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Was ist Puja?

»Ein Sein nun gibt es, die Seher künden es mit vielen Namen.«

Rigveda I,164,46

»Arm wie ihr seid, meine Hausgötter – geht nur, geht mit den anderen zum Götterfest!«

Meister Issa, japanisches Haiku

Der normale westliche Tourist, der etwas Zeit in Indien, Nepal, Ostasien, Bali verbracht hat, wird mit bunten, oft unverständlichen Ritualen konfrontiert worden sein. Puja-Rituale gehören dort zum Leben wie das Essen, Schlafen und Atmen. Es gibt Pujas am Morgen bei Sonnenaufgang, um die Götter zu begrüßen, und am Abend bei Sonnenuntergang, um sie in die Nacht zu verabschieden.

Am frühen Morgen, nachdem Darm und Blase entleert, der Schleim aus Nase herausgespült und aus dem Rachen herausgehustet und der Nachtschweiß unter dem Guss einer Kanne oder beim Bad im Fluss oder Teich heruntergewaschen wurde, wendet man sich der aufgehenden Sonne zu, begrüßt sie mit heiligen Worten (Mantras)13, gießt den Göttern, den Ahnen und Verstorbenen sowie den Geistern reines Wasser aus. Oder man geht zu einem alten ehrwürdigen Baum, unter dem sich Lingam-Yoni – ein ovaler oder zylindrischer Stein, der die Gegenwart von Gott und Göttin darstellt – befindet. Man ruft das Götterpaar und die Gottheiten, ruft sie mit Muschelhörnern, Glöckchen und Trommeln, weckt sie mit den Düften schwelender Kräuter oder sorgfältig hergestellter Räucherstäbchen. Man gießt heiliges Gangeswasser über sie, damit auch sie ein morgendliches Bad genießen können, oder man begießt sie mit Milch, zerronnener Butter, Rosenwasser oder anderen flüssigen Kostbarkeiten. Man schwenkt Lichter für sie, zündet Butterlämpchen, füttert sie mit Obst, schmückt sie mit Blumen, singt und tanzt für sie, bis man selbst in Ekstase fällt, bis man an ihrer göttlichen Wonne teilhat, denn Wonne (Ananda) ist das Wesen der Götter. Und dann kann man, des Segens gewiss, sein Tageswerk beginnen. Man glaubt nicht an die Götter, man braucht nicht an sie zu glauben, denn man kennt sie, man erlebt sie. Auch wenn sie in einer Dimension leben, zu der die naturwissenschaftliche Methode keinen Zugang hat, sie sind da, so wie die Sonne, der Berg oder die friedlich grasende Kuh unleugbar da sind.

Am Abend ruft man die Götter wieder herbei. Man ruft sie in die Gegenwart, man ruft sie aus den Tiefen der Seele hervor, aus dem Himmel, aus der Erde, aus den Bäumen, Steinen, Pflanzen. Man lädt sie ein, auf dem Thron, dem Altar – vom lateinischen altare, »erheben, hochheben« – Platz zu nehmen. Es ist der Ehrenplatz; sie sind die verehrten Gäste, die man mit Leckerbissen, Gesang, Tanz, Blumen und Andacht verehrt. Nun sind sie wieder gegenwärtig und lassen uns teilhaben an ihrer Wonne. Wieder ist der Ort, die heilige Nische im Haus, der Platz unter dem Baum von einem übernatürlichen Glanz gefüllt, die jeder Anwesende wahrnehmen kann. Nun ist die Nacht gesegnet, die Kinder können ruhig schlafen, ohne dass Albträume sie plagen, Mann und Frau können liebend ineinander verschmelzen, wie Shiva und Parvati oder Krishna und Radha, und die Seelen der Kranken werden still, so dass die heilbringenden Götter, die Engel, ihnen Heilkräfte einflößen können.

Auch der Bauernphilosoph Arthur Hermes, einer meiner Lehrer, begleitete die Sonne mit Morgen- und Abendritualen. Vor dem Frühstück, nachdem er sein Herdfeuer gemacht hatte, begrüßte er all die guten Geister, die Erzengel und vor allem die Sonne, die für ihn das Licht des makrokosmischen Christus darstellte. Er begrüßte sie mit gespreizten Armen und rief ihnen die heiligen Laute »I-A-O« zu. Dann legte er sich meditativ den Tag zurecht und bat Michael, seinen auserwählten Schutzengel, um Segen. Am Abend, beim goldenen Schein von Bienenwachskerzen hielt er meditative Rückschau über den Tag, verband sich mit dem Christus, dem »Ich« der Schöpfung, bat um das Gedeihen von Wiese, Feld und Wald, und für Mensch und Tier, die auf seinem abgelegenen Einödhof im waadtländischen Jura zu Hause waren. Dann legte er sich in sein selbst gezimmertes Bett, das einem Sarg glich – für ihn war der Schlaf ein kleiner Tod, ein Hinübergleiten in die geistige Welt; das Erwachen am nächsten Morgen war wie eine kleine Wiedergeburt auf dieser Seite des Seins. »Damit ich es nicht vergesse«, betonte er mir gegenüber immer wieder, wie wichtig es sei, den Morgen mit dem Abend zu verbinden.

Erst später, nachdem ich in Indien gewesen war, wurde mir klar, dass diese Rituale, die Hermes jeden Tag getreu durchführte, eigentlich auch Pujas waren.

Verschiedene Puja-Rituale

Es gibt einfache, spontane Pujas und solche, die unglaublich kompliziert, aufwendig oder zeitintensiv sind. Wenn man in Indien, auf dem Land oder im Dschungel mit den Adavasi, den eingeborenen, analphabetischen Waldbewohnern, unterwegs ist, kann man erleben, wie sie, wenn sie einen Geist wahrnehmen, diesem im Vorbeigehen eine Blüte pflücken und als Gruß zuwerfen – auch das ist Puja, eine kleine Puja. Manchmal läuft man durch den Urwald und sieht am Fuße eines alten Baums einen nassen Stein, auf dem eine Blume oder ein dreiblättriges Holzapfelblatt (Bel, Bilva) so liegt, als sei es zufällig darauf gefallen oder der Wind hätte es dahin geweht. Kein vorübergehender Tourist wird je erkennen, dass hier einer Gottheit Wasser gegossen wurde oder dass dem dreiäugigen Gott, dem Shiva-Triambakam, das dreifach gefiederte Blatt als Dank oder Opfergabe geschenkt wurde. Nur ein Kundiger wird wissen, dass sich hier eine Menschenseele mit dem göttlichen Urgrund verbunden hat. So einfach kann das sein; dazu braucht man kein riesiges Gebäude, keine Tempel oder Kathedralen, keine Priester in Ornat, keine Bischöfe oder sonstigen Vermittler. Für diese Eingeborenen besteht kein Zweifel: Das Göttliche ist überall, ist in jedem gegenwärtig und kann immer und jederzeit gerufen werden.


Beim Lingam-Puja.

Natürlich gibt es auch groß angelegte Pujas, an denen der ganze Stamm oder die ganze Gemeinschaft teilnimmt, die von Ritualspezialisten, den so genannten Pujaris oder Pujaka, durchgeführt werden. Oft sind das Jahreszeitfeste, die im Einklang mit den natürlichen Sonnen- und Mondrhythmen, mit dem landwirtschaftlichen oder sakralen Kalender, oder in Zeiten besonderer Not, etwa Krieg oder Seuche, zelebriert werden. Aber solche Zeremonien gehen oft schon in den starren Ritualismus über, der fast überall die organisierten Religionen befallen hat, und der von machtbewussten Priesterhierarchien verwaltet wird.

Pujas für die Flussgöttin

Ein solches großes Fest ist das Lichterfest Divali (auch Dipavali), das in der Neumondnacht im Monat Karttika (Mitte Oktober bis Mitte November) gefeiert wird.14 Bei Anbruch der Dunkelheit werden Millionen von Lämpchen und Laternen angezündet; Abertausende Kerzen treiben in winzigen, aus Blättern gefertigten Booten den Ganges hinab, so dass es aussieht, als fließe die Milchstraße mit all ihren Sternen auf der Erde. Der Ganges ist eine Göttin in Flussgestalt. Sie bringt das Wasser, welches das Leben ermöglicht, auf die Erde herab, zugleich aber trägt der mächtige Strom die Asche oder die körperlichen Hüllen der Verstorbenen in den großen fernen Ozean, in die vielschichtige Welt der Vorväter (Pitri). So bringen die Lämpchen den Verstorbenen Licht; den Lebenden aber wird es mit Segen und Wohlstand gelohnt. Es ist ein uraltes indogermanisches Fest, das bereits die Kelten als Totenfest, als Samhain, zelebrierten. Zu Samhain tun sich die Grabhügel und Gräber auf; die Gespenster gehen um und bitten um milde Gaben; sie vergelten es von der anderen Seite aus, mit reichlichem Erntesegen und Fruchtbarkeit. Noch heute opfern die Inselkelten zu dieser Zeit (Allerheiligen, Allerseelen) Speisen und zünden Grablichter und Kerzen für die Verstorbenen an.15


Ganga, die Flussgöttin.

Einige Wochen nach Divali findet in Varanasi, der heiligsten Stadt der Hindus, ein weiteres Lichterfest (Ganga Mahotsav) statt. Wiederum werden, diesmal ausdrücklich zu Ehren der vorbeiwandelnden Flussgöttin, unzählige Lämpchen am Ufer des Stroms aufgestellt, und überall werden Pujas gefeiert. Die beeindruckendste Puja, umrahmt von künstlerischen Darbietungen, wird, im Beisein von Ministern und hohen Staatsbeamten, am Dashaswahmedha-Ghat – dort hatte einst Brahma höchstpersönlich zehn Pferde geopfert – zelebriert. Touristen bekommen Ehrenplätze, denn auch hier gilt die vedische Regel: »Der Gast ist Gott .« Auch mir wurde an dem Abend ein solcher Stuhl angeboten. Der Platz ist hell erleuchtet, ohrenbetäubende Musik plärrt von den Lautsprechern, Tanzgruppen, traditionelle folkloristische Darbietungen und bekannte Entertainer versuchen einander zu überbieten.

Großartige Unterhaltung. Aber eine weihevolle Stimmung kommt kaum auf. Nicht weit entfernt von dem Riesenspektakel sah ich eine andere Gruppe. Ein weiß gekleideter Pujari schwenkte feierlich, das Gesicht nach Osten, dem glitzernden Strom zugewendet, eine Kampferlampe. Er bewegte die Flamme von unten nach oben, hin und her, wie ein Pendelschlag, um sie dann wie ein Rad im Kreis zu wirbeln. Die Musiker, die ihn begleiteten, spielten in selbstloser, ekstatischer Hingabe und hielten perfekten Takt. Das war keine Unterhaltung, das war reines Árati, die Verehrung des Göttlichen mit einer Flamme. Das war kein Unterhalter, das war ein Mensch im Zustand reiner Anbetung. Kampfer brennt ohne Rückstände: Dieser Pujari glich dem weißen, vom göttlichen Feuer ergriffenen Kampfer, er leuchtete, ohne dass ein »Ich« oder ein Ego als Rückstand übrig blieb.

Die Trommeln, Flöten und Saiteninstrumente, die hingebungsvollen Lobgesänge zu Ehren der Götter, verzauberten mich. Plötzlich war ich in Trance, da sah ich den Fluss nicht mehr als ein physikalisches, geografisches Geschehen, sondern ich sah eine diamantene Schlange, eine Göttin gekleidet in einem fließenden, mit Lichtern bestückten Gewand, mit ihrem Gefolge von Devas, Gottheiten, Nymphen und Nixen vorbeiziehen. Alles war im Einklang, alles war heilig. Das Lautsprechergeplärre nebenan störte nicht mehr. Ein Boot, vollgestopft mit neugierigen, mit Kameras bewaffneten, westlichen Touristen, fuhr ganz nahe am Ufer vorbei. Ein UFO voller Aliens. Sie verstanden nichts, wussten nichts von dem Zug der Göttin, waren aber begierig, das vermeintlich »primitive«, heidnisch-abergläubische Treiben auf Zelluloid zu bannen. Blitzlichter zuckten wie Geschützhagel. Der Pujari nahm aber nur die holde Göttin wahr. Unwillkürlich schwenkte er das flammende Feuer so, dass er – so kam es mir vor – mit jeder Bewegung die blitzenden Dämonengeschosse mühelos abfing.

Wie lange die Puja dauerte, weiß ich nicht, zumal sie nicht auf der Ebene der Zeit, sondern am Rande der Ewigkeit stattfand. Als es ausklang, fühlte sich jeder Teilnehmer geheiligt und gesegnet. Der Pujari war nun wieder ein Mensch unter Menschen; er plauderte und verteilte Prashad16: Das sind Häppchen süßer Speise, die der Göttin geopfert wurden und nun an die Teilnehmer zurückgegeben werden. Prashad ist für die Inder wie spirituelle Medizin, es vermittelt dem Gemüt Ruhe, Klarheit und Reinheit. Auch drückte er jedem, der es wollte, einen roten Tupfer auf die Stirn. Ich war ganz erstaunt, dass er seinen Weg zu mir, dem einzig anwesenden Europäer, bahnte und einige freundliche Worte mit mir wechselte. Später wurde mir bewusst, dass er mich dazu berufen und befähigt hatte, wenn es notwendig ist, das Göttliche mit Árati zu verehren.

Der Berg der Chamunda

Von einem weiteren Puja-Erlebnis, welches mich prägte, will ich hier erzählen. Nach den verschiedenen Krankheiten, die meine Frau und mich nach der Ankunft in Varanasi (Benares) wie die aufkeimende Saat alten Karmas befallen und geläutert hatten, wandelte sich unser Bewusstsein. Auf einmal war ich des öden Intellektualismus überdrüssig, der leider auch an der dortigen Universität herrschte. Unsere Seelen waren ausgehungert, uns dürstete nach dem Wasser des Lebens. Also entschieden wir uns, eine Pilgerreise zu den heiligen Orten Indiens zu unternehmen.

Heilige Orte sind heilende Orte. Alte Kirchen und Kapellen strahlen Heilkraft aus, nicht wegen der Gebäude, oder der Bilder und Statuen, die sie zieren, sondern – wie man es heute zu erklären versucht – wegen der sich dort befindlichen geomagnetischen Wirbel, der Erdstrahlen, der sich kreuzenden Ley-Linien, der Gitternetze oder auch wegen der morphogenetischen Felder, die sich über Jahrtausende hinweg, aufgrund der Andacht und Erwartungen Abertausender von Gläubigen, bildeten. Wünschelrutengänger und Pendler sprechen von energetischen Schwingungen und versuchen diese in pseudo-wissenschaftlicher Manier mit der so genannten Bovis-Skala und verwegenen radiästhetischen Messinstrumenten zu quantifizieren. Für einfachere Gemüter sind es schlicht Orte, wo sich die Götter oder bereits verstorbene Heilige manifestieren. Solche Orte existieren überall, aber in Indien, wo es keine Tradition der Skepsis und des kritischen Hinterfragens gab, wo man nicht nach irgendwelchen materialistischen Ursachen suchte, um die Wirkung zu erklären, da spürt man ihre Kraft besonders.

Ein solcher kraftgeladener Ort befindet sich in der Nähe der Stadt Mysore. Es ist der Berg der Göttin Chamunda, der Dämonenzerstörerin. Diesem heiligen Berg galt unsere Wallfahrt. Im frühsten Morgengrauen, als die Vögel gerade zögerlich ihre ersten Morgenlieder anstimmten, machten wir uns auf den Weg durch die noch schlafende Stadt. Weiter draußen, wo die Gemüse- und Obstgärten in Felder übergehen, war es schon heller. Die riesige rote, indische Sonne hob sich gerade über den Horizont, da begegnete uns ein alter Brahmane. Freundlich grüßend, sprach er uns auf Hindi an, welches meine Frau glücklicherweise versteht. Als lese er in ihrem Herzen, sagte er ihr, die Kinder, die sie sich wünsche, werden auch zur richtigen Zeit kommen. Er gab sogar ein Datum an. Dann wandte er sich mir zu und sagte mir die Zukunft voraus, wobei er betont auf Englisch hinzufügte: »Für die nächsten zwanzig Jahre gehörst du dir nicht selbst, dann bist du »public property«. Anstatt – wie üblich bei solchen Begegnungen – anschließend die Hand aufzuhalten und eine kleine Spende zu erbitten, gab er uns einen Zehn-Rupien-Schein. (Seine Weissagungen – das muss hinzugefügt werden – erfüllten sich.)

Nicht wissend, was wir von der seltsamen Begegnung halten sollten, wanderten wir weiter, bis an den Fuße des bewaldeten Berges. Dort, hinter einem Torbogen, über dem der bunt bemalte Ganesh, der elefantenköpfige Hüter der Schwelle, thronte, führten abwechselnd weiß und rot bemalte Steinstufen hinauf in die Höhe. Ich zögerte und stellte mir die Frage: Wie geht man in der richtigen Art und Weise über eine Schwelle, die in einen heiligen Bezirk führt? Da lief plötzlich ein im weißen Dhoti gekleideter Pilger vorbei, berührte den Boden mit seiner Stirn, stand auf, drehte sich rechtläufig um die eigene Achse, die Hände vor der Brust zu einem Namaste gefaltet, um alle vier Himmelsrichtungen zu verehren. Nun wusste ich es. So ist es immer: Für jede Frage der Seele ist die Antwort immer gleich zur Hand, nur merken wir es meistens nicht.

Wir wanderten im hellen Morgenlicht, zwischen lianenbehangenen alten Bäumen die steilen Stufen empor. An einer zerfallenen, von dicken Feigenbaumwurzeln zersprengten Mauer war das Bild des Affengottes zu erkennen. »Hanuman!« rief ich unwillkürlich, und schon turnte eine Horde Rhesusaffen durch die Zweige und musterte uns. Und dann sahen wir vor uns die aus schwarzem Fels gehauene, wohlbekannte Statue von Nandi, dem Stier, der das Reittier Shivas ist und Torwächter der Heiligtümer des Götterpaares. Dort boten in bunte Saris gehüllte Bauersfrauen den Pilgern Blumen, Räucherwerk, Obst, Kokosnüsse und andere kleine Kostbarkeiten an, die man den Göttern opfern konnte. Warum würde man auch sonst den heiligen Berg besteigen, wenn man nicht eine Puja machen oder die Götter um Gnade oder Gunst bewegen wollte?

Dem jungen weiß gekleideten Pujari, der die Opfergaben entgegennahm, sah man an, dass er ein reines, Gott geweihtes Leben führte. Er schien von einem Lichtglanz umgeben. Er ließ uns einen Tropfen Gangeswasser trinken, vermittelte den Göttern die Blumen und das Räucherwerk, das wir ihm überließen, und zerschlug die Kokosnüsse vor der Statue. Die braune Erde saugte die Kokosnussmilch auf. Er segnete uns, drückte einen roten Punkt auf unsere Stirn und gab uns als Prashad ein Stückchen von dem Nussfleisch zu essen.

Die bei der Puja geopferte, rauschalige Nuss hat eine ganz besondere Bedeutung. Sie stellt unseren Schädel dar, jene harte Kapsel, in der sich das Ego, der überhebliche Eigenwille, verschanzt. Diesen opfert man der Gottheit freiwillig, indem man ihn zerschlägt. Sein flüssiger Inhalt wird von der Gottheit getrunken, von der langen roten Zunge Kalis, der Zerstörerin des Wahns und der Illusion, gierig aufgeleckt. Mit dem Zertrümmern der Zitadelle der Selbstsucht kann sich die Seele wieder dem Göttlichen öffnen, dem Höheren Selbst, dem eigentlichen Wesen, dessen Natur Wahrheit, Weisheit und Wonne (Sat Chit Anand) ist. Wir empfanden tatsächlich eine innere Freude. Das schlichte Ritual hatte gewirkt: Alles sah frischer, klarer, schöner aus – und lustiger. Die tollenden Affen überfielen gerade eine kreischende indische Touristin und entrissen ihr die Handtasche. Auch die langhaarigen Sadhus, die in einer Höhle hinter der Nandi-Statue hausten, schmunzelten bei dem Schauspiel.

Plötzlich trat eine hübsche junge Inderin an uns heran. Sie wirkte wie die Verkörperung der Göttin oder wenigstens wie eine der Apsarasas, der himmlischen Tänzerinnen, welche die Götter oft begleiten. Sie bat uns mitzukommen. Weiter oben auf dem Berg, mitten im Grün, machte ihre Familie Picknick. Sie luden uns ein mitzuspeisen und häuften süße, auch scharfe Köstlichkeiten auf die Bananenblätter, die als Teller dienten. Sie taten es wohl in der Hoffnung, jenen Segen zu erlangen, der das Speisen von Pilgern und Heiligen mit sich bringt – es könnte ja sein, dass die Fremden, die man gerade speist, Shiva und Parvati selbst sind …

Bald stiegen wir weiter aufwärts. Gegen Mittag wurde es immer heißer. Auf dem Gipfel sah man die in grellen Farben bemalte, kitschige Statue der Göttin Chamunda, die gerade einen schlangenförmigen Dämonen köpft. Der Tempel dieser Göttin war einige Schritte entfernt. Wir legten die Schuhe ab, wuschen die Füße und gingen durch die Pforte. Das Geld, das uns der alte Brahmane gegeben hatte, legten wir in die Opferschale. Einer der Pilger fiel beim Anblick der Statue zu Boden und schüttelte sich, als ob ihm ein elektrischer Schlag verpasst worden wäre. Das sei nichts Ungewöhnliches; so stark sei die Shakti, die göttliche Energie, die von dieser Erscheinung ausgeht. Uns kam es aber eher wie Schauspielerei vor.

Wir sogen die Kraft des Ortes auf. Beim Abstieg schloss sich uns ein Wildhund an und begleitete uns ein Stück des Weges. Als die Abendsonne die Landschaft in ein goldenes Licht tauchte, schritten wir wieder durch die von Ganesh behütete Eingangspforte. Es war der heilige Augenblick, in dem jeder Haushalt die Abend-Puja feiert. Überall klingelten Glocken und Glöckchen. Aus den kleinen Tempeln klangen Bhajans, Lieder zur Lobpreisung der vielen Namen Gottes. Das Singen der Menschenstimmen vermischte sich mit einem Abendgezwitscher, dem Trillern und Pfeifen der Vögel. Der Duft von Räucherstäbchen und schwelenden Kuhfladen, auf denen das Abendmahl gekocht wurde, hing in der Luft. Zwei junge Mädchen kamen dahergesprungen, strahlten uns mit lachenden Augen an und fragten nach unseren Namen: Wir nannten unsere indischen Namen: Shankar und Ganga.

»Ich bin Lakshmi«, sagte die eine.

»Und ich bin Shubha«, sagte die andere mit einem breiten schönen Lächeln. Da erkannte ich, dass es zwei Göttinen waren, die sich durch diese beiden barfüßigen Bauernmädchen offenbarten.17

Ja, Wallfahrten zu heiligen Orten und Pujas öffnen die Seele und lassen Wahn, Trug und die Illusionen, die unser Ego schafft, verfliegen, so dass man weiß, dass das Göttliche immer gegenwärtig ist.

Kali-Tempel in Kalkutta

Shri Ramakrishna (1832–1886) ist einer der großen Heiligen der Neuzeit. Er war ein einfacher Mensch, ein Sohn armer Eltern, mit wenig Schulbildung. Als junger Tempeldiener in einem Kali-Tempel, in der Nähe von Kalkutta, geriet er immer wieder spontan in Ekstase, so dass er bei der Puja häufig nicht einmal die Statue der schwarzen Göttin beachtete, sondern ringsum die Blumen verstreute und Gangeswasser verspritzte. Überall sah er Kali Ma, die Mutter, die allen Schmerz, alles Herzeleid auf sich nimmt und die Seelen tröstet und befreit.

Vor einigen Jahren machte ich eine Pilgerreise nach Kalkutta, der Stadt Kalis, um den Tempelkomplex am Ganges zu besuchen, in dem Ramakrishna einst lebte und wirkte. Kalkutta ist eine herrliche Stadt, trotz Slums und materieller Armut. Das Göttliche ist zum Greifen nahe, es leuchtet aus den Augen der Menschen, auch der vielen Flüchtlinge, die von fanatischen Islamisten aus ihrer Heimat in Bangladesch vertrieben wurden, und die nun inmitten der riesigen Metropole an den Straßenrändern kampieren und nachts auf den Bürgersteigen schlafen. Sie wissen, dass man im ewigen Kreislauf des Schicksals mal reich und mal arm, mal gesund und mal krank, mal freudvoll und mal traurig ist. Sie wissen aber auch, dass die Götter immer da sind, und dass diese den Segen mehren, wenn man sie sich vergegenwärtigt, wenn man ihren Namen ständig wiederholt, wenn man Pujas macht. Nein, ihre Pujas brauchen nicht aufwendig zu sein, brauchen nicht einmal einen großen steinernen Tempel oder Götzenbilder, denn der eigene Leib ist der Tempel Gottes, und jedes Glied, jedes Organ ist eine Göttersphäre. Manchmal kleben sie ein kleines abgegriffenes Bildchen der Göttin oder des Gottes an ihre Habseligkeiten oder an die Pappwand ihrer notdürftig zusammengeschusterten Hütte. Ein Räucherstäbchen, das am Morgen und am Abend davor brennt, und einige inbrünstig gesungene Bhajans (Loblieder), begleitet von aneinander geschlagenen Tonscherben oder Kieselsteinchen, die den Rhythmus angeben – mehr braucht es zur Puja nicht; mehr braucht es nicht, um die Gegenwart der Götter vor die Seele zu zaubern und um ihren Segen zu empfangen.


Ramakrishna, lehrend unter einem Baum sitzend (indischer Comic).

Wer ist der größte Verehrer ?

Narada war sich sicher, dass er der Größte unter den Anhängern Vishnus sei. Alle seine Gedanken und Gefühle, sein ganzes Leben kreiste nur um Vishnu, dem Erhalter des Universums. Er folgte dem großen Gott, der in der Gestalt eines Sadhus, eines wandernden Heiligen, unterwegs war, vom Meer bis in die Berge.

Vishnu, die egoistischen Gedanken seines eifrigen Anhängers lesend, fragte:

»Narada, willst du meinen größten Verehrer kennen lernen?«

»Ja, Meister«, antwortete Narada etwas enttäuscht, dass nicht er selbst als dieser anerkannt wurde.

»Gehe in jenes Dorf, da wohnt ein armer Bauer mit seiner Familie. Das ist mein größter Verehrer.«

Narada machte sich auf den Weg. Die Bauersfamilie nahm ihn in der engen Lehmhütte wohlwollend auf; sie hielten sich an die Anweisungen der Veden, wo es heißt, »Behandle den Gast wie Gott«. Er bekam die beste Schlafstätte und das Beste, was sie ihm zu Essen bieten konnten.

Narada war gespannt, wie der Bauer, der angeblich der größte Verehrer sein sollte, die Puja zelebrieren würde. Dieser aber machte anscheinend gar keine Puja. Er sagte lediglich: »Om, Hari Om«18, wenn er am frühen Morgen aufstand, ehe er seinen Arbeiten auf dem Feld nachging. Und am Abend, ehe er sich zum Schlaf niederlegte, sagte er auch wieder nichts weiter als »Om, Hari Om«.

Narada war enttäuscht, schwer enttäuscht. Wie konnte dieser ungelehrte, einfache Bauer ein größerer Verehrer sein als er selbst? Er verabschiedete sich und ging zu Vishnu zurück.

Darauf angesprochen, antwortete Vishnu: »Du bist die ganze Zeit bei mir, folgst auf Schritt und Tritt meinen Wanderungen und veranstaltest wunderbare Pujas. Die Leute verehren dich als wandernden Heiligen und füllen deine Bettelschale, so dass du immer zu essen hast und keine materiellen Sorgen. Dieser arme Bauer aber muss hart arbeiten und hat eine große Familie zu versorgen. Und dennoch vergisst er mich nie. Am Morgen, als Erstes, wenn er aufsteht und am Abend, als letztes eh er einschläft, versenkt er sich in mich, indem er meinen Namen ruft. Also sage mir, wer ein größerer Verehrer ist? Schon das Rufen meines Namen ist würdige Puja.«

Mit einem jungen Freund aus Deutschland, der sich von der intellektuellen Gewalttour des Abiturs erholen musste, machten wir uns auf den Weg nach Dakshineshvara, wo der Kali-Tempel am Ganges liegt, an dem Ramakrishna gewirkt hatte. Wie ein Panzer bahnte sich der klapprige, zerbeulte Bus seinen Weg durch das Gewühl von Uraltautos, Ochsenkarren, Fußgängern, heiligen Kühen, Rikschas, schwer beladenen Kulis. Gelegentlich flogen Funken, und der Spiegel wurde mit lautem Knall abgestreift, als der Bus einen überbeladenen Lastwagen streifte. »Noproblem, indische Zustände!«, kommentierte der Sitznachbar in dem voll gestopften Vehikel. Als der Bus nach zehn Kilometern hielt, trat eine attraktive junge Frau, freundlich lächelnd, auf uns zu. »Sicherlich wollt ihr zum Kali-Tempel«, sprach sie uns an. Unaufgefordert führte sie uns durch das Gewimmel bis an den groß angelegten Tempelkomplex, half uns beim Kaufen der Blumen, Früchte, Räucherstäbchen, die man den Tempelpriestern für die Puja überlässt, und verabschiedete sich.


Eingang zum Kali-Tempel, Dakshineslnvar (indischer Comic).

Vor dem Eingang des Tempels, in dem sich die Statue der schwarzen Göttin mit der langen roten Zunge befand, wartete geduldig eine Schlange Pilger und Verehrer. Wir stellten uns in die schleppend langsam sich weiter bewegende Schlange. Als wir endlich die Tempelstufen erklommen und ich die Kali-Statue zu Gesicht bekam, war ich enttäuscht. Es war ein hässliches Götzenbildnis, das da im halbdunklen Gedrängel zu sehen war. Es erinnerte mich an die heidnischen Abgötter, wie sie uns der Pfarrer im Katechismusunterricht bildhaft geschildert hatte. Der Fußboden war glitschig und verklebt von der Milch, dem Bhang und anderen Flüssigkeiten, die die Priester ständig über die Statue gossen. Überall lagen zertrampelte Blumen. Der Duft unzähliger süßlicher Räuchereien beleidigte die Nase. Die Menschen drückten und schubsten. Die gut genährten Priester nahmen lustlos die Opfergaben entgegen und murmelten automatisch ihre Mantren und Sprüche. Eher angewidert drehte ich um, um zu gehen. Und dann sah ich sie. An der Schwelle stand sie. Eine Frau mittleren Alters, oder eher ohne Alter. Das ganze Leid, der ganze Schmerz der Geschöpfe war ihr ins Gesicht geschrieben. Und dennoch war sie unendlich schön. Sie stand da, zeitlos, am Rande der Ewigkeit, und schaute mit milden, dunkel umrandeten Augen dem Treiben zu. Mir war Darshana19, der Blick in das göttliche Mysterium, gewährt worden.

Sie war mir keine Fremde. Ich hatte sie schon einmal gesehen, auf Golgatha, in der Grabeskirche, neben dem heiligen Ort, wo Jesus gekreuzigt worden war. Auch dort, ein kaum verhohlenes Pandämonium. Es hing förmlich in der Luft, wie verbissene Mönche und Priester der Katholiken, der abessinischen Kopten, der Anglikaner, der syrischen, russischen und griechischen Orthodoxen und anderer christlicher Richtungen um jeden Zentimeter des heiligen Bodens der Grabeskirche feilschten, wie sie sich stritten, wann Liturgie gesungen, wie und wann geräuchert werden durfte, ob die Anglikaner eine Orgel spielen dürften oder ob der Stuhl des orthodoxen Patriarchen einen Zoll zu weit in das Territorium der Franziskaner hineinragte. Und draußen, Wellen des Hasses und der Missgunst: Juden, Muslime und christliche Armenier – keiner liebte seinen Nachbarn wie sich selbst. Ja, und da stand sie, neben dem Kreuz, die Schmerzensmutter, eine Maria Magdalena in Fleisch und Blut, die Augen voll tiefem Mitgefühl. Es war dasselbe Wesen wie die Frau, die da neben dem Tempeleingang stand, unweit der kleinen schwarzen Steinstatue, die als Mutter des Universums verehrt wurde.

Gerührt, nein, ekstatisch, verließ ich den Tempel. Die roten Hibiskusblüten, die ich für die Kali-Puja mitgebracht, aber sie dann vergessen hatte hinzulegen, trug ich hinüber zu einem der zwölf Shiva-Tempel am Rande des Kali-Heiligtums. Ich legte sie – ein »Om Nama Shivaya« auf den Lippen – auf einen der steinernen Lingams, gerade als eine sauber gekleidete, gut bürgerliche Hindufamilie den Tempel betrat. Das Entsetzen war ihnen ins Gesicht geschrieben: Hier machte sich ein wilder Mlecha, ein unreiner Ausländer, über den heiligen Shiva-Lingam her, und legte rote Hibiskusblüten, die ja nur der Kali geweiht sind und nie und nimmer in der Shiva-Puja verwendet werden dürfen, auf den heiligen Stein. Sie flohen augenblicklich, und ich erkannte im gleichen Moment meinen Fehler. Wer so etwas tut, der ist verflucht, so heißt es. Es war höchste Zeit, den Tempelkomplex zu verlassen.

Als wir das nach Westen blickende Tempeltor durchschreiten wollten, trat uns eine alte, weißhaarige Frau entgegen. An ihrem weißen Sari erkannte ich, dass es sich um eine Witwe handelte. Freundlich lächelnd schaute sie uns in die Augen und betupfte unsere Stirn mit kühlender, duftender Sandelholzpaste, dann faltete sie ihre Hände zu einem »Namaste« und entließ uns. Vor uns floss, vom Abendlicht rotgold gefärbt, der Ganges. Ein Fährmann lud uns in seinen Kahn und ruderte uns über den breiten Strom zum Ramakrishna-Math – einem Hain und Tempelgelände, wo sich der bengalische Heilige einst mit seinen Jüngern aufhielt, wo er lehrte und wo er seinen physischen Leib ablegte. Dort in den uralten Bäumen zwitscherten die Vögel ihr Abendlied, und die unzähligen Krähen und Raben – Vögel, in denen sich nach indischem Volksglauben die Seelen der Verstorbenen aufhalten – veranstalteten ein bombastisches Krächzkonzert, ehe sie für die Nacht, paarweise, ihre Nester aufsuchten. Entrückt schaute der junge Abiturient über das Wasser; der Ganges wurde ihm zur Elbe und der in der Ferne sichtbare Hafen Kalkuttas mit seinen Kranen und Schiffen, wurde auf einmal Hamburg, die Stadt, aus der seine Vorfahren kamen.

Ich musste an die drei Frauen denken – die junge anmutige, die uns zum Tempel führte, die Mater Dolorosa im Tempel und die Alte, die uns verabschiedete. Es war die Göttin in dreifacher Gestalt. Auch unsere Vorfahren kannten sie: im Mittelalter als die drei heiligen Jungfrauen, in keltischen Zeiten als die drei Matronen oder als die drei Schicksalsfrauen der Germanen.

Die Götter sind unsterblich, sie wechseln nur, je nach Kultur oder Zeitgeist, ihre Gestalt und Erscheinung. Pilgerreise und Puja waren mit einem Darshana, einer Vision des Göttlichen, belohnt worden.


Keltische Matronendarstellung aus Vertault.

Puja ist universal

Ich könnte noch mehr persönliche Erlebnisse mit Pujas in Indien erzählen. Nun aber ist es wichtig zu wissen, dass derartige Rituale ebenso wenig allein dem Hinduismus gehören, wie eine seligmachende Lehre einzig dem Katholizismus oder die Erleuchtung dem Buddhismus. Als Völkerkundler – und durch das Studium der Strukturalisten, wie etwa Levi-Strauss, der Religionshistoriker wie Mircea Eliade und Joseph Campbell oder der Tiefenpsychologen wie Carl Gustav Jung – habe ich erkennen können, dass derartige Rituale in ihren Grundzügen universal sind, also in irgendeiner Ausprägung in praktisch jeder kulturellen Tradition vorhanden sind, und das seit Anbeginn, seit der alten Steinzeit. Es ist das Grundgerüst vieler Rituale, die heute als schamanisch bezeichnet werden.

Bei den Indianern, insbesondere bei den Cheyenne, die am Rande der Big Horn Mountains in Montana leben, habe ich ähnliche Rituale wie die indische Puja erlebt. Während die Inder vor allem den Blick nach innen werfen und die Gottheiten, die in den Tiefen der Seele wohnen, herbeirufen, richten die Indianer ihre Rituale mehr an die Götter und Geistwesen, welche den Sternenhimmel, die Wolken, die Wälder, Berge und Seen bewohnen. Die Maiyun, die Spirits, sind für sie nichts Abstraktes, Imaginäres, sondern sie sind die Geistseelen der Dinge, die man in der wilden, freien Natur antrifft. Sie rufen sie mit Rauch, Trommel und Medizinlied herbei. Sie rufen sie, wenn die Energie des Universums abnimmt, wenn unter den Menschen Unglück, Unzufriedenheit und Spannungen immer unerträglicher werden, wenn die Erdmutter zuwenig Nahrung schickt, wenn das Wild fern bleibt, wenn das Wetter chaotisch wird. Dann ist es Zeit, »Medizin zu machen«, das heißt, die Kräfte durch Rituale zu erneuern und zu bündeln. »Das Ritual«, sagte einer der Cheyenne, »ist wie die routinemäßige Wartung eines Autos, wie Schmieren, Ölwechsel, Zündkerzen erneuern, damit es wieder optimal läuft.«

Einmal fragte ich den großen Cheyenne-Medizinmann George Elkshoulder, was wir Europäer tun könnten, da wir praktisch alle unsere überlieferten, naturbezogenen Rituale und heiligen Lieder verloren haben, und viele nicht einmal mehr die Spiritualität der Natur wahrnehmen. Er sagte kurz: »Ihr habt nichts verloren. Ihr habt alles, was ihr braucht, Berge und Bäume, Felsen und Flüsse, Vögel und andere Tiere. Fragt sie, sie werden euch die Rituale lehren können« (Storl 2004: 18). Für den alten Medizinmann sind Spiritualität und Natur nichts Getrenntes. Die Natur ist nicht unbeseelt und geistlos, sondern ist das Reservoir des Heiligen. Das Ritual, durchgeführt von einem »heiligen Menschen«, der ein tadelloses Leben führt, ist ein Verfahren, welches die Ordnung, die richtige Beziehung zur heiligen Natur, wieder herstellt.

Die Geistwesen, die die Natur bevölkern, sind nach Ansicht der Indianer mächtig und oft weiser als die Menschen. Man geht zu ihnen mit einer respektvollen Geisteshaltung; man legt Überheblichkeit ab, wird zum Bittsteller. Mit der in Schulen und Hochschulen antrainierten distanzierten, kritischen oder skeptischen Haltung kommt man nicht weit. Da zieht sich die Seele der Natur, da ziehen sich die Geistwesen zurück, da spricht kein Tier zu einem, keine Pflanze zeigt ihren leuchtenden Ätherleib, kein Steinmädchen tanzt.

Oft sind es die Geistwesen selbst, die einen auserwählten Menschen rufen, die es ihm erlauben, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie sind es, die sich mitteilen, ihn dann als Neffen adoptieren und ihm die Rituale und Medizinlieder beibringen. Das ist eigentlich auch bei anderen Naturvölkern so, und bei den Hindus sowieso: Der Mensch erfindet die Rituale nicht, es sind die Götter selbst, die den Menschen die notwendigen Rituale zum Leben und Überleben schenken. Sie schenken die Rituale, so wie man heutzutage einem Freund oder sympathischen Menschen seine Telefonnummer schenkt, so dass man sie, wenn notwendig, anrufen kann. Das Wählen der Ziffern in der korrekten Reihenfolge gleicht dem Ausführen des Rituals. Führt man es nicht richtig aus, vergisst oder verwechselt man eine Ziffer, dann kommt auch keine Verbindung zustande. Und ohne Grund sollte man sie sowieso nicht anrufen.

Indianische Friedenspfeife

Das Kalumet20, die so genannte Friedenspfeife, ist in dem Sinn ein Handy, ein tragbares Telefon, mit dem man die Maiyun, die mächtigen Geistwesen, oder Maheo, den Großen Geist, anrufen kann, um Dank zu sagen oder um etwas zu erbitten. Die Dakota Indianer (Sioux) sagen: »Die Pfeife (Tschannunpa) schickt die Stimme zu Wakan Tanka, dem Großen Geist im Himmel, dem Allvater.«

Das Kalumet ist ein tragbarer Altar. Das ganze Universum ist in der Pfeife enthalten. Der Pfeifenkopf, aus Speckstein oder rotem Stein (Catlinit) geschnitzt, symbolisiert die rote Erde, die Mutter aller Wesen und den glücklichen roten Pfad des Lebens (Schwarzer Hirsch 1992: 26). Der Stiel aus Holz steht für die gesamte Pflanzenwelt. Das Mundstück aus Horn, eventuell ein angehängtes Stück Fell oder Büffelhaare, steht für alle Tiere der Erde; die Adlerfeder am Pfeifenkopf stellt alle Vögel und die Geister des Himmels dar. Der lange Stiel gilt als die männliche Kraft im Universum, die Schale des Pfeifenkopfs als die weibliche. Wenn der Medizinmann Kopf und Stiel zusammensteckt, dann gilt das als die Vereinigung der Gegensätze, als sakraler Beischlaf, als das Erzeugen von der Energie, die das Leben ermöglicht. Auf diese Weise ist die Pfeife das Lingam-Yoni der Indianer. Der Lingam, wir erinnern uns, ist der Stein, der Shiva oder Shivas Glied darstellt, die Yoni ist der universelle Schoß, die weibliche Energie (Shakti).21 Die heilige Pfeife der Indianer erfährt dasselbe Maß an Verehrung wie Lingam-Yoni bei den Indern.


Heilige Pfeife mit Behälter (Dakota).

Das Friedenspfeifenritual wurde von den Göttern selbst gestiftet. Bei den Prärie-Indianern war es die Weiße Büffelfrau, die die erste Pfeife brachte. Bei einem Jagdausflug in die Prärie sahen zwei Jäger eine in weißem Leder gekleidete Frau von unbeschreiblicher Schönheit. Der eine Jäger war derart angetan, dass er sie auf der Stelle besitzen wollte; doch als er sich ihr mit unlauteren Absichten näherte, verwandelte sie ihn in ein Skelett. Dem anderen aber, der nicht Sklave seiner Gelüste war, offenbarte sie das Pfeifenritual. Bei nahezu allen Stämmen wird das Ritual bei jedem wichtigen Anlass vollzogen – vor der Ratsversammlung, bei den Tänzen zur Vermehrung der Tiere, beim Tod eines Menschen, beim Erntedankfest, bei Eheschließungen, vor dem Schwitzhüttenritual, vor der Jagd, bei Heilungen, beim »Vergraben des Kriegsbeils«.

Wenn der Pfeifenhüter, dem der Medizinbeutel mit dem heiligen Rauchrohr anvertraut wird, das Kalumet aus dem Beutel holt und den Pfeifenkopf am Stiel befestigt, dann sammelt er auch all seine Kräfte und Energien. Er hört auf, ein Teil zu sein, er wird »ganz«, wird Mittelpunkt, wird zur heiligen Pfeife selbst. Bei den Osage-Indianern singt der Pfeifenhüter:

»Dieses Volk hatte eine Pfeife,

Die es zu seinem Leibe machte.

O Hon-Ga, ich habe eine Pfeife, die ich zu meinem Körper machte. Wenn du sie zu deinem Leibe machst,

Wirst du einen Leib haben, der frei von allem Todbringenden ist. Schau das Halsstück,

Das ich zu meinem Halsstück gemacht.

Schau den Mund der Pfeife an,

Den ich zu meinem eigenen Mund gemacht.

Schau die rechte Seite der Pfeife an,

Die ich zur rechten Seite meines eigenen Körpers gemacht.

Schau das Rückgrat der Pfeife an,

Das ich zu meinem eigenen Rückgrat gemacht … «

(La Flesche 1939: 62).

Im Frühling nehmen die Ojibwa – ein Volk von Jägern, Fischern und Sammlern von Wildreis22 – die heilige Pfeife aus dem Beutel hervor, um sie, wie das Jahr selbst, zu erneuern und wiederzubeleben. Der Medizinmann ruft Manitu, den Großen Geist, an, in die Pfeife einzuziehen und weiht sie dem Himmel, der Erde und den vier Himmelsrichtungen. Der Stamm ist versammelt, es wird gesungen und gebetet. Den ersten Zug aus der Pfeife bläst der Medizinmann der Sonne zu. Die Sonne ist die Vermittlerin, die den Rauch zum Großen Geist trägt. Der zweite Zug gilt der Erde, der Mutter aller Wesen, und dem Weiblichen überhaupt. Die nächsten vier Rauchopfer gelten den Hütern der vier Richtungen. Zuerst wird dem Osten Rauch geopfert, dann der gegenüberliegenden Richtung, dem Westen. So werden Geburt und Tod, Auf- und Untergang, Jugend und Alter verbunden. Dann schickt der Medizinmann dem Norden, dem Ort des Winters und der Härte, den heiligen Rauch. Zuletzt wird dem Süden, dem Sommer, der Zeit der Fülle und Wärme, gedankt. Die Pfeife wird dann, dem Lauf der Sonne entsprechend, im Uhrzeigersinn weitergereicht. Die Berührung mit der Pfeife und das Rauchen verbindet jeden Anwesenden mit dem heiligen Urgrund, mit Manitu, der sich in der Pfeife verkörpert (Johnston 1992: 174).

Bei den anderen Indianervölkern verläuft das Ritual ähnlich, aber es gibt auch Unterschiede. Beispielsweise wird bei den Cheyenne zu Beginn des Rituals der Stiel gegen den Himmel gehalten, dann zur Erde und den vier Richtungen. »Großer Geist oben, rauche!«, sagt der Leiter der Zeremonie, »Erde, rauche! Vier Himmelshüter raucht!«

Das Kalumet ist den Cheyenne absolut heilig. Niemand darf zwischen dem Feuer, das in der Mitte des Tipis brennt, und der Pfeife laufen; keiner darf in Anwesenheit des Kalumets unbedachte Worte reden oder klappernde Geräusche machen. Der Medizinmann Bill Tallbull sagte, die Atmosphäre sei heutzutage so unruhig, überall Maschinengeräusche, Flugzeuge, Radios und dergleichen, dass sich die Medizinmänner kaum wagen, die heiligen Pfeifen aus ihren Medizinbeuteln herauszunehmen. Die Beutel selbst sind mit Stachelschweinborstenstickereien verziert, die mystische Symbole und Motive darstellen.

Mit der Pfeife, diesem tragbaren Altar, kann man die Mächte ansprechen und um Hilfe bitten. Das gilt nicht nur für Gottheiten oder geistige Mächte, sondern auch für Menschen, die eine »starke Kraft«, eine »Medizin«, besitzen und die man um einen Gefallen bitten will.

So ging einst der Cheyenne, der den Tod eines Verwandten oder Freundes rächen und der Begleiter auf dem Kriegspfad finden wollte, durch das Dorf und bot anderen Kriegern die Pfeife an. Wer bereit war mitzugehen, der rauchte. Wer nicht gewillt war, der verweigerte die Pfeife. War die Kriegergruppe dann zusammengestellt, begaben sie sich zum Hüter des Stammesfetischs, der heiligen Pfeile. Sie rauchten gemeinsam mit dem Hüter die Pfeife und baten ihn, mit den heiligen Pfeilen zu sprechen, damit diese ihnen Schutz für ihr Leben und Erfolg bei der Erbeutung von Skalps und Pferden gewähren mögen (Grinnell 1923: 9).


Weihung der Medizinpfeife.

So ist es noch immer. Will ein junger Mann bei einem Medizinmann lernen, will er etwas von dessen magischer Kraft für sich erwerben, dann bringt er ihm eine mit Tabak vollgestopfte Pfeife. Raucht der Medizinmann, dann hat er sich verpflichtet, etwas von seiner Medizinkraft dem Bittsteller zu übertragen.

Krankenheilritual der Cheyenne

Bei den Cheyenne gibt es, wie bei anderen schamanischen Völkern, viele verschiedene Heiler. Jeder hat seine persönliche »Medizin«, seine Macht. Es kommt darauf an, welche Hilfsgeister er hat, welche Maiyun ihn auserwählt haben, ihn begabt haben, ihm Visionen und Träume geschickt haben. Niemand wird Medizinmann oder Medizinfrau aus eigenem rationalem Entschluss. Auch kann ein Medizinmann ohne Frau, ohne weibliche Unterstützung nichts bewirken. Die eigene Ehefrau – oder, falls diese dazu nicht bereit ist, eine andere Frau – muss ihm zur Seite stehen. Auch auf sie kommt es an, welche Krankheiten er heilen kann. Im Gegensatz zu unseren schulmedizinischen Ärzten getrauen sich die Heiler nicht an jede Krankheit, sondern nur an jene, wo sie kompetent und befugt sind. Manche sind befugt, Geisterpfeile herauszusaugen und die Geister, die sie geschossen haben, zu beschwichtigen und zu versöhnen. Andere vermögen Fieber und Seuchen zu heilen, die von Berggeistern ausgehen oder von verärgerten Ho ho’ ta ma itsi hyo ist, den Erdleuten (Zwergen), herrühren, die nachts aktiv sind.

Wird eine Familie mit Krankheit geschlagen, dann suchen sie den entsprechenden Medizinmann auf, der hierfür die richtige »Medizin«23 hat. Meistens geht der Vater zu diesem Medizinmann mit einer Pfeife. Er legt sie auf die Erde, so dass der Stiel auf den Medizinmann zeigt. Nimmt dieser die Aufgabe an, hebt er die Handflächen beider Hände gegen den Himmel. Dann berührt er die bloße Erde mit beiden Handflächen. Nun hebt er die Pfeife auf, hält sie zuerst in der rechten, dann in der linken Hand, streicht sanft über den Stiel, nimmt ein Stück Glut vom Feuer, um sie anzuzünden, und raucht. Mit diesem kleinen Ritual sagt er, ohne Worte: »Ja, meine Medizin wird den Kranken heilen.«

Er folgt dem Bittsteller zur Wohnung des Kranken. Zuvor reinigt er Körper und Seele mit einem besonderen Rauch. Dazu legt er duftende Tannennadeln (Abies lasiocarpa, englisch »sweet pine«) oder eine Mischung von Wacholder, Mariengras (Hierochloe ordorata, englisch »sweet grass«), einem zerriebenen, getrockneten Pilz und die getrockneten, bittern Wurzeln einer indigenen Portulak-Art (Lewisia rediviva, englisch »bitter root«) auf glühende Kohle und nimmt den Rauch und die Hitze mit den Handflächen auf. Mit den so erwärmten Handflächen berührt er die schmerzenden Körperpartien des Patienten, ehe er mit seiner Rassel24 die Stellen, wo die Krankheit sitzt, berasselt und besingt. Dieses Rasseln beunruhigt den Krankheitsgeist und kann diesen herauslocken. Ab und zu unterbricht er das Rasseln, um kurz zu beten, oder er steht auf, um mit Rassel und Gesang böse Geister, die sich in dunklen Ecken hier und da in der Wohnung verstecken, zu verjagen. Manchmal geht er hinaus, hält die Handflächen zur Sonne, zum Himmel, berührt die Erde und erneuert seine Kraft, indem er die Hände und die Rassel durch den erwähnten Rauch zieht, ehe er weitermacht. Einige Cheyenne-Medizinmänner saugen die Krankheit heraus, die dann in Form von Haaren, Steinchen, Würmern oder auch Eidechsen erscheint. Andere, wie George Elkshoulder, benutzen eine Adlerfeder oder eine andere Vogelschwinge, um den Krankheitsgeist auszufegen.

Immer wieder wird etwas Mariengras auf die heißen Kohlen gelegt. Der angenehme süße Duft des schwelenden kumarinhaltigen Grases soll gute Geistwesen, Hilfsgeister, anziehen. Auch kaut der Cheyenne-Medizinmann gelegentlich ein winziges Stückchen von der »Sweet Medicine« genannten Wurzel des Christophskrauts (Actaea rubra), welches den Geist des Urschamanen, Motsiiuef, enthält und die Schutzpflanze des Stammes ist (Storl 2001: 146). Er kaut die an sich giftige Wurzel, versprüht sie feierlich im Kreis oder spuckt sie sich in die Hände.25

Nachdem er drei Medizinlieder gesungen hat, macht er eine Pause, um die Medizinpfeife zu rauchen. Er verbrennt noch etwas Mariengras, reinigt die Pfeife, dann gibt er dem Kranken – abgestimmt auf die Krankheit – warmen Kräutertee zu trinken. Nun werden fünf weitere Medizinlieder gesungen, der Patient wird weiter mit der Feder oder mit dem »Saugen« behandelt, die schmerzenden Stellen mit zerkauter Christophskrautwurzel besprüht. Erneut wird eine Pause gemacht, um Kraft aufzuladen und die Pfeife zu rauchen; wieder bekommt der Patient Kräutertee. Wieder wird die Rassel beräuchert und Mariengras verbrannt. Irgendwann dann mischt der Medizinmann Kräuterpulver mit dem Fett vom Reh und reibt die schmerzenden Körperstellen des Patienten mit der Salbe ein.

Nun werden neun weitere Medizinlieder gesungen. Meistens schläft der Patient ein, ehe der Medizinmann fertig ist. Es ist ein therapeutischer Schlaf: Die Medizinkraft ist derart stark, dass der Kranke geheilt wird.

Mit dem Beenden des neunten Liedes nimmt der Medizinmann die Pfeife in die rechte Hand und hält sie dem Süden, dem Westen, dem Norden und dann dem Osten entgegen, dem Himmel und schließlich der Erde. Er wechselt die Pfeife in die linke Hand und raucht noch einmal. Nun ist das Heilritual fertig (Grinnell 1923: 132). Anschließend wird Essen hereingebracht. Der Medizinmann nimmt davon fünf kleine Fleischstückchen, hält sie zwischen den Handflächen, wendet diese abwechselnd von unten nach oben, geht hinaus ins Freie und opfert sie an der südlichen, westlichen, nördlichen und zuletzt östlichen Ecke der Behausung.

Rituale sind aus dem Leben der Cheyenne nicht wegzudenken. Trotz Verbote und Verfolgung durch Regierungsagenten und Missionare führten sie heimlich, abgelegen in der Wildnis der Rocky Mountains, ihre herkömmlichen Rituale durch. »Wir hätten unser Wesen als Cheyenne verloren, wir wären als Volk untergegangen, wenn wir die altüberlieferten, von den Maiyun geschenkten Rituale aufgegeben hätten«, beteuerte Bill Tallbull, der weise Hundekrieger (»dog soldier«) und Pflanzenmedizinmann, mir gegenüber.

Im Gegensatz zu den Europäern und weißen Amerikanern reden die Indianer wenig. Probleme werden weniger durch rationale Diskussionen und zermürbende Gesprächsrunden gelöst, sondern vielmehr durch das Wissen um das richtige Ritual zur richtigen Zeit. Auf diese Weise kann man am besten die Energien, die das Universum durchwirken, lenken.

Insbesondere die Medizinmänner reden wenig. Georg Elkshoulder störte es, als wir, wie gewohnt, beim Essen plauderten. »Wenn wir Indianer essen, dann essen wir. Wenn wir laufen, dann laufen wir; und wenn wir reden, dann reden wir.« Für die Medizinleute ist Reden zu heilig, als dass es zum bloßen Geschwätz verkommen darf. Geschwätz, intellektuelle Diskussion verschwendet zu viel kostbare Energie. Je mehr ein vermeintliches Problem diskutiert wird, desto schwächer wird die Wortkraft, desto größer wird die Gefahr des gegenseitigen Missverständnisses. Es können Tage vergehen, ohne dass ein »heiliger Mann«, eine »heilige Frau« ein Wort von sich gibt. Wenn er/sie aber dann spricht, oder sein/ihr heiliges Lied singt, dann ist es treffend, dann ist es wirksam, dann erreicht es die Herzen anderer, dann hören selbst die Geister zu.

Rituale sind den Cheyenne und anderen Indianern wichtiger als Worte. Deswegen, so erklärte mir Bill Tallbull, kommen die Cheyenne – wenn sie überhaupt etwas mit den christlichen Missionaren zu tun haben – mit der katholischen Messe eher zurecht als mit den wortgewaltigen, feurigen Predigten der protestantischen Evangelisten.

13 Eines der wichtigsten Mantras ist das Gayatri, das von den Hindus jeden Tag, beim Aufgang der Sonne und bei dessen Untergang, gesprochen wird. Es handelt sich um den heiligsten Vers aus dem Rigveda. Gayatri, dieser Vers, gilt als die Personifizierung Brahmas, als Mutter der Veden und Mutter der Brahmanen. Gayatri wendet sich an die Sonne (Savitri) – an die höchste Intelligenz, an die Quelle des Lichts – mit den Worten:

»OM BhurBhuvah sva

Tat Savitur varenyam

Bhargo Devasya Dhimahi

Dhiyo Yo Nah Prachodayaat.«

(Ungefähre Übersetzung: »Erde, Luft, Himmel. Mögen wir über das leuchtende Licht der heiligen Sonne meditieren. Möge sie unseren Geist erleuchten.«)

14 Wie die Kelten und Germanen, halten sich die Hindus an die tatsächlichen Mondrhythmen. Deswegen sind die Monate nicht kalendrisch fixiert, sondern wandelbar. Der Monat beginnt mit Neumond und läuft über den Vollmond wieder zum Neumond. Wie bei den vorchristlichen Europäern fallen die meisten Feiertage auf den Neu- oder Vollmond.

15 Heutzutage, in der modernen Welt, ist das alte Fest mit Halloween (englisch hallowed evening, »heiliger Abend«) unter säkularem Vorzeichen wieder zu neuem Leben erwacht.

16 Sanskrit, »Gnade oder Gunst des Göttlichen«, »Klarheit, Reinheit, Gemütsruhe«.

17 Lakshmi ist der Name der Göttin des Glücks und Wohlstands; Shubha oder Shubhadra ist die »Schöne«, deren Anblick das Herz erfreut; sie ist die Schwester Krishnas.

18 Hari, einer der Namen Vishnus.

19 Sanskrit, »Anblick«, »Anschauen«, »das Sehen des Heiligen«.

20 Kalumet oder Calumet, als Bezeichnung der Friedenspfeife, ist eine Verballhornung des französischen chalumeau (Schalmai, Schilfrohr), da in den Augen der französischen Waldläufer und Trapper die Pfeife mit dem langen Rohr einer Flöte ähnlich sah.

21 Das höchste Mysterium, die Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen, wurde bei den Kelten durch den Kessel der Göttin und den Lichtspeer des Gottes dargestellt; das Motiv wurde weitergetragen in die christliche Legende des heiligen Grals und des heiligen Speers. Erst wenn beide vereinigt sind, wird die Erde fruchtbar, friedlich und freudvoll. Aufgabe der mystischen Gralsritter war es, dieses Heiligtum zu schützen. Auch der bei Maivollmond aufgestellte geschälte Baum, dessen Spitze einen Kranz aus Blüten und roten Bändern durchstößt, der ursprüngliche Maibaum, ist eine alteuropäische Version desselben Urbildes.

22 Es handelt sich um den in Europa als Delikatesse gehandelten schwarzen Wildreis (Zizania aquatica), der in den Sümpfen im Bereich der Oberen Seen massenweise wild wächst.

23 »Medizin« bedeutet für die Indianer nicht pharmakologische Wirkstoffe, sondern geistige Macht. Der Medizinmann ist jemand, der viel magische Macht gebündelt hat, die es ihm erlaubt, geistige Unordnung zu ordnen, Krankheiten zu vertreiben, Menschen zu führen. Auch Pflanzen (Heilpflanzen), Tiere und Gegenstände können machtgeladen sein und werden als Medizinträger gesehen.

24 Die Rassel ist aus Büffelhaut und mit kleinen Kieseln gefüllt. Oft wird ein Zopf, geflochten aus duftendem Mariengras, an dem Stiel befestigt.

25 Das Christophskraut, ein Hahnenfußgewächs, darf keinesfalls geschluckt werden. Ein Dakota-Medizinmann, der bei einer Zeremonie der Cheyenne die gekaute Wurzel schluckte, da er nicht wusste, dass sie giftig ist, starb daraufhin unter Krämpfen. Das hätte fast das Bündnis zwischen den beiden Stämmen gesprengt.

Naturrituale

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