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Etwa zur selben Zeit auf der anderen Seite des Atlantiks.

Karolina stampfte wütend mit dem Fuß auf und schnaufte empört. Das würde sie sich auf keinen Fall gefallen lassen! Ihr Großvater wusste schließlich ganz genau, dass sie sich mit ihren Freunden für diesen Abend verabredet und somit überhaupt keine Zeit hatte. Erst recht nicht für einen so blöden Empfang, wo sie den ganzen Abend in einem unbequemen Kleid steif herumstehen und mit irgendwelchen, angeblich wichtigen Leuten über völlig belanglose Dinge plaudern musste. Schon vor Wochen hatte sie ihm ihre Pläne mitgeteilt, aber er hatte ihre Wünsche natürlich wie immer königlich ignoriert und ihr befohlen, um sieben Uhr fertig zu sein.

Na gut! Sie hatte es ihm nicht vor Wochen, sondern vor zwei Tagen mitgeteilt, aber wer regte sich bitte schön über solche Kleinigkeiten auf? Es ging schließlich ums Prinzip und außerdem war sie ja auch kein Kleinkind mehr, auch wenn ihr Großvater sie herumkommandierte, als wäre sie nicht bereits zwanzig, sondern immer noch zehn Jahre alt! Sie würde sich nicht für den Rest ihres Lebens von ihrem Großvater Befehle erteilen lassen!

Karolina versuchte, sich etwas zu beruhigen. Eines stand schon mal von vorneherein fest: Dieses Mal würde sie ihrem Großvater nicht gehorchen! Sollte es denn ihr ganzes Leben lang so weitergehen? Ihr Großvater befahl etwas und sie spurte? Nein, nicht mit ihr!

Doch wie konnte sie sich nur drücken? Ihrem Großvater direkt ins Gesicht sagen, dass sie keine Lust hatte? Karolina schüttelte entsetzt den Kopf. Bei einer direkten Konfrontation mit ihm hatte sie bisher immer den Kürzeren gezogen und dieses Mal würde das nicht anders sein. Die einzige Konsequenz aus einer Konfrontation wäre, dass ihr Großvater sie den ganzen Abend beobachten lassen würde. Horror pur!

Nein, ihre Energie sparte sie lieber für einen anderen Streit auf. Das Beste wäre, sich einfach krank zu stellen. Und so beschäftigt wie ihr Großvater im Moment war, hatte sie auch gute Chancen damit durchzukommen. Er hatte einfach keine Zeit, um zu kontrollieren, ob sie wirklich krank war oder nicht, und ihre ehemalige Erzieherin hatte sie bisher immer täuschen können.

Diese wählte genau diesen Augenblick, um die Tür zu öffnen. „Karolina!“, rief sie. „Sind Sie fertig?“

Karolina zuckte zusammen. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie nur vortäuschen? Eine Erkältung? Fieber? Aber nein, das konnte man überprüfen. Bauchschmerzen? Nein, besser nicht, dann würde sie nur wieder eines dieser ekligen Hausmittelchen schlucken müssen.

Migräne! Eine Migräne wäre der perfekte Vorwand, um nicht zum Empfang gehen zu müssen! Kein Arzt konnte ihr beweisen, dass sie log! Und was noch besser war, sie würde keines von Annas widerlichen Mittelchen schlucken müssen!

Anna betrat das Zimmer, um nach ihrem kleinen Mädchen zu schauen. Sie stand mitten im Zimmer und hatte sich immer noch nicht umgezogen, obwohl der Empfang in wenigen Minuten beginnen sollte. Vielleicht waren sogar die ersten Gäste bereits da und Karolina war noch nicht fertig! Ihr Großvater würde nicht erfreut sein.

Dann bemerkte sie Karolinas blasses Gesicht und die glänzenden Augen. „Karolina! Kind! Was hast du?“, rief sie erschrocken. Sie eilte ins Zimmer.

„Perfekt!“, dachte Karolina. Das war ja sogar noch einfacher, als sie gedacht hatte!

Sie gab ihrer Stimme einen leicht gepressten Ton, so als müsste sie sich zwingen, normal zu antworten. „Anna, ich habe dich gar nicht gehört“, schwindelte sie und lächelte schief. „Ist es etwa schon so weit?“

Anna musterte ihren Schützling besorgt. Das Mädchen sah gar nicht gut aus, auch wenn sie so tat, als wäre alles in bester Ordnung. Vor allem das Glänzen ihrer Augen gab ihr zu denken. Ob sie Fieber hatte?

„Kind! Wenn du krank bist, musst du das doch sagen! Es ist zwar lobenswert, dass du deinem Großvater zur Seite stehen willst, aber doch nicht auf Kosten deiner Gesundheit!“, rügte sie das Mädchen liebevoll. Besorgt legte sie Karolina eine Hand auf die Stirn. Leicht warm. „Streck mal die Zunge raus!“, forderte sie sie auf. „Hm, belegt ist sie nicht. Aber deine erhöhte Temperatur gefällt mir nicht. Tut dir irgendetwas weh? Seit wann fühlst du dich nicht? Und keine Ausflüchte!“

Oh, das war klasse! Dass sie ihre leicht erhöhte Temperatur ihrem Wutanfall von vorhin verdankte, würde sie auf keinen Fall verraten!

Karolina gab ihrer Miene einen leicht schuldbewussten Eindruck. Darin war sie gut. Sie hatte schon überlegt, ob sie nicht Schauspielunterricht nehmen sollte, aber sie konnte sich nur zu gut denken, was ihr Großvater zu so einem Vorhaben sagen würde.

„Ich hatte gehofft, man würde es mir nicht ansehen“, gestand sie leicht zerknirscht. „Es sind ja schließlich auch nur leichte Kopfschmerzen, also wirklich nicht der Rede wert. Ich habe auch schon eine Aspirintablette genommen und hatte gehofft, dass sie bis zum Empfang weg sind.“

„Aber du hast immer noch Kopfschmerzen, nicht?“, fragte Anna.

Karolina nickte reumütig.

Anna tätschelte mitfühlend ihre Hand und überlegte einen Augenblick. Schließlich hatte sie einen Entschluss gefasst. „Warum legst du dich nicht hin? Ich werde mit deinem Großvater sprechen und dich entschuldigen. Er wird ja schließlich nicht wollen, dass du dich zum Empfang quälst, wenn du krank bist. Kein Aber! Du legst dich ins Bett, ich regele das schon. Soll ich dir irgendetwas bringen? Einen Tee? Soll ich den Arzt verständigen?“

Entsetzt schüttelte Karolina den Kopf. Bloß nicht!

„Ich glaube, das ist nicht nötig“, erwiderte sie schnell. „Ich werde noch eine Tablette nehmen und mich ins Bett legen. Es sind ja nur Kopfschmerzen. Nichts, was ein bisschen Schlaf nicht beheben könnte. Du wirst schon sehen, morgen bin ich wieder auf dem Damm.“

Anna nickte skeptisch. „Also gut!“, willigte sie seufzend ein. „Dann ab ins Bett mit dir! Ich verständige jetzt deinen Großvater und schaue später noch mal rein.“

Karolina wartete, bis Anna das Zimmer verlassen hatte, bevor sie es sich gestattete zu seufzen. Einerseits hatte ihr Plan hervorragend geklappt, sie musste schließlich nicht auf den bescheuerten Empfang, aber andererseits verhinderte Annas Fürsorglichkeit auch, dass sie sich davonstahl, um sich mit ihren Freunden zu treffen.

Langsam ging sie zum Sofa und versetzte dem Kissen einen Hieb. So was Blödes! Und dabei hatte sie ihrer besten Freundin doch versprochen, dass sie dabei sein würde! Gab es denn gar keine Möglichkeit sich davonzustehlen, ohne dass es Anna auffiel, dass sie weg war?

Und wenn sie nun so tat, als ob sie schlief und alle Lichter löschte? Anna würde niemals auf die Idee kommen, sie zu wecken. Karolina musste nur ihr Bett so zurechtmachen, dass es aussah, als läge sie drin, und solange Anna das Licht nicht anmachte, fiel ihr das gar nicht auf. Ja, das war perfekt!

Rasch schnappte sie sich ein Kissen und die Wolldecke, die auf dem Sofa lagen, und eilte ins angrenzende Schlafzimmer. Dort formte sie die Wolldecke zu einer langen Rolle, fügte ein paar Knicke ein, damit die Wolldecke nicht unten rausguckte, legte das Kissen auf ihr Kopfkissen und zog die Bettdecke drüber. Ja, so konnte es gehen.

Danach eilte sie zurück ins Wohnzimmer und löschte das Licht. Sie musste sich beeilen, denn Anna konnte jeden Moment wieder zurückkommen. Sie hatte vielleicht noch fünf Minuten, vielleicht sogar auch zehn. Sie huschte zum Kleiderschrank, öffnete ihn und wühlte in ihren Klamotten. Das? Nein, das konnte sie nicht anziehen, das war viel zu vornehm. Und ihr schwarzes T-Shirt? Hm, das würde noch am ehesten gehen.

Sie wühlte hektisch im Stapel. Verdammt, wo war denn nur dieses T-Shirt?

Gefunden! Sie gestattete sich ein erleichtertes Seufzen. Nun brauchte sie nur noch eine alte Hose, aber da hatte sie vorgesorgt. Sie schnappte sich den Stuhl, der neben ihrem Bett stand und auf dem sie meistens ihre Bonbons deponierte, stellte ihn vor den Schrank, kletterte drauf und schnappte sich die Tüte, die sie auf dem Schrank versteckt hatte.

Vorsichtig kletterte sie wieder vom Stuhl, öffnete die Tüte, holte die alte Jeans und die Perücke heraus und schmiss die Tüte in den Schrank. Karolina warf einen raschen Blick auf die Uhr. Vier Minuten waren vergangen, seit sie ihre Suchaktion gestartet hatte. Nun musste sie sich aber wirklich beeilen!

Rasch wechselte ihre Bluse gegen das T-Shirt, schlüpfte aus ihrem verhassten Rock und streifte die Jeans über. Danach kam die Perücke dran. Sie band ihre Haare zu einem Zopf zusammen, den sie mit Haarnadeln befestigte und streifte die Perücke darüber.

Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Das Ganze stand ihr zwar überhaupt nicht, aber sie würde nicht meckern, schließlich war dies die einzige Möglichkeit, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Und danach brauchte sie das Teil ja nicht mehr.

Sie schlüpfte in ihre alten Sportschuhe und huschte leise zur Tür. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit. Sie hatte Glück, es war niemand zu hören oder zu sehen. Rasch huschte sie aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Möglichst unauffällig verhalten!“, ermahnte sie sich. „Tu so, als wärst du eine der Angestellten.“

Sie ging den Gang hinunter. Den unzähligen Gemälden ihrer Vorfahren, die an den Wänden des familiären Wohnflügels hingen, schenkte sie keine Beachtung. Schon zu oft hatte sie vor ihnen gestanden und gerätselt, ob sie wohl glücklich gewesen waren oder ob sie versucht hatten, aus ihrem Leben auszubrechen, weil es ihnen, wie Karolina, wie ein Gefängnis erschienen war. Sie kam sich vor wie der sprichwörtliche Vogel im goldenen Käfig. Und ein Käfig blieb immer ein Käfig, egal wie teuer und geräumig er war.

Bisher war sie noch niemandem begegnet, aber Karolina wusste, dass ihr Glück nicht anhalten würde. Sie sah sich um. Gab es denn hier nichts, das ihr einen guten Vorwand für einen Botendienst bot?

Sie hatte das Ende des Ganges erreicht und bemerkte auf einer Ablage einen Staubwedel. Glück musste man haben! Rasch schnappte sie sich den Staubwedel und wanderte damit in Richtung Dienstbotentrakt. Von dort aus konnte sie dann das Gebäude verlassen.

Ein paar Augenblicke später kam ihr einer der Angestellten entgegen. Der Mann trug ein Blumengesteck in der Hand und sah aus, als wäre er in Eile. Kein Wunder, er musste seine Last schließlich loswerden, bevor die ersten Gäste da waren. Er schenkte Karolina einen kurzen Blick, bemerkte den Staubwedel und wandte den Blick desinteressiert ab. Bilder wie dieses gehörten zu seinem Alltag.

Karolina seufzte erleichtert. Zwar hatte ihr Großvater ein großes Anwesen und damit auch viele Angestellte, aber sie glaubte trotzdem nicht, dass sie eine aufmerksamere Überprüfung überstehen würde. Irgendeiner würde sich bestimmt fragen, wer diese Unbekannte war.

Sie hatte den Ausgang erreicht, öffnete die Tür und zog sie leise hinter sich ins Schloss. Einen Teil hatte sie geschafft. Jetzt musste sie nur noch ungesehen vom Grundstück kommen, aber das sollte nicht so schwer sein. Raus kam man immer ohne Schwierigkeiten. Und für den Rückweg hatte sie sich auch schon etwas überlegt.

Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie langsam zum Tor marschierte. Sie achtete darauf, möglichst nicht direkt unter den Laternen zu laufen. Je weniger man von ihrem Gesicht sehen konnte, desto besser.

Links von ihr fuhren die Limousinen vor, eine protziger als die nächste. Karolina erhaschte einen Blick ins Wageninnere, als eines der Fahrzeuge am Tor hielt und einer der Fahrgäste das Fenster herunterkurbelte, um die Einladung vorzuzeigen. Sie kannte den Mann vom Sehen, auch wenn sie seinen Namen vergessen hatte. Aber sie wusste noch, dass er im Bankgewerbe tätig war. Ihr Großvater wäre gar nicht stolz auf sie, sollte er je erfahren, dass sie selbst von den meisten ihrer regelmäßigen Gäste noch nicht einmal den Namen kannte. Er erwartete von ihr, solche Dinge zu wissen. Er selbst kannte seine Gäste genau und wusste, was seinen Gesprächspartner interessierte und welche Neuigkeiten es in seinem Leben gab.

Karolina hingegen kümmerte dies nicht die Bohne. Nicht, dass sie andere Menschen nicht interessierten. Aber warum konnte ihr Großvater nicht einmal interessante Leute einladen? Er lud zwar auch bekannte Künstler und Schauspieler ein, deren Bekanntschaft Karolina gerne gemacht hätte, aber das war äußerst selten. Die meisten ihrer Gäste waren Politiker oder Wirtschaftsbosse, Leute mit Geld und Einfluss. Echt langweilige Typen. Ihre Freunde nannten sie nur die Macker und lästerten bei jeder Gelegenheit über sie und entwarfen Pläne, wie man solche Leute mal gehörig ärgern konnte. Nicht dass sie es böse meinten, aber ihre Freunde waren der Meinung, dass die Reichen einmal das wahre Leben kennen lernen sollten, statt nur Champagner zu schlürfen und sich in Nobelkarossen durch die Gegend kutschieren zu lassen. Zum Glück wussten sie nicht, dass Karolinas Großvater und damit auch sie selbst ebenfalls in diese Kategorie gehörten.

Sie stellte sich vor, wie ihre Freunde reagieren würden, sollten sie es je erfahren. Ihr ältester Bruder hätte ihr zwar vorgehalten, dass man seinen Freunden die Wahrheit sagen sollte, aber das war ihr zu riskant. Er selbst hatte zwar Freunde aus ihren Kreisen, aber für Karolina waren das eher Bekannte, oder manchmal sogar Schmarotzer, als richtige Freunde. Nein, sie suchte sich ihre Freunde lieber anderswo, unter normalen Leuten.

Mittlerweile hatte sie das kleine Seitentor erreicht, das als Ausgang diente. Sie bemühte sich, sich ihre Aufregung nicht ansehen zu lassen. Sollten die beiden Männer, die dort Wache hielten, sie erkennen, dann konnte sie nicht nur ihren Ausflug vergessen, sondern sie würde auch noch eine Strafpredigt von ihrem Großvater bekommen. Und Anna würde maßlos von ihr enttäuscht sein.

Aber sie hatte Glück. Mit einem müden Gesichtsausdruck lehnte einer der Männer an der Wand und beobachtete die ankommenden Autos, während sein Kollege mit dem Überprüfen der Gäste beschäftigt war. Wahrscheinlich hatte er schon ziemlich lange Dienst und freute sich, dass sein Arbeitstag bald zu Ende war, so dass er die wenigen, die das Grundstück verließen, nicht beachtete.

Deshalb schaffte es Karolina, unbehelligt das Grundstück zu verlassen. Sie wandte sich nach links, verließ die Hauptstraße, um in eine kleine Nebenstraße einzubiegen. Nach zwanzig Minuten erreichte sie die Straße, die sie gesucht hatte. Dort standen nur ein paar vereinzelte Häuser und Autowracks. Die Häuser waren alt und baufällig, soweit sie wusste, hatte man Pläne gemacht, alles abzureißen und eine Neubausiedlung daraus zu machen, aber dieses Projekt verlief eher schleppend.

Dass zwischen ihrem Zuhause und diesem Viertel ein solcher Kontrast herrschte, störte Karolina nicht im Geringsten. Sie fühlte sich hier wohl. Wenn sie die wild wuchernden Pflanzen und das Unkraut betrachtete, überkam sie das Gefühl von grenzenloser Freiheit. Hier gab es niemanden, der ihr irgendetwas vorschreiben wollte. Hier konnte sie so sein, wie sie war.

Ihr Versteck kam in Sicht. Erleichtert bemerkte sie, dass ihr altes Fahrrad, das sie dort deponiert hatte, immer noch da war. Aber andererseits, wer würde es auch klauen, so alt und verrostet wie es war?

Sie verstaute ihre Perücke in einer Plastiktüte, die sie für solche Fälle dort versteckt hatte, nahm ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zu Marie. Marie war ihre beste Freundin, sie kannten sich mittlerweile seit zwei Jahren, seit sie mit ihren heimlichen Ausflügen angefangen hatte.

Etwa eine Viertelstunde später war sie da. Sie sah auf ihre Uhr. Halb acht.

Die Tür wurde aufgerissen. Marie, ein einssechzig großer Wirbelsturm, kam ihr entgegen. Sie strahlte vor Freude. „Klasse, du hast es geschafft! Ich hatte schon befürchtet, du müsstest zu dieser Feier deines Großvaters, von der du mir erzählt hast“, plapperte sie drauflos.

Karolina lächelte. „Ich habe mich krank gestellt und gewartet, bis die Luft rein war, um zu verduften. Und hier bin ich!“ Sie breitete theatralisch die Arme aus, wie ein Popstar, der am Anfang des Konzertes die Begeisterungsschreie seiner Fans entgegennimmt.

Marie kicherte. „Gerade rechtzeitig!“, meinte sie. „Die Jungs kommen in ein paar Minuten, um uns abzuholen.“

„Willst du mir nicht endlich verraten, was wir vorhaben?“, erkundigte sie sich. „Und wer bitte sind die Jungs?“

„Mein Bruder und ein paar seiner Freunde“, sagte Marie leichthin. „Ich kenne die auch nicht alle. Aber das ist auch nicht so wichtig.“

„Und wohin fahren wir? Zu einer Party?“

Marie zog eine Schnute. „Nee, Karo, heute nicht. Philipp“, das war Maries Bruder, „hat eine unglaubliche Sauerei entdeckt. Weißt du, einer von diesen steinreichen Kerlen in den Vororten hat massenhaft Hunde, die er verwahrlosen lässt. Als hätte er nicht genug Geld, um sich ordentlich um sie zu kümmern!“, empörte sie sich. „Er sperrt sie in ganz kleine Zwinger und lässt ihnen nie Auslauf. Philipp glaubt, dass er sie sogar von seinem Aufseher schlagen lässt!“

Karolina war fassungslos. Die armen Hunde! Für Leute, die Tiere quälten, hatte sie nun überhaupt kein Verständnis. Für sie stand außer Frage, dass man etwas dagegen unternehmen musste. Wäre ihr Bruder hier gewesen, sie hätte ihm sofort von dem Fall erzählt. Ihr Bruder liebte Hunde. Ihr Großvater leider nicht und da sie beide noch bei ihm lebten, hatten sie nie einen eigenen gehabt.

Sie kochte immer noch vor Wut, als Philipp mit seinem Auto auf den Hof fuhr. Ernst sah er seine Schwester und ihre Freundin an. Die Entschlossenheit und die Wut in ihren Gesichtern ließen ihn zufrieden nicken. „Steigt ein!“, meinte er.

Während der Fahrt schwiegen sie. Niemand hatte Lust über irgendwelche belanglosen Dinge zu sprechen, dafür war die Situation viel zu ernst. Selbst das Radio hatten sie ausgedreht, weil die seichten Popsongs ihnen auf die Nerven gingen.

Nach etwa vierzig Minuten bog Philipp auf einen Feldweg, wo bereits zwei weitere Autos standen. John, Philipps bester Freund, hatte sich auf die Kühlerhaube seines Wagens gesetzt und winkte ihnen zu. Die drei anderen jungen Männer, Karolina schätzte sie auf zwanzig bis vierundzwanzig Jahre, kannte sie nicht.

Philipp stellte das Auto ab und machte sie miteinander bekannt. Danach warteten sie. Die Sonne war noch nicht untergegangen und solange es noch hell war, konnten sie nichts unternehmen.

„Und wie gehen wir vor?“, wollte Marie wissen. Sie zappelte vor Ungeduld. „Was können wir unternehmen?“

John lächelte sie an. „Eine ganze Menge“, antwortete er. „Erst einmal müssen wir dokumentieren, wie die armen Hunde hier gehalten werden. Deshalb haben wir heute Nachmittag schon eine ganze Weile gefilmt und fotografiert. Außerdem haben wir alle Mängel, die wir feststellen konnten, in diesem Heft notiert.“ Er zeigte das grüne DIN A4-Heft vor.

Marie sah nicht zufrieden aus. „Ich glaube nicht, dass Beobachten viel bringt“, murrte sie verdrossen.

„Deshalb kommt jetzt auch Phase zwei“, erklärte Philipp amüsiert und tätschelte seiner kleinen Schwester liebevoll den Kopf.

„Und das heißt?“, erkundigte sich Karolina.

„Das heißt, dass wir jetzt handeln. Wir haben schon Beschwerde wegen Misshandlung gegen den Besitzer eingelegt, aber die Polizei ist nicht bereit, etwas zu unternehmen. Ich glaube, die warten nur darauf, dass die armen Tiere verrecken!“, empörte sich John. „Aber wir werden sie da rausholen. Ich habe einen Tierarzt gefunden, der bereit ist, die Tiere gründlich zu untersuchen und aufzupäppeln. Aber der Besitzer lässt ihn nicht aufs Grundstück und deshalb werden wir die Tiere zu ihm bringen.“

„Wir brechen ein und klauen sie?“, erkundigte sich Karolina. Sie hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache.

„Aber, Karo, wir begehen doch keinen Diebstahl!“, widersprach ihr Philipp. „Wir sorgen nur dafür, dass die Misshandlungen ein Ende nehmen und dass die Hunde in gute Hände kommen! Das ist doch nicht illegal!“

„Wenn die Polizei etwas unternehmen würde, wären wir ja auch nicht gezwungen, etwas zu tun. Nur leider traut die sich nicht, dem Macker auf die Füße zu treten, weil der Kerl zu viel Geld und Einfluss hat“, erklärte Marie wütend.

„Wir machen nichts Illegales“, versprach John. „Wir werden die ganze Aktion filmen und zusammen mit der Erklärung des Tierarztes ist es sehr wahrscheinlich, dass ihm die Tiere weggenommen werden. Wir sorgen nur dafür, dass es den Tieren besser geht.“

Karolina nickte zögernd. Sicher, das hörte sich alles gut und vernünftig an, aber sie hatte immer noch ein ungutes Gefühl bei der Sache. Aber kneifen wollte sie auch nicht. Was sollten dann ihre Freunde von ihr denken? Nein, im Stich lassen würde sie die anderen nicht!

Eine Viertelstunde später zogen sie, mit Taschenlampen, einer Videokamera, Hundeleinen und ein paar Leckereien, um das Vertrauen der Tiere zu erringen, bewaffnet, los. Sie hatten Lose gezogen, um denjenigen zu bestimmen, der filmen sollte, und es hatte Daniel, den Jüngsten der drei anderen Jungen, erwischt, der erleichtert war. Er hatte sich nicht getraut, den anderen zu gestehen, dass er eine Heidenangst vor Hunden hatte, nachdem der Nachbarshund ihn einmal, als er noch klein gewesen war, gebissen hatte. Filmen schien ihm weitaus sicherer zu sein.

Karolina hoffte, dass ihr Großvater nie erfahren würde, was sie an diesem Abend unternommen hatten. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er reagieren würde, mal ganz abgesehen davon, dass ihm Tier- und Naturschützer im Allgemeinen äußerst suspekt erschienen. Karolina hatte den Verdacht, dass sie für ihren Großvater nur eine andere Art von Terroristen waren.

Sie waren am Eingangstor angekommen und kletterten nun einer nach dem anderen rüber. Die Jungs halfen den Mädchen. Vor allem Karolina hatte Probleme. „So ein Mist!“, fluchte sie leise, nachdem sie mit den Fingern an der Oberkante des Tores abgerutscht war.

„Pst!“, ermahnte Marie sie.

Das Haus lag im Dunkeln. Entweder waren die Besitzer nicht da - wahrscheinlich auf Großvaters Empfang, dachte Karolina düster - oder sie schliefen schon - in diesem Fall waren das „Weicheier“, meinte John, schließlich war es erst halb zehn. Karolina hoffte das Erste, denn in diesem Fall konnten sie auch nicht durch ein eventuelles Bellen aufwachen.

Vorsichtig näherten sie sich dem Zwinger und achteten darauf, die Taschenlampen auf den Boden zu richten. Nicht, dass die Nachbarn noch dachten, sie wären Einbrecher!

Als sie nur noch wenige Meter vom Zwinger entfernt waren, konnten sie erstmals einen genauen Blick hinein werfen, und was sie sah, erschütterte Karolina. So eine Sauerei! Ihr fiel der goldene Käfig wieder ein, an den sie erst vor drei Stunden gedacht hatte. Aber dies war kein goldener Käfig, noch nicht einmal ein silberner. Auf wenigen Quadratmetern waren zwölf Hunde eingepfercht, jeder Hund hatte gerade einmal genug Platz, um sich umzudrehen, und das war’s.

Das Winseln der Hunde, deren Fell zottelig und verdreckt an ihnen herab hing, trieb ihr die Tränen in die Augen. So schlimm hatte sie sich das nicht vorgestellt! Die armen Hunde lagen ja sogar in ihrem eigenen Kot!

Auch Marie schluckte. Ihr Gesicht hatte einen leicht grünlichen Ton angenommen und ihr Bruder hielt sich an ihrer Seite, aus Angst, dass sie ihnen zusammenklappen könnte. John schüttelte nur immer wieder den Kopf. Währenddessen näherte sich Daniel dem Käfig, um zu filmen.

„Die armen Hunde!“, flüsterte Karolina. Wer tat denn hilflosen Tieren so etwas an?

John näherte sich dem Zwinger. Er betrachtete ihn und fluchte leise.

„Was ist?“, erkundigte sich Philipp.

„Ein Schloss“, erklärte John. „Wir müssen es aufbrechen und das dauert einen Moment.“

John nahm seinen Rucksack vom Rücken, öffnete ihn und holte sein Werkzeug heraus. Karolina war beeindruckt. Er schien wirklich an alles gedacht zu haben.

Danach warteten sie. Bei jedem Geräusch, das John verursachte, zuckten sie zusammen. Sie lauschten auf jedes Geräusch aus der Nachbarschaft, aber da blieb alles ruhig. Erleichtert seufzten sie, als John schließlich erklärte, dass er es geschafft hatte.

Die Hunde waren mittlerweile alle wach und beobachteten die Unbekannten. Ein Hund winselte. Die anderen elf verhielten sich ruhig. Vier Hunde hatten sich erhoben und warteten gespannt, als ob sie wussten, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging.

John verstaute sein Werkzeug wieder im Rucksack. Dann öffnete er die Tür des Zwingers und wandte sich an die anderen. „Holt schon mal die Leinen hervor und die Hundekuchen, damit die armen Hunde uns nicht für Feinde halten. Und verhaltet euch ruhig!“, mahnte er.

Leichter gesagt als getan. Denn die Tür stand sperrangelweit offen und die Hunde nutzten plötzlich die Gelegenheit und rannten los. Bellend und zähnefletschend verließen sie ihren Zwinger.

Daniel wimmerte erschrocken und machte einen Schritt zurück. John versuchte, die Tür zuzumachen, bevor auch der letzte Hund den Zwinger verließ, und zähnefletschend ging einer der Hunde auf ihn los. Beruhigend redete er auf den Hund ein und hielt ihm einen Hundekuchen hin. Die Leine hielt er in der anderen Hand. Aber der Hund ließ sich davon nicht täuschen. Er bellte wütend und sprang ihn an.

„He!“, sagte John erschrocken.

Ein anderer Hund näherte sich Daniel und knurrte bedrohlich. Daniel schluckte und fing vor Angst an zu zittern. Als er nur noch einen Meter von ihm entfernt war, wurde Daniel panisch, wandte sich um und rannte los.

„Nicht rennen!“, rief John.

Aber die Ermahnung kam zu spät. Als wäre Daniels Flucht das Startsignal, fingen nun auch die Hunde an zu rennen und wütend zu bellen. Karolina entkam nur knapp den scharfen Zähnen, bevor auch sie entschied, dass es vernünftiger war, die Flucht zu ergreifen.

Nun rannten alle. Das Gebell musste weit zu hören sein. In der Nachbarschaft gingen die Lichter an und auch in dem Haus hinter ihnen wurden Lampen angemacht und Fenster geöffnet. Die Besitzer schienen doch zu Hause zu sein. Doch das scherte Karolina im Moment nur wenig. Sie rannte um ihr Leben. Einem weiteren Hund war sie nur um Millimeter entkommen und sie wusste, dass sie es nie bis zum Tor schaffen würde und alleine konnte sie auch nicht drüberklettern. Was machte sie jetzt nur?

„Wir wollten euch doch helfen, ihr dummen Hunde!"

Ein Baum! Erleichtert sah sie, dass sie den untersten Ast bequem erreichen konnte. Mit letzter Kraft sprintete sie auf ihn zu, ergriff den Ast mit beiden Händen und schwang sich hinauf. In ihrer Todesangst entwickelte sie ungeahnte Kräfte. Sie war bereits oben, bevor der erste Hund den Baum erreicht hatte. Ein zweiter Hund war dicht hinter ihm. Der erste Hund bellte und starrte den Baum herauf. Karolina hatte das Gefühl, er starre ihr direkt in die Augen. Sie zitterte. Für kein Geld der Welt würde sie wieder von diesem Baum herunterklettern, solange diese Bestien dort unten auf sie warteten und knurrten!

In der Ferne hörte sie Sirenengeheul. Sie wusste nicht, wo die anderen waren. Ihre Taschenlampe hatte sie bereits nach wenigen Metern fallen gelassen und so saß sie in fast völliger Dunkelheit auf dem Baum. Das einzige Licht kam vom Haus, das nun vollständig erleuchtet war.

Die Tür öffnete sich und zwei Männern kamen in den Garten und begannen die Hunde wieder einzufangen. Währenddessen kam das Sirenengeheul immer näher, das Eingangstor öffnete sich und zwei Streifenwagen fuhren vor. Die Türen sprangen auf.

Inzwischen hatten die beiden Männer fast alle Hunde wieder eingefangen und brachten sie zurück in den Zwinger. Nur die beiden Hunde, die unter Karolinas Baum Wache hielten, waren noch in Freiheit.

Karolina wartete. Nach einigen Augenblicken glaubte sie zwei Gestalten zu erkennen, die auf sie zukamen. Die eine Gestalt pfiff. Die Hunde zögerten kurz und warfen einen letzten Blick auf Karolina, bevor sie dem Befehl Folge leisteten und zu ihrem Herrchen rannten, der sie an die Leine nahm.

Nun näherte sich die andere Gestalt dem Baum, warf einen Blick rauf, entdeckte Karolina, die immer noch ängstlich auf ihrem Ast hockte, und winkte ihr zu. Sie sollte runterkommen.

Karolina zögerte und warf einen Blick auf die Hunde, die sich entfernten. „Keine Angst!“, beruhigte sie der Mann. „Die Hunde können Ihnen nichts mehr tun.“

Karolina nickte skeptisch. Langsam kletterte sie wieder herunter und wurde sich zum ersten Mal ihrer aufgeschürften Hände und ihrer zerrissenen Jeans bewusst. An ihren Knien klafften Risse. Sie mussten entstanden sein, als Karolina wie eine Irre auf den Baum geklettert war.

Der Mann reichte ihr die Hände und Karolina sprang das letzte Stück hinab. Unsanft kam sie auf dem Boden auf und sank auf die Knie. Was keine gute Idee war. Schmerzerfüllt zuckte sie zusammen.

Der Mann half ihr auf, sah sie ernst an, während er mit der Rechten an den Gürtel griff. Dann packte er ihre Hände.

Klick.

„Scheiße!“, fluchte sie leise.

Königreich zu verschenken

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