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Elizabeth

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Mut zum ersten Schritt

Selbstverständlich kenne ich diesen Namen. Er weckt diverse Gefühle in mir. Wut, Hass, Sehnsucht, Liebe. Vor allem aber Enttäuschung.

Der Name war einst mein eigener. Unter diesem Namen kam ich auf die Welt, bis sich die Dinge änderten, als ich fünf Jahre alt war. Mein Dad ging, und meine Mum meinte, er solle den Namen doch gleich mitnehmen, ich würde sehr bald „Austen“ heißen. So wie der Mann, der ebenfalls bereit war, meine Mum zu heiraten und mich als sein Kind anzunehmen. Dieser Mann hat neben seinem Namen auch seine beiden Töchter mitgebracht, jene, die viele Jahre später einen Anschlag auf mich ausübten, der für meine Amnesie verantwortlich war.

Evelyn Wright muss also eine Verwandte meines Vaters sein, und ich bin mir nicht sicher, aber ich schätze, sie ist meine Großmutter, Dad’s Mum. Jahrelang habe ich darauf gewartet, dass er zurückkommt. Wenn er schon nicht bleiben wollte, dann wenigstens, um mich mitzunehmen und mich aus den groben und unliebsamen Armen meiner Mutter zu befreien.

Aber nichts geschah. Oder ich bekam es nur nicht mit. Meine Mutter wusste schon immer, mich im Hintergrund zu halten, weshalb ich nie wirklich am Leben meiner neuen Familie teilhaben konnte. Seit dem Weggang meines Vaters nahm ich an, dass er mich nicht mehr wollte, und dass meine Mutter nicht viel mit mir anfangen konnte, war mir ohnehin klar. Also ging ich stets irgendwie meinen eigenen Weg.

Und nun kommt ein einfacher Brief, der mich völlig aus der Bahn wirft. Ich kann mich nicht an eine Großmutter erinnern, aber scheinbar muss ich eine gehabt haben. Vielleicht reichen meine Erinnerungen auch einfach nicht weit genug zurück, was die positiven Dinge meines Lebens betrifft, sofern man meine Großmutter als positiv bezeichnen kann, aber das werden mir die nachfolgenden Zeilen sicher zeigen.

Timothy öffnet den Umschlag für mich. Er scheint bemerkt zu haben, dass ich aktuell Schwierigkeiten damit haben würde. Er zieht den Inhalt heraus, und zum Vorschein kommen eine Glückwunschkarte zur Hochzeit sowie ein handgeschriebener Brief, der dieselbe Schrift aufweist wie der Umschlag. Timothy liest den Inhalt der Karte laut vor.

Liebe Elizabeth, lieber Timothy,

ich wünsche euch von Herzen alles Liebe und Gute

für eure gemeinsame Zukunft.

Möge das Glück euch stets auf die Sonnenseite

des Lebens führen.

Herzliche Grüße,

Grandma Evelyn.“

Ich atme tief durch und starre auf die Teetasse auf dem Tisch. Grandma Evelyn. Meine Grandma. Die einzige Verwandte, die mir zur Hochzeit gratuliert hat, obwohl ich noch nicht einmal behaupten kann, sie zu kennen. Tim streicht mir behutsam über den Rücken und schweigt. Ungefragt liefere ich eine kurze Erklärung ab.

„Sie ist die Mutter meines Vaters. Er hat uns früh verlassen, ich habe seit meiner Kindheit nichts mehr von ihm gehört. An eine Großmutter kann ich mich auch nicht erinnern.“ Es gab vieles, an das ich mich lange nicht mehr erinnern konnte aufgrund meiner Amnesie. Aber zu wissen, dass es da etwas gibt, an das man sich trotz vollständiger Genesung nicht mehr erinnern kann, ist wie ein tiefer Schlag in die Magengrube.

„Möchtest du den Brief alleine lesen? Ich nehme an, er ist nur für dich bestimmt.“ Ratlos sitze ich da und weiß, dass ich mich entscheiden muss. Ich nehme den Brief vorsichtig in die Hand, als könnte er zerbrechen wie meine Kindheitsträume von einer heilen Familie und falte ihn auseinander. Timothy macht Anstalten, aufzustehen, aber ich halte ihn sachte zurück.

„Bitte bleib.“ Er lässt sich wieder tiefer in die Polster sinken und beobachtet mich dabei, wie ich den Brief im Stillen lese.

Meine liebste Elizabeth,

es ist lange her. Viel zu lange, um ehrlich zu sein, und ich weiß, dass ich wohl niemandem die Schuld geben kann außer mir selbst. Ich habe nur noch wenige Erinnerungen an dich als kleines Mädchen, das oft traurig in der Ecke saß und ihre Puppen zu einem Tee einlud. Ich muss zugeben, ich hatte damals nicht den Mut, mich gegen deine Mutter zu stellen und mich deiner anzunehmen. Deine Mum war immer sehr egozentrisch, ich bin nie mit ihr klargekommen. Heute wünsche ich mir, ich hätte mehr Stärke gezeigt und mich für dich und deinen Vater eingesetzt.

Dein Dad, er hat ähnlich gefühlt wie ich. Unterdrückt von seiner Ehefrau, fühlte er sich stets als Nichtsnutz, selbst was dich betraf, obwohl du schon als Kind wunderhübsch warst. Ich bin sicher, dass du noch immer so aussiehst, vielleicht bist du aber sogar noch hübscher geworden. Er wäre so stolz auf dich gewesen.“

Ich muss schwer schlucken. Was genau meint sie damit? War er überhaupt je stolz auf mich? Und kann man nicht auch stolz auf jemanden sein, selbst wenn man die betreffende Person nicht sehen kann? Ängstlich lese ich weiter.

Ich jedenfalls erlaube mir, stolz auf dich zu sein, denn ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ich bin nun 83 Jahre alt, und vor kurzem wurde bei mir eine beginnende Demenz diagnostiziert. Die Anzeige von deiner Hochzeit, die ich zufällig in der Zeitung entdeckt habe, kam daher genau zum richtigen Zeitpunkt. Ein Wink des Schicksals, wie ich es nenne, denn nur auf diese Weise wusste ich, wo du steckst und wie ich dich erreichen kann. Ich habe lange mit mir gehadert und mich gefragt, ob ich wirklich wieder Kontakt zu dir aufnehmen soll. Ich muss eine völlig Fremde für dich sein, aber glaub mir, bald werden auch mir sämtliche Menschen einfach nur fremd sein. Dann, wenn die Demenz mir all meine Erinnerungen genommen hat.“

Eine Träne rollt mir über die Wange, aber ich wische sie nicht weg. Ich kann sie so gut verstehen, ich scheine ihr in dieser Sache sehr ähnlich zu sein, mit nur einem Unterschied: Sie weiß, dass sie sich bald nicht mehr erinnern können wird, und beinahe bin ich dankbar dafür, dass mir meine Erinnerung binnen weniger Sekunden genommen wurde. Mit Mühe lese ich die letzten Sätze.

Endlich wollte ich den Mut aufbringen, mich dir anzunähern. Etwas, das ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen: mutig sein. Nun bin ich es, getrieben von meiner bedrohlichen und immer näher rückenden Demenz. Dieser Brief ist ein letzter Versuch meinerseits, Kontakt zu dir aufzunehmen. Es gibt so vieles, das ich dir gerne erklären würde, aber ich weiß überhaupt nicht, ob du das alles überhaupt hören möchtest. Somit überlasse ich es dir, ob du ebenfalls ein wenig Mut aufbringst und mir antwortest, ehe es zu spät ist. Ich bin in Gedanken bei dir, und das werde ich immer sein, solange ich kann.

In Liebe,

Evelyn.“

Weitere Tränen benetzen mein Gesicht. Timothy legt tröstend seine Hand auf meinen Rücken, aber ich nehme diese Geste nur unterbewusst wahr. Der Brief ist eine große Überraschung, aber im Moment weiß ich nicht, ob positiv oder negativ. Er wirft unendlich viele Fragen auf. Fragen, die ich mir vor vielen Jahren bereits gestellt habe, aber auch neue Fragen, die mich von neuem nach Antworten suchen lassen. Kann ich diese Antworten finden?

„Timothy, was soll ich tun? Was soll ich nur tun?“ Noch bevor ich in Hoffnungslosigkeit versinken kann, weiß ich, dass Timothy mir die richtige Antwort liefern wird.


Weihnachtszauber in letzter Minute

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