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„Papa, das war rot!“ Elkes Hand verkrampft sich um den Türgriff. Mit beiden Füßen betätigt sie die imaginäre Bremse unter dem Handschuhfach. Zum Glück ist das Bodenblech stabil genug. Mit dem Kraftaufwand, der aus ihren Oberschenkeln heraus auf die Beine wirkt, hätte es sie nicht gewundert, wenn sie wie Fred Feuerstein eine lupenreine Bodenbremsung hingelegt hätte.

„Quatsch! Das war nie und nimmer rot!“, ätzt ihr Vater auf dem Fahrersitz neben ihr und schüttelt das schüttere graue Haar.

„Natürlich war das rot!“, widerspricht ihm Elke. „Ich habe es ganz deutlich gesehen.“

„Als ich zuletzt hingeschaut habe, war es hellgelb. Und weil ich der Fahrer bin, zählt, was ich gesehen habe.“, würgt ihr Vater die Diskussion ab und tritt ordentlich aufs Gas, um eine knallrote Vespa zu überholen. „Würde ja noch fehlen, wenn wir hinter dem herzuckeln müssten.“, knurrt er und schert kurz vor dem entgegenkommenden Bus wieder auf seine Spur ein.

Elke hält für einen Moment die Luft an. Erinnerungen an unzählige solcher Situationen werden in ihr wach. Früher hatte sie sich gern eingebildet, dass dann immer der Film ihres Lebens im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge vorbeigelaufen sei, aber nach zu vielen Wiederholungen verliert selbst der spannendste Thriller seinen Reiz. Inzwischen hat sie sich angewöhnt, einfach die Luft anzuhalten und darauf zu vertrauen, dass ihre Schutzengel in Zusammenarbeit mit denen ihres Vaters schon irgendwie ihrer Aufgabe Herr werden.

Ihr Vater kneift die Augen eng zusammen und beugt sich angestrengt über das Lenkrad.

„Bist du sicher, dass du noch Auto fahren solltest?“, spricht Elke ein heikles Thema an, dass ihr in letzter Zeit immer häufiger auf der Seele brennt. Ihr Vater kann kaum noch laufen. Im Altenheim wird er für gewöhnlich mit einem Rollstuhl herumgefahren, der auch heute im Kofferraum des Mercedes liegt, aber das Autofahren will er nicht lassen.

„Ich bin doch kein Tattergreis!“, brüllt er und schlägt wütend auf das Lenkrad. „Hier kriegt mich keiner raus!“ Ruckartig streckt sich sein Rücken und sein Gesicht verzerrt sich zu einer wütenden Fratze. „Siehst du das da?“, keift er und zeigt mit seinem mageren Zeigefinger auf einen Radfahrer, der gemächlich auf dem Fußweg neben der Straße dahinrollt. „Dem sollten sie den Führerschein entziehen. Und das Fahrrad. Wenn jetzt eine alte Frau aus einem Haus kommt, rast der die garantiert über den Haufen. Und dabei gibt es sogar einen Radweg.“

Nachdenklich betrachtet Elke den schmalen roten Streifen zwischen Gehweg und Straße, der vom Verkehrsamt vermutlich als eine Art Balancetraining für Radfahrer ausgezeichnet wurde. „Aber Papa!“, wendet Elke ein. „Er ist doch...“

„Ein Rowdy. Genau!“, schimpft ihr Vater weiter. „Die dürfen mit ihren Rädern überall herumkurven und die Fußwege unsicher machen, aber uns alten Leuten wollen sie die Autos wegnehmen, so dass wir nur noch im Pflegeheim herumsitzen und auf den Tod warten können und keiner uns mehr sehen muss. Ha!“, lacht er mit keckernder Stimme auf. „Nicht mit mir! Nicht mit dem alten Ackermann!“

Drohend hebt er den Zeigefinger, während er mit Schwung rechts abbiegt, ohne auf den Radfahrer zu achten, der sich von hinten nähert. Rasant beschleunigt er aus der Kurve und rast die leere Straße entlang Richtung Fußgängerzone.

„Papa! Hier ist dreißig!“, erinnert ihn Elke und tupft sich die Schweißperlen von der Stirn.

Ihr Vater schnaubt abfällig. „Ich stör doch keinen. Wenn hier Gegenverkehr wäre, würde ich ja langsamer fahren, aber so ist doch genug Platz.“, rechtfertigt er sich.

„Und wenn jemand plötzlich ausparkt?“, hakt Elke nach.

„Muss er eben aufpassen.“, besserwissert ihr Vater, ohne vom Gas zu gehen.

Elke verzichtet darauf, dass das ja auch für die alte Frau, die aus dem Haus tritt und nicht vom Radfahrer überfahren werden will, gelten würde. Sie weiß aus Erfahrung, dass sie diese Diskussion verlieren würde. „Was ist denn das?“, fragt sie stattdessen und zeigt auf die Menschenansammlung, die weiter vorn am Eingang zur Innenstadt zu sehen ist.

„Werden wir ja gleich sehen.“, ruft ihr Vater und hält mit grimmigem Gesicht und eisernem Griff um das Lenkrad auf die schnell größer werdenden Leute zu.

„Max, was machst du denn da?“

Müde drehe ich den Kopf und blicke Carina ins Gesicht, die sich genervt vor mir aufgebaut hat. Mein Blick muss tausend Fragezeichen durch die Luft geworfen haben, denn sie schiebt direkt nach: „So, wie du hier gegen den Laternenmast gelehnt stehst, sieht es eher aus, als wärst du besoffen. Da glaubt doch keiner, dass du hier mit uns für die gute Sache demonstrierst.“

,Ja, das sieht nicht nur so aus.‘, schießt es mir durch den Kopf, aber ich werde einen Teufel tun, und ihr das ins Gesicht sagen. Schließlich ist der ganze Vegetarierkram ihre Herzensangelegenheit, da lässt sie nicht mit sich reden. Bewusst lässig drücke ich mich von meiner Stehstütze ab und schlendere ein paar Schritte zu der etwa zwanzig Leute zählenden Gruppe, die vor dem Eingang des Rewe-Marktes lautstark herumbrüllt und selbstgebastelte Pappschilder in die Höhe reckt. „Fleisch macht weich! Quark macht stark!“, ist einer der Ohrwürmer, die wir immer wieder skandieren. Carina gibt mit einem Megaphon den Ton an, wir anderen quieken ihr die Sprüche nach. „Sojasteak macht Menschen froh, und die Tiere ebenso.“, singt es um mich herum.

„Was ist denn heute mit dir los, Max?“, faucht Carina mich an. Ich bin froh, dass sie das Megaphon dabei ausgestellt hat. Hätte ich ihr in ihrer Begeisterung gar nicht zugetraut. „Du bist ja überhaupt nicht bei der Sache. Kannst du mal ein bisschen lauter mitrufen?“

Ich nicke Zustimmung heuchelnd und fülle meine Lungen vorsorglich mit reichlich Luft. Eigentlich ist mir überhaupt nicht nach Demonstrieren und ich glaube auch nicht, dass auch nur einer der vielen Kunden, die an uns vorbei durch die Supermarkttür gehen, wegen ein paar krakeelenden Studenten auf sein Feierabendschnitzel oder die Fleischwurst zu den Nudeln verzichten wird, aber eine Aufwand-Nutzen-Abwägung bringt mich schnell zu dem Ergebnis, dass ein Mitmachen eindeutig weniger Kraft kostet und mir mehr freie Zeit am Abend ermöglicht, als ein stundenlanges Agitationsgespräch, bei dem mir Carina die Vorteile ihrer eingeschlagenen Strategie bis ins kleinste Detail auseinandernimmt.

„Max!“, brüllt Carina mich an. ,Was ist denn nun schon wieder? Sie hat doch noch gar nichts gerufen.‘, wundere ich mich. Ihre weit aufgerissenen Augen blicken entsetzt über meine Schulter, aber das kann natürlich auch nur eine optische Täuschung sein. „Weg da!“ Ehe ich die Situation angemessen analysieren kann, springt meine Freundin auf mich zu und befördert mich mit gehörig Schwung auf den Gehweg. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie ein dunkelblauer Mercedes quietschend auf dem Radfahrstreifen neben uns zum Stehen kommt.

„Haben die sie noch alle?“, schreit Carina mich an. Hilflos zucke ich mit den Schultern und versuche, mich von ihrem Gewicht zu befreien.

„Hast du mir gerade das Leben gerettet?“, frage ich sie verblüfft mit einem debilen Lächeln im Gesicht.

„Alles in Ordnung da unten?“, ruft eine Stimme aus dem Mercedes. Gleich darauf beginnt sie zu keifen: „Hast du noch alle Tassen im Schrank? Du hättest beinahe die jungen Menschen über den Haufen gefahren.“

Ich höre Autotüren knallen, dann endlich rappelt sich Carina auf und zieht mich mit nach oben. „Alles klar bei dir?“, fragt sie mich besorgt.

Ich reibe mir über die Stelle am Hinterkopf, mit der ich den Fußboden geküsst habe, aber zum Glück wiegt meine Freundin wesentlich weniger als ich und meine Pölsterchen an Hintern und Schultern und der dicke Anorak haben den Sturz zusätzlich abgefangen. „Geht schon.“, brumme ich und nehme das Corpus Delicti in Augenschein. Irgendetwas an der alten Karre kommt mir merkwürdig bekannt vor.

„Max? Bist du das?“

Verwirrt drehe ich den Kopf auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme. „Elke?“, quieke ich, als sich das Gesicht meiner Tante in mein Blickfeld schiebt. „Was machst du denn hier?“

Mit entnervtem Blick schüttelt sie den Kopf. „Dein Opa muss dringend was einkaufen.“, presst sie wütend hervor.

„Hallo Max. Alles senkrecht?“, knarzt die Stimme meines Großvaters über das Auto hinweg zu mir herüber.

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaue ich ihn an wie eine Geistererscheinung. „Du bist Auto gefahren?“, fiepe ich fassungslos. Der alte Mann kann sich kaum auf den eigenen Beinen halten.

„Jetzt fang du nicht auch noch damit an!“ Drohend schwenkt er den Zeigefinger über das Autodach hinweg. „Ich bin noch sehr gut in Form.“

„Du hättest beinahe deinen Enkel umgefahren, Papa!“, faucht meine Tante ihn an und wendet sich wieder besorgt mir zu. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Ich nicke.

„Ist doch noch alles dran an dem Kerl.“, meckert Opa fröhlich. „Vielleicht sogar ein bisschen zu viel, wenn ich ihn mir so ansehe.“, fügt er mit einem gemeinen Grinsen hinzu. „Was habt ihr überhaupt hier auf der Straße zu suchen?“

Inzwischen haben sich die Demonstranten und mehrere Schaulustige um uns geschart. Aufgeregtes Murmeln geht durch die Reihen. „Das ist eine angemeldete Demonstration und wir stehen nicht auf der Straße sondern auf dem Gehweg vor diesem Geschäft.“, mischt sich nun Carina ein, deren erste Sorge und Verwirrung offenbar verflogen sind.

„Ach, und wofür demonstrieren Sie so?“, gibt sich Opa interessiert.

„Gegen Tierhaltung und das Schlachten.“, lässt ihn Carina wissen. „Wir sind überzeugte Vegetarier.“

„So?“, entgegnet Opa knapp. „Wusste das auch der Hackbraten, den du neulich bei uns verputzt hast?“, wendet er sich mit einem scharfen Blick seiner eisblauen Augen an mich.

„Hackbraten?“, kreischt Carina auf. Als mein Großvater und Tante Elke unisono nicken, entgleiten ihr doch die Gesichtszüge. „Max? Hackbraten? Aber wir sind doch Vegetarier.“

Mir wird die Situation zunehmend unangenehm. Einige der Umstehenden tauschen vielsagende Blicke. Ein Mädchen weiter hinten kichert sogar los.

Auch Tante Elke scheint das ganze Theater zu viel zu werden. Energisch stemmt sie die Fäuste in die Hüften und baut sich vor Carina auf. „Jetzt erzählen Sie hier mal keinen Blödsinn! Der Max ist ein guter Junge und isst, was auf den Tisch kommt.“

Mit diesem Spruch erntet sie weitere Lacher, auch wenn das sicher nicht beabsichtigt war. „Max! Schwing deinen Hintern in das Auto! Wir fahren dich jetzt nach Hause.“

„Das wird er ganz sicher nicht tun!“, sagt Carina. Sie versucht dabei, entschlossen aufzutreten, aber ein Hauch Unsicherheit schleicht sich in ihre Stimme. „Die Demonstration ist noch nicht zu Ende.“

Elke lässt den Blick über die Menge vor dem Supermarkt schweifen. „Welche Demonstration?“, knurrt sie. „Max! Einsteigen!“

„Mach lieber, was sie sagt!“, kichert mein Opa. „Du weißt ja, wie sie sein kann.“

„Du hältst dich da raus!“, schimpft Elke jetzt zur Freude der Schaulustigen mit ihrem Vater. „Wir zwei haben auch noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen.“

Carina sieht in offensichtlicher Fehlinterpretation der Lage ihre Chance gekommen, sich auf Elkes Seite zu schlagen und doch noch mit erhobenem Kopf aus der Konfrontation herauszukommen. „Und im Übrigen parken Sie hier auf dem Radweg.“, geht sie meinen Opa an.

Der alte Mann kratzt sich nachdenklich am Kragen und wirft einen flüchtigen Blick auf die rote Markierung neben der Straße. „Ach, die Radfahrer haben doch auf dem Fußweg noch genügend Platz zum Ausweichen.“, winkt er dann ab und schiebt sich zurück hinter das Lenkrad.

„Und außerdem parken wir nicht, wir halten nur.“, lässt Elke meine Freundin mit eiskaltem Blick abblitzen. „Max!“, fordert sie mich mit Grabesstimme auf, die ein unausgesprochenes „Ich sage es nicht noch einmal.“ impliziert.

„Max?“, hält Carina dagegen.

Ich blicke von einer zur anderen, dann fallen meine Schultern ein und mein Kopf sinkt auf die Brust.

„Kopf hoch!“, kräht Opas Stimme durch die offene Beifahrertür. „Wir machen uns ein saftiges Steak zum Abendessen, dann sieht die Welt gleich wieder besser aus.“ Dazu reckt er mit einem breiten Grinsen den rechten Daumen in die Höhe. Die Schaulustigen um uns herum johlen.

Gehorsam schiebe ich meinen Hintern auf die Rückbank des Mercedes und schlage die Tür zu. Ich wage es nicht, Carina noch einmal anzuschauen. Auch so weiß ich, dass ihr vermutlich gerade sämtliche Farbe aus dem Gesicht weicht und ihr Kinn Bekanntschaft mit den Kniescheiben macht.

„So, und jetzt fährst du mal vorsichtig, Papa!“, gibt meine Tante das Kommando zur Abfahrt, als ich auf dem Rücksitz angeschnallt bin. Wie in Trance ziehen die Gesichter der Schaulustigen, meiner Mitdemonstranten und meiner Freundin an mir vorbei, als wir langsam wenden und uns auf den Weg hinaus aus der Stadt machen.

Läuft

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