Читать книгу Eva Sofie - Nelia Gapke - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеAndres setzte sich an den Bettrand, zog die Schublade des Nachtischschränkchens auf, in dem seine Socken lagen und zog ein Paar heraus. Silvie umarmte ihn von hinten und strich zärtlich mit den Handflächen über seinen nackten Bauch und seine Brust.
„Bleib doch noch ein bisschen im Bett, Liebling. Draußen ist es doch so ungemütlich“, bettelte sie und schmiegte ihre Wange an seinen Rücken.
„Für dich ist es ungemütlich, aber für Neli ist es perfekt. Sie mag es durch den Matsch zu laufen.“
Silvie verzog das Gesicht.
„Dann macht sie den ganzen Boden wieder schmutzig und ihr Fell stinkt so widerlich, wenn es nass ist.“
Andres lachte.
„So etwas muss man in Kauf nehmen, wenn man sich einen Hund anschafft.“
„Manchmal glaube ich, dass du deine Hündin mehr liebst, als mich“, beschwerte sie sich schmollend und war gezwungen ihn loszulassen, da er sich vom Bett erhob.
„Wieso? Du könntest doch mitkommen. Ein schöner Spaziergang an der frischen Luft vor dem Frühstück, ist eine feine Sache.“
Er schlüpfte in seine Jeans und ging dann zum Schrank. Zog einen warmen Pullover heraus und streifte sich diesen über. Silvie streckte sich und gähnte.
„Nein, danke. Gestern wäre ich vielleicht mitgekommen, da war es warm und es schien die Sonne. Heute nieselt es, ist dunkel und kalt.“
Andres zuckte mit den Achseln.
„Wie du willst. Bin spätestens in einer Stunde wieder da, dann können wir frühstücken.“
Er ging aus dem Schlafzimmer, die Treppe herunter und goss sich in der Küche ein Glas kalte Milch ein. In einem Zug trank er es aus und wischte sich den Milchbart mit dem Handrücken ab.
„Neli! wo bleibst du, altes Mädchen?“
Die Collie Hündin kam, über den Holzboden schlitternd, aus dem Flur eilig angelaufen. Er ging in die Hocke und kraulte ihren Hals und hinter ihren Ohren.
„Uns beide stört das miese Wetter nicht, nicht wahr?“, meinte er leise zu ihr und versetzte der Hündin einen leichten Klaps auf das Hinterteil. „Los, wir gehen heute zum Waldsee.“
Die Hündin lief zur Eingangstür und er folgte ihr. In der Diele streifte er sich die Regenjacke über, zog seine Wanderstiefel an und legte das Handy und die Hausschlüssel in die Jackentasche.
Draußen war es wirklich frisch, man konnte sogar den Dampf vom eigenen Atem sehen. Der feine nebelartige Nieselregen überzog die Landschaft mit einem glänzenden Film. Es war weit und breit noch keine Menschenseele zu sehen. Wer wollte auch bei diesem Wetter, an einem Samstag so früh aus dem Bett, außer er musste zur Arbeit oder besaß einen Hund, der reichlich Auslauf brauchte.
Sie liefen eine Weile neben der kaum befahrenen Straße her und bogen dann nach rechts in einen Waldweg ab, der zum Waldsee führte. Neli jagte einer Bachstelze nach, die hochflog, als sie näher kamen. Der Vogel gewann jedoch immer mehr an Höhe und die Hündin gab ihr Unterfangen alsbald wieder auf.
„Na los, Neli, tob dich ein bisschen aus!“, rief Andres.
Er bückte sich, hob einen Stock auf und warf ihn soweit er konnte. Die Hündin preschte los, die aufgeweichte Erde mit den Pfoten hinter sich her schleudernd. Stolz brachte sie ihm den Stock wieder und blickte ihn erwartungsvoll an. Er lobte sie und tätschelte ihren Hals, bevor er den Stock aufhob und diesen wieder warf. Neli preschte abermals los, blieb jedoch in einiger Entfernung stehen, bellte kurz, lief ein paar Schritte, duckte sich und schnupperte, richtete sich wieder auf und bellte erneut.
„Was hast du denn wieder gefunden, Neli? Etwa einen Igel?“, rief Andres.
Die Härchen an seinem ganzen Körper richteten sich auf, als er näher kam und sah, was seine Hündin gefunden hatte. Eine Frau lag bewegungslos am Wegrand und es sah beinahe aus, als wäre sie tot. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen bläulich angelaufen. Ihre Haare und ihre knappe Kleidung waren komplett durchnässt und zum Teil mit Schmutzspritzern übersät. Auf ihrem Hinterkopf erblickte er eine verkrustete Wunde. Seine Hände zitterten leicht, als er eilig sein Handy herauszog und die Nummer des Rettungsdienstes eintippte.
„Medizinischer Rettungsdienst. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende.
Andres schilderte der Frau knapp die Situation und die Lage des Ortes.
„Haben Sie versucht die Person anzusprechen?“, fragte die Frau nach.
„Nein, sie sieht aber auch nicht so aus, als ob sie nur schlafen würde, sondern eher, als wäre sie schon tot!“
„Können sie sehen oder hören, ob sie atmet?“
Andres beugte sich über die Frau, doch ihr Brustkorb schien sich nicht zu bewegen, er hörte auch keine Atemzüge. Er hielt seine Hand an ihre Nase und meinte einen leichten, warmen Hauch an den Fingern wahrzunehmen.
„Ich bin mir nicht sicher, ich versuche nach ihrem Puls zu fühlen.“
Er überwand das mulmige Gefühl in seinem Bauch und berührte die kalte, schlaffe Hand der Frau. Da er am Handgelenk nichts ertasten konnte, griff er an ihren Hals.
„Ich glaube einen leichten Pulsschlag zu fühlen.“
„Sehr gut. Bleiben Sie bitte vor Ort, falls die Sanitäter oder die Polizei Fragen an Sie haben sollten. Ein Krankenwagen ist bereits zu Ihnen unterwegs.“
Andres legte auf und steckte das Handy in seine Hosentasche. Seine Hündin stand daneben und blickte ihn abwartend an.
„Wir müssen noch ein Weilchen hier warten, Neli.“
Er blickte wieder zu der jungen Frau auf dem Boden. Wie lange sie wohl schon hier lag? Es hatte die ganze Nacht geregnet und die Luft war kalt. Er zog seine Jacke aus und breitete diese über den Körper der Frau aus. Die Minuten verstrichen und es kam ihm, wie eine Ewigkeit vor, bis er den Krankenwagen endlich in den Waldweg einbiegen sah, dicht von einem Polizeiwagen gefolgt.
*
Andres sah zu, wie die Sanitäter die junge Frau kurz untersuchten, sie dann auf eine Trage luden und eilig in den Krankenwagen trugen.
„Lebt sie?“, wollte er wissen.
Der Sanitäter sah ihn ernst an.
„Das Mädchen lebt, ist aber in keiner guten Verfassung. Sie muss so schnell wie möglich ins Krankenhaus.“
Andres´ Herz machte unwillkürlich einen Satz. Seine Hündin hatte also doch keine Leiche gefunden! Als er den kaum wahrnehmbaren Puls gefühlt hatte war er sich nicht sicher gewesen. Doch die junge Frau lebte!
Die Tür ging zu und der Krankenwagen fuhr fort.
„Kennen Sie die junge Frau vielleicht?“, fragte der ältere Polizist.
„Nein, ich habe sie heute zum ersten Mal gesehen. Glauben Sie, es war ein Verbrechen?“
„Das kann man nicht ausschließen. Zwar lag sie direkt neben einem Stein und hätte gestolpert und mit dem Kopf gegen den Stein gefallen sein können. Aber es könnte auch jemand nachgeholfen haben. Wir warten auf jeden Fall die genaue ärztliche Untersuchung ab. Leider gibt es keine Hinweise auf die Identität des Mädchens. Es wäre wirklich von Vorteil gewesen, wenn man wüsste, wer sie ist. Ich werde auf jeden Fall die nähere Umgebung absuchen lassen, vielleicht finden wir noch etwas, was uns einen Hinweis auf ihre Identität liefern könnte. Ansonsten hoffe ich, dass das Mädchen überlebt und uns bald selbst erzählen kann, was sich zugetragen hat.“
Andres nickte.
***
Laura trat durch die Tür der Polizeiwache und ging durch den Flur zu dem Glaskasten, in dem ein junger Polizist saß und etwas in den Computer eintippte.
„Guten Morgen“, grüßte Laura.
Der Polizist, in dem Glaskasten, blickte auf.
„Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“
„Meine Schwester ist verschwunden. Ihr ist bestimmt etwas Schlimmes zugestoßen!“
„Wie alt ist Ihre Schwester und wie lange ist sie weg?“
„Sie ist achtzehn und ist gestern nicht mehr nach Hause gekommen.“
„Und Sie glauben wirklich, dass ihr etwas zugestoßen ist? Haben Sie einen Grund zu dieser Annahme?“
„Natürlich habe ich einen Grund. Sie sagt mir immer Bescheid, wo sie ist. Aber seit gestern ist ihr Handy die ganze Zeit aus und sie ruft auch selbst nicht an. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Ihr ist garantiert etwas zugestoßen!“
„Gut. Gehen Sie bitte weiter den Flur entlang, das zweite Büro rechts. Dort können Sie bei meinem Kollegen alle Angaben machen. Ich sage ihm Bescheid.“
Laura bedankte sich und ging den ihr gewiesenen Weg. Sie war verzweifelt und hoffte, dass die Polizei ihr helfen und nach Sofie suchen würde. Sie klopfte an die Tür und trat ein.
„Guten Morgen“, begrüßte sie der etwas ältere Polizist, mit einem Vollbart und buschigen Augenbrauen, der am Bürotisch saß. „Nehmen Sie bitte Platz.“
Laura setzte sich dankend auf den Stuhl, dem Polizisten gegenüber.
„Mein Kollege sagte mir, ihre Schwester wäre verschwunden?“
„Ja, sie ist gestern nicht mehr nach Hause gekommen und hat sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich kann sie auch nicht erreichen, da ihr Handy aus zu sein scheint.“
„Wie alt ist Ihre Schwester und wo war sie zuletzt, bevor sie verschwunden ist?“
„Sie ist achtzehn und sie war zuletzt in der Schule. Ich habe gestern Abend ihre ganze Klasse angerufen und erfahren, dass ihre Schulfreundin, Tina, sie als Letzte gesehen hat. Sie sagt, dass meine Schwester von einem jungen Mann, den sie gut zu kennen schien, nach der Schule abgeholt wurde. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.“
„Kennen Sie den jungen Mann, mit dem sie weggefahren war? War das vielleicht ihr Freund?“
Laura schüttelte verneinend den Kopf.
„Sie hatte keinen Freund. Zumindest hat sie mir nie etwas von einem Freund erzählt.“
„Kennt diese Tina vielleicht den Mann?“
Laura schüttelte abermals den Kopf.
„Das habe ich sie auch schon gefragt, aber sie kennt ihn nicht. Sie meint, dass Sofie, meine Schwester, mit dem Mann Küsschen ausgetauscht hatte und dann zu ihm in den Wagen gestiegen war. Tina konnte mir das Gesicht des Mannes nicht beschreiben, da sie weiter weg stand. Die Automarke des Wagens konnte sie mir auch nicht nennen, sie hat gar nicht darauf geachtet, da sie sich nichts dabei gedacht hat.“
Der Polizist sah sie direkt an.
„Ich kann leider nicht viel für Sie tun. Ihre Schwester ist erwachsen und kann tun, was sie will. Außerdem ist sie freiwillig zu dem Mann ins Auto gestiegen. Wenn Sie Ihnen nichts von ihrem Freund erzählt hat, dann wollte sie es anscheinend nicht. Und dass sie sich bei Ihnen nicht meldet, ist auch allein ihre Entscheidung.“
„Nein, Sie verstehen mich nicht!“, entgegnete Laura leicht aufgebracht, „Sofie ist ganz bestimmt etwas zugestoßen! Wir haben ein gutes Verhältnis zueinander und ...“
„Beruhigen Sie sich bitte“, unterbrach sie der Polizist. „Ich kann Sie sehr wohl verstehen. Sie machen sich Sorgen um ihre jüngere Schwester, doch verstehen Sie mich bitte auch. Es sieht nicht danach aus, dass ihre Schwester gegen ihren Willen von zu Hause wegbleibt. Wenn kein Verbrechen vorliegt, ja es nicht einmal einen Verdacht dafür gibt, dann kann ich leider nichts tun. Wir klären nämlich keine familiären Angelegenheiten, sondern bekämpfen Verbrechen. Sie können natürlich Ihre Schwester bei uns als vermisst melden. Bei Erwachsenen leiten wir jedoch nur dann eine Fahndung ein, wenn eine Vermutung vorliegt, dass die Person in Gefahr oder möglicherweise bereits Opfer einer Straftat geworden ist. Andernfalls geht die Polizei grundsätzlich davon aus, dass jeder Erwachsene seinen Aufenthaltsort frei wählen kann, ohne seine Angehörigen und Freunde zu informieren. Dies mag für Sie sonderbar klingen, doch steht jedem dieses Recht zu – auch Ihnen. Vielleicht ist Ihre Schwester frisch verliebt und denkt im Moment gar nicht an ihre Familie? Ich werde ihre Daten aufnehmen, doch das nützt nur dann etwas, wenn Ihre Schwester in irgendeinen Delikt verwickelt werden sollte. Mehr kann ich leider für Sie nicht tun.“
Laura war den Tränen nahe, als sie die Polizeiwache verließ. Was sollte sie nur tun? Konnte es wirklich sein, dass Sofie etwas vor ihr verheimlicht hatte? Aber warum sollte sie das? Sie hatten sich doch immer gut verstanden und nie irgendwelche Geheimnisse voreinander gehabt. Was sollte sie nur ihren Eltern sagen, falls sie anrufen sollten? Sollte sie ihnen erzählen, dass Sofie verschwunden war? Oder vorerst doch lieber nicht, damit sie sich nicht unnötig Sorgen machten? Vielleicht würde Sofie ja schon bald wieder auftauchen. Das hoffte Laura sehr. Sie fühlte sich für ihre Schwester verantwortlich und hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte.
***
Die Dame an der Information des Pärnu Krankenhauses legte den Telefonhörer auf und blickte Andres fragend an.
„Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Tag“, grüßte er zurück. „Ich wollte gern wissen, wo ich das junge Mädchen, das hier gestern schwer verletzt eingeliefert wurde, finden kann?“
„Wie ist der Name des Mädchens?“
„Das weiß ich leider nicht. Ich hatte sie verletzt im Wald gefunden und hatte daraufhin den Krankenwagen gerufen.“
„Einen Moment, ich frage in der Notfallaufnahme nach.“
Sie wählte am Telefon eine Nummer und unterhielt sich kurz mit jemandem.
„Die junge Frau wurde noch gestern nach Tallinn in die Spezialklinik geflogen“, sagte sie, nachdem sie den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte.
„Könnten Sie mir bitte die Adresse der Klinik geben?“
„Ja, natürlich.“
Die Frau notierte die Adresse auf einem Zettel und reichte ihm diesen mit einem freundlichen Lächeln. Andres bedankte sich und ging zu seinem Wagen. Bis Tallinn waren es etwa einhundertdreißig Kilometer und er würde in ungefähr eineinhalb Stunden da sein. Er wollte gerne wissen, wie es der jungen Frau ging.
*
In der Zentralklinik von Tallinn angekommen, ging Andres gleich zur Information und erkundigte sich nach der gestern eingelieferten, jungen Frau. Auch hier wurde nach dem Namen des Mädchens gefragt.
„Den Namen der jungen Frau kenne ich leider nicht. Ich habe sie mit einer Kopfverletzung im Wald gefunden und habe daraufhin den Krankenwagen gerufen. Sie wurde gestern aus Pärnu hier eingeflogen.“
„Ach, diese junge Frau meinen Sie. Sie liegt auf der Intensivstation und da können Sie leider nicht hinein. Sie können allerdings mit Doktor Ulven reden, wenn er noch in seinem Büro ist. Zweite Etage, den Gang entlang und dann die zweite Tür rechts.“
Andres bedankte sich und ging den ihm beschriebenen Weg. Doktor Ulven war zum Glück noch in seinem Büro, doch er konnte ihm zum Zustand des Mädchens noch nicht viel sagen.
„Die junge Frau hat ihr Bewusstsein noch nicht erlangt. Sie hat eine geschlossene Schädelfraktur und ein schweres Hirn-Trauma erlitten. Es war ihr Glück gewesen, dass sie sie gefunden haben, denn noch ein paar Stunden hätte sie höchstwahrscheinlich nicht überlebt. Sie hatte viel Blut verloren und war bereits stark unterkühlt.“
„Wird sie es schaffen?“, fragte Andres besorgt. Irgendwie war es ihm wichtig, dass dieses Mädchen am Leben blieb. Er hatte sie gefunden, sie gerettet, doch es wäre alles absolut sinnlos gewesen, wenn sie sterben sollte.
„Es ist schwierig, eine allgemeine Aussage über die Prognose bei einem Schädel-Hirn-Trauma zu treffen, da eventuelle Folgen vom Ausmaß der Verletzung abhängen. Es stehen noch einige Untersuchungen an. Es wäre auch eine Hirnblutung nicht auszuschließen. Kommen sie am besten in ein paar Tagen wieder, dann werde ich Ihnen schon mehr sagen können.“
Andres bedankte sich bei dem Doktor und verabschiedete sich von ihm.
Draußen vor seinem Wagen zögerte er kurz, zog dann sein Handy heraus und wählte die Nummer seiner Mutter.
„Hallo, Andres! Dass du dich auch mal von alleine bei mir meldest?!“
„Hallo, Mutter. Ich bin gerade in Tallinn und da habe ich mir gedacht, du hättest vielleicht Zeit und Lust mit mir irgendwo einen Kaffee zu trinken?“
„Das wäre schön. Komm doch einfach bei mir vorbei.“
„Nein, lass uns lieber in ein Café gehen. Ich kann dich abholen.“
„Mein Mann ist nicht zu Hause, also kannst du mich ruhig in meiner Wohnung besuchen.“
Andres schloss das Auto auf.
„Also gut. Bin dann in circa zehn Minuten bei dir.“
*
Andres zögerte kurz und betätigte dann die Klingel an der Wohnungstür. Einige Sekunden später ging die Tür auf und seine Mutter trat lächelnd auf ihn zu. Perfekt gestylt, wie immer, und von einer duftenden Parfümwolke umgeben, umarmte sie ihn und blickte ihm dann ins Gesicht.
„Es ist schön dich wieder zu sehen, mein Junge! Wie lange ist es her, dass du mich zuletzt besucht hast? Drei, vier Monate?“
Andres sah sie ernst an.
„Du könntest mich doch auch besuchen.“
Sie schnitt eine Grimasse.
„Das würde ich, wenn da nicht der Drachen, mit dem Namen Milvi wäre!“
Andres lachte.
„Sag bloß, du hast Angst vor Tante Milvi?“
Sie schnaubte.
„Natürlich habe ich keine Angst vor ihr. Aber ihre feindlichen Blicke und ihre spitzen Bemerkungen empfinde ich einfach als sehr störend. Und wenn sie sich wenigstens nicht ständig bei dir aufhalten würde.“
„Sie kommt nur vorbei, um die Kuh zu melken.“
„Ich hatte beim letzten Mal als ich da war den Eindruck, als würde sie sich den ganzen Tag bei dir aufhalten. Sie hat mir immer noch nicht verziehen, dass ich ihren Bruder damals verlassen habe und einen anderen geheiratet habe. Aber genug davon. Lass uns auf die Terrasse gehen. Ich bringe gleich den Kaffee.“
Andres nahm auf einem der Stühle, auf der Terrasse Platz und blickte sich um. Die Terrasse war recht geräumig und man hatte von hier eine schöne Aussicht. Das Wetter war heute etwas freundlicher und im Moment blickte sogar die Sonne zwischen den Wolken durch. Seine Mutter kam mit der Kaffeekanne und zwei Tassen in der Hand heraus.
„Ist es nicht schön, mitten in der Stadt eine große Wohnung, mit einer so hübschen Terrasse zu haben?“
„Ja, ihr habt euch, im Vergleich zu der anderen Wohnung, wirklich verbessert.“
Seine Mutter schenkte den Kaffee ein und setzte sich Andres gegenüber hin.
„Ich warte immer noch auf die Nachricht von eurer Verlobung“, sagte sie und reichte ihm den Kaffee.
Er nahm die volle Tasse dankend entgegen und blickte sie etwas verwundert an.
„Silvie kann sich nicht einmal entschließen zu mir zu ziehen und du redest von einer Verlobung?“
„Nun, wenn du ihr einen Heiratsantrag machen würdest, dann würde es bestimmt die ganze Sache beschleunigen.“
„Ich finde es okay so, wie es gerade ist.“
Die Mutter blickte ihn streng über den Rand ihrer Tasse an.
„So einfach ist es für euch Männer, was? Hauptsache, ihr habt jemanden, der euer Bett wärmt und alles andere interessiert euch nicht. Deine Freundin wünscht sich aber mehr von eurer Beziehung. Sie möchte eine Familie und Kinder.“
Andres hob spöttisch die Augenbrauen.
„Hat sie dir das erzählt?“
„Ja, das hat sie.“
Andres schnaubte abfällig.
„Sie kommt nicht einmal mit meiner Hündin klar und dann will sie noch Kinder haben?“
„Was hat ein Hund mit einem Wunsch nach Kindern zu tun? Silvie beschwert sich sowieso, dass du ihr deine Hündin andauernd vorziehst.“
„Telefoniert ihr etwa miteinander?“
„Ja, das tun wir und zwar regelmäßig. Ich mag Silvie und würde sie gern als deine Frau sehen. Du bist schon achtundzwanzig und solltest dir mal langsam ernste Gedanken über deine Zukunft machen. Dein Vater hatte seinerzeit viel zu lange gewartet und war schon viel zu alt gewesen, als er endlich geheiratet hat. Und du konntest ja sehen, wozu ihn das geführt hat. Je älter man wird, desto schwerer wird es, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Man rostet sozusagen ein und wird weniger flexibel in Bezug auf eine Beziehung.“
Andres seufzte innerlich. Hätte er gewusst, dass seine Mutter ihn wieder mit dem leidigen Thema belästigen würde, wäre er doch lieber gleich nach Hause gefahren.
„Genug von mir, Mutter. Wie geht es dir denn?“, fragte er, um das Gespräch in eine andere Richtung zu bringen.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Es geht mir eigentlich ganz gut, abgesehen davon, dass ich alleine in dieser Wohnung hause und mein Mann geschäftlich durch Europa herumreist. Wäre nicht meine Arbeit gewesen, hätte ich mit ihm mitkommen können, aber kündigen wollte ich auf keinen Fall. In meinem Alter würde ich so eine gute Stelle nicht wieder bekommen können.“
Andres nippte an seinem Kaffee und hörte seiner Mutter noch eine Weile zu, bevor er sich wieder verabschiedete. Der Pflichtbesuch war getan und nun konnte er wieder einige Monate verstreichen lassen.