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Kapitel 2 – Wut

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Ihr Bericht war wie erwartet nicht gut geworden, ziemlich wirr und unklar. Ärgerlich und noch immer irritiert über Ivoreks widersprüchliches Verhalten packte Mara ihre Sachen zusammen. Nahm ihre Unterjacke und machte sich auf den Weg zu Reik, sie wäre dem Gespräch gern ausgewichen.

Sein Arbeitszimmer bei der Garde. Zu ihrer Überraschung, er konnte nicht wissen, dass sie kam, wurde sie sofort vorgelassen. Stumm verbeugte sie sich, wusste nichts zu sagen. Sie war Reik seit Birkenhain ... seit Davians Tod nicht begegnet, hatte ihn nicht sehen und schon gar nicht mit ihm reden wollen. Ivoreks Vorwürfe hallten ihr durch den Sinn.

Reik erhob sich, ein bisschen zu eilig, blieb dann aber neben dem Schreibtisch, bedeckt mit Papiere und Folianten, stehen. „Gènaija, setzt Euch. Möchtet Ihr Tee?“

„Ja. Gern.“ Es war eine Erleichterung zu sitzen. Nervös rollte sie die Blätter des Berichtes auf ihrem Schoß zusammen, wartete.

Reik sagte nichts. Er war blass, doch konnte das auch am dämmrigen Licht im Zimmer liegen, es brannten nur zwei Kerzen. Seine Augen waren dunkel vor Müdigkeit, die Wangen eingefallen und hager und er hatte sich offenbar schon längere Zeit nicht rasiert.

„Sehe ich so schlimm aus?“

„Nein.“ Mara biss sich auf die Lippen. „Nur sehr… sehr müde halt. Und elend.“

„Ja. Ihr habt da den Bericht über... “

„Er ist nicht… nicht besonders gut“, erklärte sie eilig. „Es war schwierig, manches … Zauberei lässt sich schwer beschreiben. Und...“, ihre Stimme zitterte. „Was in diesem Gasthaus, in dem Zimmer... das geht niemanden etwas an.“

„Nein, natürlich nicht. Gènaija, darüber erwarte ich doch keinen Bericht“, gequält blickte Reik sie an.

„Dann ist das alles...“ Sie drückte die Papiere zusammen, reichte sie ihm hastig hinüber; sollten ihre Hände doch zittern. „Vielleicht ergibt das mit Hauptmann Ivoreks und Hauptmann Gettis Bericht ein... ein ungefähres Bild.“

Mit weichen Knien stand Mara auf und blickte Reik ins Gesicht. „Wenn Ihr… Ich werde selbstverständlich als Eure Beraterin zurücktreten, ich…“

„Nein!“

Erschrocken fuhr sie zusammen. „Wie?“

Und er stürzte sich geradezu auf sie, packte sie an den Ellenbogen. „Das wirst du nicht. Ich lehne deinen Rücktritt ab, Gènaija.“ Glitt dann ihre Arme hinab und umfasste, nicht mehr ganz so fest, ihre Hände. „Ich brauche dich.“

Reik verzog das Gesicht zu einem matten Lächeln. „Setz dich wieder. Der Tee sollte gleich kommen, und du… Wir sollten etwas essen, du kannst dich nicht nur von Branntwein ernähren.“

Unvermittelt ließ er sie los, trat zum Fenster. „Ich habe dich weinen gehört. In Kirjat, zwei Nächte, nachdem wir… Ich habe dein verzweifeltes Schreien gehört, aber ich… Ich kam mir vor wie ein Feigling, wie ein Versager, ein beschissenes Gefühl, aber ich hatte nicht die Stärke, zu dir zu kommen. Dir beizustehen. Und ich rede von Liebe!“

Mara wusste nichts zu sagen, fühlte sich überfordert. Sie wollte nicht auch noch seinen Kummer ertragen, wollte ihn nicht so leiden sehen. „Reik, bitte.“

„Es tut mir so entsetzlich Leid, Gènaija, und ich wünschte… Aber ich kann es nicht ungeschehen machen, ich kann nicht. Ich kann es nicht!“ Voller Wut schlug er gegen den Fensterrahmen, sie hörte das Holz knacken, doch die Scheibe barst nicht.

Sie hätte zu ihm gehen, ihm womöglich helfen, ihn trösten können, aber sie tat es nicht, beobachtete ihn bloß stumm. Weil sie ihm die Schuld gab an dem, was geschehen war, am Tod ihres Mannes, weil sie ihm Vorwürfe machte?

Jula hatte ihr, sehr knapp, berichtet, was bei jenem Gefecht geschehen war. Les hatte sich rundweg geweigert, mit ihr darüber zu reden, Sandar würde sie nicht danach fragen und Reik würde ihr den entsprechenden Bericht, den es sicherlich gab, nie zu lesen geben. Und auf einer sehr, sehr tiefen Ebene wusste sie um Davians Verletzungen, wusste von seinem Arm, von… Doch die Göttin, oder der Dämon, in ihr würde dieses Wissen niemals in ihr Bewusstsein, ihren Verstand gelangen lassen, und dafür war sie zutiefst dankbar. Davian würde für sie immer Davian sein.

Sie biss sich auf die Lippen, zwang die Tränen zurück und trat zu Reik, legte die Arme um ihn. Hielt ihn, während er, den Kopf an ihrem Hals vergraben, rau schluchzte, weinte.

Jemand, irgendein Bediensteter, hatte unterdessen das Abendessen aufgetischt, in einer Kanne dampfte frisch gebrühter Rotbuschtee. Reik ließ sie seufzend los und geleitete sie zu einem der Sessel. „Einschenken kannst du dir ja selbst. Und ess etwas, du wirst sonst noch krank.“

„Und du?“

Nachdenklich musterte er sie, nahm den Bericht vom Schreibtisch und blätterte ihn flüchtig durch. Las hier und da, bevor er ihn zurücklegte. „Da steht alles drin?“

„Ja.“ Vage hob sie die Achseln. „So gut es mir möglich war.“

„Ich danke dir. Wie geht es deinem Bein, dem Knie? Roderick erzählte, du hättest dich verletzt.“

„Das…“ Mara konnte sich kaum an den Sturz erinnern. „Manchmal tut es noch ziemlich weh, aber ... Ich habe heute einige Übungen gemacht.“

„Gut. Übertreib es nur nicht.“

„Nein, dazu ist in der Beraterunterkunft … Es sind nur ein paar einfache Bewegungsübungen gewesen.“

„Verstehe.“ Reik trank einen Schluck Tee und betrachtete sie dabei eindringlich. „Nachdem wir gemeinsam gekämpft … Vielleicht sollten wir mal zusammen trainieren.“

„Hältst du das für eine gute Idee?“

„Ja.“ Reik lächelte flüchtig. „Oder traust du dir das nicht zu?“

„Doch, nur…“

„Morgen früh in der Übungshalle, Gerol wird dich abholen.“

Am Morgen dann war der Schwertmeister Jon da. Er unterhielt sich leise mit Reik und nickte Mara freundlich zu, als sie, umgekleidet, einen der kleineren Räume der Übungshalle betrat.

„Guten Morgen, Mara. Wie geht ’s deinem kleinen Jungen?“

„Gut, Jurei ist… sehr munter, er will sich immer bewegen, läuft sogar schon ein paar tapsige Schritte. Er versucht zu krabbeln, irgendwie vorwärts zu kommen, schafft es aber noch nicht richtig. Dann ächzt und stöhnt er und müht sich gewaltig und ist ganz erstaunt, wenn er sich plötzlich nach hinten schiebt, bewegt. Obwohl er doch nach vorne will.“

„Ja, das … Der Kleine ist jetzt ein halbes Jahr alt?“

„Aye.“

„Dann fängt er sehr früh an. Janek hat erst gekrabbelt, da konnte er längst sitzen, etwa mit einem Jahr. Falls mich meine Erinnerung nicht trügt, was ich nicht ausschließen will, vielleicht denke ich da an Marai…“ Jon fuhr sich über den Bart, noch immer sorgfältig gestutzt, eisgrau. „Nein, ich glaube nicht. Bist du soweit? Du kennst ja bestimmt noch den Ablauf.“

„Laufen.“

„Genau, fünf Runden um den Übungsplatz, mittleres Tempo. Das gilt auch für dich, Junge.“ Womit er Reik meinte, der zumindest ein bisschen ausgeschlafener schien, nur kurz das Gesicht verzog. „Und anschließend fünf Durchgänge Basisübungen, hier in der Halle. Ist besser für dein Bein, mein Mädchen. Aber ordentlich, ich will keine Schlampereien sehen. Was steht ihr noch hier? Ihr sollt laufen.“

Aus den Augenwinkeln sah Mara, wie Gerol mehr schlecht als recht ein Grinsen unterdrückte. Jon bemerkte es ebenfalls. „Ihr könnt gern mitlaufen, Gardist, täte Euch sicherlich auch nicht schlecht…“

Was Jon noch grummelte, hörte Mara nicht, sie war bereits auf dem Weg aus der Halle, lief neben Reik her. Spürte die Steifheit in ihren Gliedern, in ihrem linken Bein, und biss die Zähne zusammen.

„Geht es mit deinem Bein?“

„Hm, es tut halt noch weh.“

„Wir können auch langsamer…“

„Das würde Jon merken. Nein, es geht schon, fünf Runden schaffe ich.“

Die letzten zwei waren sogar leichter, die Muskeln, nicht nur in ihren Beinen, hatten sich gelockert und wurden geschmeidiger. Sie bewegte sich gleichmäßiger und hinkte nicht mehr so stark.

In der Halle stellten sie sich für die Basisübungen auf, Gerol war noch draußen. Er musste wohl fünf Runden zusätzlich laufen.

Reik begann zu zählen. Sehr langsam, aus Rücksicht auf sie vermutlich, Jon zog nur skeptisch die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Noch nicht, denn beim dritten Durchgang unterbrach er. „Ganz nett, ihr könnt das, doch bei dem Tempo stehen wir morgen noch hier. Da der Gardist jetzt wieder bei uns ist …“ Jon nickte Gerol zu. „… übernimmt er das Zählen. Doppeltes Tempo.“

Mit grimmiger Miene beobachtete Jon sie und ließ sie den fünften Durchgang wiederholen. „Halt dich diesmal aufrechter, Junge, mehr Spannung. Und Mara, versuch nicht, das linke Bein zu entlasten, du verkrampfst nur, stell dich richtig drauf. Dann stimmt auch dein Gleichgewicht wieder.“

Mara verzog das Gesicht, Jon hatte leicht reden, ihr taten Hüfte und Knie weh. Aber auch nicht wesentlich mehr, wenn sie das Bein mit dem gesamten Gewicht belastete. Sie absolvierten den fünften Durchgang noch einmal, es ging recht gut. Besser, als sie es nach der langen Pause erwartet hatte, richtig zufrieden war sie trotzdem nicht. Ihr fehlte die Leichtigkeit, dieses selbstverständliche, wie schwebende zeitlose Gefühl; sie war nicht locker, nicht entspannt. War an Reik neben sich nicht gewöhnt.

Jon legte ihr die Hand auf die Schulter. „Es kommt wieder, das richtige Gefühl. Du hast es gehabt und du wirst es wieder haben.“

„Ich weiß nicht, ich…“ Niedergeschlagen wischte sie sich die schweißnassen Haare aus dem Gesicht. „Es fühlte sich nicht richtig an, so mühsam. Ich war schlecht.“

„Doch, glaub’ mir, es kommt wieder. Du hast eine Menge durchgemacht in letzter Zeit, du hast dich verändert, aber du hast es nicht verlernt, das kannst du gar nicht. Es ist Teil von dir.“

Doch sie schüttelte nur den Kopf und Jon nahm seine Hand weg, nickte Reik zu. „Ein paar Angriffs- und Verteidigungstechniken. Mit dem Stock, ist mir lieber, als wenn ihr zwei mit Schwertern aufeinander losgeht.“

Irritiert musterte sie Jon, der ihr Stock und Trainingsweste reichte. „Wir zwei…“

„Ja. Da brodeln zu viele Gefühle in euch, in jedem von euch.“

Rau lachte Reik auf, zog sich seine Weste über und packte den Stock. „Na dann, Stockkampf.“

„Nicht so eilig.“ Jon stellte sich zwischen sie. „Ich sagte, Angriffs- und Verteidigungstechniken. Du wendest Mara den Rücken zu, sie greift dich, auf mein Kommando hin, an. Und setz den Helm auf, Junge, du brauchst deinen Kopf noch.“

Reik brummte unwillig, setzte aber den Helm auf. „Und welche Art Angriff?“

„Wirst du dann merken, ich schau ’s mir erstmal an. Dreh dich um.“

Jon sah sie an. „Du weißt, was du zu tun hast? Ein Angriff, er wehrt ab, und ich unterbreche.“

„Ja, versteh’ schon. Ich kenne das, allerdings anders herum und mit dem Schwert, Davian hat das mit mir…“

Sie beendete den Satz nicht, setzte den Helm auf. Reik stand mit dem Rücken zu ihr, locker in den Knien, vielleicht ein bisschen zu hoch, den Stock in beiden Händen haltend. Er war Rechtshänder, rechts schneller, er würde, jedenfalls das erste Mal, über rechts drehen. Sie nickte Jon zu.

„Angriff.“

Reik drehte über rechts, wahnsinnig schnell, und sie zielte tief, auf sein rechtes Knie, traf mit Wucht und hörte ihn mit den Zähnen knirschen. Seine Abwehr, der Hieb, etwas zu hoch – sie hatte einen weiten Schritt nach rechts vorn gemacht –, zischte über sie hinweg.

„Und aufhören.“

Jon zog Mara am Arm zurück, bevor sie mit Reik zusammenstieß. „Gar nicht mal schlecht, mein Mädchen. Wie hättest du von da aus weiter gemacht?“

„In den Mann, Stoß mit links gegen seine Kehle.“

Reik schnaufte nur verächtlich, rieb sein Knie.

Jon zog die Augenbrauen hoch. „Ziemlich riskant, ich bezweifle ernsthaft, ob du durchgekommen wärst. Warum der Angriff?“

„Weil… Ähm, ich vermutete, er würde über rechts drehen, er bevorzugt die rechte Seite, und… er ist deutlich größer als ich, stand recht hoch. Und er weiß natürlich, dass ich Linkshänder bin. Außerdem wollte ich mich nicht auf einen langen Schlagwechsel einlassen, er ist viel stärker und ich nicht besonders gut in Form.“

„Dafür schlägst du ziemlich hart zu.“ Reik drehte sich wieder um. „Also, noch mal.“

Auf Jons Signal führte Mara genau den gleichen Angriff noch einmal durch, traf wieder Reiks Knie, etwas tiefer, und spürte den Luftzug seines Hiebes. Er fluchte. „Verdammt, du kannst doch nicht…“

„Doch. Genau deswegen.“

Jon unterdrückte sein Grinsen. „Interessant, sehr interessant. Damit hätte ich allerdings auch nicht gerechnet, zumal nach deiner langen Erklärung zuvor. Du bist hinterhältig, mein Mädchen. Junge, willst du Arm- und Beinschienen?“

„Nein.“ Grimmig wandte Reik ihnen den Rücken zu, stand deutlich tiefer als zuvor.

„Angriff.“

Ein hochangesetzter, schneller Schlag direkt auf den Kopf. Reik hatte wieder über rechts gedreht, seine Abwehr kam viel zu spät, Mara hatte sich schon zurückgezogen, war lasch. Dafür fluchte er umso lauter, knurrte unverständlich.

„Angriff.“

Endlich drehte er über links. Direkt in ihren geraden Stoß, auf den Magen gezielt, hinein, und wieder kam seine Abwehr sehr spät, lenkte gerade noch ihren zweiten, seitlichen Hieb ab.

Jon schüttelte nur den Kopf. „Reik, Junge, was ist los mit dir? Du bist überhaupt nicht bei der Sache. Noch mal fünf Runden um den Übungsplatz, damit du einen klaren Kopf bekommst.“

Etwas zu eilig griff Jon nach ihrem Arm. „Du nicht, Mara, ich wollt’ noch …“ Er wartete, bis Reik und Gerol der Raum verlassen hatten. „Ich möchte deine Leistung nicht schmälern, aber ich habe ihn selten so schlecht gesehen. Du hingegen warst erstaunlich gut, immer reichlich riskant, aber … Dein Mann wäre stolz auf dich gewesen.“

Betreten senkte Mara den Kopf, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Gesicht. „Das war doch nichts, nur ein paar…“

„Du hast ihn jedes Mal überrumpelt, Mara, das ist nicht nichts.“

„Aber in einem ernsthaften Kampf hätte ich gegen ihn keine Chance, er ist viel besser als ich, stärker sowieso.“

„Weshalb es ihn umso mehr ärgert, dass du ihn getroffen hast. Er wird nicht oft getroffen.“

Und dann auch noch von ihr. Vermutlich sollte sie froh sein, dass Jon die Sache abgebrochen hatte.

„Was macht dein Bein jetzt?“

„Fühlt sich ganz gut an. Aber morgen wird mir alles wehtun.“

„Nimm ein heißes Bad, das hilft. Und morgen trainierst du wieder.“

* * *

Hiron sprach nicht mehr vom Heiraten, er sprach überhaupt nicht mehr viel mit ihr. Selten einmal mit seiner sehr viel jüngeren Schwester Indira, ein lebhaftes und sehr aufgewecktes, hübsches junges Mädchen, höchstens noch mit seinem Sohn Mavi, aber auch nicht oft. Nuri verstand es nicht, sie wusste nicht, was vorging! Einige Monate hatte sie tatsächlich gehofft, sie hatte begonnen sich einzuleben, sich hier wohl zu fühlen, doch jetzt… Ihre Angst wuchs. Der Krieg lief offenbar nicht, oder nicht mehr, gut für die manduranische Seite, soweit sie Indira, ihre Bemerkungen richtig verstanden hatte. Das Mädchen redete furchtbar schnell, zu schnell für sie, und oft war es mit hunderterlei anderen Dingen beschäftigt, hatte gar keine Zeit für ihre dummen Fragen.

Nuri fühlte sich zunehmend einsam, ungewollt, fehl am Platz, und wäre nicht Mavi gewesen… Aber der war ein kleiner Junge, der Furchtbares erlebt hatte, mit ihm konnte sie unmöglich über ihre Sorgen und Ängste reden. Manchmal, in letzter Zeit immer öfter dachte sie an diese wundervolle Frau, Mara. Manchmal wünschte sie sich einfach eine Freundin, eine gute Freundin, mit der sie über alles reden, mit der sie ihre Geheimnisse – nicht, dass sie viele hatte –, ihre Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen teilen könnte. Doch welche Manduranerin wollte schon etwas mit einer Kalimatan zu tun haben. Niedergeschlagen schaute sie auf den dunklen, kahlen Garten hinaus, genauso trübsinnig wie ihre Gedanken. Das Grün der Bäume und die üppigen, wild wuchernden Pflanzen fehlten ihr.

Als es an der Zimmertür klopfte, wischte sie hastig die Tränen fort, bevor sie öffnete. „Hiron? Du… Ist etwas passiert?“

„Ich hoffe doch, nicht. Kann ich reinkommen?“

„Ja, ich… Natürlich kannst du reinkommen, immer.“ Sie lachte hilflos, brach aber gleich wieder ab. „Das weißt du doch. Was kann ich für dich tun?“

Er musterte sie ernst, berührte zögernd ihren Arm. „Wohl eher ich für dich. Wir müssen reden, Nuri.“

* * *

Manchmal wunderte Claris sich selbst. Er kam zurecht, er dachte nicht mehr so oft… musste nicht mehr ständig daran denken. Was geschehen war, seine Gefangenschaft, die Misshandlungen. Ja, es war schrecklich, schlimm, aber es war Vergangenheit. Unabänderlich Teil von ihm, doch eben nur ein Teil, es machte ihn nicht aus; er, Claris, war weit mehr.

Schnaubend schüttelte er den Kopf und zog die schwere Weste über, hakte den Knüppel an den Gürtel. Das unterarmlange Ding war erstaunlich handlich und die einzige offizielle Waffe der Mitglieder der Stadtwache, trotzdem natürlich jeder ein Schwert mit sich führte. Tatsächlich trugen sie, anders als die Festungs- und Torwachen, keine Uniformen, waren lediglich, so seine Vermutung, das zivile Anhängsel der Armee. Aber irgendwie gefiel ihm das, war das der Grund, warum er sich gleich nach seiner Ankunft in der Hauptstadt bei der Stadtwache gemeldet hatte. Er teilte sich lieber mit irgendeinem anderen Wächter – der Mann war ihm völlig fremd und mehr als doppelt so alt wie er – eine kleine Kammer in dem verwinkelten Gebäude am großen Markt, als bei seinem Großvater im Palast unterzukommen. Dort wäre er auf Jahre hinaus der bedauernswerte, arme Junge, dem nichts zuzumuten, aber auch nichts zuzutrauen war; ein Opfer. Aber hier in der Stadtwache konnte er etwas tun, war lediglich einer von vielen, nichts Besonderes, und wurde weitestgehend in Ruhe gelassen. Ein paar wussten wohl Bescheid, über ihn, seine Geschichte, Karista sowieso, aber niemand stellte Fragen.

Na ja, fast, als er in einer der allerersten Nächte schreiend aus einem Alptraum erwacht war, hatte ihn sein Zimmergenosse Elias einfach wortlos in den Arm genommen. Claris hatte es verblüffend angenehm empfunden, dem Mann körperlich so nahe zu sein, gar nicht peinlich oder unpassend.

„Du sagst, wenn dir was nicht gefällt, hm?“

Claris hatte gar nichts dagegen gehabt, er störte sich weder an Elias‘ anfangs etwas rüden Küssen noch an seinen vorsichtigen Streicheleinheiten. Im Gegenteil. Die Zärtlichkeiten halfen ihm einzuschlafen und die Schrecken seiner Alpträume zu bändigen. Beinah schon begann er sich auf die Nächte und eine neuerliche Begegnung zu freuen.

Meist, so auch heute, war er mit Janek und Josch auf Patrouille – wie immer zu dritt. Die beiden, nur wenig älter als er selbst, waren lustig, stets gutgelaunt, und Janek zudem ein hervorragender Schwertkämpfer. Nicht allzu verwunderlich, Janeks Vater war der Schwertmeister Jon.

„Wenn wir zum Tempel kommen, triffst du deine Freundin wieder“, zog Janek ihn auf, als sie durch die Straßen schlenderten.

„Bitte?“ Claris schüttelte irritiert den Kopf.

„Na, die Kleine“, führte der beneidenswert attraktive junge Bursche grienend aus. „Das Mädchen, das Heilerin werden will.“

„Oh, Toni?“ Er musste selbst grinsen. „Die ist doch nicht meine Freundin.“

„Scheint aber sehr von dir angetan zu sein.“

„Was weiß ich“, Claris zuckte die Achseln. „Sie hat dieser Heilerin in den Häusern geholfen, als ich… als wir hier ankamen.“ In Gedanken korrigierte er sich, genau genommen hatte er das Mädchen einige Zeit später getroffen, als er nochmals die Häuser aufsuchte.

Josch schlug in die gleiche Kerbe. „Offensichtlich hast du bei ihr einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sie kennt deinen Namen.“

„Weil ich mich vorgestellt habe“, grummelte Claris, froh, dass er bereits dämmerte, denn er wurde rot. „Das macht man so.“

„Wenn man Mädchen kennenlernen will, ja?“, lachte Janek, der allerdings derjenige war, der ständig mit einem anderen Mädchen abzog.

„Nein, wenn man… Ach, vergiss es“, schimpfte er. Vor ihnen lag der steile Weg den Hügel zum Tempel hinauf. „Müssen wir da überhaupt hoch?“

„Ist Teil der Runde“, erwiderte Janek lapidar. „Und das letzte Mal gab es Tee und Gebäck für jeden.“

„Hast du schon wieder Hunger?“

„Ihr nicht?“ Janek lachte und schritt schneller aus.

Josch musterte Claris, jetzt ernster. „Du magst sie, oder?“

„Wenn ich das Mädchen mal genauer kennenlerne, werde ich deine Frage beantworten.“ Er legte einen kurzen Spurt ein, um zu Janek aufzuschließen, der am südwestlichen Eingang zum Tempelbezirk auf sie wartete.

* * *

Wortlos stand Ivorek in der Tür des Speisezimmers, nickte den Anwesenden knapp zu.

„Hauptmann Ivorek, Ihr…“, sprach Mara ihn überrascht an. „Ich habe gar nicht mit Euch… Ich meine, nicht jetzt.“

„Ihr wolltet, dass ich komme, Mara. Soll ich es mal versuchen?“ Er deutete auf Jurei, den sie und Iska mit dünnem Haferbrei zu füttern versuchten.

Es war bisher beim Versuch geblieben, zum großen Vergnügen von Tarim, Iskas Sohn, der jede erfolgreiche Abwehr ihres Sohns mit Jubel und lautem Gelächter quittierte. Jurei, sein Hemdchen und der Tisch waren völlig verschmiert.

Iska musterte Ivorek skeptisch. „Ihr wollt… Könnt Ihr das denn, Hauptmann? Ein kleines Kind füttern?“

Ivorek zuckte nur die Achseln. „Bei Lauren, meinem Neffen, hat ’s meist ganz gut geklappt. Darf ich?“ Fragend schaute er Mara an, ein Lächeln auf den Lippen und mehr noch in den Augen.

„Oh, natürlich. Setzt Euch bitte.“ Mit ausgestreckten Armen reichte sie ihm ihren dreckigen Sohn über den Tisch. „Aber beschwert Euch nicht, wenn Ihr hinterher genauso ausseht wie Jurei.“

„Ich glaub’, ich bin ein bisschen größer.“ Ivorek setzte sich Jurei aufs Bein, wischte ihm sorgsam die Händchen ab, wobei er etwas davon murmelte, dass man sich nicht mit dreckigen Händen an den Tisch setzte. Und dann fütterte er ihn, ruhig, ohne große Umstände, Jurei aß sogar ein paar Löffel voll.

„Woher kannst du das so gut?“

Er sah kurz auf, verzichtete diesmal darauf, mit den Schultern zu zucken, und gab Jurei noch einen Kanten Brot zum Kauen. „Hier, zum Üben. Ich sagte ja, ich hab’ Lauren häufig gefüttert, Keisa … nur ein paar Mal. Du hast wahrscheinlich die ganze Zeit mit dem Jungen geredet, dass er brav essen soll, um groß und stark zu werden, wie lecker doch der Haferbrei ist und so weiter. Und er hat dir, oder auch Iska, zugehört, euren Stimmen gelauscht, weil deine Stimme… Sie ist wichtig für ihn, gibt ihm Sicherheit. Und so hat er dir aufmerksam zugehört, aber nicht gegessen, weil er … weiß nicht, das Ganze für ein Spiel hielt. Ich hab’ ihm bloß gezeigt, dass er den Mund aufmachen soll, und ihm dann einen Löffel Brei gegeben. Fand er gut, nicht wahr, kleiner Mann?“

Mit großen Augen sah Jurei Ivorek an, hielt ihm den aufgeweichten Brotknust entgegen.

„Is’ für dich, Kleiner. Willst du noch mehr?“ Er nahm ein weiteres Stückchen Brot, tunkte es in die Suppe, die noch auf dem Tisch stand, und reichte es Jurei. „Schmeckt spannender als Haferbrei, probier‘ mal.“

Andächtig lutschte Jurei an dem Brot, ließ Ivorek nicht aus den Augen.

„Gut, hm? Aber das reicht, sonst bekommst du Bauchweh. Hab’ ich euch beim Abendessen gestört? Ich wusste nicht genau, wann ich kommen sollte, und zu spät …“

Mara wusste sehr genau, was er nicht aussprach. Später hätte er sie womöglich wieder in irgendeiner Spelunke suchen müssen. „Nein. Wenn du möchtest, kannst du auch noch etwas…“

„Ich hab’ schon, danke. Aber ess du… esst ihr in Ruhe zu Ende.“

Iska rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum, räusperte sich. „Eine Tasse Tee? Ich könnte welchen…“

„Später vielleicht“, wehrte Mara ab.

„Oh. Nun ja, dann … Soll ich noch…“

„Ich räume das schon weg, Iska, danke.“

„Dann…“ Iska war irritiert und blickte Ivorek misstrauisch an. „Komm, Tarim, Zeit fürs Bett. Soll ich den Kleinen gleich mitnehmen?“

„Nein, er scheint sich hier ja ganz wohl zu fühlen. Ich bringe ihn später zu Euch.“

„Natürlich, wie Ihr wollt. Ihr sagt mir aber Bescheid, Mara, wenn noch was sein sollte?“

„Sicher. Gute Nacht, Iska.“

„Auch Euch eine gute Nacht, Mara.“ Sie knickste tatsächlich – Mara war nicht klar, ob vor ihr oder Ivorek – und schloss sorgfältig die Tür hinter sich und ihrem Sohn.

Fragend sah Ivorek sie an. „Dein Sohn schläft nicht bei dir?“

„Iska ist seine Amme, sie stillt ihn manchmal noch nachts und…“

„Und du verbringst die Nächte nicht in deinem Bett“, unterbrach er sie.

Mara antwortete nicht, stand auf und räumte die Teller zusammen, den Tisch ab, und vermied es, Ivorek auch nur anzusehen.

„Mara …“

„Was?! Du weißt es doch, du bist mir schließlich… Ich schlafe nicht… Es ist albern, ich weiß, aber ich kann nicht in diesem Bett schlafen.“

„Wo dann? Ich meine, irgendwo musst du schließlich schlafen.“

„Im…“ Sie biss sich auf die Lippen, kam sich furchtbar dumm und kindisch vor. „Dort, im Arbeitszimmer. Und sieh mich nicht so mitleidig an, das… Gib ihn mir.“ Auffordernd streckte sie die Hände nach Jurei aus, doch Ivorek stand einfach auf, ihren Sohn auf dem Arm. „Wo?“

„Ivorek, hör auf damit, bitte. Ich kann ihn durchaus selbst…“

„Und wenn ich es gern möchte?“

„Warum? Er ist mein Sohn, ich…“

„Ich nehme ihn dir doch nicht weg. Ich möchte bloß… Mara, du hast mich gebeten zu kommen, und jetzt bist du derart feindselig, dass ich… Verdammt, ich will dir doch nur helfen, ist das so schwer zu verstehen?!“

„Aber du bestimmst über mich! Du sagst mir, was ich alles falsch mache, du zeigst mir, wie ich es besser, richtig mache, wie ich meinen Sohn behandeln und versorgen soll, dabei… Verdammt noch mal, du kennst mich doch überhaupt nicht, du weißt nichts über mich, über die Gründe für mein Handeln, du kommst einfach her und sagst mir, was ich tun soll!“

„So rumschreien und deinen Sohn erschrecken bestimmt nicht. Dann geh‘ ich halt. Wenn du dich benehmen willst wie eine Irre, bitte, tu es. Wenn du dich erbärmlich fühlen und im Selbstmitleid suhlen willst, meinetwegen, deine Sache. Wenn du dich jede Nacht mit irgendwelchen Dreckskerlen besaufen willst, die dann über dich herfallen, dich missbrauchen und vergewaltigen, und das wird passieren, dann erwarte aber bitte nicht, dass ich noch einmal komme und dich da raushole! Dass ich daneben stehe!“

„Dann hau doch ab, verschwinde! Ich brauche dich nicht, Ivorek, ich brauche kein selbstgerechtes Arschloch, das alles besser weiß und mir sagt, wie ich sein soll!“

„Dein letztes Wort?“

Mara starrte ihn nur an, in sein vor Wut bleiches Gesicht, heulte. „Geh.“

„Wie du willst. Deinen Sohn bringe ich zu Iska. Du weißt ja nicht mehr…“ Die Tür schlug hinter ihm ins Schloss.

Weinend und schluchzend sah sie auf die geschlossene Tür, endlos. Unfähig, sich zu rühren oder irgendetwas zu tun. Sah nur auf die Tür, blind vor Tränen, bis sie diese gar nicht mehr sah, bis sie zu etwas anderem…

Bevor sie schreien konnte, stieß Ivorek die Tür wieder auf, riss Mara an sich und küsste sie wüst. Bedeckte ihr Gesicht, ihren Hals mit Küssen, die Finger grob in ihr Haar gekrallt. „Ich sollte dich wirklich…“ Seine leise Stimme war heiser vor Wut.

„Ich hasse dich!“

„Was glaubst du, was ich tue?“ Immer wieder küsste er sie, wild, grob, drängte sie zurück, durchs Arbeitszimmer, schleppte sie mit sich wie ein Raubtier seine Beute und stieß sie aufs Bett, zerrte sich Jacke und Hemd vom Leib. „Du rührst dich nicht!“

„Schlägst du mich jetzt?“

„Scheiße, das hättest du wohl gerne. Du weißt ganz genau…“ Er zerrte ihr die Hose runter, legte sich zu ihr, auf sie. Küsste sie wieder, hemmungslos, wie im Fieber, seine Hände auf ihrem Leib, unter dem Hemd, suchend, forschend, während er sie immer weiter küsste. Ohne Ende, bis sie vor Verlangen zu vergehen glaubte, ihre Finger in sein Fleisch grub und ihm entgegen kam, schier wahnsinnig vor Begierde.

Atemlos keuchend in seinen Armen lag, schweißnass, verheult. Sacht berührte Ivorek ihr Gesicht, ihren Mund. „Du…“ Lachte leise. „Du spinnst, du bist völlig irre. Vorgestern warst du nicht so.“

„Ich war betrunken.“

„Du hast mich auch nicht gebissen.“

„Nein. Wie auch, du warst hinter…“ Sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals.

„Hinter dir, ja. Genauer, in deinem Rücken. Du wirst ja immer noch rot.“

„Wieso immer noch?“

„Weil… na ja, weil… Keine Ahnung. Weil du dich inzwischen an den Gedanken gewöhnt haben solltest.“

„Magst du das?“

„Wie?“

„Na so, auf die Art? Von hinten?“

„Oh, Himmel, du fragst Sachen. Ja. Ja, ich mag es auf die Art. Nicht nur und auch nicht mit jeder Frau…“

„Mit Männern?“

„Mara, das geht dich nichts an.“

„Ich frag ja nur.“

„Nur ist gut. Nein, nicht mit Männern. Ich mache mir nichts aus Männern, und Gerol ist… ich möchte nicht ‚nur’ sagen, doch er ist eben nur ein sehr guter Freund.“

„Er ist auch mit deinem Bruder befreundet.“

„Auch, doch das zwischen den beiden ist eine andere Art Freundschaft.“

Neugierig setzte Mara sich auf. „Wieso machst du da einen Unterschied?“

„Es sind zwei verschiedene Dinge, Freundschaft und Leidenschaft.“

„Ja. Aber auch deine Freundschaft mit Gerol und die deines Bruders mit Gerol?“

„Barlion und Gerol sind nicht nur befreundet, sie sind… Puh, ich weiß nicht, ich bin kein Mann der Worte, kein Gelehrter. Liebende oder so.“

„Liebst du einen guten Freund denn nicht?“

Ungeduldig verzog Ivorek das Gesicht, strich mit den Fingern über ihren Arm. „Doch, schon irgendwie, aber… aber eben nicht so, wie zwei Liebende sich lieben.“

„Ich sehe den Unterschied nicht.“

„Nicht?“ Eindringlich sah er sie an und zog dann, sehr vorsichtig, ihren Kopf zu sich herunter, zog sie eng an sich.

„Du bist nicht gegangen.“

Bedächtig schüttelte Ivorek den Kopf, blickte ihr in die Augen und berührte ihre Lippen. Sie küsste ganz leicht seine Fingerspitzen. „Du… Wir haben es schon wieder getan, obwohl…“

„Ja. Ich mag deinen Mund.“ Er lachte leise, heiser.

„Und?“ Fragend schaute Mara ihm ins Gesicht, in die Augen. Es war zu dunkel im Zimmer, die Farbe zu erkennen, nachtdunkel.

„Ich könnt’… Du bringst mich noch dazu…“

Sie rutschte tiefer, zeichnete eine zarte, silbrige Spur in die Dunkelheit. Hörte ihn stockend atmen, unterdrückt stöhnen, als bisse er sich auf die Lippen. „Tu das nich…“

„Doch.“ Sie mochte den Geruch, den Geschmack seiner Haut.

„Doch…“

* * *

Sandar griff zum Glas, spürte Lucindas Blick auf sich, trank aber trotzdem. Das Glas leer, das zweite oder dritte große Glas Branntwein diesen Abend. Musste sein, nüchtern hielt er es einfach nicht aus, die immer gleichen, kreisenden Gedanken. Er sollte sich zusammenreißen, Lucinda würde nicht dulden, wenn er völlig betrunken … Was für ein verdammter Dreck! Er hätte gar nicht herkommen sollen, doch allein… noch schlimmer, noch viel unerträglicher; er litt wie ein Tier und bedauerte sich selbst.

Lu schnappte sich die bauchige Flasche und stellte sie weg, außerhalb seiner Reichweite. „Sandar, ich verstehe ja…“

„Nein, das verstehst du nicht, Lu, in hundert Jahren nicht.“

„Doch, ich verstehe es. Er war dein Freund, und jetzt trauerst du um ihn. Das ist…“

„Mein Freund, ja.“ Er schnaubte verächtlich. „Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest, einen Scheiß verstehst du. Mein Freund? Ich habe den Mann geliebt, Lu, kapierst du das?! Ich habe ihn geliebt und ich konnte ihm nicht helfen! Als sie ihn nach Birkenhain brachten, war alles längst zu spät, da war er kaum noch bei Bewusstsein. Wir konnten nichts mehr für ihn tun, gar nichts. Das ganze Blut und den Dreck wegwischen, damit sie ihn nicht so zu Gesicht kriegt.“

„Ihr konntet doch gar nicht wissen…“

„Wir wussten, dass sie kommen würde, wussten es alle. Fürchteten ihre Ankunft, ihre Wut, ihren Hass.“

„Aber …“

Spöttisch betrachtete Sandar sie und langte nach ihrem Handgelenk, zog Lucinda neben sich auf die Lehne des Sessels. „Mara ist kein gewöhnlicher Mensch, Lu, hast du das noch immer nicht begriffen? Sie ist eine Göttin, grausam und wundervoll, wunderschön. Ich glaube, selbst Domallen hat insgeheim damit gerechnet, dass sie uns alle töten würde, wenn Davian stirbt.“

„Du…“ Sie sah ihn entsetzt an. „Du wünschst dir, sie hätte es getan?“

Sandar nickte nur wortlos, barg den Kopf an ihrer Brust. Lucinda schien nicht zu wissen, wie sie reagieren sollte, strich hilflos über seinen Kopf, durch sein Haar. „Oh, Sandar …“

* * *

Ivorek betrachtete nachdenklich Mara, beobachtete ihren Schlaf, beobachtete – er hätte ein paar Kerzen entzünden sollen –, wie sie aus den Tiefen des Schlafes empor tauchte und sich im Halbschlaf streckte. Die Augen aufschlug, ihn aufmerksam musterte. „Du …“

„Ich bin immer noch hier. Du hast geschlafen, ein bisschen.“

„Ein bisschen?“ Ihre Stimme war rau vom Schlaf, vom Weinen.

„Nicht lange, das Kaminfeuer ist noch nicht viel weiter runtergebrannt.“

„Darauf achtest du?“

„Ich hatte Zeit.“

„Nicht geschlafen?“

„Nein.“

Mara kniff die Lider zusammen, stemmte sich auf die Ellenbogen. Sie sollte das nicht tun, er bekam schon wieder Lust. „Was ist los?“

„Was los ist? Ich komme zu dir, um mit dir irgendwelche Papiere und Schriftstücke durchzusehen, ich rede viel zu viel, du behandelst mich wie den letzten Dreck und … und wir landen wieder im Bett!“

„Und das gefällt dir nicht.“

„Nein, verdammt. Ich bin doch kein halbwüchsiger Bursche, der sich und seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat!“

Sie nickte schwach. „Dann solltest du vielleicht nicht mehr kommen. Wenn es dir so zuwider ist.“

„Das habe ich nicht… Du verstehst mich absichtlich falsch.“ Er stieg eilig aus dem Bett und zog sich Hose und Hemd über, er würde nicht noch einmal … „Wo hast du die Papiere?“

„Oh, ich …“ Sie rieb sich die Stirn, setzte sich auf und blickte sich einen Moment suchend um, bevor sie aus dem Bett rutschte und in einen weiten Morgenmantel schlüpfte, glühend rot im schwachen, flackernden Licht des Kaminfeuers. Und obwohl er wusste, dass er es nicht tun sollte, dass er es bereuen würde, betrachtete er sie genau, ihren schlanken, biegsamen Körper, so begehrenswert und so verletzlich. Beute. Genau das, sie war Beute und er wollte sie haben, besitzen, immer wieder, ballte die Fäuste und wandte den Blick ab.

„Nebenan, im Arbeitszimmer.“ Sie ging voran und entzündete mittels einer unauffälligen Handbewegung einige Kerzen der Leuchter auf Schreibtisch und Kaminsims; ein netter Trick.

„Hier, die Mappe ist…“

Er packte rüde ihren Arm, zog sie vor sich. Musterte ihr Gesicht, ihre ebenmäßigen Gesichtszüge und musste schlucken. „Du weißt, was in mir vorgeht, eben gerade, jetzt.“

Mara erwiderte kühl seinen Blick, entzog ihm sacht ihren Arm. „Das ist nichts Ungewöhnliches, Ivorek, das geht in vielen Männern vor, wenn sie eine Frau beobachten, die sie … haben wollen. Ihr unterscheidet euch nicht so sehr.“

„Aber du…“

„Ich bemühe mich, nicht auf die Worte, die Begriffe und Bilder in ihrem Geist zu achten.“

„Warum machst du ’s dann, die…“

„Ich kann meine Sinne nicht abstellen.“

„Verstehe.“ Er spürte, wie er rot wurde, wich ihrem Blick aber nicht aus. „Entschuldige.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Nur manches vielleicht nicht ganz so laut denken.“ Achtsam nahm sie eine mit einer roten Kordel verschnürten Mappe auf und reichte sie ihm. „Wenn du willst, kannst du dich an den Schreibtisch setzen. Ich werde… ich setze Tee auf. Magst du Rotbuschtee?“

Bier wäre ihm lieber, aber er nickte, ließ sich auf den sehr bequemen, gepolsterten Stuhl sinken, löste den Knoten und betrachtete die ersten Blätter: Zeichnungen. Ungewöhnlich gute Zeichnungen, von Mara, von Mara und ihrem Sohn, Jurei allein. Etliche Leute, die Davian … näher kannte? Gekannt hatte. Gebäude, Landstriche, die Teilansicht einer Stadt.

Ivorek leckte sich die Lippen, blätterte durch die Zeichnungen und bemerkte, dass Mara zurückgekommen war, ihn unsicher beobachte. „Du hattest die Mappe noch gar nicht … Da sind Bilder, dutzende Zeichnungen, und hier…“ Er las lautlos, stockte und schaute Mara an. „Mara, das sollte ich nicht lesen. Das sind keine Dokumente, sondern Briefe von ihm. Sehr persönliche Briefe.“

„Von…“

„Von deinem Mann, ja. Setz dich… Mara, setz dich hin!“ Er ließ die Mappe einfach fallen, einige Blätter segelten wie fallendes Herbstlaub umher. Eilte zu Mara und hielt sie fest, drückte sie an sich. Spürte ihr Zittern, ihren Herzschlag, ihre Panik. „Ist gut, Mara, ich bin da, ich pass’ auf dich auf, dir passiert nichts. Mara, ich bin bei dir.“

„Er hat das…“ Ihre Stimme wie die eines verängstigten kleinen Kindes. „Für mich?“

„Ja, steht dein Name…“ Auch seine Stimme klang rau, erschüttert; viele der Briefe begannen mit ‚Geliebte’ oder ‚Geliebte Zauberin’. Verdammt zu nah. „Setz dich besser.“

„Es geht schon.“ Sie hatte sich überraschend schnell wieder in der Gewalt und machte sich von ihm los, plötzlich spröde und kühl. Rasch sammelte sie die herumliegenden Papiere ein, ihre Bewegungen sehr … anmutig, ja, doch die präzise Anmut eines Kriegers.

„Ich hörte, du hast heute mit Domallen trainiert?“

„Stockkampf, Jon hat das Training geleitet. Eigentlich nur Basisübungen und ein bisschen Technik, und … Aber Jon hat den Unterricht bald abgebrochen, Reik war wohl ziemlich sauer.“

„Gerol sagte, du hättest ihn, also Domallen, einige Male getroffen.“

„Das ist der Sinn bei einem Angriff, er sollte nur verteidigen.“

„Schon, aber … Schätzchen, Domallen ist ein hervorragender Stockkämpfer, er…“

„Nicht heute Morgen.“

„Was hast du ihm denn gestern erzählt? Du warst doch bei ihm?“

„Es ging vermutlich nicht so sehr um das, was ich gesagt habe, als ich ihm meinen Bericht übergeben habe.“

Er musterte Mara nachdenklich und wollte ihr noch die vier restlichen Zeichnungen geben, die er aufgehoben hatte, hielt jedoch inne. „Verdammt, das… das hier ist großartig. Ich wusste nicht, dass dein Mann so gut zeichnen konnte.“

Ivorek hielt ihr das Blatt hin. „Ist das echt, ich meine …“ Offenbar eine Kneipenszene: Mara auf dem Tisch, die Röcke geschürzt, die Haare wild, tanzend. Gaffende, klatschende Männer um sie herum. Sie strahlte, war wunderschön, verführerisch, begehrenswert, lebendig. „Wo war das?“

„Oh, das… Das hat er gemalt?“ Sie betrachtete das Blatt aufmerksam, ein halbherziges Lächeln huschte über ihre Züge. „Er drohte, die Wirtschaft räumen zu lassen, wenn ich das noch mal mache. Auf dem Tisch tanzen. Bei Mangold, vorletzten Sommer. Der Mann direkt am Tisch ist Len.“

„Aus Domallens Einheit? Deswegen kommt er mir bekannt vor.“ Die anderen Personen waren nicht so genau dargestellt. Weil sie Davian nicht wichtig waren, als Person, für die Szene?

„Und das?“ Wieder in einer Wirtschaft, wieder Mara, in Hemd und Hose, gegürtet mit einem Schwert, die Stiefel dreckig. Nicht so offensichtlich schön, aber sehr sie selbst, entspannt und doch aufmerksam, die Beine auf dem Tisch.

„Erkennst du nicht wieder? Das ist in der ‚Traube‘.“

„Hm, kann hinkommen. Ihr wart zusammen in der ‚Traube‘?“

„Und noch einige andere aus seiner Einheit. Wir haben dort, letzten Herbst, nach den Priestern Ausschau gehalten.“

„Du siehst… Kann ich das behalten? Ich weiß, die Bitte ist…“ Er biss sich auf die Lippen, wurde einmal mehr rot.

Doch Mara zuckte nur die Achseln. „Ja, nimm es.“

„Ich…“

„Es gehört dir, Ivorek.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, eine Hand auf seinem Unterarm, und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hole uns den Tee, der müsste längst gut sein.“

Mara verschwand im Nebenzimmer und ließ ihn mit den Zeichnungen allein. Mit gekreuzten Beinen hockte er sich auf dem Teppich nieder, breitete die Blätter, mehr als zwanzig und von unterschiedlicher Größe, um sich herum aus. Ein paar drehte er allerdings hastig auf die Vorderseite.

Schaute nur kurz auf, als Mara sich, eine Tasse Tee in der Hand, neben ihn kniete. „Die sind faszinierend. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?“

„Nein. Ich bin froh, sie mir nicht allein ansehen zu müssen.“ Einen Moment schwieg sie, ihr Blick schweifte über die Bilder. „Warum hast du die dort umgedreht? Sind die…“

„Du bist nackt, oder fast nackt. Und zwei sind wohl ausschließlich für deine Augen bestimmt. Keine Angst, ich habe nicht genauer hingesehen.“

Argwöhnisch griff sie nach dem kleinen Stapel und betrachtete die Bilder aufmerksam, ihre Miene regungslos, ohne ein Gefühl. Bis sie zum letzten Bild kam, es nur kurz ansah und dann hastig an sich drückte, Lippen und Lider zusammengepresst. Er wusste, welches Bild das war. „Trink einen Schluck, Mara.“

(678. Tag)

Ein Ende des Krieges

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