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2. Kapitel „Das Mädchen in Rot“

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Nie im Traum hätte Mona erwartet, was sie hier empfing. Der Wald war wie ausgewechselt: Hier auf der anderen Seite des Tores war von der tristen Kälte nichts mehr übrig. Hell brach sich das Licht durch strahlende, frühlingsgrüne Baumkronen. Pollen schwebten wie Federn durch die Luft, die erfüllt war von Vogelgezwitscher. Der Wind rauschte sachte durch das Blattwerk.

Mona kam aus dem Staunen nicht heraus. Es war so, als sei sie eben aus dem Herbst direkt in den Frühling gesprungen. Und das nur, weil sie unter diesem merkwürdigen Bogen aus Bäumen hindurch gegangen war. Mit einem Male stellte Mona fest, wie mild und warm die Luft war. Es herrschte eine beinahe sommerliche Temperatur, so dass Mona ihre Jacke auszog und sie sich um die Hüfte band.

Was war das? In der Ferne sah Mona plötzlich eine Gruppe von Gestalten durch den Wald wandern. Es waren... kleine Männer, glaubte Mona zu erkennen. Sie liefen in einer Reihe hintereinander durch die Sträucher. Sie verschwanden im Dickicht, gerade als Mona die Männer gezählt hatte. Es waren sieben gewesen.

In diesem Augenblick hörte Mona etwas knacken und knistern. Es waren hastige Schritte, mit denen jemand durch den Wald eilte. Mona fuhr herum und sah auf einer entfernten Lichtung zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Der Junge trug eine Lederhose mit Latz, das Mädchen hatte zwei Zöpfe und trug ein zerschlissenes Kleid. Aber noch bevor Mona nach den beiden Kindern rufen konnte, waren sie schon hinter den Büschen verschwunden.

Was war denn hier nur los? Wie konnte es sein, dass der Wald hier auf einmal in schönster Frühlingsblüte stand? Hätte Mona die sieben Männer oder die beiden Kinder doch nur fragen können. Vielleicht konnte sie die Kinder einholen? Mona zog ihre Jacke noch einmal an der Hüfte fest und begann zu laufen. Doch als ihre Augen versuchten zu erhaschen, wo die Kinder abgeblieben waren, stolperte Mona über etwas und schlug der Länge nach auf den Waldboden. Glücklicherweise war der Boden mit weichem Moos bewachsen, so dass der Aufprall Mona nicht sehr schmerzte. Dennoch rappelte sie sich vorsichtig auf und prüfte, dass sie sich auch wirklich nicht verletzt hatte.

Dann sah Mona, über was sie eigentlich gestolpert war. Es war ein Weidenkorb. Mona hatte ihn umgestoßen, als sie über ihn gestolpert war. Dabei waren der Kuchen und die Flasche Wein, die im Korb gelegen hatten, herausgerollt. Überrascht sah Mona sich um. Niemand war in der Nähe. Ob jemand den Weidenkorb hier einfach vergessen hatte, oder warum stand er hier mitten im Wald? Schnell packte Mona den Kuchen und den Wein zurück in den Korb und richtete ihn auf.

„Was machst du da? Finger weg!“ gellte da eine helle Stimme hinter Mona.

Mona wirbelte herum und sah ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und einem roten Kleid. Das Mädchen hatte ihre Arme angriffslustig vor der Brust verschränkt.

„Nichts“, sagte Mona vorsichtig und schob dem Mädchen den Korb entgegen. „Wirklich.“

„Ach ja?“ fragte das Mädchen giftig. „Da geht man kurz über die Lichtung, um ein paar Blumen zu pflücken und schon gleich kramt jemand in meinem Korb!“

„Ich krame ja gar nicht“, antwortete Mona entschuldigend. „Ich bin darüber gestolpert. Verzeihung.“

Das Mädchen griff blitzschnell nach dem Korb und zog ihn an sich. „Na ja“, murmelte sie, während sie den Kuchen und den Wein untersuchte, „scheint alles in Ordnung zu sein.“

Verwundert besah sich Mona das Mädchen. Es war ungefähr so alt wie sie selbst, nur war die Art, wie sie gekleidet war, sehr altertümlich. Das rote Kleid mit der Schürze und die aufgedrehten Zöpfe – das Mädchen sah aus, als sei es einem Film entsprungen, fand Mona.

„Wer bist du eigentlich?“ fragte Mona misstrauisch.

„Wieso interessiert dich das?“ fragte das Mädchen zurück und setzte die Kapuze ihres roten Schulterumhangs auf. Die Kopfbedeckung leuchtete in einem kräftigen Rot.

So wie das Mädchen nun da stand, in diesem... Kostüm, und dann mit dem Korb mit dem Kuchen und dem Wein, so sah es aus wie...

„Rotkäppchen!“ rief Mona, „du siehst aus wie Rotkäppchen.“

Verblüfft starrte das Mädchen Mona an. „Kennen wir uns?“

Mona kicherte. „Nein, noch nicht. Aber was ist hier eigentlich los? Wieso spielst du hier im Wald Theater?“

„Theater spielen?“ Das Mädchen verstand nicht. „Was meinst du?“

„Na, du spielst doch Rotkäppchen!“ erklärte Mona. Da fiel es ihr ein. „Und da waren eben die sieben Männer... das waren bestimmt die sieben Zwerge! Und dann der Junge und das Mädchen.“

„Das waren bestimmt Hänsel und Gretel“, stellte das Mädchen fest und blickte zur Sonne. „Die sind aber heute früh dran.“

Mona lachte. „Ja, die sind früh dran. Aber jetzt mal im Ernst, was macht ihr hier? Seid ihr irgendein Theaterverein, der hier im Wald Märchen nachspielt oder wie?“

Das Mädchen blickte Mona entgeistert an und tippte sich an die Stirn. „Du bist genauso doof, wie du in deinen komischen Klamotten aussiehst. Eben hast du doch gewusst, dass ich Rotkäppchen bin. Warum meinst du dann auf einmal, dass ich hier Theater spiele?“

„Ja... spielst du denn nicht Rotkäppchen?“ fragte Mona.

„Nein, ich bin Rotkäppchen“, stellte Rotkäppchen fest. „Und ich muss jetzt auch wirklich mal los, ich muss zu meiner Großmutter.“

„Ja, aber sag mal: Wo bin ich denn hier eigentlich?“ hielt Mona sie zurück.

„Mensch, dieses Land nennt man Mär-chen-reich!“ Rotkäppchen sprach das Wort so aus, als hielte sie Mona für bescheuert.

„Märchenreich?“ wiederholte Mona ungläubig. Sagte diese Mädchen tatsächlich die Wahrheit? Merkwürdig genug war das hier alles ja... die saftig-grünen Bäume, die sieben Männer, das vorlaute Mädchen mit dem Korb.

Rotkäppchen seufzte. „Du bist wirklich anstrengend“, sagte sie. „Wo kommst du eigentlich her?“

„Na, aus der Stadt“, erklärte Mona. „Also, aus Deutschland.“

Rotkäppchen horchte auf. „Was? Willst du damit behaupten, du kommst aus der Menschenwelt?“

„Ja!“ sagte Mona.

Rotkäppchen riss ihre Augen auf. „Die Menschenwelt gibt es wirklich?“

„Natürlich gibt es die“, erwiderte Mona, „was hast du denn gedacht?“

„Dass all diese Geschichten aus der Menschenwelt erfunden sind“, erklärte Rotkäppchen.

„Was für Geschichten?“ fragte Mona.

„Na, zum Beispiel die von dem großen Schiff, das auf einen Eisberg gelaufen ist!“ erzählte Rotkäppchen aufgeregt. „Oder die von dem Land, in das man eine Mauer gebaut hat, so dass es in zwei Teile geteilt wurde.“

„Das sind doch keine Geschichten“, entgegnete Mona. „Das sind wahre Ereignisse. Geschichten, das sind Märchen, so wie... du.“

Sofort verfinsterte sich Rotkäppchens Miene wieder. „Willst du damit sagen, dass Märchen erfundene Geschichten sind?“

„Ja“, nickte Mona. „In der Menschenwelt seid du und die anderen hier erfunden.“

„Pah!“, machte Rotkäppchen verächtlich. „Und bei uns seid ihr erfunden. Zum Beispiel sogenannte „Flugzeuge“ oder „Wolkenkratzer“! So etwas gibt es niemals.“

„Doch“, bestätigte Mona. „Ich habe Wolkenkratzer gesehen. Und mit einem Flugzeug bin ich sogar schon geflogen. In den Süden.“

„Echt?“ Rotkäppchen blickte sie misstrauisch, aber dennoch neugierig an. Dann sah sie hinauf zur Sonne. Sie war schon ein bisschen weitergewandert. „Schade, ich muss los.“

„Wohin musst du?“ fragte Mona.

Rotkäppchen deutete auf ihren Korb. „Ich muss das Zeug hier zu meiner Oma bringen. Die ist krank.“

„Aber der Wolf!“ rief Mona aufgeregt.

„Ach, den ollen Wolf“, sagte Rotkäppchen. „Den habe ich eben getroffen. Der hat mir vorgeschlagen, dass ich Blumen für Oma pflücke. Wenn ich so drüber nachdenke, ist er ganz nett, der Wolf.“

„Aber—" wollte Mona protestieren, doch Rotkäppchen unterbrach sie.

„Lass mich nur machen, ich komme mit dem Wolf schon klar. Wie heißt du eigentlich?“

„Mona“, erwiderte Mona.

„Auch ein merkwürdiger Name“, stellte Rotkäppchen fest. „Vielleicht treffen wir uns mal wieder. Komm doch mal wieder vorbei.“

„Sicher!“ sagte Mona und sah Rotkäppchen nach, wie sie mit vergnügten Hüpfern über die Lichtung sprang und schließlich hinter einer kleinen Kuppe verschwand.

Mona war fassungslos. War sie eben tatsächlich Rotkäppchen begegnet? Dem Rotkäppchen? Natürlich lag es nah, dass sich das Mädchen einfach verkleidet hatte und hier im Wald spielte. Andererseits war es sehr merkwürdig, dass der Wald hier so frühlingshaft war, während eben noch der Herbst um Mona herum gewütet hatte.

Mona drehte sich um. Das Tor, durch das sie gekommen war, lag ein paar Schritte entfernt. Wenn sie nun wieder durch das Tor treten würde, würde sie dann zurück im kargen Herbstwald bei ihrem neuen Zuhause landen?

Als Mona sich den Weg durch das ineinander verwucherte Geäst und Blattwerk bahnte, spürte sie, wie sie die Sonne hinter sich ließ. Mona verließ das Tor und fand sich im kahlen, trostlosen Wald wieder, aus dem sie gekommen war. Sie spürte ein leichtes Frösteln und zog rasch ihre Jacke wieder an.

In der Ferne sah sie den Zaun und dahinter die Schemen der Villa. Mona begann zu laufen.

Monas Märchentor

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