Читать книгу Königreich zu verschenken - Nicole Gozdek - Страница 5
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ОглавлениеEin paar Stunden später.
Die große, weiße Limousine hielt vor der Treppe des Nobelhotels. Ein junger Hotelpage eilte dienstbeflissen herbei. Eine solche Limousine, auch wenn sie mit der größten Wahrscheinlichkeit nur gemietet war, versprach ein großzügiges Trinkgeld. Menschen, die sich bemühten, nach außen hin einen wohlhabenden Eindruck zu vermitteln, indem sie in einem protzigen Wagen vorfuhren, würden diesen Eindruck nicht im nächsten Moment wieder zerstören, indem sie am Trinkgeld knauserten, dachte er hoffnungsvoll.
Der Junge beeilte sich, die Wagentür möglichst schnell, aber stilvoll zu öffnen. Vor allem Hollywood-Diven wurden leicht ungeduldig, wenn sie zu lange warten mussten. Ob es sich bei dem Fahrgast wohl um eine Schauspielerin handelte? Und wenn es nun Julia Roberts war? Er bekam vor Aufregung feuchte Hände. Er würde vor seinem großen Idol keinen Ton herausbekommen!
Er machte eine vor Aufregung leicht wackelige Verbeugung und hielt dem zukünftigen Hotelgast die Wagentür auf. Lange, schlanke Beine kamen zum Vorschein, verhüllt in einem farblich zur Limousine abgestimmten Beinkleid, dem man an der schlichten Eleganz ansah, dass es teuer gewesen sein musste. Der Junge ließ seinen Blick schüchtern von den weißen Hosenbeinen zum Gesicht wandern.
Ein Kerl! Und dann noch nicht einmal ein bekannter! Er verspürte einen Stich der Enttäuschung. Wer mochte das sein? Ein Sänger? Die selbstsichere Ausstrahlung dafür hatte der Mann auf jeden Fall. Nein, dafür war seine Körperhaltung viel zu selbstbewusst und zu vornehm. Beinahe königlich. Und wenn das gespielt war? Konnte das womöglich ein bekannter Schauspieler sein?
Der Mann war ausgestiegen und wartete nun darauf, dass der Junge mit dem Ausladen seines Gepäcks fertig wurde. Dabei schenkte er ihm jedoch keinen Blick, als wäre die Ausführung einer solch niederen Tätigkeit seiner Beachtung nicht wert.
„So ein reicher Schnösel!", dachte der Junge wütend. „Für den existiere ich gar nicht! Wahrscheinlich ist der es gewöhnt, von morgens bis abends bedient zu werden! Gehört wahrscheinlich zu der Sorte, die sich allein noch nicht einmal die Schuhe zubinden können!"
Er bemühte sich, seine Wut nicht zu zeigen. Nicht aus Angst, dass der andere sie sehen könnte, denn der ignorierte ihn weiter, sondern aus Angst, dass ein anderer Hotelangestellter seinen Mangel an Respekt bemerken könnte. Das wäre es dann mit seinem hart verdienten Taschengeld.
Derweil sah sich das Objekt seines Zorns in aller Seelenruhe um. Weder die großzügig angelegten Gartenanlagen noch die imposante Hotelfassade mit ihrer eindrucksvollen Freitreppe entlockte ihm eine Geste der Anerkennung.
Für die nächsten paar Tage würde er es hier notfalls schon aushalten können, dachte Julien. Langsam erklomm er die breiten Stufen der Freitreppe. In Gedanken versunken bekam er weder mit, dass der Junge das letzte seiner Gepäckstücke auf dem Gepäckwagen verstaut hatte und sich nun beeilte, ihm auf der langen Rampe zu folgen, noch dass seine Limousine Anstalten machte, das weitläufige Hotelgelände wieder zu verlassen.
In der Eingangshalle angekommen, gestattete sich Julien einen Augenblick lang, die Szenerie zu betrachten. Sein Blick erfasste flüchtig die beiden Geschäftsmänner in den dunklen Anzügen, die es sich in ihren breiten Sesseln bequem gemacht hatten und genüsslich ihre Zigarren pafften, was ihre Nachbarin, eine Frau von Anfang vierzig in einem schicken Kostüm, sichtlich irritierte. Abgesehen von den beiden Männern war sie die einzige Person in der Hotelhalle. Julien ließ den Blick kurz auf ihr verweilen und entschied dann, dass sie seiner Beachtung nicht wert war.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ihn eine angenehme Stimme.
Julien hatte den Eindruck, als würde sie schnurren wie eine Katze, so seidenweich war diese Stimme. Er drehte sich um, um ihre Besitzerin in Augenschein zu nehmen. Was er sah, gefiel ihm gut. Mit ihren langen, blonden Haaren, ihren meergrünen Augen, dem sinnlichen Mund und den langen, schlanken Beinen gehörte die Mitzwanzigerin zu den schönsten Frauen, die Julien je gesehen hatte. Und er hatte in seinem Leben schon eine Menge schöner Frauen gesehen. Ja, hier konnte er es eine Zeit lang aushalten!
Julien schenkte ihr ein Lächeln, das selbst George Clooney oder Brad Pitt neidisch gemacht hätte und das seine Wirkung sichtlich nicht verfehlte. Das Lächeln der jungen Frau wurde etwas unsicherer. Schüchtern sah sie den neuen Hotelgast an.
„Das will ich doch hoffen“, entgegnete Julien. „Und die Aufgabe sollte für Sie auch nicht unlösbar sein, denke ich, Miss ...?" Er hob fragend die Augenbrauen und lächelte sie ein weiteres Mal an.
„Miss Carpenter“, entgegnete die junge Frau. Und als Julien sie weiterhin fragend ansah, fügte sie hinzu: „Miss Julia Carpenter.“ Sie streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. „Willkommen im Palace, Sir.“
Julien ergriff ihre zierliche Hand mit einer fließenden Bewegung. „Mein Name ist Julien“, stellte er sich vor, „und ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Julia.“
Er lächelte sie strahlend an, bevor er ihre Hand an die Lippen führte und küsste. Als er an der leichten Röte ihrer Wangen sah, dass diese Geste den erhofften Effekt gehabt hatte, ließ er ihre Hand wieder los. Ob er etwas sagen sollte? Nein, lieber nicht. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Frauen es nicht schätzten, wenn ein Mann zu direkt vorging. Frauen wollten umworben werden. Das alles war ein Spiel, das Zeit erforderte, was Julien aber nicht im Mindesten störte. Das Umwerben und die langsame Eroberung bildeten für ihn den größten Reiz an der Sache.
Immer noch freundlich lächelnd, fuhr er im normalen Gesprächston fort: „Ich habe gestern mit Ihrem Kollegen telefoniert und eine Suite reserviert. Ich hoffe, es ist nicht ungelegen, dass ich etwas früher gekommen bin als angekündigt.“
„Nicht im Geringsten, Sir“, erwiderte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen professionellen Klang zu geben. Sie blätterte in ihrem Notizblock, um etwas Zeit zu gewinnen. „Hier steht es ja. Wir haben für Sie die Präsidentensuite reserviert. Von dort haben Sie eine wunderbare Aussicht auf den Lake. Ihre Wünsche wurden natürlich berücksichtigt. Ich hoffe, dass alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit ist.“ Julia schenkte ihm nun ihrerseits ein Lächeln. „Falls nicht, zögern Sie bitte nicht, es mir mitzuteilen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Palace.“
„Danke.“
Julia winkte Jack, den jungen Hotelpagen, heran. „Jack, würdest du dem Herrn bitte seine Suite zeigen? Der Herr bewohnt die Präsidentensuite.“
„Aber natürlich“, sagte Jack. Er wies mit der Hand zum Fahrstuhl. „Wenn der Herr mir bitte folgen würde.“
Er wartete, bis Julien sich in Richtung Fahrstuhl aufgemacht hatte, um ihm langsam mit dem Gepäckwagen zu folgen. Trotz seiner Äußerung wäre es äußerst unhöflich, tatsächlich vorauszugehen. Als Hotelpage hatte er dem Gast in angemessenem Abstand zu folgen und diskret Richtungshinweise zu geben. Wie sah es denn aus, würde er mit dem Gepäckwagen vorangehen und der Gast dahinter, als wäre dieser ein folgsames Hündchen!
Aber noch nie zuvor war Jack versucht gewesen, die Schritte zu beschleunigen und vor dem Gast beim Fahrstuhl zu sein. So ein reiches Muttersöhnchen! Er hatte doch nie die Zeitung austragen oder das Geschirr abwaschen müssen, um sich sein Taschengeld zu verdienen, geschweige denn im Hotel seines Onkels als Page arbeiten müssen! Ob er sich überhaupt vorstellen konnte, wie hart Jack arbeiten musste, um sich den Traum vom eigenen Auto erfüllen zu können? Wahrscheinlich hatte er zum bestandenen Führerschein gleich einen Ferrari von Papi geschenkt bekommen!
Jack bemühte sich, seine Wut zu zügeln, und beschleunigte seine Schritte. Inzwischen war Julien am Fahrstuhl angekommen und wartete auf den Jungen, ohne sich nach ihm umzusehen. Jack drückte den Knopf und der Fahrstuhl kam. Als die Türen aufgingen, hatte Julien Jack noch immer keinen Blick gegönnt, geschweige denn das Wort an ihn gerichtet, um ein wenig mit ihm zu plaudern.
Im Fahrstuhl hatte Jack Gelegenheit, den anderen zu betrachten. Alles an dem Kerl stank nach Kohle, die teuren Schuhe - wahrscheinlich maßgefertigte, italienische Designerschuhe, dachte Jack, doch damit kannte er sich nicht so aus -, der elegante, weiße Anzug, die goldene Uhr. Doch es war nicht diese Zurschaustellung von Reichtum, die Jack so aufregte. Sollte der Schnösel doch ruhig seine schicken Klamotten und die Rolex behalten! Nein, was ihn störte, war diese unglaubliche Arroganz, die aus seiner Haltung und jeder seiner Bewegungen sprach. Dieser Mann war es gewohnt, auf seine Mitmenschen herabzusehen. Und Jack hasste ihn mit jeder Sekunde mehr.
Oben angekommen ließ Jack den Gast als Erstes aussteigen und wartete ungeduldig. Julien wandte sich nach links, während Jack schwieg. „Falsche Richtung, du Idiot!“, dachte er hämisch. Er hatte nicht vor, den Kerl über seinen Irrtum aufzuklären, sondern bog in aller Ruhe mit dem Gepäckwagen nach rechts ab.
Julien hatte schon zehn Meter zurückgelegt, als ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Er hörte den Gepäckwagen nicht hinter sich! Wo war der Junge?
Er drehte sich um. Der Junge ging in die entgegengesetzte Richtung, hielt vor einer Tür, holte einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete die Tür, ohne sich um ihn zu scheren.
So eine Frechheit! Julien schäumte vor Wut. Dieses unverschämte Benehmen würde er dem Jungen nicht durchgehen lassen! Wusste der Junge nicht, wer er war?
Wütend stampfte Julien ihm hinterher. Er hatte Mühe, ein ausdruckloses Gesicht zu bewahren. Selbstbeherrschung, ermahnte er sich, er durfte seine Selbstbeherrschung nicht vergessen!
Jack frohlockte innerlich, als er den Gast zur Tür hereinkommen hörte. So als wäre alles in bester Ordnung, lud er einen Koffer nach dem anderen ab und schob den Gepäckwagen wieder Richtung Tür. Doch dort stand Julien und versperrte ihm den Weg. In seinen Augen blitzte die Wut und hätte der Junge nicht so dicht vor ihm gestanden, er hätte es nicht bemerkt.
Jack wartete geduldig. Er würde nicht als Erster etwas sagen, den Triumph würde er ihm nicht gönnen.
Julien wurde bewusst, dass der Junge nicht als Erstes das Wort ergreifen würde. Doch der Junge wusste genau, was los war, auch wenn er ihn mit gespielter Arglosigkeit anschaute, die Brauen leicht fragend gehoben.
„Wie heißt du, Junge?“, fragte er.
Der Junge lächelte ihn an, als wüsste er nicht, dass Julien die Frage nur gestellt hatte, um sich nachher über ihn zu beschweren. „Mein Name ist Jack. Und Ihrer?“, erkundigte er sich.
Julien war angesichts dieser Dreistigkeit erst einmal sprachlos. Er brauchte einige Augenblicke, um sich zu fangen. „Hör mal gut zu, Junge! Wenn du glaubst, ich würde deine Frechheit einfach so dulden, dann irrst du dich!“, stieß er wütend zwischen den Zähnen hervor.
„Was soll an meiner Frage frech gewesen sein?“, fragte der Junge. „Wenn die Frage nach dem Namen frech sein soll, dann bin ich ja nicht der Erste, der eine ungehörige Frage gestellt hat, oder?“
„Junge, du ...“
„Jack“, unterbrach ihn dieser. „Mein Name ist Jack, Sir.“
Jack wusste genau, dass er für sein Verhalten noch büßen würde, aber das war ihm in diesem Moment egal. Er hatte nicht die Absicht, jetzt klein beizugeben.
Julien atmete langsam ein und aus, um seine Wut wieder unter Kontrolle zu bringen. „Also gut, Jack“, Julien betonte den Namen geringschätzig, „ich weiß, dass dir klar ist, dass du grob unhöflich gewesen bist. Aber wenn du willst, werde ich gerne deutlicher. Ich habe die Absicht, mich über dich zu beschweren! Dein Benehmen war unmöglich! Du hast mich absichtlich in die falsche Richtung laufen lassen, doch statt mich über meinen Irrtum aufzuklären, hast du mich schlicht und einfach ignoriert. Und ich schätze es gar nicht, ignoriert zu werden.“
„Ich auch nicht“, erwiderte Jack ungerührt.
„Wie bitte?“
„Ich mag es auch nicht, ignoriert zu werden, als wäre ich ein Möbelstück“, wiederholte Jack geduldig, als wäre Julien schwerhörig oder ein kleines Kind, dem man alles mehrmals erzählen musste.
„Wie bitte? Das ist deine Erklärung für dein unglaubliches Benehmen? Du fühlst dich von mir ignoriert? Was willst du eigentlich? Hätte ich dir gleich an der Tür dein erstes Trinkgeld geben sollen?“ Julien konnte es nicht fassen, dass er sich auf ein Streitgespräch mit dem Jungen einließ.
„Ich will Ihr verdammtes Geld nicht!“, zischte Jack wütend.
Julien starrte ihn skeptisch an. „Du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich das glaube! Natürlich willst du Geld, sonst würdest du doch nicht hier arbeiten!“ Er zückte seine Brieftasche und holte ein paar Scheine heraus. „Hier!“
Jack starrte ihn an. Er rührte sich keinen Zentimeter. Ungläubig wanderte sein Blick von Juliens Gesicht zum Geld und wieder zurück. Glaubte der Kerl denn, dass man mit Geld alles regeln konnte?
„Ich. Will. Ihr. Verdammtes. Geld. Nicht“, wiederholte er langsam. „Ist das so schwer zu verstehen? Ja, ich arbeite hier. Ja, ich möchte Geld verdienen, um mir irgendwann ein eigenes Auto kaufen zu können. Aber was ich nicht möchte und nicht akzeptieren werde, ist, dafür wie das letzte Stück Dreck behandelt zu werden, so als müsste ich mich schämen zu arbeiten!“
Er sah Julien an, dass er immer noch nicht begriffen hatte. Unwillig knurrte er. Also gut, dann eben noch mal!
„Wissen Sie eigentlich, wie sich ein normaler Hotelgast verhält? Ich glaube, Sie kommen noch nicht einmal auf die Idee, jemanden zu grüßen, Belanglosigkeiten über das Wetter oder das letzte Footballspiel von sich zu geben, geschweige denn auf die Idee, einen anzuschauen oder danke zu sagen!“
„Wozu?“, fragte Julien verständnislos. Er begriff nicht, worüber sich der Junge so aufregte. Wenn er zu Hause Probleme hatte, dann sollte er diese dort lassen und nicht die Gäste behelligen! Er konnte doch nicht erwarten, dass jeder ihn mit Samthandschuhen anfasste!
Jack starrte ihn fassungslos an. Er hatte das Gefühl, dass er genauso gut Chinesisch hätte sprechen können, das Ergebnis wäre das gleiche gewesen. Wie betäubt schob er den Gepäckwagen an Julien vorbei. Dann schloss er leise die Tür, ohne ihn noch einmal anzuschauen. Langsam ging er zum Fahrstuhl. Dort lehnte er den Kopf gegen die Wand.
Zum ersten Mal dachte er an die Konsequenzen seines Handelns. Der reiche Schnösel würde nicht zögern, sich über ihn zu beschweren! Sein Onkel würde toben! Er würde nie wieder hier arbeiten können! Und seine Mutter wäre sicherlich maßlos von ihm enttäuscht. Traurig schlich er wieder zurück zum Eingang. Julia Carpenter, die ihm zuwinkte, bemerkte er nicht.
Julia schüttelte besorgt den Kopf. „Was ist bloß heute mit Jack los?“, überlegte sie und beschloss, nach Dienstschluss mal in Ruhe mit ihrem Cousin zu reden.
Währenddessen überlegte Julien, was er als Nächstes tun sollte. Sollte er sich beim Hoteldirektor über den Jungen beschweren? Doch dann müsste er dem Direktor erzählen, was vorgefallen war und wie er sich mit einem einfachen Hotelpagen einen Schlagabtausch geliefert hatte. Diese Demütigung! Nein, besser wäre es, den Vorfall zu ignorieren. Daraus konnte ihm kein Vorteil erwachsen.
Oder vielleicht doch? Ihm kam eine glänzende Idee. Und wenn er gegenüber der entzückenden Julia eine besorgte Bemerkung fallen ließe? Sich als mitfühlender und verständnisvoller Gast zeigte, der auf eine Beschwerde verzichtete, zum Wohle des Jungen? Ja, das würde er tun. Der Junge stünde dann in seiner Schuld und Julia wäre ihm so dankbar, dass er sie leicht zum Essen einladen konnte. Ja, das wäre perfekt!
Unterdessen stand Jack in Gedanken versunken vor dem Hoteleingang. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sein Onkel vom Vorfall erfahren würde. Was würde er denken? Wahrscheinlich würde er nicht glauben können, dass Jack einem Gast gegenüber unhöflich gewesen war. Er würde eine Erklärung verlangen, erst vom Gast und dann von Jack.
Ihm graute vor dem Gespräch. Er konnte sich gut vorstellen, wie enttäuscht und wütend sein Onkel sein würde. Er würde keine andere Wahl haben, als Jack fristlos zu kündigen, schließlich konnte er es sich nicht leisten, einen Gast zugunsten seines Neffen vor den Kopf zu stoßen. So etwas spräche sich schnell herum und würde dem Hotel sehr schaden. Sein Onkel würde stattdessen dem Gast eine Entschädigung und eine Entschuldigung anbieten. Wenn er daran dachte, dass er sich in wenigen Minuten bei dem Mistkerl würde entschuldigen müssen! Jack fühlte sich miserabel.
Er war so in Gedanken versunken, dass er die Limousine erst bemerkte, als sie mit quietschenden Reifen vor ihm hielt. Doch bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, flogen die Wagentüren auch schon auf und seine Insassen, vier Männer und zwei Frauen in schwarzen Anzügen und mit Sonnenbrille, beeilten sich auszusteigen. Jack war verblüfft. Das waren die ungewöhnlichsten Gäste, denen er je begegnet war!
Der Älteste der vier Männer kam nun direkt auf ihn zu. Jack wusste nicht, wie er sich diesem neuen Gast gegenüber verhalten sollte, also wartete er ab.
Der Mann lächelte ihn freundlich an und nahm seine Sonnenbrille ab. „Hallo, Junge!“, begrüßte er ihn. „Wie heißt du denn?“
„Jack, Sir“, erwiderte er.
„Ich heiße Piers. Freut mich.“
Piers lächelte ihn an und streckte die Hand aus, die Jack ergriff und schüttelte. „Jack“, wiederholte er. „Vielleicht kannst du mir helfen. Wir suchen einen Bekannten, der ebenfalls in der Stadt ist, aber wir wissen nicht, in welchem Hotel. Wir glauben, dass er hier abgestiegen sein könnte. Vielleicht hast du ihn ja gesehen. Es handelt sich um einen jungen Mann von Mitte zwanzig, gut gekleidet und mit selbstsicherem Auftreten. Ist heute zufällig jemand eingetroffen, auf den diese Beschreibung passt?“
Jacks Gesicht verfinsterte sich. Sie suchten den reichen Schnösel! Da war er sich ganz sicher. Was hatten sie bloß mit dem zu tun? Piers machte auf ihn einen normalen, netten Eindruck. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die beiden befreundet waren. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass der arrogante Widerling überhaupt Freunde hatte.
„Du hast jemanden gesehen, auf den meine Beschreibung passt, oder?“, fragte Piers aufgeregt. Als Jack widerwillig nickte, bat er: „Könntest du ihn mir vielleicht beschreiben? Es könnte ja auch sein, dass es sich um jemand anders handelt.“
Jack kam der Aufforderung nach. „Ein Mann ist vor einer Stunde in einer weißen Limousine vorgefahren. Elegant gekleidet. Weißer Anzug. Goldene Uhr. Vielleicht vierundzwanzig oder fünfundzwanzig. Beim Alter bin ich mir nicht sicher, aber auf jeden Fall nicht sehr viel älter als ich. Sehr arrogant. Behandelt einen wie ein Möbelstück oder als wäre man nicht vorhanden. Es sei denn, man ist jung, hübsch und weiblich. Dann wird der Kerl plötzlich arschfreundlich.“ Jacks Stimme verriet seine Wut, aber das kümmerte ihn in diesem Moment nicht.
Die sechs grinsten. Ja, sie waren am richtigen Ort. Angesichts der Beschreibung des Jungen war ein Irrtum so gut wie ausgeschlossen. Piers ließ es zu, dass Walter sich nach vorne drängelte, um zu fragen: „Und wo befindet er sich jetzt?“
Jacks Miene drückte Enttäuschung aus. Sie suchten doch tatsächlich diesen arroganten Schnösel! Na, sollten sie doch! Aber dann fing er an zu überlegen. Sein Onkel schätzte es nicht, wenn man Informationen über die Gäste weitergab. Aber andererseits hatten sie gewusst, dass er sich in diesem Hotel aufhielt. Letzten Endes entschied er sich, die Frage zu beantworten.
„In seiner Suite, denke ich.“
„Kannst du uns sagen, wo die ist?“, erkundigte sich Piers freundlich.
Jack entschied, dass dieser Mann nicht zu den Freunden seines Gastes gehören konnte. Wahrscheinlich war er den sechs irgendwie auf die Füße getreten und nun waren sie hier, um mit ihrem Bekannten ein Hühnchen zu rupfen. Und Jack wäre der Letzte, der Informationen zurückhalten würde, um diesen Kerl zu schützen.
„Präsidentensuite. Die befindet sich im obersten Stockwerk“, erzählte er bereitwillig. „Am besten nehmen Sie den Aufzug, der befindet sich direkt gegenüber dem Eingang. Wenn Sie oben sind, müssen Sie nach rechts. Klopfen Sie an der ersten Tür!“
Piers nickte und machte seinen Untergebenen ein Zeichen. Walter nickte. Die fünf machten sich auf den Weg, während Piers beim Jungen blieb. Ihn interessierte, wie Julien es so schnell geschafft hatte, sich den Jungen zum Feind zu machen.
„Danke, Jack“, sagte er. Seine Stirn legte sich besorgt in Falten. „Ich hoffe, du bekommst keinen Ärger, weil du uns geholfen hast?“
Der Junge verzog verbittert das Gesicht. „Den Ärger habe ich schon. Und zweimal kann mein Onkel mich ja schließlich auch nicht feuern.“
Als er sah, dass sein Gegenüber gespannt auf eine Erklärung wartete, begann er von seinem Zusammentreffen mit Julien zu erzählen. Piers nickte öfters, als käme ihm etwas bekannt vor, unterbrach den Jungen aber nicht in seiner Erzählung.
Genauso hatte er sich das vorgestellt. Er war aber erstaunt, dass der Junge es gewagt hatte, Julien Paroli zu bieten. Das musste das erste Mal gewesen sein, dass jemand sich nicht darum scherte, wer Julien war, und ihm offen seine Meinung sagte. Ob der Junge es überhaupt wusste? Und falls ja, ob es ihn kümmerte? In den Staaten war Julien schließlich kaum bekannt.
Piers kam eine exzellente Idee. Doch ob der Junge mitmachen würde? Er unterbreitete ihm seinen Vorschlag. Ungläubig starrte Jack ihn an und schien im ersten Augenblick rundweg ablehnen zu wollen, doch Piers redete auf ihn ein. Schließlich gab er nach und nickte.
„Aber Sie müssen zuerst mit meinem Onkel reden. Und mit meiner Mutter“, wandte Jack ein. Er war skeptisch. Sicher, er würde auf keinen Fall mehr im Hotel arbeiten können, aber ob sein Onkel dieser Idee zustimmte, war eine ganz andere Sache.
„Gehen wir!“, meinte Piers bloß und lächelte siegesgewiss.
Julien hob überrascht den Kopf, als es an der Zimmertür klopfte. Wer konnte das sein? Er hatte doch gar nichts bestellt? Oder gehörte es zum Hotelservice, zur Begrüßung des Gastes eine Flasche Champagner zu spendieren? Das würde es sein.
„Herein“, sagte er und wartete.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und eine Frau in einem schwarzen Anzug betrat das Zimmer. Julien schüttelte verwundert den Kopf. Derjenige, der für die Kleiderordnung hier im Hotel zuständig war, gehörte seiner Meinung nach fristlos entlassen! Die arme Frau sah eher aus wie die Angestellte eines Bestattungsunternehmens als wie eine Hotelangestellte! Der schwarze Anzug verbarg mehr die körperlichen Reize der Frau, als dass er sie betonte. Julien konnte sich nicht vorstellen, dass sie in dieser Aufmachung viel Trinkgeld bekam.
„Stellen Sie es einfach auf den Tisch!“, meinte er und wandte sich wieder der Zeitung zu, in der er in den vergangenen Minuten geblättert hatte.
„Ich bin keine Hotelangestellte“, entgegnete die Frau kühl.
Julien hob angesichts ihres Tonfalls abrupt den Kopf. Wieso war sie wütend? War er denn heute nur von Mimosen umgeben? Er wartete auf eine Erklärung. Und die bekam er auch, nur war es eine andere, als er erwartet hatte.
„Ihr Großvater schickt mich. Er ist gar nicht begeistert, dass Sie sich einfach in die Staaten abgesetzt haben, obwohl Sie zu Hause gebraucht werden. Sie haben schließlich eine Verantwortung gegenüber Ihrer Familie.“
Juliens Gesicht verfinsterte sich. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte er ihre Vorhaltungen vom Tisch. Doch so schnell wurde er die Frau nicht los. „Wir sind gekommen, um Sie wieder nach Hause zu holen“, fuhr sie fort. Ihre Stimme hatte mittlerweile einen ungnädigen Ton angenommen.
Wir? Erst jetzt bemerkte Julien, dass hinter der Frau noch vier andere Personen unbemerkt ins Zimmer geschlichen waren. Langsam wurde das lästig!
„Danke für Ihre Mühe“, zwang sich Julien zu sagen. „Ich werde die Rezeption anweisen, sich um einen Rückflug zu kümmern.“ Er machte Anstalten, zum Telefon zu gehen. Doch keiner regte sich. Wütend hielt Julien inne. „Danke, Sie können gehen und meinem Großvater sagen, dass ich auf dem Weg bin.“
Nun ergriff Walter das Wort. „Wir rühren uns nicht vom Fleck. Wir lassen uns doch nicht an der Nase herumführen! Wetten, dass Sie sich aus dem Staub machen, sobald wir das Zimmer verlassen haben? Nein, Sie begleiten uns! Wie ich sehe, haben Sie noch nicht ausgepackt. Gut. Gehen wir!“, befahl er.
Julien war empört. Was erlaubte sich dieser Kerl? Wie konnte er ihm so etwas unterstellen und dabei noch nicht einmal mit der Wimper zucken? Dass er genau das vorgehabt hatte, war in diesem Moment vergessen.
„Und wenn ich mich weigere?“, fragte er trotzig. „Sie können mich nicht zwingen mitzukommen!“
Walter grinste freudlos. „Ach ja?“
Metall blitzte auf. Julien schluckte.
Klick.
„Scheiße!“, fluchte er.