Nein“, sagte sie laut und schüttelte bestimmt mit dem Kopf, „ich habe keine Schwester.“ „Doch,“ nickte Astrid und zog sie in ihre Arme, bevor sie sich wehren konnte, „die hast du.“

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