Читать книгу Königreich zu verschenken - Nicole Gozdek - Страница 11
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ОглавлениеMontage waren doch etwas Widerliches, dachte Alexander. Der Beginn einer neuen Arbeitswoche, der Tag nach Sonntag. Und in diesem Fall nach einem ganz besonders schlimmen Sonntag. Wer wollte an so einem Tag denn aufstehen und zur Arbeit gehen? Alexander auf jeden Fall nicht. Und dann spielte das Radio auch noch „I don’t like Mondays“. Sehr passend.
Alexander wünschte sich, er hätte zur Arbeit gehen können und müsste nicht stundenlang darauf warten, dass sein Großvater ihn endlich zu sich rief. Eine aufgeschobene Standpauke wurde mit der Zeit auch nicht besser und Alexander dachte sich inzwischen schon die schlimmsten Schauergeschichten aus. Sein Großvater würde ihn feuern und er müsste sich dann einen ganz normalen Job suchen. Aber das war noch die harmloseste Vorstellung. Schlimmer noch, er würde die Standpauke vor der versammelten Familie bekommen, vor seiner Frau und seinen Kindern. Vor Edward.
Er verzog das Gesicht. Wie wahrscheinlich war das denn? Leider sehr wahrscheinlich, musste Alexander zugeben, jedenfalls was Edwards Gegenwart betraf. Keine Ahnung, wie er es jedes Mal anstellte, aber wenn sein Großvater wütend auf ihn war, dann war Edward jedes Mal auch da.
Vielleicht hatte er ja überall Spione sitzen, die ihn sofort informierten? Seinem Cousin würde er so etwas jedenfalls glatt zutrauen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sein Großvater es ihm jedes Mal brühwarm erzählte, wenn Alexander wieder etwas angestellt hatte, und das konnte er sich nicht vorstellen. Sein Großvater legte viel Wert auf Diskretion. Nein, sein Großvater würde nichts herumerzählen.
Wie lange musste er denn noch warten? Unruhig ging er auf und ab. Er befand sich in seinem alten Zimmer, das er in den letzten fünf Jahren, seit seinem Auszug, immer noch gelegentlich benutzt hatte. Es war praktisch, nicht jedes Mal den langen Weg nach Hause fahren zu müssen, wenn sein Großvater eine Feier gegeben hatte und es mal wieder spät geworden war.
Alexander warf einen Blick auf die Uhr. Sechs Uhr abends. Also langsam verstand er die Welt nicht mehr. Seit zehn Uhr morgens wartete er hier nun schon darauf, dass sein Großvater ihn zu sich rief. Nur ein paar Kleinigkeiten hätte er noch zu klären, hatte Adler ihm bei seiner Ankunft gesagt. Was denn für Kleinigkeiten? Und wieso dauerte es so lange? Das konnte doch nicht alles wichtiger sein, oder etwa doch?
So langsam kam ihm der Verdacht, dass sein Großvater ihn vergessen hatte. In Gedanken malte er sich aus, wie er als reuiger Sünder in seiner Zelle auf das Urteil wartete, das nicht kam. Jahre gingen ins Land, sein Bart reichte irgendwann bis auf den Boden, die Zähne fielen ihm aus und er wurde alt und gebrechlich, während seine Frau und seine Kinder vergebens auf ein Lebenszeichen von ihm warteten, bis sie schließlich irgendwann die Hoffnung aufgaben und ihn vergaßen.
Tränen kullerten ihm über die Wangen. Er würde nie erleben, wie sein Sohn sprechen lernte, wie seine kleine Prinzessin eingeschult wurde! Nie wieder würde er seine geliebte Isabelle küssen dürfen! Wie lange sie wohl auf ihn warten würde? Ob sie ihn wohl auch so vermissen würde wie er sie?
Doch halt! Seine Fantasie war mal wieder mit ihm durchgegangen, das passierte ihm ständig, wenn er zu viel Zeit zum Grübeln hatte. Er musste endlich etwas tun! Aber was?
Er sah zur Tür. Er konnte natürlich einfach hier herausspazieren, überlegte er. Dies war schließlich kein Gefängnis und mit Wachen musste er auch nicht rechnen, er hatte ja nur eine Dummheit gemacht. Aber andererseits hatte Adler gesagt, er solle hier warten und sich nicht vom Fleck rühren und dieses Mal solle er, verdammt noch mal, gehorchen und nicht wieder wegrennen.
Adler war richtig wütend gewesen. Alexander hatte vor, ihm dieses Mal keinen Grund zur Beschwerde zu liefern, aber sollte er deswegen ewig hierbleiben? Da konnte er ja noch lange warten! Adler selbst hatte sich auch schon seit Stunden nicht mehr blicken lassen. Wenigstens hatte er mittags etwas zu essen bekommen.
Alexander riskierte einen weiteren Blick. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Auf leisen Sohlen schlich er zur Tür, so konnte er jederzeit hören, falls sich auf dem Flur jemand näherte. Ein paar Sekunden verstrichen, bevor er sich überwinden konnte, vorsichtig die Türklinke hinunterzudrücken. Wovor hatte er eigentlich Angst? Die Türklinke würde sich schon nicht vor seinen Augen in ein unheimliches Monster verwandeln und ihn auffressen! Alter Feigling!
Plötzlich mutig geworden packte er die Klinke und riss die Tür auf. Erleichtert seufzte er. Niemand hielt vor der Tür Wache. Der Flur war leer. Natürlich bis auf die Möbel, die Gemälde und die Statuen und all den Kram. Keine Menschenseele zu sehen.
Alexander merkte erst, dass seine Gedanken wieder zu wandern begonnen hatten, als er zu der Frage kam, welche Farbe wohl Menschenseelen hatten und wie sie sich von Pflanzen- oder Tierseelen unterschieden. Vielleicht waren Menschenseelen ja blau und die anderen hatten andere Farben? Hm, das war eine interessante Frage, entschied Alexander, doch in diesem Moment sollten ihn doch besser andere Dinge beschäftigen.
Da! Hatte er nicht etwas gehört?
Ein Tapsen oder ein schleichendes Geräusch vielleicht? Alexander schüttelte den Kopf. Seine Fantasie spielte ihm mal wieder einen Streich, bestimmt hatte er sich das nur eingebildet. Schließlich gab es in diesen alten Gemäuern keine Monster, noch nicht einmal Schlossgespenster. Schade eigentlich, er hätte gerne mal eines gesehen.
Er machte ein paar entschlossene Schritte in die Richtung des Arbeitszimmers seines Großvaters. Wenn er ihn nicht holen ließ, dann musste er wohl zu ihm gehen. Er wollte um die Ecke biegen und lief mit voller Wucht in etwas hinein. Dieses Etwas war leider nur etwas solider gebaut als er, so dass ihn der Aufprall zu Boden fallen ließ. Was zur Hölle?
„Na, wollten wir irgendwo hin?“
Alexander sah auf und machte ein langes Gesicht. Adler, wer auch sonst. So viel Pech konnte aber auch nur er haben. Hatte sich Adler wieder erinnert, dass er auch noch da war?
„Zu Großvater“, entgegnete Alexander mürrisch. „Es hinter mich bringen. Nun warte ich schon seit Stunden hier. Ich will endlich nach Hause, damit ich meiner Tochter noch einen Gute-Nacht-Kuss geben kann. Haben Sie eigentlich Kinder?“
Er musterte Adler und versuchte sich ein Kind mit diesen Zügen vorzustellen. Aber er scheiterte kläglich. Ein Kindergesicht mit Adlernase und stechenden Augen konnte er sich nun wirklich nicht vorstellen. Armes Kind.
„Nein.“
Gott sei Dank, dachte Alexander. Dem Kind waren einige Hänseleien erspart geblieben!
„Wollten Sie nie welche?“, erkundigte er sich neugierig und ergriff Adlers ausgestreckte Hand. Adler half ihm auf. „Danke.“
Adler schien nachzudenken. Ob er wohl überlegte, überhaupt etwas zu sagen? Das Schweigen zog sich hin, doch schließlich räusperte Adler sich und meinte: „Ich hätte schon ganz gerne welche, eigene meine ich. Doch bisher hat sich die Gelegenheit noch nicht ergeben. Auf Sie und Ihre Geschwister aufzupassen, ist ja nicht das Gleiche wie ein eigenes Kind großzuziehen.“
„Na hören Sie mal! Sie können uns doch nicht mit Kleinkindern vergleichen!“, protestierte er empört. „Da gibt es doch riesige Unterschiede!“
Adler grinste. Das war das erste Grinsen, das Alexander je bei ihm gesehen hatte. „Da haben Sie Recht, ein Kind macht wesentlich weniger Ärger“, erwiderte er.
Alexander konnte es nicht fassen. Adler machte Scherze!
„Sie mögen uns nicht besonders, oder?“, fragte er kleinlaut. „Kein Wunder, bei den Schwierigkeiten, die Sie mit uns haben.“
Adler schüttelte den Kopf. „Nein, das stimmt nicht“, entgegnete er ernst und sah Alexander direkt in die Augen. „Die meisten von Ihnen kann ich sogar sehr gut leiden, nur mit zwei von Ihnen habe ich gewisse Schwierigkeiten, aber ich verrate Ihnen jetzt nicht mit wem. Aber das ist ja nur natürlich, es gibt immer mal Leute, mit denen man nicht so gut klarkommt.“
Alexander brannte die Frage richtig auf der Seele. Aber er traute sich nicht, sie auch zu stellen. Sollte die Antwort negativ sein, so würde es zum Bruch kommen. Schließlich platzte er doch mit seiner Frage heraus: „Würden Sie lieber auf jemand anderen aus meiner Familie aufpassen? Ich meine, Sie können ja auch jemand anderem zugeteilt werden, wenn Sie mich nicht mögen. Mein Großvater wird bestimmt keine Schwierigkeiten machen, wenn ich ihn darum bitte“, bot er an.
Adler starrte ihn, versuchte etwas zu sagen und überlegte es sich anders. Dann schüttelte er den Kopf. „Wissen Sie, was Ihr Problem ist?“
Alexander verneinte.
„Sie vergleichen sich ständig mit Ihrem Cousin“, das war für Alexander nichts Neues, das hätte er ihm auch sagen können, „und haben dabei jedes Mal das Gefühl, Sie würden schlechter abschneiden. Und wissen Sie was? Das ist der größte Blödsinn, den Sie in meinen Augen je verbockt haben!“
Alexander riss erstaunt die Augen auf. Das konnte Adler doch unmöglich ernst meinen! „Was?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Denken Sie doch nur an gestern! Ich habe das Ansehen der Familie beschädigt!“
Adler guckte Alexander nach diesem Aufschrei intensiv ins Gesicht, so dass Alexander beschämt die Augen abwenden musste. Das hatte er ja toll gemacht! Anscheinend hatte er ein großes Geschick dafür, sich lächerlich zu machen.
„Na gut, Sie haben sich blamiert“, räumte Adler ein, „aber das passiert doch jedem mal. Das hätte mir genauso gut passieren können. Wenn Sie ein bisschen mehr Selbstvertrauen hätten, dann wüssten Sie das auch.“
„Das sagt sich so leicht“, meinte Alexander.
„Glauben Sie mir, ich habe Recht.“
Alexander schwieg. Dann lächelte er zögernd. „Ich schätze, das heißt, Sie wollen keinem anderen zugeteilt werden? Überlegen Sie sich das gut, Sie könnten schließlich auch auf Edward aufpassen, dann hätten Sie nicht so viele Scherereien.“
Adler machte ein entsetztes Gesicht. „Niemals!“, entfuhr es ihm. Alexander blinzelte überrascht. „Ich hätte Ihnen das eigentlich nicht gesagt, aber ich kann den Typen nicht ausstehen!“
Das konnte Alexander nicht verstehen. „Aber warum?“, wollte er wissen.
Adler schnaubte verächtlich. „Da habe ich doch lieber jeden Tag Scherereien, als dass ich auf einen aalglatten Kerl wie ihn aufpasse! Sie sind wenigstens ehrlich, Ihr Cousin dagegen ist ein Intrigant, der es liebt, andere Leute bloßzustellen.“
Alexander fiel aus allen Wolken. So hatte er Edward noch nie gesehen. Zwar hatte er ihm zugetraut, dass er ihn bespitzeln ließ, um dann jedes Mal schadenfroh das Donnerwetter ihres Großvaters mitzuverfolgen, aber das? Das war doch etwas ganz anderes, etwas das weit über Rivalität zwischen Cousins hinausging.
„Meinen Sie nicht, dass das ein bisschen übertrieben ist?“, fragte er vorsichtig. „Jeder lügt mal, ich auch.“
„Aber das machen Sie nicht, um jemandem absichtlich zu schaden, oder?“
„Natürlich nicht!“
Adler nickte. „Vielleicht wissen Sie ja, dass ich zu Anfang meiner Anstellung mal auf jeden aufpassen musste, um alle kennenzulernen und um zu sehen, in welches Team ich hineinpasse.“
Das war Neuland für Alexander. Über solche Angelegenheiten hatte er sich nie Gedanken gemacht. Aber diese Vorgehensweise hörte sich logisch an.
„Am Ende durfte ich dann meine beiden bevorzugten Schützlinge nennen. Auf Ihren Cousin hätte ich niemals aufpassen wollen. Ich erinnere mich an einen Vorfall. Ihr Cousin hatte ein Auge auf eines der Dienstmädchen geworfen, das aber schon in festen Händen war. Edward sorgte dafür, dass ihr Verlobter, ein Sekretär, unehrenhaft entlassen wurde. Die Verlobung ging in die Brüche. Danach machte er sich an das Dienstmädchen heran, hatte eine Affäre mit ihr und als sie schwanger wurde, stritt er ab, dass er der Vater war. Er sorgte dafür, dass sie überall als Flittchen verrufen war, und bald darauf wurde sie entlassen. Eine Woche später hat sie sich umgebracht.“
Alexander wankte, als hätte er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Das konnte doch nicht wahr sein! Edward, das Musterbeispiel, der Liebling seines Großvaters, ein Mörder und eiskalter Intrigant? Er starrte Adler an. Nein, Adler log nicht, da war er sich sicher.
„Haben Sie das meinem Großvater erzählt?“, fragte er und schluckte mühsam.
Adler schnaubte. „Natürlich! Edward stritt alles ab, sagte, er hätte nie eine Affäre mit ihr gehabt. Er tat richtig empört, dass man ihm zutraute, sich mit einem gewöhnlichen Dienstmädchen einzulassen, als hätte er keinen Geschmack. Schließlich hat Ihr Großvater ihm geglaubt. Ich konnte froh sein, dass ich meinen Job behalten durfte. Edward forderte meine Entlassung, aber Ihr Großvater glaubte mir, dass ich meine Anklage in bestem Wissen vorgetragen hatte. Und am Ende meiner Probezeit wurde ich dann Ihnen zugeteilt.“
„Als Strafe?“, vermutete Alexander.
Adler lachte. „Nein. Sie waren einer meiner beiden Wunschkandidaten.“
Also das hätte er nun niemals erwartet!
„Das sagen Sie jetzt nicht nur, um mich ein bisschen aufzumuntern, oder?“ Adler schüttelte ernst den Kopf.
Beide schwiegen eine Weile nachdenklich. „Danke“, flüsterte Alexander irgendwann.
Adler nickte nur. „Wir sollten uns jetzt besser auf den Weg zu Ihrem Großvater machen“, meinte er.
Unterwegs schwiegen beide. In Alexander herrschte ein Wirrwarr an Gefühlen. Dankbarkeit und Verlegenheit aufgrund Adlers Zuneigung zu ihm, die er nie vermutet hätte, Wut und Empörung wegen der Enthüllungen über seinen Cousin, Angst vor der bevorstehenden Konfrontation mit seinem Großvater, aber auch Schmerz. Warum Schmerz? Sollte er nicht eigentlich wütend auf Edward sein? Aber dennoch war da auch Schmerz, als hätte Edward ihn und nicht das Dienstmädchen und ihren Verlobten verraten.
Er hatte kaum mitbekommen, dass sie bereits vor der Tür des Arbeitszimmers standen. Adler nickte ihm zu. „Viel Glück!“
„Danke“, erwiderte Alexander. Ob sie von heute an wohl Freunde waren? Es sah fast danach aus.
Dann wartete er. Mittlerweile machte ihm das Warten nicht mehr so viel aus wie vor einer halben Stunde. Er hatte einiges zu verarbeiten und dafür wollte er lieber allein sein. Doch so viel Glück hatte er natürlich nicht.
„Alexander!“
Er drehte sich um. Oh nein! Wer kam da angeschlendert? Natürlich Edward, zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder. Das sah ihm gar nicht ähnlich, Verstärkung mitzubringen, aber vielleicht dachte er, die beiden sollten auch mal etwas Spaß haben, überlegte Alexander wütend.
„Onkel. Edward. Jonas.“
Jonas lächelte freundlich. Er schien nicht zu wissen, warum Alexander vor der Tür ihres Großvaters wartete. Sein Vater hingegen machte ein finsteres Gesicht. Missbilligend starrte er seinen Neffen an. Edward trug mal wieder sein überhebliches Lächeln zur Schau.
Alexander wünschte sich, Jonas wäre allein gekommen. Jonas war ein netter Kerl und er kam gut mit ihm aus. Sein Onkel war immer kühl und distanziert und er wusste, dass sein Onkel ihn nicht mochte. Und was Edward betraf, der mochte anscheinend nur eine Person, und das war er selbst. Die Erkenntnis tat weh. Aber er lächelte und fragte: „Möchte Großvater auch mit euch sprechen?“
Jonas nickte. „Großvater möchte von den Fortschritten in Australien hören“, erzählte er aufgeregt. „Wie du weißt, habe ich nach meiner Reise viele Neuigkeiten zu berichten. Ich will nicht zu zuversichtlich klingen, aber ich denke, ich habe sie von unserem neuen Projekt für Afrika überzeugen können. Es geht eigentlich nur noch um finanzielle Dinge und dann kann Großvater zur feierlichen Besiegelung der Pläne hinfliegen.“
Alexander lächelte stolz. „Das ist großartig. Meinen Glückwunsch“, sagte er.
„Danke. Und was gibt es hier Neues?“, erkundigte er sich. „Wie war der Empfang gestern? Ich wäre ja gerne hingegangen, aber ich musste erst einmal ausschlafen.“
„Verständlich“, meinte Alexander und druckste ein bisschen herum. Auf dem Empfang war er nicht gewesen, nach dem was morgens passiert war, hatte er keine große Lust dazu gehabt. Und vielleicht hatte sich der Vorfall auch schon rumgesprochen, wie peinlich wäre das gewesen! Mal abgesehen davon, dass sein Großvater ihm verboten hatte, sich dort blicken zu lassen. Adler hatte durchblicken lassen, dass sein Großvater vor Wut getobt hatte und ihn nicht sehen wollte.
„Der Empfang war toll. Es gab viele nette und interessante Gespräche.“ Edward betonte das Wort interessant leicht.
Was sollte das? Wollte er damit andeuten, dass sie über ihn und seine Schwierigkeiten geredet hatten?
„Schade, dass du nicht da warst, Alexander“, meinte Edward dann und lächelte.
Scheinheiliger Scheißkerl! Alexander hätte ihn am liebsten geschlagen.
Jonas guckte verwirrt von seinem Bruder zu Alexander. „Ich dachte, du warst auch eingeladen. Ich weiß, dass du es warst“, korrigierte er sich verblüfft. „Warum bist du denn nicht hingegangen? Warst du krank?“
„Nein“, schaltete sich nun auch sein Onkel ein, „höchstens krank vor Scham, schätze ich. Wenigstens hoffe ich, dass du dich geschämt hast!“, schimpfte er. „Du bist eine Schande für die Familie und der Vorfall von gestern hat das mal wieder deutlich bewiesen.“ Das tat weh.
Jonas war entsetzt. „Vater! Wie kannst du so etwas nur sagen?!“, protestierte er. „Das meinst du doch nicht ernst!“
Alexander starrte seinen Onkel an. „Doch, das meint er ernst“, sagte er leise.
Jonas konnte es nicht fassen. „Was ist denn bloß passiert, um Himmels willen?“, wollte er wissen.
Alexander brachte es nicht über sich, es ihm zu erzählen. Er wollte Jonas‘ Respekt nicht verlieren. „Ich bin sicher, dein Bruder ist nur zu gern bereit, es auch dir zu erzählen“, meinte er und warf Edward einen grimmigen Blick zu. Wer wusste denn schon, wie vielen er bereits davon erzählt hatte.
Jonas starrte seinen Bruder an. Ihm war das auch dir nicht entgangen.
Sein Großvater bewahrte sie alle vor einer weiteren hässlichen, kleinen Szene. Mit müdem Gesicht öffnete er die Tür und grüßte alle mit einem Nicken. Edward musste sich sichtlich eine scharfe Bemerkung verkneifen.
„Alexander, es tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen“, entschuldigte er sich. „Komm herein.“
„Kein Problem“, meinte er und folgte der Aufforderung.
Edward mache Anstalten, ihm zu folgen, aber ihr Großvater schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Bitte wartet hier, ich möchte in Ruhe mit Alexander reden. Danach, Jonas, kannst du mir deine Neuigkeiten berichten.“ Jonas nickte.
Alexander warf Edward einen Blick zu und sah sein wütendes Gesicht. Plötzliche Traurigkeit überfiel ihn. „Hasst du mich denn so sehr, dass du es genießt, mich gescholten und heruntergeputzt zu sehen?“, fragte er sich im Stillen. Was hatte er ihm denn getan? Sein Cousin schien ihn schon immer aus irgendeinem Grund gehasst zu haben. Er hatte nie gesehen, dass er Jonas so behandelt hatte wie ihn.
Sein Großvater schloss die Tür. Alexander nutzte die Gelegenheit, um seine Miene eingehend zu studieren. Seltsamerweise sah sein Großvater nicht wütend aus, vielmehr machte er einen traurigen und müden Eindruck. Alexander hatte erneut große Schuldgefühle. Er ließ den Kopf hängen. „Es tut mir ehrlich leid“, flüsterte er.
Sein Großvater seufzte nur. Kein tigergleiches Brüllen wie sonst und auch kein anderes Zeichen der Wut. „Ich weiß“, meinte er ruhig.
Alexander blickte auf. Er wartete auf die Strafpredigt und erkannte, dass sie nicht kommen würde, nicht heute und auch nicht irgendwann später. „Was ist los?“, fragte er besorgt. „Ist jemand schwer krank?“ Dann kam ihm ein schlimmerer Gedanke. „Es ist jemand gestorben, nicht wahr? Onkel Alfred?“
Onkel Alfred war der jüngere Bruder seines Großvaters. Er lebte schon seit einigen Jahren abgeschieden auf seinem Landsitz, von einer Schar Krankenschwestern betreut. Mit seiner Gesundheit stand es nicht zum Besten. Alexander mochte ihn und besuchte ihn, so oft es ging.
„Keine Sorge, Alfred geht es gut“, beruhigte sein Großvater ihn. „Es ist auch niemand gestorben oder schwer krank.“
Alexander war für einen Augenblick erleichtert. „Was ist es dann?“
Sein Großvater seufzte und rieb sich die Augen. Dieses Jahr war er vierundachtzig geworden, er war auch nicht mehr der Jüngste.
„Probleme“, antwortete er knapp.
„Meinetwegen“, sagte Alexander und ließ bedrückt den Kopf hängen.
„Auch. Aber nicht nur“, meinte sein Großvater und lächelte ihn liebevoll an.
Alexander starrte ihn an. Hatte er richtig gesehen? Sein Großvater lächelte? Lächelte ihn an, obwohl er eigentlich hätte schimpfen sollen? Alexander rieb sich verwundert die Augen, aber er hatte sich nicht getäuscht. Das Lächeln seines Großvaters vertiefte sich sogar noch.
„Aber ich habe dir nie gesagt, dass ich dich liebe, nicht wahr?“, meinte er.
Alexander fiel die Kinnlade herunter vor lauter Staunen. Das war nicht sein Großvater, er konnte es einfach nicht sein! Das war nur ein Mann, der so aussah, ein Doppelgänger! Sein Großvater hätte so etwas nie gesagt, nicht zu ihm auf jeden Fall!
Sein Großvater sah ihn wehmütig an. „Schade, dass du deine Großmutter nie kennen gelernt hast.“ Er seufzte. „Von allen meinen Kindern und Enkeln bist du ihr am ähnlichsten. Du hast die gleiche Art zu lächeln und verschämt den Kopf zu senken, weißt du das?“
Alexander schüttelte sprachlos den Kopf. Sein Großvater hatte nie viel über seine Großmutter gesprochen. Sie war gestorben, als sein Vater und sein Onkel noch kleine Kinder gewesen waren. Fünfzig Jahre waren es wohl inzwischen. Und sein Vater war auch schon lange tot. Wehmütig erinnerte er sich an ihn. Er hatte gern über Großmutter gesprochen, fiel ihm plötzlich ein. Sie musste eine tolle Frau gewesen sein.
„Manchmal“, fuhr sein Großvater fort, „vergesse ich, wie sehr du ihr ähnelst. Habe ich dir je erzählt, wie deine Großmutter dem Präsidenten der Vereinigten Staaten ihr Rotweinglas über den Kopf geschüttet hat?“
„Was?“
Sein Großvater schmunzelte. „Ich muss heute noch lachen, wenn ich daran zurückdenke“, gestand er, „obwohl mir in dem Moment nicht zum Lachen zumute gewesen ist. Sie hatte ein Talent dafür, kein Fettnäpfchen auszulassen. Genau wie du. Das Gedächtnis ist ein wunderliches Ding, man erinnert sich nur noch an die schönen Dinge, wenn man jemanden geliebt hat. Ich habe vergessen, wie oft ich mich über sie geärgert und mich für sie geschämt habe und wie oft wir gestritten haben. Aber ich habe sie geliebt und letzten Endes zählt nur das, verstehst du?“
Alexander glaubte es zumindest und fühlte sich sonderbar getröstet. „Du bist mir nicht mehr böse?“, erkundigte er sich.
Sein Großvater schüttelte den Kopf. „Ich kann dich doch nicht ändern und abgesehen davon will ich es auch nicht. Und das mit den Paparazzi lass mal meine Sorge sein. Ich habe dem Reporter ein Angebot gemacht, im Austausch für die Fotos. Er hat sie mir vorhin vorbeigebracht, zusammen mit den Negativen. Du brauchst also nicht befürchten, dich morgen landesweit in allen Zeitungen wiederzufinden.“
Alexander schwieg überrascht. „Im Austausch wofür?“, fragte er nach einigen Augenblicken. „Was hat dich das gekostet?“
„Ein Exklusivinterview. Aber das ist nicht so schlimm“, antwortete er und lächelte.
„Danke“, sagte Alexander.
Sein Großvater nickte. Dann reichte er ihm einen Umschlag. „Die Fotos“, erklärte er. „Vernichte sie oder behalte sie. Wer weiß, vielleicht kannst du ja in einigen Jahren über die ganze Geschichte lachen. Oder du kannst sie deinen eigenen Enkeln erzählen.“
Alexander starrte den Umschlag in seiner Hand an. Er glaubte zwar nicht, dass er die Fotos jemals seinen Enkeln zeigen würde, aber er würde sie auf jeden Fall behalten und sei es nur, um sich an diesen Tag und das Gespräch mit seinem Großvater zu erinnern.
„Schickst du mir bitte Jonas rein?“, bat sein Großvater.
Alexander nickte und ging zur Tür. „Danke für alles, Großvater.“ Dann drehte er sich um, öffnete die Tür und gab Jonas einen Wink. Die Tür schloss sich hinter seinem Cousin. Alexander war allein mit Edward und dessen Vater.
„Und?“, fragte Edward. „Was hat er gesagt?“
Alexander wollte ihm nicht antworten, wusste aber, dass das nichts bringen würde. Edward würde nicht locker lassen, bis er wusste, was sein Großvater gesagt hatte. Widerwillig meinte er: „Wir haben über Großmutter gesprochen.“
Alexander war nicht auf ihre Reaktion gefasst gewesen. Blanker Hass schlug ihm entgegen.
„Wage es ja nicht noch einmal, über sie zu sprechen!“, zischte sein Onkel und schlug ihm ins Gesicht. „Meine Mutter war eine tolle Frau, eine tolle Mutter und nicht so eine Peinlichkeit wie du! Ich habe es satt, ständig zu hören, wie ähnlich ihr zwei euch angeblich seid!“
Alexander stand da wie erstarrt. Seine Wange schmerzte. Er vermochte sich vor lauter Schock nicht zu bewegen. Sein Onkel hätte nochmals zuschlagen können, ohne dass Alexander sich gewehrt hätte, aber er verzichtete darauf, wandte sich auf dem Absatz um und stürmte mit großen Schritten davon.
Edward wartete, bis sein Vater nicht mehr zu sehen war. Dann starrte er ihn verächtlich an. „Du bist nicht wie sie!“, stieß er hervor. Er spuckte die Wörter beinahe aus. „Weißt du eigentlich, dass Großvater dich nur noch nicht enterbt hat, weil du ihr ähnlich siehst? Du denkst doch nicht wirklich, dass du auch noch sein Liebling wärst, würdest du ihr nicht ähnlich sehen!“
Mit diesen Worten stürmte er davon und ließ den regelrecht erschlagenen Alexander alleine im Flur stehen.
Großvaters Liebling?
Oh, Scheiße!