Читать книгу Weihnachtszauber in letzter Minute - Nicole Beisel - Страница 4
Timothy
ОглавлениеIrrläufer
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Mr. Bold.“ Ich ziehe meinen Parka aus und hänge ihn mir wie gewohnt über den Arm. Hätte ich die Hände frei, würde ich sie mir nun reiben. Es ist Ende Oktober und die ersten Zeichen des Herbsts haben Cookstown erreicht. Es ist kühl und die Blätter der Bäume färben sich rot und braun. Ich schätze, es dauert nur noch wenige Tage, bis die ersten Blätter die Straßen bedecken. Die Farbe der Blätter erinnert mich an Rachels Haar, und ich lächle zufrieden bei dem Gedanken, dass sie und Jeff noch immer zusammen sind. Er hat ihr zwar scheinbar noch immer nichts von seinem Geheimnis erzählt, aber ich möchte ihn dieses Jahr auch nicht mehr mit diesem Thema belasten. Es hat ihn lange genug schwer beschäftigt, und ich schätze, es fällt ihm auch jetzt nicht leicht, es vor Rachel zu verbergen, selbst wenn er plant, es ihr irgendwann zu sagen.
Auf dem Weg in mein Büro höre ich ihn nach mir rufen. Ich drehe mich um und sehe in ein freudiges und waches Gesicht.
„Hey, Tim!“ Ich bleibe stehen, nehme meinen Aktenkoffer in die linke Hand und reiche ihm die rechte zur Begrüßung, ehe wir den Rest des Flurs gemeinsam entlanglaufen.
„Jeff, wie war dein Wochenende?“
„Oh, gut, danke. Eures sicher auch?“ Lächelnd denke ich an die letzten Tage zurück. Liz und ich haben gestern einen langen Spaziergang am Lower Bann unternommen, für eine Fahrt mit der Fähre war der Wind jedoch zu stark. Dieser Fluss verbindet uns noch immer auf seltsame Weise, und auch das Bild, das sie mir zum Geburtstag geschenkt hat, erhält jeden Morgen aufs Neue meine Bewunderung.
„Klar, wie immer. Wisst ihr schon, was ihr an Weihnachten macht?“ Es sind noch knapp acht Wochen bis zum Fest, aber die Temperaturen an diesem Morgen lassen mich bereits jetzt unweigerlich an die Feiertage denken.
„Wir wollen die Feiertage in Schottland verbringen. Nichts Großes, einfach mal ein paar Tage entspannen. Und ihr?“ Ich seufze und zucke mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Wir hatten auch überlegt, wegzufahren, aber wir waren ja erst in den Flitterwochen. Vielleicht bleiben wir einfach mal zu Hause, mal sehen.“ Ich nehme an, es wird tatsächlich darauf hinauslaufen. Ein paar Tage Ruhe und Zeit für uns wird uns guttun.
Der Montagmorgen vergeht ohne weitere Vorkommnisse. Aber als ich in mein Postfach sehe, staune ich nicht schlecht. Unter den wenigen Briefen, die mich erwarten, befindet sich ein weiterer Brief, adressiert an Mr. & Mrs. Timothy Bold, darunter selbstverständlich die Adresse der Kanzlei. Die Schrift ist leicht krakelig, augenscheinlich hat ein älterer Herr oder eine ältere Dame den Stift geführt, der diesen Umschlag berührt hat. Als ich den Umschlag umdrehe, erhalte ich die Lösung: Der Brief stammt von einer Dame namens Evelyn Wright aus Kilkenny. Ich denke scharf nach. Liz hat damals vor ihrer Amnesie in Kilkenny gelebt. Vielleicht eine alte Bekannte oder eine Nachbarin? Aber wie kommt sie ausgerechnet auf mich und meine Kanzlei? Der Umschlag fühlt sich ein wenig steif an, als sei eine Karte darin enthalten, dabei ist der Umschlag gut gefüllt. Ich nehme die Post an mich und stecke den Brief in meine Aktentasche. Heute Abend werde ich ihn Liz zeigen und ihn gemeinsam mit ihr öffnen. Post, die an uns beide adressiert ist, öffne ich ungerne alleine.
Auch der Nachmittag ist ziemlich ruhig, was mich immer wieder dazu bewegt, über den Brief und dessen Inhalt nachzudenken. Vielleicht eine verspätete Hochzeitskarte? Aber warum erst jetzt, zweieinhalb Monate nach unserer Hochzeit? Außerdem wusste doch kaum jemand davon. Liz und ich hatten nur unsere – oder vielmehr meine – letzten Familienmitglieder darüber informiert und unsere engsten Freunde Jeff und Rachel gebeten, diesen Tag mit uns zu teilen. Des Weiteren hat die Kanzlei es für nötig befunden, eine Glückwunsch-Anzeige in die Zeitung setzen zu lassen, sodass mich nach den Flitterwochen doch noch einige Nachrichten erwarteten. Auch sonst könnte ich mir nicht vorstellen, wer erst jetzt von unserer Hochzeit erfahren haben sollte.
Nun gut, die ganze Grübelei bringt ja doch nichts. Ich mache pünktlich Feierabend und freue mich auf das angekündigte Essen, das Liz zubereiten wollte. Sie kocht noch immer regelmäßig, sofern es die Zeit nach Feierabend erlaubt, auch wenn wir uns noch hin und wieder Fast-Food genehmigen, was jedoch tatsächlich nur noch selten vorkommt. Leicht nervös betrete ich die Küche und drücke ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Das Essen ist bereits fertig und muss nur noch serviert werden, was daran liegt, dass Liz montags eine halbe Stunde früher Feierabend machen kann als ich, sofern ich nicht in irgendeiner Gerichtsverhandlung feststecke.
„Hallo, Schatz! Setz dich. Wie war dein Tag?“ Ich folge ihrer Anweisung und genieße die Wärme in der Küche. Der Wind ist noch immer eisig und verleitet mich immer öfter zu einer heißen Tasse Tee, die ich mir nach dem Essen genehmigen werde.
„Ganz gut. Ich muss dir nachher etwas zeigen. Wie wäre es mit einem Tee nach dem Essen?“ Liz stimmt zu und möchte natürlich sofort wissen, was ich ihr verheimliche, aber ich bleibe stur.
„Ich will mir das in Ruhe mit dir anschauen. Lass uns erst zu Ende essen. Wie war es bei der Bank?“ Liz verdreht die Augen.
„Es war die Hölle. Du glaubst nicht, was heute los war. Ich weiß nicht, was plötzlich in die Leute gefahren ist, aber ich hatte selten so viele Kontoeröffnungen wie heute. Außerdem haben viele Kunden eine größere Menge Geld abgehoben, wie immer zum Monatsende. Ich schätze, die Winterurlaube werden gerade geplant.“ Dabei fällt mir etwas ein.
„Oh, Jeff und Rachel werden Weihnachten wohl in Schottland verbringen. Hat sie dir schon davon erzählt?“ Liz schüttelt den Kopf, während sie ihren Teller leert.
„Nein, aber ich habe sie auch seit ein paar Tagen nicht mehr gesprochen. Sie scheint sehr beschäftigt zu sein“, erwidert sie mit einem schelmischen Lächeln, ehe sie aufsteht und das schmutzige Geschirr wegräumt. Ich erhebe mich ebenfalls und stelle eine Kanne Tee auf. Elizabeth nimmt mich fest in den Arm.
„Na, was willst du mir denn zeigen?“ Ich nehme den Tee und den Zucker, Liz die Tassen und die Milch. Gemeinsam setzen wir uns aufs Sofa, wo mein Aktenkoffer bereits auf mich wartet. Ich nehme den Brief heraus und stelle den Koffer auf den Boden.
„Was ist das?“ Wir nippen an unserem Tee, dann setze ich zur Erklärung an.
„Das kam heute mit der Post, direkt in meine Kanzlei. Ein Brief aus Kilkenny. Ich hatte gehofft, du wüsstest, was oder wer dahintersteckt.“ Fragend schaue ich sie an. Liz betrachtet sich den Umschlag näher und ist sichtlich verwundert über die zerbrechlich wirkende Handschrift.
„Aus Kilkenny? Aber da kenne ich doch kaum noch jemanden.“
„Schau mal auf die Rückseite. Sagt dir der Name irgendwas?“ Liz tut wie ihr geheißen und erstarrt. Wie in Trance liest sie den Namen des Absenders laut vor.
„Evelyn Wright.“ Ungläubig schüttelt sie den Kopf, und sofort ahne ich Schlimmes.
„Kennst du sie?“ Liz schluckt. Sie überlegt, kramt in ihren tiefsten Gedanken und Erinnerungen, wie sie es schon so oft getan hat in den letzten Jahren. Ich sehe es an ihrem Blick. Auch diesmal scheint sie zumindest einen kleinen Erfolg zu haben.
„Ich schätze, schon. Lass ihn uns aufmachen.“ Damit meint sie eigentlich mich, denn ihre eigenen Hände zittern zu sehr, als dass sie diesen Brief öffnen könnten, ohne ihn dabei zu zerstören.