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[ Zum Inhaltsverzeichnis ] Kapitel 2 Der bescheidene Professor
ОглавлениеMagdalen College, Oxford
C.S. LEWIS (1898 – 1963)
Sein Stammplatz war hinten im Eck, im Schatten eines dicken Samtvorhangs, der das Fenster zum Hinterhof des Pubs zur Hälfte verdeckte. Die wenigen Sonnenstrahlen, die der Staubschicht an den Fensterscheiben trotzten, warfen ein müdes Licht auf den grob gemusterten Teppich. Der für ein englisches Pub typisch muffige Geruch war hier am intensivsten – ein Gemisch aus kaltem Stein und uralter, polierter Eiche, durchdrungen von Zigarrenrauch. Dem beiläufigen Pub-Besucher wäre der Gentleman in seiner schäbigen, grauen Tweedjacke, dessen gut gebaute Form sich von den dunklen Schatten des Vorhangs kaum abhob, gar nicht aufgefallen. Er zog langsam an seiner Pfeife und blies den Rauch nachdenklich in den Raum. Es war die Zeit vor den Rauchverboten.
Professor C.S. Lewis war kein Fremder in den Lokalen der Universitätsstadt Oxford. Am häufigsten besuchte er „The Eagle And The Child“, alias „The Bird And The Baby“, wie seine akademische Kundschaft das Lokal scherzhaft nannte. Das war der Pub, in dem der legendäre Literatenclub „The Inklings“ sich jahrelang unter der Federführung von Lewis und seinem Freund J.R.R. Tolkien zweimal wöchentlich traf. Das Pub, in dem erste Entwürfe für spätere Weltbestseller wie „Herr der Ringe“ und „Der König von Narnia“ ausgetauscht, zerpflückt, diskutiert und schließlich zu Papier gebracht wurden. Das Lokal aber, in dem sich Lewis jetzt befand, im Erdgeschoss des Eastgate Hotels gegenüber seinem Oxford-College, war ein anderes: sein Refugium an Tagen, an denen er allein sein wollte, um nachzudenken.
Gestohlene Bühnenehre
Und gerade heute war ihm nicht nach erhitztem Schlagabtausch in geselliger Runde mit befreundeten Kreativgeistern zumute. Er holte einen Brief aus der einen, eine Lesebrille aus der anderen Jackentasche, rückte näher an das Fenster, setzte die Brille auf seine Nase und las zum wiederholten Mal die trockene Meldung, die von jetzt auf gleich seine kostbarsten Träume zu Scherben zerschlagen hatte. „Die Wahl des Vorstands fiel im letzten Wahlgang auf C. Day Lewis. Wir gratulieren dem Professor zu seiner Wahl für den Lehrstuhl der Poesie an der Oxford-Universität.“ Nicht C.S. Lewis, sondern C. Day Lewis. Dass der Ausgewählte den gleichen Nachnamen wie sein Konkurrent um den Posten hatte, war wie eine Ironie des Schicksals, die in ihrer Grausamkeit schier unerträglich war.
Eigentlich war C.S. Lewis für den Posten wie gemacht. So ein Lehrstuhl hatte es in sich – als begehrte Trophäe, die ultimative Krönung einer langjährigen und erfolgreichen akademischen Karriere. Im Jahr 1951 waren dichterische Ausnahmetalente gefragt, war das Amt in den Jahren davor doch von eher farblosen Durchschnittsdozenten besetzt gewesen. Ein Fach wie Dichtkunst verlangte geradezu nach den Vorzügen eines C.S. Lewis, der es als Rhetoriker, Lyriker und witziger Dozent der Sonderklasse zu Weltruhm gebracht hatte. Selbst das Titelbild des amerikanischen Time-Magazins hatte seine Verdienste honoriert. Keiner in Kennerkreisen wäre auf die Idee gekommen, dass die Wahl auf einen anderen Kandidaten hätte fallen können.
Vertieft in seinen betrübten Überlegungen zog Lewis wieder an seiner Pfeife. Dass ihm sein Ruhm in der säkularen Welt von den Mächtigen der Elitehochschule übel genommen wurde, das hatte er schon lange geahnt. Seine wissenschaftlichen Werke zum Thema „Englische Literatur des Mittelalters“ hatten ihm Anerkennung gebracht, das stand nicht zur Debatte. Stein des Anstoßes war ausgerechnet seine Fantasiefigur „Screwtape“ gewesen, die Erfindung, die ihn weltweit zu einem Haushaltsnamen gemacht hatte. „Billige Science Fiction, und das will er als Literatur verkaufen“, war die Reaktion seiner empörten Kollegen gewesen. Und dann waren da seine Radiosendungen über die Grundthesen des Christentums, die seinen tiefen Tonfall, zusammen mit dem von Winston Churchill, zur beliebtesten Stimme Großbritanniens gemacht hatten. Dass einer aus ihren Reihen von analphabetischen Bergwerkarbeitern in den innenstädtischen Pubs nun verehrt wurde, das war für die gebildeten Köpfe der Elite Englands ein Skandal zu viel.
Intellektueller Kampfplatz
Und überhaupt die Sache mit dem Glauben. Persönliche Überzeugungen zu haben, das stand selbst einem modernen Professor zu. Aber Vorlesungssäle mit neugierigen Studenten zu füllen und atheistische Gegner vor den Augen aller in Grund und Boden zu reden, das konnten Lewis’ Kollegen ihm nicht verzeihen. Kaum ein Agnostiker oder Christengegner traute sich inzwischen in den rhetorischen Zweikampf mit dem gekonnten Meister der apologetischen Schlachten.
Lewis bestellte ein weiteres Bier, während seine Gedanken zu einem unvergesslichen Abend fünf Jahre zuvor im berüchtigten „Socratic Club“ zurückschweiften, wo sich regelmäßig aufstrebende, streitsüchtige Jungpolitiker sammelten, um prominente Persönlichkeiten gegeneinander aufzuhetzen und Blut zu lecken. Der Saal war brechend voll gewesen und die Atmosphäre aufgepumpt mit Adrenalin, als der christliche Apologet Lewis von einem Schriftsteller öffentlich herausgefordert werden sollte, der als eifriger Verfechter des modisch gewordenen Relativismus galt. Die Hauptthese seiner Bücher: Es gäbe keine absolute Wahrheit, die Existenz Gottes sei eine Lüge, jede Form von Existenz relativ, nichts als eine Sache der Wahrnehmung. Seine Rede hatte er mit dem donnernden, dramatischen Schlusssatz abgeschlossen: „Die Welt existiert nicht, England existiert nicht, Oxford existiert nicht, und ich bin guter Zuversicht, dass auch ich nicht wirklich existiere!“
„Danke für das Bier.“
Lewis hob das Glas an seinen Mund und schmunzelte, als er an den tosenden Applaus der Studenten nach der Rede dachte und an die spöttische Frage der Vereinspräsidentin: „Mr. Lewis, haben Sie darauf eine Antwort?“.
Man hätte die Stille im Saal mit einem Messer schneiden können.
Lewis hatte sich langsam von seinem Sitz erhoben, der Moderatorin in die Augen geschaut und trocken gesagt: „Frau Präsidentin, wie soll ich einem Herrn Antwort geben, der nicht wirklich existiert?“, und sich wieder hingesetzt. Ende seiner Verteidigung. Schallendes Lachen bei den Studenten, grimmiges Schweigen bei einer Reihe von Dozenten, die demonstrativ und im Gänsemarsch den Raum verlassen hatten. Einer von ihnen soll so etwas wie: „Pompöser Trottel – wieder typisch“, gemurmelt haben. Die Studenten waren aber auf ihre Kosten gekommen. Ein Abend mit Lewis am Rednerpult war Unterhaltung pur. Aber dieses Mal wusste der Professor, dass er eine Grenze überschritten hatte.
Applaus im Alltag
„Ich möchte bezahlen.“
Lewis seufzte, steckte den Brief wieder in seine Jackentasche und leerte die letzten Tropfen seines Biers. Er schlenderte langsam und mit hängenden Schultern über die Straße und warf einen kurzen Blick auf die schwarzen Regenwolken, die sich am Himmel auftürmten. Die Zeitungen würden bald von dem Wahlergebnis für den Lehrstuhl berichten, seine Feinde sich vergnügt die Hände reiben, seine Freunde besorgt anrufen. Wie hatte man sich bei einer derart öffentlichen Demütigung zu verhalten? Wie enttäuscht würden die „Inklings“ sein! Sein Freund Tolkien setzte sich schon seit fünf Jahren dafür ein, dass Lewis diese Ehre zuteilwerden sollte.
„Tag, Professor! Regen ist angesagt, nehmen Sie Ihren Schirm, wenn Sie das nächste Mal rausgehen“, begrüßte ihn der Pförtner und hob kurz seinen Hut.
„Guten Tag, Williamson!“, antwortete der Professor und zerrte seine Gedanken mit einem inneren Kraftakt von seinen Grübeleien zurück in die Gegenwart: „Und wie geht es Ihrer Frau heute, mein Freund?“
„Viel besser, danke, Sir! Wir gingen gestern an die Luft, wie Sie es verordnet haben, Sir! Und sie konnte danach wieder essen, aber wie. Riesenportion Apfelauflauf, Sir, mit Vanillesoße. Danke für den Tipp. Oh – übrigens, da war für Sie ein Brief, Sir …“
„Danke, Williamson, ich habe den Brief schon heute Morgen abgeholt. Sagen Sie Ihrer Frau einen Gruß von mir und wünschen Sie ihr in meinem Auftrag weiterhin eine gute Besserung!“
„Danke Sir, sie wird sich geehrt fühlen, Sir!“
„Das mag ich so an dem Professor“, sagte Williamson zum Gärtner, der gerade in die „Porters Lodge“ hineinkam und Regentropfen von seinem Mantel abschüttelte, „immer ein nettes Wort. Als ob so’n gescheiter und berühmter Mann nix Wichtigeres im Sinne hätte, als nach meiner Frau zu fragen.“
„Allerhand.“ Der Gärtner holte einen Schlüssel aus dem kleinen Fach an der Wand. „Gestern hielt er beim Spazierengehen an, nur um mich zu fragen, ob ich den Gips an meinem Fuß schon weghatte. Die anderen vornehmen Gentlemen werfen nicht mal einen Blick in meine Richtung.“
Zurück in seinem Arbeitszimmer im Magdalen College angekommen, holte Lewis das Buch, das ihn von jetzt auf gleich in die Schlagzeilen der internationalen Medien befördert hatte, mit einem einzigen trägen Griff vom Bücherregal, zündete seine Pfeife wieder an, warf sich in seinen Lesesessel neben dem Kamin und schlug das Werk willkürlich auf. Screwtape war der Auslöser der Krise, also sollte Screwtape nun auch Rede und Antwort stehen. Er schlüpfte noch einmal kurz in die Rolle des Oberteufels, der seinem Neffen Wormwood Anweisungen gibt, wie man einen Christen verführen und von seinem Glauben an den christlichen Gott – den „Feind“ – abbringen kann.
„Der Feind möchte den Menschen in eine Geistesverfassung bringen, in der er die schönste Kathedrale der Welt entwerfen könnte … und sich tatsächlich darüber freut, ohne dass er doch mehr oder weniger oder in anderer Weise glücklich wäre, wenn ein anderer sie gebaut hätte … sein ganzes Mühen geht dahin, den Menschen von sich selbst zu befreien.“ 2
Von sich selbst befreit sein. Dieses Thema begleitete ihn seit dem Tag seiner Bekehrung. Groß werden dadurch, dass man nicht nach Größe strebt. Er hatte das Rampenlicht nie gesucht, nahm es lediglich in Kauf, wenn es darum ging, als Verfechter des christlichen Glaubens Flagge zu zeigen. Prominent, wie er in der Welt der akademischen Elite war, hatte er sich bisher felsenfest geweigert, sich dem antichristlich geprägten intellektuellen Zeitgeist anzubiedern. Als Christ überzeugen, das wollte er. Aber nicht durch Argumente, gefeilte Rhetorik, Predigten und Schriften – sondern als pragmatischer, bescheidener Alltagschrist, der bemüht ist, gerade die Menschen, die einem am nächsten stehen, gelebte christliche Tugenden auf authentische Weise spüren zu lassen. Als „einen bekehrten Heiden, der unter abgefallenen Frommen lebt“, hatte er sich in seiner Autobiografie „Überrascht von Freude“ humorvoll bezeichnet. In diesem Licht betrachtet, war der freundschaftliche Austausch mit dem Pförtner vielleicht wichtiger als die Frage, wer die Wahl zum wichtigsten Lehrstuhl Oxfords gewonnen hatte. Gott sieht die Dinge eben anders. An diesem Abend, mitten im einsamen Ringen um Fassung am Tiefpunkt seiner Karriere, kam diese Lebenslehre auf den Prüfstein. Er legte Screwtape zurück auf das Bücherregal, versank wieder in seinem Sessel und dachte nach.
Den Schmerz verwandeln
Es war immer spät, wenn Lewis nach einem langen Arbeitstag in seinem abgelegenen Landhaus „The Kilns“, außerhalb von Oxford, ankam. So auch an jenem Abend nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses. Sein Bruder Warren wartete besorgt an der Haustür und blickte auf seine Uhr. „Ich muss schnell auf die Post“, erklärte Lewis. „Briefe und den Scheck für Mrs Kelly einwerfen, sie braucht das Geld bis Ende der Woche. Ich habe versprochen, ihr immer wieder etwas zukommen zu lassen. Reich mir bitte den Regenschirm.“
Befreundete Schriftsteller machten sich oft darüber lustig, dass Lewis sich die Hilferufe Not leidender Anhänger mit der gleichen Dringlichkeit zu Herzen nahm wie verehrende Rezensionen in den Kolumnen der großen Zeitungen. Von den riesigen Umsätzen, die er nach und nach von seinen Büchern bekam, behielt er nur wenig für sich selbst.
Die beiden Junggesellen teilten miteinander das alte Anwesen und auch sonst alles in ihrem Leben. „Jack“, wie der Professor von seinen Freunden genannt wurde, und „Warnie“ hätten unterschiedlicher nicht sein können. Jack sorgte liebevoll und geduldig für seinen älteren Bruder während der langen Wochen, in denen Warnie immer wieder von seiner Alkoholsucht heimgesucht wurde. Warnie seinerseits feuerte Jack an, der immer wieder mitten in den Fehden und Zänkereien der akademischen Welt zwischen die Fronten geriet.
„Irgendwas ist mit dir, Jack“, begrüßte ihn sein Bruder, als er vom Briefkasten zurückkam.
Jack zog den Brief wieder aus seiner Tasche. Die Brüder unterhielten sich bis tief in die Nacht.
Irgendwann in dieser Zeit setzte Lewis sich an seinen Schreibtisch und zog ein Blatt Briefpapier in die Schreibmaschine ein. „Wie recht du doch hast, liebe Frau Lockley“, schrieb er, „das Wichtigste im Leben ist, aufzuhören, sich mit dem eigenen Glück zu beschäftigen. Das Beste am wahren Glück ist, dass es einen davon befreit, an das Glück überhaupt zu denken.“3 Gerade in den Tiefen des Lebens das Vertrauen auf Gott setzen, in bescheidenem Gehorsam die richtigen Dinge tun, anstatt versäumtem Ansehen und verpasstem Glück nachzutrauern – wie oft hatte er andere schon angewiesen, wie es geht. Aber weh tat es allemal. Aufgewühlte Gefühle gleich in Worte umzusetzen, Emotionen in die richtigen Bahnen zu lenken, der Verzweiflung ja nicht nachzugeben – das war gar nicht so einfach.
Er zog ein zweites Blatt in die Maschine. Eine Hausfrau hatte gefragt, wie sie mit ihren Depressionen umgehen soll. „Da bist du gerade der Richtige“, sagte er grimmig zu sich selbst, als er sie ermahnte, sich nicht zu sehr mit ihren Gefühlsschwankungen zu beschäftigen. Für demütige, liebende, tapfere Gefühle dankbar sein. Und wenn sie von selbstsüchtigen, feigen, eitlen Gefühlen heimgesucht wurde, sollte sie Gott einfach um Hilfe bitten. Wichtig seien Absichten und Beschlüsse, das Streben, den Herrn zu suchen.
„Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind sein Megafon, eine taube Welt aufzuwecken.“ Der Kernsatz von Lewis’ Klassiker „Über den Schmerz“ war seit Langem zu einem Lieblingszitat vieler Theologen geworden, die sich mit dem Thema Leid befassten. Theoretisch war Lewis alles klar. Enttäuschungen im Leben machen einen Menschen entweder verbittert oder fruchtbar. Der ernsthafte Christ hat die Option, Leid als Chance der Neuorientierung zu erleben, Gottes Prioritäten neu zu beherzigen, die Ewigkeit in die Kalkulation einzubeziehen; sich trösten zu lassen, um danach, gemäß der Aufforderung des Apostels Paulus, andere dadurch aufzurichten, dass wir „ihnen den gleichen Trost spenden, wie Gott ihn uns geschenkt hat“ (2. Korinther 1,4); zu lernen, dass Gottes Auszeichnungen andere sind als die, die von Institutionen dieser Welt verliehen werden. So sind selbst die schlimmsten Rückschläge nicht mehr Hindernisse, sondern werden zu Sprungbrettern in eine tiefere und vertrauensvollere Beziehung zu Gott hinein.
Lewis’ Stammtisch im Eastgate Hotel, sein Schreibtisch im College, der Esstisch in „The Kilns“ – alle drei Kulissen wurden Zeugen der regelrechten Schreibwut, die Lewis in den darauffolgenden Wochen überkam. Eine Schreibwut, die ihn immer dann besonders einholte, wenn seine Seele mit irgendwelchen Lebenswidrigkeiten am Ringen war. War es eine Flucht vor der unbequemen Realität des Lebens oder die Lenkung aufgewühlter Energien in neue Bahnen?
Geschichten für den Glauben
Screwtape war auf jeden Fall nur der Vorbote gewesen. Narnia ließ grüßen. Die Schranktür, die in eine andere Welt führte, sollte nach und nach Millionen von Kindern, auch Generationen später, in ihren Bann ziehen. Das neue Land wurde mit bezaubernden Figuren bevölkert, deren Namen wie Tumnus der Faun, Reepicheep die Maus und Trauerpfüzler der Moorwackler Fantasien in Kinderzimmern überall in Großbritannien und den USA beflügelten. Die Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt. Eine Geschichte folgte auf die andere. Angestauter Schmerz wurde in fesselnden Erzählungen verarbeitet, hart erprobten Lebensprinzipien wurden Gesichter, Emotionen und Biografien verliehen.
Junge Leser zittern mit, während die Pevensiekinder am Küchentisch des Biberehepaars zum ersten Mal von der Existenz des Löwen Aslan erfahren, dem rechtmäßigen Herrscher Narnias, der „nicht zahm“ ist, aber „gut, sehr gut“. Die starre Schneedecke, Symbol der Tyrannei einer bösen Hexe, die das Land Narnia jahrhundertelang in ihrem frostigen Griff festgehalten hat, fängt zu schmelzen an, sobald der wiedergekehrte König seinen Fuß auf den eiskalten Boden setzt. Blumen blühen, Bäume tanzen, Tiere hüpfen und rennen auf den Löwen zu – Farbe, Musik und Lachen springen überall dort ins Leben, wo Aslan seine Spuren hinterlässt. Glaube als Feststimmung, Nachfolge des Königs als Freudentanz. Lewis’ Vision vom Reich Gottes hat wenig mit trockenen Ritualien oder zähneknirschender Pflichterfüllung zu tun. Sondern mit der Person eines Königs, dessen Name nur erwähnt werden muss, um Wonne und Euphorie bei allen auszulösen, die seine Nähe herbeisehnen.
Das Erscheinen Aslans hat immer tief greifende Folgen für seine Nachfolger. Ihnen werden riskante Entscheidungen, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft abverlangt. Entweder würde ihnen ihre Aufgabe gelingen, oder sie würden in dem Versuch, den verlorenen Prinzen zu finden, sterben: So klärt Aslan den Schüler Eustace und die Schülerin Jill auf, nachdem sie aus Versehen nach Narnia gestolpert sind und feststellen müssen, dass sie von keinem Geringeren als Aslan selber hergerufen wurden. Spannung steigt, während der junge Prinz Kaspian gefragt wird, ob er sich in der Lage fühlt, König zu werden. „Überhaupt nicht“, antwortet er zitternd. „Gut“, erwidert Aslan, „hättest du dich geeignet gefühlt, wäre das der Beweis gewesen, dass du es überhaupt nicht bist.“ Lehren direkt aus Lewis’ Alltag. Es geht in erster Linie um Demut, nicht um Führungskompetenzen. Der bescheidene Leiter wird auch ein guter Leiter sein.
In der gleichen Geschichte muss die Heldin Lucy lernen, ihre Menschenfurcht abzulegen und, wenn es sein muss, den Anweisungen von Aslan auch im Alleingang zu folgen, wenn ihre Geschwister ihr spöttisch den Rücken kehren. Die Gunst Aslans oder die Gunst ihrer Geschwister? Nicht immer kann man beides haben. Ein Nachklang jenes regnerischen Nachmittags im Eastgate Hotel?
Von größerer Bedeutung
Die Vorlesungssäle der Gelehrten hatten ihm eine demonstrative Abfuhr erteilt. Dafür hatten sich ganz neue Welten für Lewis geöffnet, die er wiederum für andere öffnete. Eine Generation zukünftiger Gelehrter saß ihm zu Füßen und sie sogen die unterhaltsamen, aber tiefgründigen Erzählungen in ihren noch ungeformten Seelen gierig auf. Dort bekam er unsichtbare Auszeichnungen, die eine weit größere Tragweite haben sollten als die, die ihm in der akademischen Welt Oxfords zugestanden worden wären. Bis heute liegt sein Dozentenwerk „English Literature in the Sixteenth Century, Excluding Drama“ als nützliches Nachschlagewerk für intellektuelle Fachspezialisten auf den Regalen der großen Universitäten. Die Narniabücher dagegen haben ihren Weg in Millionenauflage und in 47 Sprachen in die Bücherregale der Kinderzimmer dieser Welt gefunden. Und, nunmehr fünfzig Jahre nach dem Tod ihres Erfinders, als Mehrfach-Verfilmungen weltweit in die Kinos und TV-Kanäle.
Die persönlichen Wünsche des bescheidenen Professors blieben bei alledem aber nicht unerfüllt. Im Jahr 1954 bekam er eine überraschende Einladung von der Universität Cambridge, Oxfords jahrhundertelanger Rivalin um die intellektuelle Weltspitze. Einen Lehrstuhl für Literatur des Mittelalters und der Renaissance sollte er besetzen, der extra für ihn eingerichtet wurde. So eine Ehrung war in der akademischen Welt erstmalig und blieb auch danach einmalig. Lewis war überwältigt. Der „Prophet“, der in der eigenen Stadt ohne Ehre blieb, wurde in einer anderen Stadt über alle Maßen für seine Mühe belohnt. Das Kreuz hatte er auf sich genommen. Gott selber hatte dem intellektuellen Stolz seines Dieners, treu der biblischen Warnung, widerstanden. Aber nach bestandener Prüfung konnte auch die Verheißung dazu geerntet werden: „Hab deine Lust am Herrn, so wird er dir geben, was dein Herz begehrt“ (Psalm 37,4).
Ob Lewis seine Gespräche mit den Bediensteten seines Colleges oder seinem Bruder genau nach dem Wortlaut führte wie hier dargestellt, ist nicht sicher. Aber eines ist klar:
Lewis’ Narniabücher fallen auf meinem Bücherregal dadurch auf, dass sie abgenutzt und zerfleddert sind. Und dabei ist das schon mein zweiter Satz Narniabücher. Der erste hatte sich nach wiederholten Lesedurchgängen auf einen Stapel abgegriffener Blätter reduziert, reif für das Altpapier. Wahrheiten, die ein Kind zu schätzen lernt, schlagen tiefe Wurzeln, auch für das Erwachsenenleben. Genau hier liegen der Reiz und die Aussagekraft von Lewis’ Werken, auch weit über seinen Tod hinaus.