Читать книгу Verwobene Bildnisse - Natascha Skierka - Страница 6
Kapitel 2
Оглавление„Wie wollen wir die kleine Astrid eigentlich auf der Welt willkommen heißen?“ Lukas blickte sie fragend an, während Liv bereits an einer Art Taufkleid arbeitete, auf dem nicht nur nordische Symbole, wie Runen zu finden waren. „Oh“, meinte sie bloß, „wir beide werden sie taufen, so wie es unsere Ahnen getan haben.“ Überrascht sah er sie an, als wäre ihr plötzlich ein weiterer Kopf gewachsen.
„Taufen?“, fragte er.
„Ja, taufen,“ lachte sie und ihre Augen funkelten vergnügt, während sie einen keltischen Knoten, neben eine Hieroglyphe stickte. „Sag mir jetzt bitte nicht“, fuhr sie immer noch amüsiert fort, „das mein in Skandinavistik bewanderter Seelengefährte, nicht weiß, dass unserer beider Ahnen, ihre Kinder, getauft haben.“
„Doch,“ Lukas räusperte sich ein wenig unangenehm berührt. „Aber hast du keinerlei Befürchtung, dass Astrid, aus Versehen, im christlichen Glauben getauft wird.“
„Warum sollte ich das?“
Nun war es an ihr ihn fragend anzusehen, während die Nadel im Stoff steckte, geduldig darauf wartend, dass ihre heilige Arbeit fortgeführt wurde. „Erstens“, erklärte sie, „sah die christliche Taufe bis zur Adaption, der heidnischen vollkommen anders aus und die Menschen wurden, gänzlich unter Wasser getaucht, denn nur mit ein wenig geweihtem Wasser besprengt und zweitens, bindet die heidnische Taufe unser Kind nicht an irgendeinen Glauben, ob nun christlich oder sonst wie, sondern gibt ihr gute Wünsche und Segen mit auf den Weg und hier und da vielleicht sogar die eine oder andere Stärke, all der vielen Namensträgerinnen, die vor ihr diesen Namen trugen.“
„Dann willst du dir also nichts Eigenes ausdenken?“
„Willst du denn das wir uns etwas Eigenes ausdenken“, wollte Liv wissen und blickte ihn nachdenklich an.
Lukas Blick fiel auf das Taufkleid und die vielen verschiedenen Symbole, die golden und silbern hervorstachen. Sanft berührte er es und Liv spürte, wie ein sanfter Hauch von Verständnis einen Spalt in seiner Seele öffnete, bevor er es wieder losließ und sie ansah.
„Nein“, erwiderte er schließlich. „Das will ich nicht. Und außerdem,“ fügte er hinzu, „ist es im Grunde genommen auch egal, wie wir unsere kleine Astrid in der Welt willkommen heißen, solange wir beide sie lieben.“ Livs Augen füllten sich mit Tränen und impulsiv zog sie Lukas zu sich heran, um ihn zu küssen. Dabei stach sie sich an der immer noch herausragenden Nadel. „Au“, meinte sie lachend und steckte sich den Finger in den Mund.
„Oh nein,“ mit ernster Miene schüttelte er mit dem Kopf und legte eine Hand auf ihren Bauch, bevor er sich hinunter beugte, um mit ihrer Tochter zu sprechen. „Mama und ich werden dich auf keinen Fall Dornröschen nennen.“
„Mit Sicherheit nicht,“ stimmte sie ihm zu und ihre Hand gesellte sich neben seine. „Dafür aber planen Mama und Papa eine der schönsten heidnischen Taufen, die die Welt bis jetzt gesehen hat.“
„Ja, das tun wir,“ nickte er, sah sie an und küsste sie sanft auf die Stirn, während sein warmer Atem ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Astrid führte unterdessen einen kleinen Tanz im Leib ihrer Mutter auf. 1-0 für Mama! Sie liebte es einfach den endlosen Diskussionen der beiden zu lauschen, und da es ohnehin um sie ging, hatte sie jedes Recht der Welt, den beiden zuzuhören. Außerdem, war es auch ein wenig schwierig, dies nicht zu tun, da sie keinerlei Chance hatte wegzulaufen und den Stimmen der beiden zu entkommen. Und da sie das ohnehin nicht vorhatte, selbst wenn es möglich gewesen wäre, öffnete sie ihre Ohren und ließ sich von den Gesprächen der beiden berieseln. Sie lernte viel und hoffte, das sie das Gelernte nicht wieder vergaß, damit sie es auch in ihrer sterblichen Hülle nutzen konnte. Sie fuhr sich mit ihrer kleinen Hand über die Stirn. Der Platz hier drinnen wurde immer enger, und auch wenn sie diesen Zustand hier drinnen liebte, war sie doch froh wenn sie endlich geboren und ihre eigenen Wege gehen konnte. Und vielleicht schaffte sie es sogar die beiden dazu zu bringen, ihr eine Taufe zu bescheren, die das in den Anfängen liegende universelle Zeitalter, auf würdige Art und Weise zu begrüßen. Schließlich hatte sie es ja schon einmal geschafft, ihrer Mutter eine Nachricht zukommen zu lassen, als es um ihren Namen ging. Wieso sollte dies dann nicht auch noch ein zweites Mal funktionieren. Das Wasser ihrer kleinen Einraumwohnung spülte wärmend um sie und ein wohliger Schauer überlief ihren Rücken, während ihre Eltern außerhalb dieser, ihrer Liebe, physischen Ausdruck verliehen.
Sie war unendlich froh, dass ihre Seele die Wahrheit kannte und sie hoffte, das wenn sie geboren wurde, diese immer noch in ihr schlummerte und eines Tages, jeder der Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hatte, diese ebenso wie sie es tat wieder erkannte. Oh ja, dachte Astrid und ein fröhliches Glucksen drang aus ihrer kleinen Kehle, viele würden wirklich nicht schlecht staunen.
Vor allen Dingen würden viele es nicht glauben wollen. Es war ja auch schwer zu verstehen, das man sein ganzes Leben lang belogen worden war und die Gesellschaft, in der man lebte und die Geschichte, die man geglaubt hatte zu kennen, ebenso null und nichtig waren wie sämtliche Religionen dieser Welt.
Aber das war noch Zukunftsmusik, die erst noch geschrieben und komponiert werden musste, dachte sie. Und bis dahin musste sie selbst, erst einmal geboren werden. Und bis dahin freute sie sich einfach nur darauf, bald ein Leben als Astrid Lindstrøm, zu leben. In all dessen Schönheit und in all dessen wunderbar vielen bunten Facetten.
„Wo sollen wir den Baum einpflanzen?“ Liv, die sich ebenso wie er im Garten umsah, zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht so genau“, meinte sie. „Jedenfalls nicht zu nah am Haus, wo die Wurzeln sich noch unter dem Gemäuer hindurchschlängeln können.“
Der Wind blies sanft um ihr Gesicht und sie spürte wie mikroskopisch winzig nasse Regentropfen, ihre Haut benetzte, während Lukas und ihre Hand einander ergriffen. Erst letzte Nacht hatte sie einen Traum gehabt, indem die kleine Astrid sie kontaktiert hatte und indem sie, beinahe schon wie eine kleine Erwachsene geklungen hatte.
Jedenfalls hatte ihre Tochter sich gewünscht, dass ihre beiden Eltern nach ihrer Taufe, ihre Plazenta im Garten vergruben und darüber dann einen Kastanienbaum pflanzten. Irgendwie hatte Liv es geschafft, Astrid davon zu überzeugen, dass sie dies doch lieber einen Tag nach ihrer Geburt täten, weil die Taufe erst Wochen später, nachdem sie sich ein wenig von der Geburt erholt hatte, stattfand. Außerdem hatte Liv ihrer zukünftigen Tochter gegenüber argumentiert, dass dieses kleine Ritual, doch lieber unter ihnen Dreien und ihrer zukünftigen Patin Sylvelin bleiben sollte, die sich bereit dazu erklärt hatte, bei der Geburt als Hebamme zu helfen. Nicht nur weil das Sylvelins erlernter Beruf war, bevor sie erfuhr, dass sie selbst keine Kinder in diesen Leben bekommen konnte, sondern auch um die Bindung zwischen Patin und Patenkind zu stärken.
Deswegen rechnete Liv es ihr tausendfach und mehr an, das sie dies für sie und ihr zukünftiges Patenkind tat. Und auch wenn sie sich nicht bereit erklärt hätte, dachte Liv, wäre es ihr nicht zu verdenken gewesen. Und gerade aus diesem Grund hatte sie Sylvelin versichert, das wenn sie es im entscheidenden Augenblick, doch nicht schaffte, sie ihrer Freundin nicht böse sein würde und ihre eigene Patin Marit, die am Ende der Stadt wohnte, für sie einspringen konnte.
„Woran denkst du“, unterbrach Lukas ihren mehr als emsigen Gedankenfluss. „Daran wie sehr ich mich darauf freue, endlich unser Kind in den Armen zu halten“, erwiderte sie und umschlang seinen Hals, während sie ihn auf die Stirn küsste. „Dann sollten wir den Baum hierhin pflanzen“, schlug Lukas vor und Liv nickte. „Ja, das sollten wir.“
„Meine Nachmittagsvorlesung beginnt bald“, murmelte er und sie gab einen enttäuschten Laut von sich. „Schade“, murmelte sie, „dabei war dieser Moment gerade so schön.“ „Ich weiß“, erwiderte er, „aber es dauert ja nicht lange und morgen haben wir den ganzen Tag für uns, wo wir tun und lassen können was wir wollen, zwischen deinen Heißhungerattacken.“ Liv gab ein undefinierbares Geräusch von sich, bevor sie ihn mit strafendem Blick ansah, während Lukas sich sichtliche Mühe gab unschuldig zu wirken. „Vorsicht, Freundchen“, drohte sie ihm, „bevor meine Heißhungerattacken, mich nicht noch in eine Kannibalin verwandeln.“ „Dann sterbe ich wenigstens als glücklicher Mann“, neckte er sie und sie verdrehte mit dem Kopf schüttelnd die Augen. „Männer“, murmelte sie kaum hörbar, „ziemlich leicht zufriedenzustellen. Kein Wunder, das Frauen intelligenter sind.“ „Dafür erlegten die Männer ihren Frauen das beste Mammut, der ganzen Umgebung,“ lachte er und ihre Augen verkleinerten sich zu gespielt kleinen Schlitzen. „Sehr witzig“, sagte sie leise, „wirklich sehr witzig.“„Wieso“, meinte er und zuckte lapidar mit den Schultern. „Das zeigt bloß, das die Männer es schon immer verstanden haben zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nahrung und Mode für die angebetete Höhlenfrau zu beschaffen, um sie so gefügig zu machen für die wohlverdiente Belohnung.“ Seine Augen verdunkelten sich, bevor er ihr einen langen atemberaubenden Kuss stahl. „Ach wirklich,“ brachte sie atemlos hervor, nachdem sich ihre Münder wieder voneinander trennten. „Dann frage ich mich, wieso der Höhlenmann dann nicht darauf kommt, dass die Höhlenfrau ihre Reize nur einsetzt, um genau das zu bekommen, ohne selbst einen einzigen Finger dafür krümmen zu müssen.“ Gespielt gekränkt sah Lukas sie an und amüsiert lachte Liv, während die beiden sich langsam wieder ins Haus begaben. „Kannst du mir bitte meine Tasche aus dem Wohnzimmer holen, während ich mir ein paar andere Schuhe anziehe“, bat er sie und deutete auf seine von der Gartenerde verschmutzten Schuhe. „Sicher“, meinte sie, und während er die Schuhe an der Hintertüre auszog, um den Schmutz nicht ins Haus zu tragen, schlüpfte sie in ihre bequemeren Pantoffeln, um ins Wohnzimmer zu watscheln.
Dabei fragte sie sich, warum Lukas nie daran dachte, wie sie die Schuhe im Flur zu lassen, anstatt direkt mit ihnen nach oben zu gehen, wo sich im Schrank seine Alltagsschuhe und ihre festlichen ein geheimes Stelldichein gönnten. Seufzend griff sie nach der Tasche und wollte sie gerade hochheben, als sich der Verschluss, der offensichtlich nicht richtig zu war, löste, bevor ihr die Tasche zu Boden fiel. Leise fluchend bückte sie sich langsam und hob sie wieder auf. Zum Glück war neben einem kleinen schwarzen Notizbuch bloß seine Federmappe hinausgefallen, dachte sie, während sie beides wieder in die Tasche stecken wollte. Als sie jedoch nach der Federmappe greifen wollte, blieb ihr Blick an einen silbernen Ring hängen. Wie in Zeitlupe berührte sie ihn und hob ihn mit zwei Fingern auf, während sie sich langsam wieder aufrichtete. Auf der Innenseite des Ringes waren zwei Initialen eingraviert L und R, nur getrennt von einem Herzen. Eine ungute Vision ergriff sie mit solch einer Heftigkeit, die sie beinahe aus der Umlaufbahn geworfen hätte, wenn sie sich nicht noch immer an der Tasche festgehalten hätte. Dennoch, das Bild einer Frau, nistete sich in ihren Gedanken ein, die eine relativ bedrohende Wirkung auf sie hatte. Beinahe als hätte diese Frau, die Macht dazu, ihre im Wachstum befindliche Familie zu zerstören.
Vielleicht war diese sogar der Grund dafür, warum Lukas und sie in diesen Leben nicht lange beieinander sein würden, fuhr es ihr durch den Kopf. Aber noch wollte Liv nicht daran denken, ob das Schicksal Lukas und sie wenn überhaupt trennte. Sie versuchte den bitteren Beigeschmack hinunter zu schlucken, während sich unterdessen das Bildnis einer braunäugigen Frau mit blonden lockigen Haaren, versuchte in ihr Gedächtnis zu brennen. Bestimmt schüttelte sie den Kopf, während sie Lukas auf der Treppe hörte und schnell ließ sie den Ring wieder in der Federmappe und diese in der Tasche verschwinden, bevor sie diese schloss und ihm brachte.
„Sei schnell wieder da“, flüsterte sie, wie immer wenn er das Haus verließ. „Das bin ich“, versprach er ihr ebenso leise. „Und wenn du schon mal dabei bist“, fügte sie hinzu, „kannst du auch gleich ein Mammut für mich erlegen.“ Er lachte und küsste sie, bevor er das Haus verließ und sie ihn mit dem nagenden Gefühl hinterher blickte, das es vor ihr eine Frau gegeben haben musste, die entweder seine Frau war oder die er hatte heiraten wollen. Nein, dachte sie, sie wollte nicht an diese Frau denken. Schützend legte sie eine Hand auf ihren Bauch und versuchte, alleine schon ihrer Tochter wegen, all dies in die hinterste Ecke ihres Unterbewusstseins zu schieben, während Lukas der allmählich aus ihrem Blickfeld verschwand, sich noch einmal umdrehte und ihr zuwinkte, bevor er seinen Weg fortsetzte. Automatisch hob sie ihre Hand holte tief und langsam seufzend Luft, um gleich darauf die Türe zu schließen.
Astrid spürte, dass es Zeit wurde. Langsam aber sicher musste sie daran denken, dass sie ihre kleine Einraumwohnung räumen musste. Nicht nur um ihrer kleinen Schwester Platz zu machen, damit auch sie ins Leben kam, sondern weil es allmählich ein wenig eng hier drinnen wurde. Was die Untertreibung des Jahrhunderts war, dachte sie, während ihre kleinen Finger mit der Nabelschnur spielten. Außerdem wollte sie genau dahin. Ins Leben, es erkunden und genießen, während das Schicksal seinen Lauf nahm. Ein Schicksal, das sowohl die Nornen, als auch sie selbst spannen und webten und webten und spannen, während die Welt um sie herum sich allmählich in das veränderte, was sie alle brauchten, um sich von einer jahrhundertelangen Plage zu befreien.
Einer Gesellschaft die ihnen allen glaubte sagen zu können, woran sie zu glauben hatten, was sie als Sünde ansehen sollten und wie sich ihr Leben von der Wiege bis zur Bahre gestalten sollte. Aber zusammen mit ihrer Schwester würde sie es schaffen, diesem endlich ein Ende zu bereiten. Ein Ende, das für viele Menschen schmerzhaft sein würde, aber eine Geburt verlief nie ohne Schmerz, selbst wenn sie noch so leicht war. Sie versuchte sich um sich selbst zu drehen, aber dafür war einfach nicht mehr genügend Platz. Ein weiterer Grund, warum es allmählich an der Zeit wurde, das sie endlich zur Welt kam. Denn auch wenn es hier drinnen noch so gemütlich war, so wollte sie sich doch die Freuden und Leiden des Lebens nicht entgehen lassen.
Ein Frösteln durchlief sie und Astrid schüttelte sich ein wenig. Sie spürte, wie ihre Mutter verkrampfte und ahnte, dass ihr Weg ins Licht der Welt schneller freigestrampelt wurde, als es ihr lieb war. Sie atmete tief durch und versuchte sich gegen das Beben, das den Körper ihrer Mutter durchlief zu wappnen. Aber weder Astrid noch Liv konnten sich auf die Eile, die das Schicksal auf einmal in ihre Hände legte, wirklich vorbereiten.
Nicht dass sie es nicht versuchte, dachte Astrid, während ihr und ihrer Mutter eine kleine Erholungsphase gegönnt wurde. Obwohl es mit der schnell vorbei war und ein erneutes Beben ihre beiden Körper durchliefen. Sie spürte die Stimme ihres Vaters durch den Körper ihrer Mutter vibrieren und der beruhigende Singsang ihrer zukünftigen Patin drang in ihre Ohren. Das Fruchtwasser rauschte um sie herum und ließ die Stimmen darin untergehen. Sie konnte weder ihn noch ihre Mutter noch Sylvelin hören. Wellen liefen über sie hinweg, und noch während der Muttermund sich öffnete und einen kleinen Lichtstrahl in ihre Dämmerwelt durchließ, versuchte Astrid ohne Erfolg sich am Becken ihrer Mutter festzuhalten. Erstens wurde sie viel zu schnell in den Geburtskanal katapultiert und zweitens fand sie ohnehin keinen Halt dort. Die Enge raubte ihre beinahe jeglichen Atem und sie war froh, als die nächste Welle über sie hinweg rauschte und Stück für Stück in die Freiheit schubste. Das Erste, das sie hörte, war tiefes Trommeln. Das Erste, das sie sah, war der flackernde Schein der Kerzen. Das Zweite, das sie hörte, waren die Stimmen ihrer Eltern und ihrer Patin, die ein altes Wiegenlied sangen, das mehr als nur das war. Es war beinahe schon wie ein Gebet an das Leben selbst und Astrid fühlte sich mehr als geehrt, auf diese Weise auf der Welt willkommen geheißen zu werden. Wie durch einen Schleier erblickte sie die Gesichter ihrer Eltern, während jemand sie mit unglaublich kalten Händen auf den Bauch ihrer Mutter legte, deren verschwitztes aber glückliches Gesicht von Haaren verklebt war.
Ebenso wie sie immer noch mit Fruchtwasser besudelt war, während sich immer noch ein Teil ihrer Einzimmerwohnung auf dem Kopf befand. Sie blickte die beiden an und ein kleiner Blick in die Zukunft wurde ihr zuteil. Einer den sie am liebsten nicht getan hätte, denn er zeigte ihr, dass das Schicksal es mit den beiden nicht wirklich gut meinte. Sie holte tief Luft und ein quengelndes Geräusch befreite sich aus ihren Lippen. Ihre Eltern blickten sich glücklich an, während irgendjemand ihr kleines Gesicht vom Blut und Schleim befreite, damit sie etwas von ihrer neuen Welt sehen konnte, bevor man sie in ihr erstes Bad und danach in ihren ersten Strampelanzug steckte, unter dem man dann deutlich ihre erste Windel sehen würde können. Aber noch war sie mit ihrer Mama verbunden und diese ganze Prozedur lag noch vor ihr.
Sie gab zufrieden gurgelnde Geräusche von sich, während sie in den Armen ihrer Mama langsam einschlief. Schließlich war eine Geburt anstrengend und man wurde ja auch nicht alle Tage geboren, sondern nur einmal. Pro Leben!
Zufrieden und glücklich betrachtete Liv Lindstrøm ihre kleine Tochter. Sie schlief in Lukas Armen und sah relativ platt und zerknautscht aus. Mit anderen Worten sie war einfach perfekt! „Was für ein großartigeres Geschenk kann das Leben einen geben als das Leben selbst“, flüsterte sie und Lukas blickte mit Tränen in den Augen auf und nickte. „Ja“, sagte er leise, „es gibt kein besseres Geschenk.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und ließen ihr Gesicht erstrahlen. Sie fühlte sich mindestens genauso schlapp an, wie ihre Tochter aussah, und wollte einfach nur mit der Kleinen in ihren Armen und Lukas an ihrer Seite einschlafen und die Strapazen der Geburt hinter sich lassen, während sie immer noch mit dieser über die Nabelschnur verbunden war, welche immer noch zwischen ihr und diesem kleinen Wunder des Lebens pulsierte. Aber noch wollte sie sie noch nicht loslassen und in diese kalte, grausame Welt entlassen, sondern zusammen mit ihr noch ein wenig länger die Magie dieses besonderen Augenblickes genießen, bevor eine Schere endgültig die Verbindung zwischen ihnen kappte und sie ins Leben entließ, während eine andere geduldig darauf wartete, am Ende ihres Lebens den Faden wieder zu durchtrennen. Aber daran wollte sie jetzt noch nicht einmal denken. Schließlich hatte das Leben ihrer Tochter gerade erst begonnen und in wenigen Wochen würde bereits die Taufe der Kleinen stattfinden und Liv wollte, dass es so perfekt wie möglich für sie alle war.
Ihr Blick fiel auf Sylvelin, die ebenso glücklich strahlte wie Lukas und sie. Ohne zu zögern, ergriff sie die Hand ihrer Freundin, die ihr mit einem einzigen Blick alles sagte, was sie selbst dachte. „Unsere Tochter kann sich keine bessere Patin wünschen als dich“, flüsterte sie immer noch ein wenig von den Strapazen der Geburt geschwächt. Sie drückte ihre Hand und blickte auf die sterile Schere auf dem Nachtschränkchen. „Deswegen wäre es eine große Ehre für uns alle, wenn du zusammen mit Lukas und mir die Nabelschnur der Kleinen durchtrennst.“ Sylvelin schluckte hörbar und kämpfte sichtlich mit den Tränen, während sie abwechselnd Lukas und sie anblickte. „Aber“, versuchte sie zu sagen. „Nichts aber“, sagte Lukas leise aber bestimmt, während er nach der Schere griff und ihre Hand sanft über seine legte. Noch bevor Sylvelin es schaffte die Hand wieder zurückzuziehen, legte Liv ihre über die ihrer Freundin. „Du bist mehr als nur eine einfache Patin für unser Kind“, flüsterte Liv und spürte den Puls ihre Freundin unter ihren Fingern rasen. „Du hast ihr geholfen auf die Welt zu kommen, ebenso wie meine Patin es einst bei mir getan hat.“ Lächelnd dachte Liv an Marit, die zusammen mit Varg, ihren Mann, auf den Anruf wartete, dass eine neue Erdenbürgerin das Licht der Welt erblickt hat. „Und ebenso wie sie für mich wirst du für Astrid ihre zweite Mutter sein.“
Die Drei durchtrennten die Nabelschnur während Livs und Sylvelins Blick sich nicht voneinander lösten und stumme Tränen über ihr Gesicht liefen. „Danke,“ formte ihr Mund tonlos das Wort und Liv nickte bloß während Sylvelin die Kleine von Lukas vorsichtig entgegen nahm, um sie zu baden und anzuziehen. Livs und Lukas Hände verschränkten sich ineinander, während sie hörten, wie Sylvelin im angrenzenden Bad leise mit Astrid sprach und ihr von ihrer bevorstehenden Taufe erzählte und wie glücklich sie war, dass sie ihrer aller Leben auf so wundersame Weise bereicherte.
***
Bunte spiralförmige Windspiele waren überall verteilt und drehten sich tanzend im Wind, während die kleine Schar Menschen sich angeregt unterhielt. Zufrieden beobachtete Liv die Gäste aus Astrids Kinderzimmer, wo sie der kleinen vor ihren großen Auftritt, die Windel wechselte, einen leichten Strampler anzog und darüber ihr Taufkleid.
Unterdessen unterhielten sich Sylvelin und Marit, besonders angeregt. Wahrscheinlich tauschten sie sich über die Geburt ihres jeweiligen Schützlings aus, dachte sie und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Wie oft hatten Marit und ihre Mutter ihr von der schneeverwehten Mittwinternacht erzählt, in der der Strom ausfiel und sie nur beim Schein der Kerzen zur Welt kam, während ihr Vater unentwegt dafür sorgte, dass der alte Küchenofen mit genügend Holz versorgt war, damit Marit sie später baden und anziehen konnte, während Papa Mama dabei half, sich zu waschen. „Es ist eine Schande“, flüsterte Liv, „das die beiden jetzt nicht hier sein können.“
Aber vielleicht waren ihre Seelen ja hier, dachte sie, solange sie nicht schon längst wiedergeboren waren. Sie blickte Astrid an und für einen Moment hatte sie das Gefühl, Mama würde sie durch ihre kleine Tochter hinweg ansehen. Kopfschüttelnd runzelte sie mit der Stirn, aber als sie das nächste Mal in die Augen ihrer Tochter blickte, war das Gefühl ebenso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Tief Luft holend, hob sie Astrid vorsichtig hoch und stellte sich mit der kleinen, einen Augenblick ans Fenster. Seltsam, dass Lukas Familie und Freunde es überhaupt nicht geschafft hatten, nach Norwegen zu kommen, um Astrids Taufe mitzuerleben. Zwar hatten sie eine wunderschöne Karte geschickt, indem ein nicht unerheblicher Betrag, für Astrid beilag, mit dem sie ihr entweder selbst etwas kaufen oder auf einem Sparbuch anlegen konnten. Darin hatten sie auch ihre Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, das sie es nicht schaffen würden nach Norwegen zu kommen, um nicht nur ihre Enkelin, sondern auch sie endlich kennenzulernen. So war schließlich nur ihre Seite, von Astrids Familie anwesend und daran, dass ihr das Ganze doch ein wenig seltsam vorkam, insbesondere, da Lukas Mutter selbst aus Trondheim kam, wollte sie nicht denken.
Jedenfalls im Moment nicht, sagte sie sich. Schließlich sollte Astrids Taufe durch ihre trübe Stimmung nicht verdorben werden und irgendwann würde sich wohl endlich, die Gelegenheit dazu ergeben, die beiden Menschen kennenzulernen, die überhaupt dafür verantwortlich waren, dass Lukas existierte. Aber bis dahin musste sie sich wohl oder übel in Geduld üben. „Was meinst du?“ Liv blickte Astrid lächelnd an und schob ihre Gedanken erst einmal beiseite. „Ist mein kleines Mädchen bereit seinen großen Tag zu begehen.“ Glucksend antwortete Astrid ihr und griff mit ihren kleinen Händchen in ihr Haar, während Liv sich lachend umdrehte.
Kaum trat sie in den Garten hinaus, um zu dem noch kleinen Kastanienbaum zu gehen, den sie einen Tag nach Astrids Geburt von Lukas ihr und Sylvelin, feierlich zusammen mit der Plazenta eingepflanzt hatten, erklang die langsame Melodie einer langen hölzernen Flöte, begleitet vom Rhythmus einer Trommel. Die kleine Gruppe versammelte sich um sie herum, während Lukas sich neben sie stellte und Marit und Sylvelin ein altes Lied anstimmten, während Astrid sich just diesen Moment aussuchte, um einzuschlafen. Die Stimmen der beiden Frauen umspülten ihre Seelen und der Rhythmus der Instrumente beschleunigte ihren Puls, während Liv sich mit der kleinen im Arm, zu diesen bewegte und langsam mit ihr tanzte. Mehrere Male umrundete sie dabei Lukas der sich ihren Bewegungen folgend, auf der Stelle drehte, während sie sich dabei nicht aus den Augen ließen. Wie auf ein geheimes Stichwort hin blieben sie stehen und die Musik und der Gesang hielten abrupt inne. Liv hielt ihm ihre Tochter entgegen, während Lukas sie scheinbar kritisch musterte, bevor er sie schließlich entgegen nahm. Sylvelin trat zu ihnen und er reichte die kleine Astrid vorsichtig an sie weiter, bevor Marit den beiden jeweils eine kleine, bronzen schimmernde Schale, mit Wasser aus den Flüssen Oslos, überreichte. Stille umgab sie, nur unterbrochen von dem fröhlichen Zwitschern der Vögel, bevor leise sowohl Trommel als auch Flöte wieder einsetzten.
„Sei gesegnet du Wunder der Liebe,“ erhob Sylvelin leise ihre Stimme. „Möge das Schicksal sich stets auf deiner Seite befinden und dir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Auf das sich dein Weg lehrreich und neugierig gestaltet. Lebe dein Leben mit jedem Atemzug und koste es mit jedem Moment aus. Denn jeder Moment ist eine Erfahrung für sich, die dich weiterbringt und dich formt. Gib niemals auf und glaube an das, was du willst, vor allem aber an dich selbst. Sei voller Stärke, insbesondere wenn die Schwäche dich überrumpelt. Sei nicht zu stolz diese zuzugeben und gib sie zu, denn nur so kannst du zu wahrer Stärke gelangen.“ Sylvelin küsste die Kleine auf die Stirn. „Sei gesegnet du Wunder der Liebe.“ Gerührt blickten Liv und Lukas erst sie und dann sich gegenseitig an. Tränen schimmerten in ihren Augen und drohten ihnen die Kehle zu verschließen. Lächelnd räusperte Liv sich und auch Lukas holte tief Luft, bevor sie die Schalen über den Kopf ihrer Tochter schweben ließen.
„Wir bitten um den Segen unserer Ahnen,“ sprach Marit nun, „auf das diese gut achten, auf die jüngste Wurzel ihres Baumes. Wir bitten um die Weisheit ihrer Seelen, auf das sie ihr diese zuteilwerden lassen, um ihre eigene zu erlangen. Wir bitten um das Geschenk der Liebe, auf das sie nie versiegen und immer größer werden möge.“ Langsam ließen Lukas und Liv nun den Inhalt ihrer Schalen gemeinsam über den Kopf ihrer Tochter rinnen, während ihre Stimme sich mit seiner vermischte. „Wir heißen dich willkommen, du Wunder unserer Liebe“, sagten sie beide, „und geben dir den Namen Astrid.“
Die Zeit ergriff sie und formte und schliff sie unnachgiebig. Jahre vergingen und erneut wurde Liv schwanger und Lukas und sie erwarteten ihre zweite Tochter, während dieser auf das Ende seines Studiums zusteuerte und alle Hände damit zu tun hatte, für die Abschlussprüfungen zu lernen und eine herausragende Doktorarbeit zu schreiben. Etwas das sich als gar nicht so leicht herausstellte, als sich ein Geist aus seiner Vergangenheit bei ihm meldete, an den er schon gar nicht mehr gedacht hatte und der sein weiteres Leben mit Liv, Astrid und seiner noch ungeborenen kleinen Tochter, in ernste Gefahr brachte. Dieser Geist war eine ziemlich lebendige Frau, die auf den Namen Regina Johnen hörte und mit der er einmal zusammen gewesen war, bevor es ihn nach Norwegen, seinem Studium und zu Liv, der Liebe seines Lebens, verschlagen hatte. Und eben diese Liebe, sein Leben mit ihr und seiner kleinen Familie bedrohte Regina alleine schon durch ihre bloße Anwesenheit.