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Nick Lubens Läuft Roman

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Impressum

Texte: © Copyright by Nick Lubens, 2020

Umschlag: © Copyright by Nick Lubens

Hintergrundbild von jacqueline macou auf Pixabay

Verlag:

Nick Lubens

c/o Burkhardt

Lotzestr. 34

37083 Göttingen

nick.lubens@gmx.de

www.starkebücher.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin 2020

1

Eigentlich mag ich ja Feiertage. Man kann länger als gewöhnlich im Bett bleiben, es gibt keinen Grund, aus dem Haus zu gehen – es sei denn, man will sich ein Stück Sahnetorte und einen doppelten Moccachino in der Konditorei gönnen – und mit ein bisschen Glück bleibt Carina auch noch etwas länger liegen und…

„Stehst du dann mal auf, du Schlafmütze?“ Carina steht in der Tür und wirft mir ein missbilligendes Lächeln zu. Mit pinkfarbenem Sporttop, schwarzen Leggins und ihren individuell angepassten, 240 Euro teuren Laufschuhen, die sie von mir zu Weihnachten bekommen hat, ist sie fertig gegürtet für den ersten Programmpunkt des Tages. Ich schiele verschämt zum Fenster und sehe meine Befürchtungen bestätigt. Klar, war ja auch nicht anders zu erwarten. Ausgerechnet an Neujahr bricht die Sonne hervor und taucht die gegenüberliegende Hauswand in ein strahlendes Weiß, das sich mir gnadenlos in die Netzhaut brennt. Von wegen Moccachino!

Was hat mich da gestern nur geritten, ausgerechnet die Teilnahme an einem Fünfkilometer-Volkslauf als guten Vorsatz fürs neue Jahr herauszuposaunen? Dunkel erinnere ich mich, dass Dennis heute Nacht davon schwadroniert hatte, endlich mit dem Rauchen aufhören zu wollen. Und dann hat dieser irrsinnige Überbietungswettbewerb begonnen. Als dann Sebastian, der Carina schon lange schöne Augen macht, angekündigt hat, ins Fitnessstudio eintreten zu wollen, fühlte ich mich irgendwie in die Ecke gedrängt. Und da ist mir dann nichts besseres eingefallen, als zu verkünden, dass ich am 1. März mit Carina in Bremen an den Start gehen werde.

Meine für den ersten Trainingslauf gerüstete Freundin steht mit verschränkten Armen da und mustert mich abschätzig. „Hoch mit dir!“, muntert sie mich auf ihre unnachahmliche Weise auf. „Neues Jahr, neues Glück!“

Ich stöhne auf und schiebe den Kopf unter das Kissen. Ich bin mir sicher, dass der Spruch irgendwie anders ging, aber mit ihr jetzt darüber zu diskutieren, würde nur die Zeit der Qualen verlängern. Berauscht von Sekt, Bier, Schnaps und dem Feuerwerk der Silvesternacht hatten wir uns mit Ghettoehrenwort – das war Dennis‘ grandiose Idee gewesen – geschworen, gemeinsam den überschüssigen Winterpfunden den Kampf anzusagen und die Stadt zu Fuß zu erkunden. Im Laufschritt. Schwer atmend. Mit schweißnassen Shirts.

„Komm schon! Du hast es versprochen.“ Carina ändert ihre Taktik. Sie ist wirklich raffiniert. Wie ein Geheimspion luge ich durch einen schmalen Spalt unter dem Kissen hervor und sehe ihr wunderschönes Gesicht, in dem sich eine herzerweichende Schmolllippe gebildet hat. Wenn ich mir meine Freundin eingehender betrachte, muss ich feststellen, dass es bei ihr eigentlich gar keine Pfunde gibt, die sie wegtrainieren könnte. Instinktiv tastet meine Hand nach meinem Bauchfett. Der einzige, der hier etwas für seine Figur tun sollte, bin ich. Angewidert von mir selbst klammere ich mich an der Bettdecke fest und jaule auf.

Stirnrunzelnd blickt Carina mich an, dann kommt plötzlich Bewegung in ihren Körper. Einer Viper gleich schnellt sie nach vorn und reißt mir mit einer fließenden Bewegung die Decke fort. „Du hast dein Ghettoehrenwort gegeben.“, erinnert sie mich unerbittlich. Irgendwie gefällt mir der abfällige Ton nicht, den sie diesem Wort beimischt.

Ich fühle mich nackt, unförmig und hilflos, wie ich da in T-Shirt und Unterhose vor ihr liege. Vor meinem inneren Auge sehe ich schon die mitleidigen Seitenblicke der Passanten, an denen ich heute vorbeihecheln werde.

Wie in Zeitlupe schiebe ich mich unter dem strengen Blick meiner Freundin aus dem Bett. Carina lässt keine Zweifel aufkommen. Um dieses Training werde ich unter gar keinen Umständen herumkommen. Um dieses nicht und um die nächsten fünfzig auch nicht. Sie hat bestimmt schon alles haargenau geplant. Wie lange wir wann wo herumlaufen müssen, an welchen Tagen es etwas langsamer zugehen darf und wann wir volle Kanne geben müssen, wo ein Zwischensprint eingebaut werden muss und auf welchen Trimm-Dich-Plätzen wir an welchen Tagen zusätzliche Übungen absolvieren werden. Ich will den Plan lieber gar nicht sehen. Es wäre mir unmöglich, ihn wieder aus meinem Gedächtnis zu verbannen.

„Jetzt komm schon! Der Volkslauf wartet nicht auf uns.“, erinnert mich Carina an den eigentlichen Sinn dieser Tortour.

„Ach komm schon!“, jammere ich zum wiederholten Mal, obwohl ich weiß, dass ich auf verlorenem Posten kämpfe. „Das war doch nur so eine Schnapsidee. Ich habe jedes Jahr gute Vorsätze, die ich dann nicht einhalte. Denk doch nur mal an letztes Jahr! Mehr Fahrradfahren?“ Ich grinse sie hilflos an.

„Und damit es dieses Jahr nicht wieder so weit kommt,“, meint sie trocken und reicht mir eine Turnhose, die sie ganz hinten im Schrank gefunden hat, „fangen wir gleich an und ich passe auf dich auf. Außerdem gehen wir als Belohnung, wenn du den Lauf wirklich durchziehst, auch in diese Karaokebar.“, versucht sie, mir die Schinderei etwas schmackhafter zu machen.

Da hat sie recht. Aber das ist ja auch etwas ganz anderes. Karaoke ist witzig. In einer Bar ist gute Stimmung. Vor allem am Karaokeabend. Das wird auch Carina mitbekommen, wenn wir erst einmal da sind. Und Singen kann schließlich jeder. Weite Strecken laufen dagegen kann nicht jeder. Ich schon gar nicht. Und dass auf der Laufstrecke gute Stimmung herrscht, kann ich mir beim besten Willen auch nicht vorstellen. Da ist doch jeder mit seinem Schmerz ganz für sich allein unterwegs. Aber davon will Carina nichts wissen. Mit strenger Miene reicht sie mir meine alten Sporttreter, die ich seit dem Abi nicht mehr getragen habe. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich gehofft, dass sie in all den Jahren irgendwann einmal den Weg in die Tonne gefunden haben und ich deshalb leider doch nicht mittrainieren könne, aber der gezielte Griff, mit dem Carina die Latschen aus dem Schrank befördert hat, und ihr mitleidloses Grinsen zeigen mir, dass sie auf alles vorbereitet ist. Seufzend streife ich die Laufschuhe über und ergebe mich in mein Schicksal.

„Los jetzt! Weiter! Du willst doch jetzt nicht schlapp machen!“ Ich weiß nicht, was peinlicher ist. Dass meine Freundin mich schon seit einer gefühlten halben Stunde ununterbrochen antreibt und dabei noch nicht einmal der kleinste Schweißfleck auf ihrer Stirn zu sehen ist, oder die mitleidigen Blicke, mit denen die anderen Jogger, die ihre Runden durch den Park ziehen, meinen hochroten Kopf, die hängenden Schultern und die schlurfenden Füße, auf denen ich mich von Schritt zu Schritt quäle, quittieren. Erinnerungen an den Sportunterricht in der Schule, von denen ich geglaubt hatte, dass ich sie längst überwunden hätte, werden in mir wach. Das Brennen meiner Lunge und meiner Augen, wenn die anderen Jungen beim 3000-Meter-Lauf auf und davon zogen und mich ihren Staub schlucken ließen, die Schmach, wenn Marius und Felix schon mit den Mädchen auf dem Rasen des Stadions herumturtelten und Herr Köhler lautstark brüllte: „Los, Max. Die letzte Runde. Wenn du dich richtig reinhängst, schaffst du vielleicht noch eine Vier!“, und der demütigende Zieleinlauf unter dem vom Sportlehrer angeleiteten zynischen Applaus meiner so genannten Klassenkameraden. All diese Bilder rauschen wie ein Film in Endlosschleife vor meinem inneren Auge vorbei. Wieder und immer wieder.

Dabei hatte der Lauf gar nicht so übel angefangen. Die Luft war klar und rein gewesen, abgesehen vielleicht von den letzten Duftspuren der Raketen und Böller, die noch durch die Häuserschluchten waberten. Übermütig sprang ich auf und ab, um Carina zu zeigen, dass ich voll motiviert war und auf den ersten Metern hatte ich gleich ein paar gewagte Hopser eingebauen, so wie man es bei den Fußballspielern sehen kann, wenn sie sich vor der Einwechslung an der Seitenlinie aufwärmen. Carina hatte spöttisch mit dem Kopf geschüttelt und mir geraten, meine Kräfte einzuteilen. Pah, was wusste sie schon von der Lebenskraft und Leistungsfähigkeit eines Mannes!

Offenbar eine ganze Menge, schießt es mir eine Viertelstunde später durch den Kopf. Aus dem zügigen Traben ist ein zähes Schlurfen geworden und die Lust auf extravagante Sprünge ist mir spätestens vergangen, als meine im Siebziger-Jahre-Erinnerungslook viel zu knapp geschnittene Sporthose unter der Trainingshose zwischen den Beinen zu kneifen begonnen hat. Das silbrige Glänzen des Sees in der Parkmitte, das mich am Anfang noch an tausende funkelnde Diamanten erinnert hat, erscheint mir jetzt eher wie ein Meer verheißungsvoll auf und ab wogender Rasierklingen, die mich dazu einladen, mich in sie hineinzustürzen und meinem Elend ein schnelles Ende zu bereiten. Und inzwischen bin ich mir auch sicher, dass die Krähen oben in den Wipfeln der Bäume mit ihrem Krakeel all ihre Kumpels herbeirufen, damit auch sie sich am Leid des Versagers tief unter ihren Zuschauerplätzen ergötzen können.

Als einer der schwarzgefiederten Bullies hoch über unseren Köpfen auf eine besonders plumpe Art über mich herzieht, mobilisiere ich meine letzten Kräfte, hebe das Gesicht zur Baumkrone und drohe dem Mobber mit der Faust. Leider scheint mein Körper nicht mehr genug Kraft für Arme und Beine zu haben, denn im nächsten Augenblick knickt mein Knie weg und ich wanke zur Seite.

„Max!“, ruft Carina erschrocken und greift nach meinem Arm. Aber es ist schon zu spät. Wie durch ein Fernglas sehe ich mich selbst in eine dicke, alte Frau hineinlaufen. Ihre einzige Möglichkeit, mir auszuweichen, wird von einer dichten Hecke abgeschnitten und so rassele ich mit dem gesamten Schwung meiner 90 Kilogramm in sie hinein. Hier kommt uns die Hecke doch noch einmal zu Gute, denn sie fängt den Sturz der Frau auf und ermöglicht es meiner Freundin, die Fremde geistesgegenwärtig aufzufangen, bevor Schlimmeres passieren kann.

Empört streicht sich die alte Frau imaginäre Dreckkrümel vom Mantel, der den Zusammenprall eigentlich ganz gut überstanden hat. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hat, nimmt sie mich mit eiskalten, grauen Augen genauer unter die Lupe. Es dauert offenbar nicht lange, bis sie sich ein Bild von mir gemacht hat. Wie der Kopf einer Kobra schnellt ihr Finger nach vorn und bohrt sich schmerzhaft in meinen Brustkorb. „Können Sie nicht aufpassen, junger Mann?“, keift sie mich an. „Sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit.“ Dann fällt ihr Blick auf Carina. Sie lächelt meiner Freundin kurz zu, dann wendet sie sich wieder abschätzig an mich. „Und überhaupt. So, wie sie aussehen, sollten sie sich vielleicht etwas gesitteter anziehen und nicht ihren unförmigen Körper in all seinen Facetten der Allgemeinheit zur Schau stellen!“ Zustimmung heischend blickt sie um sich, aber außer Carina, die betreten zu Boden schaut und sich offenbar für mich mitschämt, hat niemand ihre Tirade verfolgt.

Ich schaue irritiert an mir herab. Ja, der alte Jogginganzug spannt etwas über dem Bauch, aber den Facettenreichtum meines Körpers gibt er nun wirklich nicht Preis. „Entschuldigung.“, murmle ich zerknirscht und setze mich mit hängendem Kopf wieder in Bewegung. Blöder Vogel!

Für den Rest des Weges verzichtet Carina darauf, mich weiter anzufeuern. Und auch in den weiteren Stunden bis zum nächsten Morgen vermeidet sie es, das Wort an mich zu richten. So ist mir am Feiertag zumindest auch noch ein bisschen Ruhe vergönnt, aber ich bin mir sicher, dass sich da noch ein Sturm zusammenbraut, der unaufhaltsam auf mich zugerast kommt.

Läuft

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