Читать книгу Läuft - Nick Lubens - Страница 4
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Ich schlüpfe durch die unscheinbare Metalltür in das Foyer der Grundschule und schüttele die Regentropfen aus meinem Haar. Irgendwie hatte ich nicht kommen sehen, dass es um diese Jahreszeit auch mal regnen kann. Und mir scheint es nicht als einzigem so ergangen zu sein. Mehr oder weniger pitschnass stehen Kinder, Eltern, Verwandte, Freunde und Lehrer in kleinen Grüppchen zusammen und machen sich mit aufgesetzter Fröhlichkeit über ihre wassergetränkte Garderobe lustig. Ich recke den Hals, kann Carina aber nirgends entdecken. Als ich gestern Nacht nach Hause gekommen bin, wollte ich sie nicht wecken – mit meinem nach Wiener Schnitzel stinkenden Atem wäre eine Entschuldigung vermutlich ohnehin nicht gerade auf fruchtbaren Boden gefallen – und so hatte ich es mir auf der Couch ungemütlich gemacht. Und heute Morgen bestand unsere einzige Kommunikation darin, dass sie ihren Kopf durch die Wohnzimmertür gesteckt und mich mit einem bitterenttäuschten „Tschüss“ aus dem unruhigen Schlaf gerissen hat.
Also bin ich an diesem Nachmittag mit den besten Absichten losgezogen, um mich bei meiner Freundin zu entschuldigen. Schließlich habe ich sie schmählich auf der von ihr organisierten Fleischverzichtsdemo sitzen lassen und bin stattdessen mit meinem leicht debilen Opa und meiner herrschsüchtigen Tante ins Steakhouse gefahren. Nicht, dass ich das ansich bereuen würde. Das Schnitzel war großartig und ich würde jederzeit das gepflegte Sitzen einem aufgeregten Herumstehen vorziehen. Aber darum geht es nicht. Carina ist meine Freundin und hat es verdient, dass ich sie in ihren Wünschen und Bedürfnissen unterstütze. Und das habe ich nicht getan. Darum bin ich jetzt hier. Und ich kann sie nirgendwo sehen. So groß ist diese Schule doch auch wieder nicht.
Ich bin zuversichtlich, dass Carina bald auftauchen wird. Schließlich ist es ihre Schule und sie hat sich wohl kaum die ganze Mühe mit dem Plakat gemacht, um dann nicht die Lorbeeren dafür einzuheimsen. Das ist nicht ihre Art. Vermutlich ist sie nur nochmal ins Lehrerzimmer gegangen oder treibt sich anderswo im Schulgebäude herum. Ich beschließe, die Wartezeit damit zu überbrücken, mir die ausgestellten Kunstwerke und Plakate anzuschauen. Man weiß ja nie, vielleicht kann ich sogar noch etwas dazulernen.
Gleich links neben der Eingangstür steht eine stattliche Sammlung an Plastikschälchen, in denen Wattebetten darauf warten, von kleinen Pflanzen bedeckt zu werden. Aus einigen der Wattebeete sprießen auch bereits kleine grüne Keime. Die Besitzer dieser Frühbeete sind sicher mächtig stolz darauf, dass ihr aufopferungsvolles Kümmern sich auszahlt. Mir persönlich fallen aber zwei Schälchen ins Auge, bei denen mich sentimentale Erinnerungen überkommen. Die eine Plastikwanne ist zu gut drei Vierteln mit Wasser gefüllt. Der übereifrige Gießer scheint diesen Zustand auch mit einiger Gewissenhaftigkeit bereits über Tage aufrecht erhalten zu haben, denn die ursprünglich am Boden der Schale liegende Watte ist in dem kleinen Tümpel nur noch in Form schwebender Klümpchen auszumachen. Da hat es wohl jemand zu gut gemeint. Ganz rechts hinten steht ein Behälter, der mir hätte gehören können, wäre ich noch Schüler dieser Lehranstalt. Die Watteschicht ist sehr schmal und dünn, so als wäre sie einmal gewässert und dann an einem besonders warmen Ort vergessen worden. Ein paar vertrocknete Samen zeigen an, dass die Aussaat erfolgt ist, dann aber der gärtnerische Eifer deutlich nachgelassen haben muss. Instinktiv muss ich lächeln. Dieses Kind ist mir auf Anhieb sympathisch.
Ein paar Schritte weiter komme ich an einen Tisch, auf dem allerlei Tongefäße stehen. Ein in formvollendeter Handschrift beschriebenes Schild informiert mich darüber, dass es sich um Ergebnisse des Keramikprojekts der 2. Klasse handelt. Die meisten der Kerzenständer, Becher und Schüsseln würde man in dieser Form sicher nicht am Töpferstand auf dem Markt loswerden, aber sie sind alles in allem weniger schief, als man es von Achtjährigen erwarten könnte. Die begeisterten „Ahs“ und „Ohs“, mit denen die handwerklichen Kunstwerke von den vorbeischlendernden Eltern gewürdigt werden, bestätigen meine fachkundige Beurteilung. Hier war eine Gruppe von hoffnungsfrohen Nachwuchstalenten am Werk. Die örtliche Handwerkskammer sollte die Daten der Kleinen schon einmal in ihre Akten aufnehmen. Doch dann denke ich an Carinas Bastelstunde bei uns daheim und schaue mir die Tongefäße noch einmal genauer an. Die Ränder sind gleichmäßig geglättet, auf den Wänden sind keine Fingerabdrücke zu sehen und keines der Kinder scheint den Drang verspürt zu haben, lustige Muster und Formen in seine Tasse zu ritzen, um dem Machwerk einen individuellen Touch zu verpassen. Kann es sein, dass…?
Innerlich ohrfeige ich mich selbst bei dem zynischen Gedanken, dass auch dieser Teil der Ausstellung eigentlich eine Fähigkeitenshow der Lehrerin sein könnte. So zynisch können die hier nun auch wieder nicht sein, oder?
Einmal mehr suche ich den Raum nach Carina ab. Endlich kann ich sie entdecken. Sie ist direkt vor ihrem Plakat in ein Gespräch mit einem gut aussehenden jungen Mann vertieft. Angeregt tauschen sie sich über das Bild aus. Vermutlich erklärt meine Freundin dem Vater gerade, welchen herausragenden Beitrag sein Kind bei der Entstehung des Posters geleistet hat. Wow, denke ich, der ist nicht viel älter als ich und hat schon ein Kind in der dritten Klasse? Alle Achtung!
Ich beschließe, dass es keine gute Idee ist, Carina jetzt bei der Arbeit zu stören. Meine Entschuldigung kann auch noch fünf Minuten warten. Trotzdem gehe ich schon einmal langsam in ihre Richtung und bleibe vor einer Vitrine stehen, in der Weihnachtsgeschichten der Viertklässler ausgestellt sind. Die meisten der Blätter sind in Schönschrift beschrieben und mit Tannenzweigen, Kerzen und anderen kunstvollen Bildern verziert. Wenn man sich die Ergebnisse dieses Projekts so anschaut, muss einem um die Zukunft des deutschen Bildungswesens nicht bange werden. Hier wird wirklich erstklassige Arbeit geleistet. Und nicht nur das Äußerliche spricht für sich. Auch die Geschichten selbst sprühen vor Kreativität, Relativsätzen und Fremdwörtern, dass die Schwarte kracht. Einige der Kinder haben mehrseitige Bücher abgegeben. Ich komme mir vor wie in einer Hochbegabtenschule. Es sei denn – natürlich! Innerlich schlage ich mir erneut mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Da haben die Muttis aber ordentlich mit Hand angelegt.“, brumme ich halblaut.
Offenbar zu laut, denn neben mir fragt eine pikierte Stimme: „Wie meinen Sie das?“
Ich drehe mich nach links und sehe eine Großmutter, die Hand in Hand mit ihrer Enkelin vor der Vitrine steht und mir mit ihren eiskalten, blauen Augen finstere Blitze entgegenschleudert. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
„Äh, na schauen Sie sich nur mal die Kuh da im Stall an!“, sage ich und zeige auf das Bild eines Rindviehs, das den Vergleich mit den Abbildungen in Brehms Tierleben nicht scheuen müsste. „Sowas kriegt doch kein Viertklässler hin.“, meine ich spöttisch.
Die Frau wirft einen kurzen Blick auf die schwarz-weiß gefleckte Kuh. Ihre Enkelin starrt mich unterdessen hasserfüllt an. Ich kann erkennen, wie ihre Unterlippe bebt. Au weia. Bestimmt hat sie das dicke Heft mit der Stallgeschichte abgegeben. Da bin ich ja gerade an die Richtige geraten.
Die alte Frau schaut wieder zu mir. Der Schatten eines Erkennens huscht über ihr Gesicht. „Ach, Sie sind das!“, meint sie nur mit zusammengepressten Lippen und zerrt ihre Enkelin fort zu dem Keramiktisch. Mein Gehirn braucht erstaunlich kurz, um die Frau als diejenige einzuordnen, mit der ich bei unserem Lauftraining am Sonntag zusammengestoßen bin.
Verlegen schaue ich zu Carina. Sie redet immer noch mit dem jungen Vater. Irgendwie scheint es mir sehr vertrauensselig, wie sie ihre Hand auf seinen Unterarm legt. Aber was weiß ich schon von moderner Beziehungspflege zwischen Lehrern und Eltern. Die beiden biegen sich vor Lachen. Ich beschließe, dass jetzt vielleicht doch nicht der beste Zeitpunkt für meine Entschuldigung ist. Carina scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Also mache ich mich am besten wieder aus dem Staub. Heute Abend werden wir sowieso wieder laufen gehen. Egal, wie sauer sie auf mich ist, darum werde ich nicht herum kommen. Und dann sind wir ja lange genug alleine, um den blöden Streit aus der Welt zu schaffen.
Vier Stunden und sechs Kilometer später biegen wir - ich schweißgebadet, Carina mit einem Hauch von Rot auf ihren Wangen - in unsere Straße und damit auf die Zielgerade unserer Trainingsrunde ein. Nur noch ein paar hundert Meter, dann ist eine weitere Laufeinheit absolviert. Stoisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Jetzt nur nicht schlapp machen!
Das eisige Schweigen, das sich während des Laufens zwischen uns manifestiert und mir die Möglichkeit gegeben hatte, mich ganz auf die Atmung und die Schmerzen in meinen Beinen zu konzentrieren, bricht mit einem „Was sollte das gestern eigentlich?“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen. ,Ausgerechnet jetzt?‘, geht es mir durch den Kopf. ,Wo mein Hirn sowieso gerade in einem durch Sauerstoffmangel ausgelösten Delirium über meinen Schultern schwebt? So muss sich Schwammkopf fühlen. Armer Kerl!‘ „Äh, was jetzt?“, heuchle ich schnaufend Ahnungslosigkeit.
„Was wohl?“, pariert sie mit eisiger Stimme. „Das mit deiner Tante!“
„Sie ist halt meine Tante. Du kennst doch Tante Elke.“, flüchte ich mich in Floskeln.
„Nein, ich kenne deine Tante Elke nicht.“, erwidert Carina gereizt. „Du hast uns einander schließlich nie vorgestellt.“
Das habe ich in der Tat nicht, und zwar aus gutem Grund. „Nein, das stimmt.“, gebe ich zu. „Aber ich habe dir von ihr erzählt. Du weißt doch, wie sie ist.“
„Ich wusste nicht, dass sie dich mit gebratenen Tierkadavern durchfüttert.“, lässt sie mich mit säuerlicher Miene wissen. „Ich dachte, du wärst Vegetarier.“
Ich dachte das nie, aber was habe ich denn für eine Chance? Carina ist da absolut nicht kompromissbereit. Also habe ich mein Leben darauf ausgerichtet, zu Hause kein Fleisch zu essen. Aber es ist jetzt vielleicht nicht der richtige Augenblick für eine Grundsatzdiskussion. Andererseits, wann ist der schon? Mein schwammiges Gehirn setzt für einen Moment die angeborenen Selbstschutzmechanismen außer Kraft. „Ich mag Hackbraten.“, keuche ich in einem Akt aufbegehrender Verzweiflung. „Er schmeckt lecker und gibt mir Kraft.“
Ehe ich mich‘s versehen kann, stiebt Carina davon. Durch meine schweißgetränkten Augen kann ich nur noch ihren Hintern und den Pferdeschwanz sehen, der sich in rasender Geschwindigkeit von mir entfernen.
Vor unserer Haustür erwartet sie mich stretchend und mit einem höhnischen Grinsen. „Kraft, ja?“, funkelt sie mich böse an.
Verzweifelt hebe ich die Arme. „Ja, ein echter Mann braucht Proteine.“ Der Satz verlässt meinen Mund, bevor ich irgendetwas dagegen tun kann. Joggen weicht definitiv das Gehirn auf.
„Ein echter Mann?“ Carina baut sich vor mir auf. Ihre vernichtenden Blicke stechen ebenso fest zu wie ihr Zeigefinger, der sich schmerzhaft in meine Brust bohrt. „Ein echter Mann lässt seine Freundin nicht so im Stich. Und ein echter Mann lässt sich von seiner Tante nicht herumkommandieren wie ein kleines Kind.“
Das hat gesessen. Alle Achtung! Ich spüre das instinktive Bedürfnis, die Hacken zusammenzuschlagen und „Jawoll!“ zu brüllen. Zum Glück fehlt mir dazu die Kraft und ich lasse mich seitlich gegen die Hauswand fallen. Der raue, angegraute Putz sticht schmerzhaft in meine Schulter.
„Manchmal glaube ich ehrlich, dass du mich gar nicht liebst.“, fährt Carina bereits die nächste Attacke. Das ist jetzt wirklich unfair und das weiß sie auch, aber wenn sie einmal in Rage ist, gehen schon mal die Pferde mit ihr durch.
„Liebst du mich?“, fragt sie mich herausfordernd.
„Natürlich.“, sage ich. „Natürlich liebe ich dich.“
„Natürlich!“, regt sie sich auf. „Was soll das denn jetzt heißen?“
,Ganz dünnes Eis!‘, warnt mich mein Unterbewusstsein. „Carina. Ich liebe dich. Das weißt du.“, erwidere ich betont ruhig.
„Beweis es!“, fordert sie und dreht sich um. „Welche Augenfarbe habe ich?“
Du lieber Himmel! Woher soll ich denn wissen, welche Augenfarbe sie jetzt gerade hat? Das kommt doch ganz auf das Licht und ihre Stimmung an. In ihrem Pass steht braun, aber oft sind ihre Augen eher grau-blau mit einem breiten braunen Rand. Wenn sie in einem Streit so richtig in Fahrt ist, werden sie grün wie zwei Smaragde. Wenn sie ganz entspannt ist, wie an einem Winterabend vor dem warmen Kamin, dann strahlen sie warm und herzlich in einem dunklen Braunton. Am allerliebsten habe ich es aber, wenn sie glücklich ist oder die Sonne schräg in ihr Gesicht scheint. Dann leuchten ihre Augen wie Bernstein, so dass ich einfach nur dahinschmelzen könnte.
Aber jetzt gerade? „Keine Ahnung.“, sage ich hilflos. „Das kommt doch ganz...“ Weiter komme ich nicht, denn wie von der Tarantel gestochen, schießt sie davon. Ihre rechte Hand erscheint mit gestrecktem Mittelfinger über der Schulter. Meine Knie sind viel zu weich, um ihrem straffen Sprint etwas entgegensetzen zu können und so bleibt mir nichts anderes übrig, als ihrem wippenden Pferdeschwanz und dem obszönen Finger hinterherzustarren und mich zu fragen, was jetzt schon wieder falsch gelaufen ist.