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Kapitel 4

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„Ich verstehe dich einfach nicht, Andres!“, regte sich Silvie auf. „Wieso willst du morgen wieder ins Krankenhaus? Du hast doch schon den letzten Sonntag dafür vergeudet. Ich habe mich auf unser gemeinsames Wochenende gefreut! Wieso bist du nicht einfach während der Woche hingefahren?“

„Während der Woche hatte ich keine Zeit, das weißt du“, entgegnete Andres und erhob sich von der Couch. „Ich fahre morgen hin, weil ich wissen möchte, wie es dem Mädchen geht. Am Telefon wollten sie mir keine Auskunft geben. Und außerdem kannst du morgen mitkommen, wenn du den Sonntag mit mir verbringen willst. Wir könnten, nachdem wir das Mädchen im Krankenhaus besucht haben, durch Tallinn spazieren und dort irgendwo essen gehen.“

Silvie erhob sich ebenfalls von der Couch, trat an ihn heran und legte die Arme um seinen Nacken.

„Möchtest du denn eigentlich noch, dass ich zu dir ziehe?“, fragte sie und blickte ihm prüfend ins Gesicht. „Du hast in letzter Zeit nicht mehr davon gesprochen.“

Er legte die Hände um ihre Taille und erwiderte ihren Blick.

„Ich habe keinen Spaß gemacht, als ich es dir angeboten habe. Allerdings werde ich Neli behalten, sie ist mir zu sehr ans Herz gewachsen.“

Silvie zog einen Schmollmund.

„Du weißt, dass sie mich nicht mag und die Antipathie beruht bei uns beiden auf Gegenseitigkeit.“ Sie streichelte mit den Fingerspitzen zärtlich seinen Nacken. „Wahrscheinlich wollen wir dich einfach nicht mit der jeweils anderen teilen.“

„Neli ist keine Frau, also brauchst du mich mit ihr auch nicht zu teilen. Du solltest dich mit ihr endlich anfreunden. Sie ist ein kluger Hund und spürt, dass du sie nicht magst.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht versuche ich es ja. Ich konnte einfach noch nie Tiere gut leiden und die Tiere mich ebenfalls nicht.“

Sie konnte überhaupt nicht verstehen, wieso er an dieser Hündin so festhielt, wo doch sie, seine Freundin, ihm viel wichtiger sein müsste. Genau das war wohl der Grund, warum sie noch nicht endgültig bei ihm eingezogen war. Und zwar nicht der Hund selbst, sondern die Tatsache, dass dieser Hund scheinbar einen höheren Stellenwert für Andres hatte, als sie selbst.

*

Nach der Auskunft der Dame an der Information des Klinikums, wurde die junge Frau bereits auf eine normale Station verlegt und durfte besucht werden.

„Geh du nur ruhig hin“, meinte Silvie zu ihm. „Ich warte im Café, vor dem Krankenhaus, auf dich.“

„Gut, wie du möchtest. Ich bleibe nicht lange weg.“

Auf der Station für Traumatologie erkundigte Andres sich im Schwesternzimmer nach dem Mädchen. Eine junge Krankenschwester sah ihn etwas überrascht an.

„Kennen Sie die junge Frau etwa?“

„Nun, nicht direkt. Ich hatte sie vor einer Woche verletzt im Wald gefunden und wollte sie jetzt gern besuchen.“

„Ach, Sie sind also ihr Lebensretter?“

„Könnte man sagen, ja.“

Die Krankenschwester nickte ihm freundlich zu.

„Kommen Sie bitte mit, ich begleite Sie zu ihrem Zimmer.“

Er folgte ihr über den Flur. An einem der Zimmer blieb die Schwester stehen, klopfte leise an und öffnete dann die Tür.

„Schläfst du nicht? Ich habe nämlich einen Besucher für dich.“ Sie trat zur Seite, damit Andres eintreten konnte. „Sprechen sie aber nicht so laut. Unsere junge Patientin ist noch empfindlich, was laute Geräusche angeht“, sagte sie leise zu ihm und machte die Tür hinter ihm wieder zu.

Im Zimmer herrschte ein Halbdunkel, denn das Fenster war zur Hälfte mit den Vorhängen zugezogen. Das Mädchen saß halb liegend im Bett und sah, trotz des schwachen Lichts, sehr blass aus.

„Hallo! Ich bin Andres“, sagte er gedämpft und trat näher an das Bett heran.

Sie musterte ihn durch halbgeschlossene Lider. Wer war dieser Andres? Sollte sie ihn kennen? Wusste er vielleicht, wer sie war? Gehörte er zu ihr? Er sah gut aus, war groß und breitschultrig. Er trug einen Dreitagebart und seine dunkelbraunen kurzen Haare waren verwuschelt gestylt. Seine ausdrucksvollen, dunklen Augen sahen sie freundlich an.

„Kennen wir uns?“, fragte sie vorsichtig.

„Nicht direkt“, entgegnete er. „Ich habe dich verletzt und bewusstlos im Wald gefunden. Ich darf dich doch duzen?“

Sie zeigte ein schwaches Lächeln und zwei süße Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen.

„Mich duzen hier alle, also kannst du das auch tun“, erwiderte sie. „Du bist also derjenige, der mich gerettet hat?“

Er zog den danebenstehenden Stuhl an das Bett heran und setzte sich hin.

„Nun, gerettet haben dich eigentlich die Ärzte. Ich habe dich nur gefunden, sogar genauer gesagt, meine Hündin. Dann habe ich nur noch den Krankenwagen gerufen.“

„Dann danke ich dir, dass du den Krankenwagen gerufen hast. Deiner Hündin kann ich leider nicht danken.“

Sie hatte eine angenehme melodische Stimme und ein hübsches Lächeln.

„Gern geschehen. Neli kannst du später danken, wenn es dir besser geht“, erwiderte er.

„Wer ist Neli?“

„Meine Hündin.“

Sie lächelte wieder schwach.

„Ach so, sie heißt also Neli …“, sie schwieg und ihr Gesicht bekam einen gequälten Ausdruck, „ich … ich kenne meinen Namen nicht.“

Er sah sie verdutzt an.

„Was soll das heißen, du kennst deinen Namen nicht?“

Sie zog leicht die Schultern hoch und sah ihm ernst in die Augen.

„Ich weiß eigentlich gar nichts. Nicht wer ich bin, nicht wo ich wohne und nicht ob ich irgendwelche Angehörigen habe. Ich weiß auch nicht, warum ich alleine und verletzt im Wald lag. Die Polizei war hier und hat mich nach dem Unfallhergang befragen wollen“, ein bitterer Zug legte sich um ihren Mund, „ich konnte denen jedoch absolut nichts sagen.“

Andres musterte ihr trauriges Gesicht.

„Weißt du denn wirklich überhaupt nichts?“

„Leider nein. Zumindest nichts, was vor meinem Krankenhausaufenthalt hier war.“

War das normal, dass sie sich nicht erinnern konnte? Würde dieser Zustand anhalten oder würde er bald vorbei gehen? Andres nahm sich in Gedanken vor, mit Doktor Ulven darüber zu reden.

„Wie nennt dich denn das Krankenhauspersonal?“

Sie lächelte leicht.

„Ich bin die junge Dame aus dem Zimmer elf.“

Andres nickte.

„Und wie geht es dir allgemein?“

„Seit drei Tagen bin ich auf der normalen Station. Hier ist es viel angenehmer, da es viel leiser ist, als auf der Intensivstation. Laute Geräusche und helles Licht wirken sich verstärkend auf meine Kopfschmerzen aus, deshalb haben sie mich in ein Einzelzimmer verlegt. Es ist zwar schön still hier, aber dafür auch langweilig. Ich freue mich immer, wenn die Visite kommt oder die Krankenschwestern nach mir sehen. Alleine kann ich leider noch nicht aufstehen, da ich nicht schwindelfrei bin.“ Sie machte eine Pause und blickte ihm offen in die Augen. „Es ist schön, dass du mich besuchst.“

Andres erwiderte ihren Blick.

„Wenn du möchtest, dann besuche ich dich wieder. Vielleicht am Mittwoch?“

„Das würde mich sehr freuen.“

Andres erhob sich und drückte leicht ihre Hand, an der kein Tropf angeschlossen war.

„Jetzt muss ich leider gehen. Brauchst du vielleicht irgendetwas? Soll ich dir am Mittwoch etwas mitbringen?“

Sie zögerte und er sah ihrem Gesicht an, dass sie sich nicht traute.

„Los, raus mit der Sprache! Was brauchst du?“

„Ich … ich habe nur dieses OP-Hemd, das ich anhabe. Ani, die Krankenschwester, war so lieb und hat mir Pantoffeln, Unterwäsche und ein paar Drogerieartikel besorgt. Ich bräuchte aber noch ein, zwei Hosen, T-Shirts und vielleicht noch eine Jacke, wenn ich irgendwann nach draußen darf. Ich habe sonst niemanden, den ich darum bitten könnte.“

„Ist gar kein Problem“, erwiderte er lächelnd, „Kriegst du alles in drei Tagen. Vielleicht sogar schon in zwei, wenn ich mir am Dienstag etwas Zeit freinehmen kann. Welche Größe hast du denn?“

Sie zog die Schultern hoch und sah ihn unglücklich an.

„Ich weiß es nicht.“

„Auch gut, wird auch so irgendwie gehen. Ich kaufe ein paar Sachen, du probierst sie dann an und was dir nicht passt, bringe ich wieder in den Laden zurück, okay?“

„Das wäre sehr nett von dir.“

Er lächelte und drückte wieder leicht ihre Hand.

„Bis bald, junge Dame aus dem Zimmer elf.“

„Bis bald, Andres“, erwiderte sie und blickte ihm nach, bis er die Tür hinter sich wieder schloss.

*

Das Einkaufen erwies sich als kein so einfaches Unterfangen. Wäre die Verkäuferin nicht so geduldig, kompetent und hilfsbereit gewesen, hätte Andres es kaum geschafft vernünftige Sachen für seinen Schützling, wie er das Mädchen in Gedanken nannte, zu kaufen. Er kaufte noch etwas Obst auf dem Markt und einen Strauß aus rosafarbenen Pfingstrosen.

Als er durch den Flur der Station lief, kam ihm wieder die junge Krankenschwester, die er schon am Sonntag gesehen hatte, entgegen. Er grüßte sie und sie grüßte freundlich zurück.

„Da wird sich aber jemand über Ihren Besuch freuen“, sagte sie fröhlich. „Sie hat schon gestern den ganzen Tag auf Sie gewartet.“

Er lächelte und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Es ging leider nicht früher.“

Am Zimmer elf angekommen, klopfte er leicht an die Tür und als er ein leises ´Herein´ hörte, trat er ein.

„Hallo! Na, wie geht es der jungen Dame aus dem Zimmer elf heute?“

Sie saß aufrecht in ihrem Bett, das Kissen im Rücken und ihre Augen leuchteten kurz auf, als sie ihn sah.

„Hallo, Andres!“

„Du siehst ja schon etwas besser aus, als am Sonntag“, meinte er und kam an das Bett.

„Doktor Ulven meint, dass ich einen kräftigen Körper habe und mich sehr gut erhole. Bis auf die starken Kopfschmerzen, die ich ohne die Medikamente nicht ertragen könnte, und das Schwindelgefühl, geht es mir auch schon viel besser. Ich habe mich seit gestern kein einziges Mal mehr übergeben und ich bin heute sogar schon vorsichtig alleine im Zimmer herumgegangen. Das ständige Liegen oder Sitzen habe ich schon so leid.“

Andres stellte die Tüten auf dem Stuhl ab und reichte ihr den Blumenstrauß. Mit einem verlegenen Lächeln nahm sie ihn entgegen.

„Oh, ist der aber schön. Vielen Dank!“, sie führte den Strauß an die Nase und schnupperte daran, „Hmmm, sie riechen wundervoll.“

„Ich habe mir gedacht, wenn du schon nicht nach draußen kannst, dann sollst du es wenigstens etwas schöner im Zimmer haben“, meinte er lächelnd. „Ich frage die Schwestern nach einer Vase.“

Er verließ das Zimmer. Nach ein paar Minuten kehrte er mit einer Vase zurück, ging gleich zum Spülbecken und füllte sie mit Wasser. Sie reichte ihm den Strauß und er stellte ihn auf den Tisch.

„Wie sieht es denn mit deinem Erinnerungsvermögen aus? Hast du dich schon an etwas erinnern können?“

Sie blickte ihn traurig an.

„Leider nein.“

„Was sagt denn der Doktor dazu? Ich wollte gern heute mit ihm sprechen, doch er operiert den ganzen Nachmittag.“

„Der Doktor sagt, dass so etwas passiert. Die Erinnerung kann plötzlich oder auch nach und nach fragmentweise wiederkehren. Er meint, ich soll mich deswegen nicht verkrampfen und auch nicht aufregen. Je eher mein Körper sich erholt, desto schneller könnte die Erinnerung wieder kommen.“ Sie blickte ihm in die Augen. „Weißt du, was das für ein Gefühl ist, nichts zu wissen?“

Er schüttelte verneinend den Kopf.

„Es ist so, als würde ein dunkles Monster in meinem Kopf wohnen und alles verschlingen, was ich je gewusst habe ...“ Sie machte eine Pause und ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Zum Glück lässt es mir die Erinnerungen nach dem Unfall.“

Andres überkam plötzlich der Wunsch, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Sie sah in diesem Moment so verletzlich und so schutzbedürftig aus. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht.

„Wenn der Doktor sagt, dass die Erinnerungen wiederkehren, dann musst du einfach nur abwarten. Du wirst sehen, es wird alles wieder gut.“

Sie sah ihm fest in die Augen und erwiderte seinen Händedruck.

„Danke.“

Er hielt für einen Moment ihrem Blick stand, ließ dann ihre Hand los und griff nach den Tüten, die er mitgebracht hatte.

„So, ich habe dir ein bisschen Obst mitgebracht“, sagte er und legte die Tüte mit den Früchten auf den Tisch. „Wusste aber nicht was du magst.“

Sie lachte verhalten.

„Da bist du nicht der einzige.“

„Nun, du kannst dich durchprobieren und bald kennst du schon deine Vorlieben“, meinte er mit einem Augenzwinkern. „Und hier das Wichtigste, die Kleidung. Die Verkäuferin war so freundlich und hat mir geduldig bei der Auswahl geholfen. Ich hoffe die Sachen passen und treffen deinen Geschmack.“

Sie schluckte und ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Er sah sie verdutzt an.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Sie versuchte durch die Tränen zu lächeln.

„Nein, natürlich nicht. Ich habe nur daran gedacht, was würde ich tun, wenn ich dich und Ani nicht hätte?! Ihr beide seid so gut zu mir.“

Er sah sie tadelnd an.

„Ich habe doch noch gar nicht viel getan. Und du sollst dich nicht aufregen, hörst du? Sonst könnten deine Kopfschmerzen womöglich schlimmer werden.“

Sie nickte und wischte sich die Tränen weg.

„So ist es schon besser“, meinte er zufrieden, stellte die Tüten mit der Kleidung auf den Boden und setzte sich auf den Stuhl. „Die Sachen kannst du ja später anprobieren, vielleicht kann dir eine von den Krankenschwestern dabei helfen.“

„Ja. Ani hat heute nachmittags Dienst. Sie wird mir bestimmt helfen. Sie kümmert sich sehr um mich.“

„Das ist schön. Dann hast du also schon zwei Freunde gefunden.“

Sie nickte und verzog plötzlich schmerzvoll das Gesicht. Er sah sie besorgt an.

„Hast du Schmerzen? Soll ich wieder gehen?“

Sie schloss die Augen und schwieg einen Moment, bevor sie wieder die Augen aufschlug und ihn ansah.

„Nein, bleib bitte noch. Es ist schon wieder vorbei.“

„Tut es sehr weh?“

„Manchmal, schubweise. Die Medikamente unterdrücken zwar den Dauerschmerz, doch ab und zu fühlt es sich wie ein Krampf im Kopf an, der zum Glück immer nur von kurzer Dauer ist.“

„Wenn es dir zu anstrengend wird und du wieder deine Ruhe brauchst, dann sag bitte Bescheid.“

„Das mache ich.“

Er sah sie an und rieb nachdenklich sein Kinn.

„Weißt du, was ich mir überlege? Vielleicht sollten wir für dich einen Namen ausdenken, bis du dich an deinen richtigen wieder erinnern kannst?“

Sie zog die Schultern hoch und sah ihn unsicher an, nickte dann aber langsam.

„Vielleicht hast du Recht. Dann hätte ich einen richtigen Namen und wäre nicht mehr die junge Dame aus dem Zimmer elf. Hast du einen Vorschlag?“

Er überlegte kurz.

„Wie wär’s mit Eva? Eva, wie die erste Frau?“

Der Name war kurz aber trotzdem schön.

„Wieso nicht? Eva, finde ich gut.“

„Dann heißt du also ab jetzt, Eva.“

Sie blickte ihn lächelnd an.

„Ich bin gespannt, was die Schwestern dazu sagen werden.“

„Die werden ganz bestimmt froh sein, dass sie dich mit einem so kurzen Namen anreden können. Die junge Dame aus dem Zimmer elf, war doch ein ganz schön langer Name, nicht?“

Sie lachte.

„Du hast Recht. Ani soll es als Erste erfahren.“

Es freute ihn, sie zum Lachen gebracht zu haben. Sie hatte ein schönes, glockenhelles Lachen. Er überlegte, wie alt sie wohl sein mochte? Sie sah mit ihren zarten Gesichtszügen und den großen blauen Augen sehr jung aus. Er schätzte sie auf etwa sechzehn Jahre.

„Ich hoffe, dass es dir, wenn ich dich das nächste Mal besuchen komme, noch etwas besser geht und wir dann eine Runde im Park spazieren können.“

„Wann kommst du denn wieder her?“

Er überlegte kurz.

„Ich denke mal, dass ich am Samstag wieder Zeit haben werde.“

Sie schenkte ihm ein erfreutes Lächeln, doch schon im nächsten Moment bekam ihr Gesicht einen unglücklichen Ausdruck.

„Andres, ich muss dich schon wieder um etwas bitten.“

„Ja, nur zu.“

Sie zögerte kurz.

„Ich… ich bräuchte Straßenschuhe, um nach draußen gehen zu können. Die Stoffpantoffeln, die ich habe, würden sofort schmutzig werden. Ich werde dir das Geld, das du für mich ausgibst, wieder zurückgeben, sobald ich mich erinnern kann, wer ich bin. Vielleicht verdiene ich ja schon selbst oder ich habe Eltern, die dir das Geld werden abgeben können…“

Er blickte sie tadelnd an.

„Ich will nichts mehr davon hören. Hast du mich verstanden? Wenn du Schuhe brauchst, dann kaufe ich dir welche, aber dafür messe ich auf jeden Fall deinen Fuß aus, damit ich weiß welche Größe ich dir kaufen soll. Ich frage bei den Schwestern nach einem Maßband oder wenigstens einem Lineal.“

Er verließ das Zimmer und Eva blickte ihm nach. Sie war so froh, dass sie Andres hatte. Sie war ihm auf jeden Fall zu großem Dank verpflichtet. Er hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern kümmerte sich auch jetzt noch um sie.

Andres kam wieder ins Zimmer zurück und hielt grinsend ein Lineal in die Höhe.

„Ich war erfolgreich!“ Er trat an ihr Bett heran und meinte lächelnd: „So, und nun steck deine Füße heraus.“

Sie gehorchte und streckte ihre Füße unter der Decke hervor. Er setzte sich an den Bettrand, ergriff ihren schmalen Fuß und hielt das Lineal an ihre Sohle. Sie entzog ihm ruckartig ihren Fuß und kicherte.

„Es ist kitzelig!“

Er schüttelte missbilligend den Kopf.

„Kitzelig hin oder her, du musst es aushalten. Schließlich willst du die Schuhe ja haben.“

Gehorsam streckte sie ihm ihren Fuß wieder hin. Er maß die Länge ihres Fußes, so gut es mit dem Lineal ging, ab. Sie presste ihre Lippen fest zusammen, um nicht wieder loszukichern.

„Ich messe am besten auch noch die Breite deines Fußes, um es den Schuhverkäufern etwas einfacher zu machen.“

Er maß also auch die Breite ab und ließ ihren Fuß wieder los. Holte dann sein Handy aus der Tasche und tippte die Maße dort ein, um sie nicht zu vergessen.

„So, und nun muss ich los, sonst jagen mich die Krankenschwestern gleich hier raus. Sie haben mich schon gewarnt, dass die Besuchszeit zu Ende ist.“

Er erhob sich, beugte sich vor und drückte sanft ihre Hand.

„Bis Samstag, Eva.“

Sie erwiderte seinen Händedruck.

„Tschüss, Andres.“

*

Tante Milvi kam gerade aus dem Haus, als Andres aus seinem Auto stieg.

„Guten Abend, Tantchen“, grüßte er lächelnd.

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Guten Abend, mein Junge. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es ein guter Abend für dich wird.“

„Wieso sollte er nicht gut werden, wenn er es doch schon ist?“, entgegnete er gut gelaunt.

„Nun, dich erwartet eine Überraschung im Haus. Und verzeih mir, deiner alten Tante, dass ich geplappert habe. Ich wusste nicht, dass deine Freundin nicht im Bilde war, wo du hingefahren bist. Sie ist regelrecht explodiert, als ich es ihr gesagt habe“, sie sah ihm ins Gesicht, „Silvie hat auch Neli aus dem Haus gejagt. Sieh dir deine Hündin nur an.“

Andres blickte zur Hundehütte. Neli lag zur Hälfte drin, ihr Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, und blickte ihn traurig an. Andres seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Danke, dass du mich gewarnt hast.“

Tante Milvi nickte.

„Die Milch steht, wie immer im Kühlschrank, die Kuh und die Hühner habe ich gefüttert. Um Neli kümmere dich bitte selbst, denn ich glaube nicht, dass Silvie ihr was zum Fressen gegeben hat.“

„Ich danke dir Tante. Du bist und bleibst mein Schatz.“

Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Tante Milvi winkte ab.

„Ich mache es doch gerne. Und außerdem habe ich auch etwas davon. Du brauchst dich also nicht immer dafür zu bedanken. Wie geht es denn deinem Mädchen eigentlich? Kann sie sich schon wieder erinnern?“

„Es geht ihr zwar besser, aber erinnern kann sie sich noch an nichts. Ich habe ihr einen Namen gegeben, bis sie ihren richtigen wieder weiß. Sie heißt jetzt Eva.“

„Das ist ein feiner Name. Aber jetzt musst du zu deiner Freundin. Sie wartet schon sehnsüchtig auf dich. Tschüss, Andres.“

„Tschüss, Tante.“

Silvie stand am Küchenfenster, als er hereinkam.

„Was hat dir die alte Hexe denn erzählt? Sie führt sich hier auf, als wäre sie die Hausherrin!“

„Ich möchte dich bitten, meine Tante nicht so zu nennen“, entgegnete er ruhig.

Sie ging auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

„Entschuldige bitte, aber deine Tante hat mich so aufgeregt!“

„Tante Milvi sagt immer was sie denkt und sie ist die ehrlichste und gerechteste Person, die ich kenne.“

„Gerecht? Ist es etwa gerecht von ihr, dass sie mir sagt, ich wäre die falsche Frau für dich?“

Andres seufzte innerlich. Tante Milvi hatte Recht gehabt, der Abend versprach nicht so gut zu werden.

„Wieso sagst du nichts? Oder denkst du vielleicht genauso?“

Er zog sie an sich und sah ihr offen in die Augen.

„Wenn ich genauso denken würde, würde ich dann noch mit dir zusammen sein?“

Sie sah ihn schmollend an.

„Also willst du wirklich jeden Tag mit mir schlafen gehen und mit mir aufwachen? Ich habe nämlich meine Sachen schon in den Schrank gepackt.“

Er sah sie etwas verdutzt an.

„Heißt das … dass du hier einziehst?“

Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln.

„Ich bin es eigentlich schon. Freut dich das?“

„Ich bin zwar etwas überrascht, aber es freut mich natürlich.“

Sie schmiegte sich an ihn und gab ihm wieder einen Kuss.

„Hast du auch nichts dagegen, wenn der Hund draußen bleibt? Ich fände es so viel besser.“

Andres dachte an Nelis traurigen Blick. Er hatte jedoch keine Lust jetzt noch auf eine Diskussion.

„Sie kann vorerst draußen bleiben.“

„Du liebst mich also doch mehr als sie!“, strahlte sie ihn glücklich an.

Er nickte nur.

*

Silvie funkelte Andres verärgert an und erhob sich energisch vom Küchentisch.

„Nein, sag bitte, dass das nicht wahr ist! Wir sind heute zusammen zu der Party eingeladen, du und ich! Und jetzt willst du mir weismachen, dass du nicht zu der Party gehst, weil du dem Mädchen, das nicht mal ihren Namen kennt, Schuhe kaufen musst und dann mit ihr im Park spazieren gehst?“

„Ich habe sie gerettet und fühle mich für sie verantwortlich. Und ich wünsche mir einfach, dass sie wieder gesund wird. Es kann sie im Moment niemand von ihren Verwandten oder Freunden besuchen, weil niemand weiß, wer sie ist. Die Polizei konnte auch keine Hinweise auf ihre Identität am Unglücksort finden. Sie hat praktisch niemanden außer mir.“

Sie schnaubte verächtlich.

„Du fühlst dich wohl in der Rolle eines Ritters besonders edel, was?!“

Er seufzte und versuchte ruhig zu bleiben. Irgendwie zerrten die ständigen Streitereien mit ihr an seinen Nerven. Sie hatte andauernd etwas an ihm oder an dem was er tat auszusetzen.

„Silvie, mein Entschluss steht fest. Ich fahre heute nach Tallinn, weil ich es Eva versprochen habe.“

„Ach, sie heißt also Eva? Ich denke, sie kann sich an nichts erinnern?!“

„Ich habe ihr den Namen gegeben, bis sie sich an ihren richtigen wieder erinnert.“

Silvie kicherte leicht hysterisch.

„Den Namen hast du ihr also gegeben? Wie schön! Na, sie scheint dir ja enorm wichtig zu sein!“, sie wandte sich abrupt von ihm ab und schritt energisch zur Treppe. „Wenn es dir wirklich so wichtig ist, dann fahr doch hin! Ich gehe eben mit meiner Freundin zu der Party!“, rief sie ihm über die Schulter zu und stolzierte nach oben.

*

Eva saß auf dem Stuhl am offenen Fenster und blickte nach draußen. Die Äste des großen Lindenbaums bewegten sich in dem leichten Wind, der den süßen lieblichen Duft der Lindenblüten in ihr Zimmer hereintrug. Heute war es angenehm warm. Es schien den ganzen Tag die Sonne und die Vögel zwitscherten lebhaft ihre Melodien. Sie blickte in den blauen Himmel, der mit weißen Federwolken überzogen war und verspürte große Lust, die Schönheit dieses Momentes auf einem Blatt Papier einzufangen. Konnte sie denn überhaupt malen? Sie wusste es nicht, nahm sich aber vor, es bei Gelegenheit auszuprobieren. Es klopfte leise an die Tür.

„Herein!“, rief sie und erhob sich, voller freudiger Erwartung.

Andres trat ein und staunte nicht schlecht, sie außerhalb des Bettes zu sehen. Sie hatte die weiße Dreiviertelhose und das blaue T-Shirt, mit einem glitzernden Schmetterling vorne drauf, an. Er lächelte und kam auf sie zu.

„Hallo! Ich sehe, es geht dir besser und es freut mich, dass die Sachen passen.“

Sie strahlte ihn an.

„Hallo, Andres! Ja, sie passen. Die Hosen sind zwar etwas weit, aber da sie alle einen Gummibund haben, halten sie auf den Hüften.“

Er streckte ihr die Tüte mit den Schuhen hin.

„Hier, probiere bitte die Schuhe an. Ich habe dir, auf Empfehlung der Verkäuferin, ein Paar Ballerinas und ein Paar Sportschuhe gekauft. Falls sie nicht passen sollten, kann ich sie gleich noch umtauschen. Der Laden hat bis sechzehn Uhr geöffnet.“

Sie ergriff die Tüte, setzte sich wieder hin und nahm die Sportschuhe heraus. Beugte sich dann nach vorne und wollte gerade den ersten Schuh anprobieren, als ihr dunkel vor den Augen wurde. Sie richtete sich schnell wieder auf, schloss die Augen und atmete tief durch. Andres beugte sich vor und fasste ihr an die Schulter.

„Eva? Geht es dir nicht gut?“, fragte er besorgt.

Sie schlug die Augen wieder auf und sah ihn an.

„Kann mich leider noch nicht bücken. Dann wird mir gleich schwarz vor Augen.“

„Gib mir mal den Schuh.“

Er nahm ihr den Schuh ab, zog die Verschnürung auseinander, ging vor ihr in die Hocke und stellte den Schuh vor sie hin.

„So, jetzt hinein mit deinem Fuß.“

Sie gehorchte und schlüpfte mit dem Fuß hinein. Er zog die Schnüre zu und wiederholte den Vorgang mit dem zweiten Schuh.

„Am besten, stehst du jetzt auf und läufst ein bisschen umher.“

Sie erhob sich, trat einige Male auf der Stelle und lief dann ein paar Schritte.

„Etwas groß, aber mit Socken würden sie, denke ich gut passen.“

„Ach ja, Socken brauchst du natürlich auch noch. Daran habe ich leider nicht gedacht. Na gut, probieren wir jetzt erst mal die anderen Schuhe an.“

Die Ballerinas waren ebenfalls etwas zu groß und ihre Fersen rutschten beim Laufen aus den Schuhen heraus. Andres schüttelte kritisch den Kopf.

„Nein, die muss ich auf jeden Fall umtauschen, die kann man nicht fester schnüren oder mit Socken anziehen.“

Er nahm die Schuhe an sich, legte sie in die Tüte und blickte dann wieder zu ihr.

„Bin in spätestens einer halben Stunde wieder da, dann geht es hinaus, in den Park.“

*

Schlendernd gingen sie durch den weitläufigen, an das Klinikum angrenzenden Park. Die ordentlichen Blumenbeete an beiden Seiten der Wege verströmten einen aromatischen Duft. Eva hielt sich an Andres Arm fest und genoss die Sonne und den lauen, warmen Wind in ihrem Gesicht. Der Park war recht gut besucht, was bei dem schönen Wetter nicht verwunderlich war.

„Wie geht es eigentlich Neli?“, fragte sie.

„Neli? Hm, nicht ganz so gut, würde ich sagen.“

„Was hat sie denn? Ist sie krank?“

„Nein krank ist sie nicht, aber auf jeden Fall traurig. Meine Freundin ist letzten Mittwoch bei mir eingezogen und hat die Hündin nach draußen verbannt.“

„Du hast eine Freundin?“, fragte sie überrascht.

Er grinste.

„Wundert dich das? Bin ich etwa so hässlich?“

Sie lachte.

„Nein, natürlich nicht. Ich finde dich sogar sehr attraktiv. Nur hast du einfach bis jetzt nichts von einer Freundin erwähnt.“

„Nun, das schmeichelt mir, dass du mich sehr attraktiv findest“, entgegnete er grinsend. „Und es ist gut, dass Silvie, so heißt meine Freundin, das jetzt nicht gehört hat. Sie ist nämlich sehr eifersüchtig.“

„Ach, ist sie das? Dann liebt sie dich wohl sehr?“

Andres zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht tut sie das.“

„Und liebst du sie auch? Und seid ihr schon lange zusammen?“

Andres lachte.

„Wird das jetzt so eine Art Verhör?“

„Entschuldige, ich wollte nicht aufdringlich werden.“

„Du bist wohl eine neugierige, kleine Person, was?“

Sie schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln.

„Neugierig vielleicht, aber auf keinen Fall klein. Ich bin nur ein Stückchen kleiner als du.“

Er blieb stehen und maß mit den Augen den Höhenunterschied zwischen ihnen.

„Es sind mindestens zehn Zentimeter, würde ich sagen.“

„Na und? Für eine Frau bin ich trotzdem sehr groß. Ich bin höher, als die meisten Krankenschwestern oder die Frauen, die auf unserer Station liegen.“

Er schmunzelte.

„Gut, das mit der kleinen Person, nehme ich wieder zurück. Hättest du denn Lust, meine große, neugierige Eva, dich mit mir im Café an einen Tisch zu setzen und schon mal zu testen, wie du deinen Kaffee magst?“

„Das würde ich sehr gern.“

Er steuerte mit ihr zu dem Café und sie nahmen an einem der freien Tische Platz. In der Mitte des Tisches steckten in einer Halterung zwei Speisekarten. Andres nahm sie heraus und reichte eine davon Eva. Sie las sich durch die Karte durch, blickte dann auf und sah, dass er sie bereits abwartend anblickte.

„Und? Was soll ich für dich holen? So wie es aussieht, gibt es hier keine Bedienung.“

„Also, die heiße Waffel mit Vanilleeis hört sich ganz gut an und ich hätte anstelle von Kaffee, lieber gern einen Kakao.“

„Geht klar.“

Er erhob sich und ging in das Café hinein. Nach ein paar Minuten kehrte er wieder zurück.

„Die Bestellung wird uns an den Tisch gebracht.“

Sie blickte ihn an.

„Ich habe mich bei dir noch gar nicht für die Schuhe bedankt. Vielen Dank, es war wirklich sehr freundlich von dir.“

„Keine Ursache“, winkte er ab. „Wie sieht es eigentlich mit deinen Kopfschmerzen aus? Sind sie etwas besser geworden?“

„Nein, leider noch nicht. Die Schmerzmittel werde ich wohl noch eine Weile einnehmen müssen. Seit zwei Abenden geben sie mir aber kein Schlafmittel mehr. Doktor Ulven meint, dass ich mich sonst zu sehr daran gewöhnen könnte. Ich muss versuchen ohne das Mittel auszukommen. Es ist jedoch gar nicht so einfach, wie ich gedacht habe, denn ohne das Schlafmittel habe ich scheußliche Alpträume. Heute Nacht habe ich sogar von dir geträumt.“

Andres hob eine Augenbraue hoch.

„Ich, als dein Alptraum? Na, das finde ich nicht gerade schmeichelhaft!“

Sie lachte glockenhell.

„Nein, du warst der Gute in meinem Alptraum. Du standest da, in einem warmen, hellen Licht und hast gelächelt. Die schreckliche, kalte Dunkelheit zerrte aber an mir, hielt mich fest und ließ mich nicht zu dir.“

„Das beruhigt mich aber, dass ich keinen Bösewicht dargestellt habe.“

„Du und Bösewicht?“, sie schüttelte den Kopf, „Niemals! Du bist mein tapferer Ritter!“

Er schwieg und musste daran denken, dass Silvie ihm heute vorgeworfen hatte, einen Ritter zu spielen. Er fühlte sich aber gar nicht wie ein Ritter. Es war doch etwas ganz normales einem Menschen zu helfen, wenn dieser Hilfe brauchte und von deiner Hilfe sogar abhängig war. Sollte er es etwa nicht tun? Das würde er nicht übers Herz bringen können.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte sie vorsichtig.

Er blickte auf.

„Nein. Ich habe nur ein bisschen gegrübelt.“

Der junge Kellner kam an ihren Tisch und stellte zwei Teller mit Waffel und Eis vor sie hin. Andres bekam den Kaffee und Eva den Kakao. Sie bedankten sich und der Kellner entfernte sich wieder.

„Ach, hast du dir auch eine Waffel bestellt?“, fragte sie.

Er grinste.

„Wie du gesagt hast, es hörte sich gut an. Mal sehen, ob es auch gut schmeckt.“

Die Waffel war warm und knusprig und das Eis kalt und lecker.

„Hm, für ein Krankenhaus-Café gar nicht übel“, meinte er mit einem anerkennenden Kopfnicken.

„Ja, mir schmeckt es auch gut. Also weiß ich jetzt, dass ich Waffeln mit Vanilleeis mag. Der Kakao schmeckt mir auch.“

„Siehst du, wieder hast du etwas über dich erfahren.“

Sie lächelte und nickte. Nachdem sie die Waffel aufgegessen hatte, nippte sie an ihrem Kakao und blickte ihn an.

„Wie spät ist es eigentlich? Zum Abendessen muss ich auf dem Zimmer sein, sonst schimpfen die Schwestern mit mir.“

„Es ist zwanzig vor sechs.“

„Um sechs muss ich auf meinem Zimmer sein. Kommst du dann noch mit hoch? Oder musst du schon nach Hause?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Eigentlich habe ich es heute nicht eilig. Meine Tante kümmert sich um Neli, die Kuh und die Hühner. Von daher könnte ich auch noch bleiben.“

„Das wäre schön!“, meinte sie erfreut. „Aber ich dachte du hättest nur die eine Hündin und nicht einen ganzen Bauernhof? Das muss toll sein, so viele Tiere zu haben!“

„Nun, es ist schön, aber bringt auch Arbeit und Verpflichtungen mit sich. Wenn ich meine Tante nicht hätte, müsste ich die Kuh und vielleicht auch die Hühner aufgeben.“

„Hast du also ein großes Haus, mit Hof und Garten?“

„Ja, ein großes Haus, mit einem großen Hof und einem großen Garten. Und am Ende des Gartens fließt ein kleiner Fluss.“

„Das hört sich ja richtig idyllisch an. Ich würde es mir gerne ansehen.“

„Das kannst du doch. Sobald du gesund bist, nehme ich dich mit. Du wolltest dich ja eh noch bei Neli bedanken.“

Sie lächelte.

„Ja, das wollte ich.“

Sie trank den Rest des Kakaos aus und stellte die Tasse auf den Tisch.

„Jetzt müssen wir aber hoch, sonst kriege ich Ärger.“

Kaum waren sie im Zimmer, brachte die Schwester auch schon das Tablett mit dem Essen herein und stellte es auf den Tisch. Nachdem sie wieder weg war, nahm Eva die Abdeckung von dem Tablett ab und schnupperte an der dampfenden Schale.

„Pilzsuppe. Möchtest du sie haben?“, fragte sie.

„Hast du denn keinen Hunger mehr?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Die Waffel hat mich satt gemacht. Ich esse nur noch den Joghurt.“

„Mich hat die Waffel nicht besonders satt gemacht. Ich nehme die Suppe gern.“

Sie stellte die Schale vor ihn hin und reichte ihm das Stück Brot und den Löffel. Er nahm es dankend entgegen und begann zu essen.

„Wo ist denn eigentlich deine Freundin? Ist sie jetzt allein zu Hause?“

„Nein, sie ist gerade unterwegs zu einer Party.“

„Ohne dich? Wurdest du nicht eingeladen?“

Er musste lachen.

„Du willst aber auch alles wissen, was? Ich war eingeladen, wollte aber nicht hin, weil ich keine Partys mag. Sie sind meistens laut und unpersönlich. Silvie würde aber am liebsten jedes Wochenende auf irgendwelche Partys gehen.“

Sie löffelte ihren Joghurt und blickte ihn an.

„Erzähl mir bitte mehr von dir“, bat sie.

Er grinste.

„Was soll ich dir denn erzählen?“

„Einfach alles, was dir einfällt. Über dich, deine Familie, deinen Beruf. Ich kann dir leider nichts erzählen“, meinte sie traurig und tippte sich mit den Fingern an die Stirn, „weil bei mir da drinnen alles leer ist.“

Er sah sie an und unterdrückte das Verlangen aufzustehen und sie in den Arm zu nehmen. Was mochte ihr nur zugestoßen sein, dass sie das hier jetzt durchmachen musste? War jemand damals bei ihr im Wald gewesen und hatte ihr Gewalt angetan? Wenn er nur daran dachte, bekam er Mordgelüste.

Sie blickte ihn unsicher an.

„Ich meine ... wenn du nicht erzählen magst, dann musst du es natürlich nicht.“

„Ich weiß einfach nicht, was ich dir erzählen soll“, er schob die leere Suppenschale zur Seite und sah sie einen Moment schweigend an. „Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben und seitdem wohne ich in dem großen Haus alleine, zumindest bis vor ein paar Tagen. Wir hatten früher viele Schafe, mehrere Kühe, Gänse, Enten und Hühner. Als mein Vater krank wurde habe ich das ganze Vieh, bis auf die eine Kuh und ein paar Hühner verkauft. Es war für mich einfach zu viel, da ich ja noch arbeite.“

„Was arbeitest du denn?“

„Ich bin Tischler und baue Möbel auf Bestellung, repariere oder restauriere alte, antike Möbel oder alte Holztreppen. Verlege Holzböden und mache so praktisch alles, was mit Holz zu tun hat.“

„Das hört sich interessant an. Hast du auch eine richtige Werkstatt?“

„Ja, die habe ich.“

„Was ist eigentlich mit deiner Mutter? Du hast nur deinen Vater erwähnt.“

„Meine Mutter lebt in Tallinn, nicht weit von hier. Sie hat meinen Vater und mich verlassen, als ich acht Jahre alt war und hat einen anderen Mann geheiratet. Sie sagt immer, dass sie einen Fehler gemacht hat, als sie so einen alten Mann, wie meinen Vater, geheiratet hat. Mein Vater ist siebzehn Jahre älter gewesen, als meine Mutter.“

Eva sah ihn mitfühlend an.

„Hat es dir damals sehr wehgetan, als sie euch verlassen hat?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Ich denke schon. Aber da war ja noch Tante Milvi. Sie hat einen Teil der Mutterrolle für mich übernommen.“

Sein Blick fiel auf das Telefon, das auf ihrem Nachttischschrank stand.

„Geht das Telefon eigentlich?“, fragte er.

Sie blickte sich um und zuckte dann mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Ich habe es nicht ausprobiert. Wen sollte ich auch anrufen?“

„Na, zum Beispiel mich“, meinte er grinsend, erhob sich und ging zum Telefon. Er hob den Hörer ab und lauschte kurz. „Es ist tot. Ich frage mal bei den Schwestern nach, wie man es zum Leben erweckt. Bin gleich wieder da.“

Er ging zur Tür und Eva blickte ihm nach. Wie sollte sie die nächsten Tage nur ohne ihn ertragen? Es würde wieder so unerträglich langweilig werden. Sie unterhielt sich zwar hier und da mit anderen Patienten oder mit dem Krankenhauspersonal, aber das war lange nicht so interessant und anregend wie mit Andres. Sie seufzte und stellte das leere Geschirr wieder auf das Tablett. Sie würde ihn so gern bitten öfter vorbeizukommen, aber das durfte sie nicht. Er verbrauchte schon so viel zu viel von seiner Zeit für sie, obwohl sie eigentlich ein niemand für ihn war.

Andres kam mit einem Kärtchen in der Hand wieder herein.

„Das bringt das Telefon wieder zum Funktionieren.“

Er ging zum Apparat, steckte die Karte hinein und hob den Hörer ab. Ein langtöniges Tuten ertönte. Er legte den Hörer wieder auf und streckte ihr seine Visitenkarte hin.

„Hier ist meine Karte. Meine Telefonnummer steht unten drauf. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du etwas brauchst oder auch einfach so. Deine Nummer habe ich bei mir schon gespeichert.“

Sie erhob sich vom Stuhl, stellte sich leicht auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Danke. Du bist der beste Mensch auf dieser Welt!“

Andres räusperte sich und wunderte sich über seine Verlegenheit.

„Nun, ich bin noch lange nicht der beste Mensch auf dieser Welt. Wenn wir beide die Stellen tauschen würden, würdest du nicht auch dasselbe für mich tun?“

Sie sah ihn direkt an.

„Ja, ich denke schon.“

„Na, siehst du. Ich bin also kein Ritter und auch nicht der beste Mensch auf der Welt.“

Sie grinste.

„Für mich, schon!“

Andres seufzte und schüttelte hilflos den Kopf.

„Du bist unverbesserlich.“

Sie sah ihn mit ihren großen, blauen Augen an und lächelte einfach. Ein Licht, ein Strahl, etwas, das er nicht beschreiben konnte, schien aus ihren Augen zu kommen und bis in sein Herz zu reichen und dort eine Saite zum Klingen zu bringen, von deren Existenz er bis jetzt nichts gewusst hatte. Er wandte sich abrupt ab und staunte über sich selbst. Er war plötzlich unsicher und wusste nicht, was er sagen sollte.

Es klopfte an der Tür und die Krankenschwester kam herein.

„Kann ich das Tablett wieder abholen?“

„Ja, bitte“, antwortete Eva.

„Die Besuchszeit ist bald vorbei“, meinte die Schwester, als sie mit dem Tablett zur Tür ging.

„Wann kannst du mich wieder besuchen?“, fragte Eva und sah Andres erwartungsvoll an.

„Ich weiß es noch nicht genau. Würdest du im Krankenhaus in Pärnu liegen, hätte ich dich fast jeden Tag besuchen können, aber um hierher zu kommen, brauche ich immer etwas mehr Zeit. Vielleicht schaffe ich es in der Woche, vielleicht aber erst am Wochenende. Ich rufe dich am besten an, in Ordnung?“

„Ja, ich warte dann einfach. Darf ich dich zum Abschied kurz umarmen?“

Er zögerte einen Moment und nickte dann. Sie stellte sich leicht auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Hals und drückte kurz ihre Wange an seine. Die Stoppeln von seinem Bart pickten und sie musste lachen.

„Du bist aber ganz schön kratzig.“

Er rieb mit den Fingern über seine Wange und grinste.

„Jetzt sind sie sogar ziemlich weich, weil sie etwas länger sind. Am ersten Tag nach der Rasur sind die Stoppeln am härtesten.“

Sie blickte ihn an.

„Ich werde dich vermissen.“

„Wenn es ganz schlimm wird, dann ruf mich einfach an“, meinte er lächelnd und drückte leicht ihre Hand. „Mach´s gut, Eva.“

„Du auch“, entgegnete sie und folgte ihm mit dem Blick, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

***

Es klingelte an der Tür. Laura erhob sich eilig von der Couch und fragte sich, wer das sein könnte? Sie machte die Tür auf und gab einen freudigen Schrei von sich.

„Christian! Wie schön, dass du kommst!“

Sie fiel ihm um den Hals und ließ sich von ihm ausgiebig küssen.

„Du hast mir gefehlt“, sagte er an ihrem Mund und drängte sie ins Haus.

„Was denkst du, wie du mir gefehlt hast?!“, entgegnete sie und ließ ihn hereinkommen. „Fast zweieinhalb Wochen bist du nicht bei mir gewesen!“, meinte sie vorwurfsvoll.

„Dafür haben wir uns umso mehr vermisst.“ Er zog sie fest an sich. „Ich habe ein großes Objekt sehr vorteilhaft verkauft. Nun können wir für uns selbst ein schönes Haus aussuchen und ich habe da schon etwas ins Auge gefasst.“

Sie sah ihn ungläubig an.

„Heißt das, dass du mit mir zusammenziehen möchtest?“

„Ja, das soll es heißen. Willst du das denn nicht?“

Sie lachte.

„Du fragst noch?! Natürlich will ich das!“

„Das freut mich. Aber jetzt, lass uns erst mal in dein Zimmer gehen und nachprüfen, wie sehr wir uns vermisst haben.“

Er drängte sie ungeduldig zur Treppe und sie musste kichern.

*

Etwas später lag Laura neben Christian auf dem Bett, den Kopf auf seine Schulter gelegt, und strich mit den Fingern über seine Brust.

„Ich bin nochmal bei der Polizei gewesen, aber wieder erfolglos. Zumindest weiß ich, dass Sofie am Leben ist, denn sonst hätten sie ihre Leiche irgendwo gefunden.“ Sie blickte ihm ins Gesicht. „Weißt du, was ich im Fernsehen gesehen habe? Junge unerfahrene Mädchen verlieben sich in gutaussehende Typen und lassen sich voll und ganz auf sie ein. Dann entpuppt sich so ein Typ als Zuhälter und zwingt die Mädchen für sich zu arbeiten“, sie seufzte schwer, „Wenn ich mir nur vorstelle, dass Sofie so etwas widerfahren sein könnte ...“, sie verstummte, denn ein Kloß im Hals hinderte sie am Weiterreden und Tränen traten ihr in die Augen.

„Könnte die Polizei nicht in diesem Milieu nach Sofie suchen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, das machen sie leider nicht. Wäre sie noch minderjährig, würden sie nach ihr suchen, aber da sie bereits achtzehn ist ...“

„Vielleicht meldet sie sich ja noch. Du sollst die Hoffnung nicht aufgeben. Aber jetzt reden wir lieber über etwas Erfreulicheres, nämlich über uns und unsere gemeinsame Zukunft.“

Laura blickte ihn an und lächelte schwach. Er legte seine Hand auf ihre Wange und streichelte sie sanft.

„Na, siehst du. So gefällst du mir schon viel besser.“

„Hast du vielleicht Hunger? Ich habe noch etwas von der selbstgemachten Pizza über. Ich könnte sie für dich warm machen.“

„Ich nehme das Angebot gern an. Hast du auch noch etwas von dem Wein, den wir das letzte Mal getrunken haben?“

„Die Flasche ist noch halbvoll und steht im Kühlschrank.“

„Dann lass uns duschen und dann in die Küche gehen.“

***

Silvie stellte ihre Kaffeetasse ab und blickte Andres schmollend an.

„Könntest du die Kuh denn nicht verkaufen? Dann hättest du weniger Sorgen und deine Tante bräuchte nicht mehr zwei Mal am Tag hier vorbeizuschneien.“

Andres sah sie mit einem festen Blick an.

„Nein, Silvie, die Kuh bleibt. Ich mag nun mal gerne Milch und es ist ganz praktisch immer welche im Kühlschrank zu haben.“

„So ein Quatsch! Du kannst dir die Milch aus dem Supermarkt holen und bräuchtest dafür keine eigene Kuh zu halten.“

„Mir schmeckt die Milch aus dem Supermarkt lange nicht so gut, wie die von meiner Kuh.“

Er erhob sich, ging zu der Spülmaschine, stellte seine Tasse und seinen Teller hinein und ging zur Tür.

„Wo willst du denn jetzt hin?“, fragte sie leicht ungehalten.

„In den Stall natürlich. Tante Milvi müsste gleich da sein.“

Sie schnaubte.

„Ach ja, natürlich, deine Viecher sind dir doch so wichtig! Nicht mal an einem Sonntag nimmst du dir die Zeit für mich!“

„Die Tiere müssen nun mal täglich versorgt werden“, entgegnete er trocken.

„Und was soll ich in der Zeit machen?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht hättest du Lust aufzuräumen oder noch besser für uns etwas zu Mittag zu kochen?“

Sie erhob sich und funkelte ihn verärgert an.

„Also, wenn du gedacht hast, dass ich hier einziehe, um für dich die Putzfrau oder die Köchin zu spielen, dann muss ich dich leider enttäuschen. Ich mache so etwas nicht!“

Er zuckte mit den Schultern.

„Dann mach doch einfach was du willst.“

Er wandte sich von ihr ab und verließ das Haus. Draußen sprang Neli auf, als sie ihn erblickte und lief auf ihn zu. Er beugte sich vor und tätschelte ihren Hals.

„Na, altes Mädchen, fühlst du dich auch so miserabel, wie ich?“

„Du hättest dieses Weib nicht in dein Haus lassen sollen, dann würdest du dich jetzt auch nicht so miserabel fühlen.“

Er blickte sich um und richtete sich auf.

„Guten Morgen, Tante.“

„Guten Morgen, mein Junge. Mit jedem Tag sieht dein Gesicht etwas unglücklicher aus. Du hättest diese Silvie wirklich nicht bei dir einziehen lassen sollen, faul und zänkisch wie dieses Weibsbild ist. Ihr Männer seht aber leider nur die schöne Schale und nicht ob die Frucht von innen verdorben ist.“

„Ach, Tante, so schlecht ist sie doch gar nicht. Sie ist nur in einer Wohnung und nicht auf einem Bauernhof aufgewachsen.“

„Was hat sie dann hier bei dir zu suchen?“

„Sie liebt mich.“

Tante Milvi schnaubte.

„Silvie liebt nur eine Person in ihrem Leben und das ist sie selbst!“

Sie schritt an ihm vorbei zum Stall und murmelte noch etwas Unzufriedenes vor sich hin. Andres seufzte, tätschelte noch einmal Nelis Hals und folgte seiner Tante.

Eva Sofie

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