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Kapitel 3 – Akzeptanz

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Unauffällig beobachtete Iska die Frau am Tisch – schon halbwegs in Schutzkleidung, ein Teil Ausrüstung lag neben ihr auf dem Stuhl –, die abwesend ihren Tee trank. Offenbar ihr gesamtes Frühstück, kein Wunder, dass sie so mager war. „Hättet Ihr noch einen Moment Zeit, Mara?“

Mara schaute auf. „Sicher. Ist etwas mit Jurei, hat er…“

„Nein, nein, dem Kleinen geht ’s gut. Es ist auch nicht…“ Sie gab sich einen Ruck. „Der Kerl, der große Mann, der neulich… gestern Abend bei Euch … ähm…“

„Hauptmann Ivorek?“

„Oh, er ist ein Hauptmann?“ Der Kerl hatte nicht so ausgesehen, nicht wie ein Hauptmann.

„Gardehauptmann, ja. Er kommandiert Hauptmann Leikovs ehemalige Einheit.“

„Aha. Warum?“

Irritiert musterte Mara sie. „Hauptmann Leikov ist in der ersten Schlacht umgekommen, letztes Frühjahr.“

„Oh, den Leikov meint Ihr. Entschuldigt, ich hab’ nicht … Wer führt denn jetzt eigentlich die Einheit Eures Mannes?“

„Vermutlich Les, obwohl der ... und Marten ist noch… Ich habe keine Ahnung, ich müsste Reik fragen. Seine königliche Hoheit, den Winterkönig.“

„Und der weiß es?“

„Sollte er, er ist der Hauptmann der Garde. Das heißt, er kommandiert die gesamte Garde.“

„Und trotzdem ist er nur ein Hauptmann… Gardehauptmann? Wo ist denn… wer soll denn das verstehen?“

Mara zuckte bloß die Achseln und wickelte sich sorgfältig weiter feste Bandagen um die Handgelenke. „Soldaten. In Mandura ist Hauptmann nicht gleich Hauptmann. Ein Hauptmann bei den Fußtruppen steht im Rang unter einem Hauptmann der Grenztruppen, und ein Gardehauptmann…“

„Steht über allen anderen?“

„Nicht ganz, die Kommandeure der einzelnen Truppenteile stehen im Rang über den Gardehauptleuten.“

„Sind das viele?“

„Nein, nur zwei … also, drei, wenn Ihr Reik mitzählt. Aber der ist ohnehin …“ Sie seufzte. „Als Winterkönig ist er der Heerführer der manduranischen Armee, der Kriegsherr von Mandura.“

„Ah, von dem Ausdruck habe ich natürlich schon gehört, Kriegsherr von Mandura. Das klingt sehr eindrucksvoll und gewaltig.“

„Das ist es auch.“ Einen Augenblick schien ein kleines, freudloses Grinsen Maras Lippen zu kräuseln. „Er hat den Oberbefehl über die gesamte Armee, er allein entscheidet.“

„Dann ist ein Gardehauptmann, wie dieser Hauptmann … äh, Ivorek, nicht irgendwer?“

„Nein. Wieso?“

„Und Euer…“

„Davian ist tot, Iska. Was auch immer er war, der Gardist schlechthin, der härteste, fähigste Hauptmann in der Garde, Domallens bester Krieger, ein verdammter Scheißkerl, ein Säufer und Weiberheld, er ist tot.“ Sie sagte es ganz ruhig, fast schon unpersönlich, und blickte ihr dabei herausfordernd ins Gesicht.

„Verzeiht bitte, Mara, ich wollte nicht…“

„Warum fangt Ihr dann davon an? Nur um herauszufinden, wer Ivorek ist, oder was er mir bedeutet? Stellt Ihr Euch vor, Ihr könntet meine Vertraute sein? Warum auch nicht, immerhin stillt Ihr ja meinen Sohn.“

„Ihr… Ich wollte doch nur …“ Oh Götter, sie hatte Angst vor dieser Frau!

„Was wolltet Ihr nur, Iska?“

„Ich wollt’ doch bloß wissen, wer der Kerl ist!“

Mara nickte verhalten, trank ihre Tasse leer. „Ein sehr loyaler Mann und möglicherweise ein Freund. Ich weiß es selbst nicht, so lange kenne … Ivorek brachte mich sicher nach Birkenhain und dann…“ Seufzend fuhr sie sich übers Gesicht. „Ich kann mich kaum an die Zeit danach erinnern, an Kirjat oder wie ich hierher zurückkam, es ist alles … Bruchstückhaft. Ich war einige Tage in Kirjat, im Haus des Statthalters, jedenfalls glaube ich das, und … Hauptmann Ivorek war wohl die ganze Zeit bei mir? Aber ich könnte Euch nicht sagen … Ich weiß nicht einmal, ob es geschneit hat oder geregnet, ob es bitterkalt war oder nicht. Als läge dichter Nebel über meinen Erinnerungen.“

„Es…“ Iska schluckte. „In den Tagen vor der längsten Nacht war es sehr … ungewöhnlich neblig, ich hätt’ mich fast in der Stadt verlaufen, als ich meine Schwester… also, meine Töchter besuchen wollte. Bestimmt sechs oder sieben Tage lang.“

Wieder nickte Mara, stand auf. „Ich muss, ich möchte Jon nicht warten lassen.“

Oder den Winterkönig? Rasch senkte Iska den Kopf, spürte, wie sie rot wurde; er war hier gewesen, bei Mara, aber damals lebte Hauptmann Davian noch. „Ihr nehmt mir meine dumme Fragerei doch nicht übel?“

„Nein. Ihr seid die Amme meines Sohnes, Iska.“

* * *

Dann fing Reik Gènaija doch ab, an einem düsteren, elend kalten Morgen, Schnee hing in der Luft. Allerdings auf dem Gardehof. Und nicht aus privaten Gründen. „Würdest du...“ Er begann neu, erlaubte sich nicht darüber nachzudenken, wo sie um diese Zeit herkam. „Ich hätte Euch gern bei der Befragung der vier dabei, die aus dem Lager der Ostländer auf den südöstlichen Ebenen geflohen sind.“

„Jetzt gleich?“

Reik bestätigte knapp, deutete Richtung Gardeunterkünfte. „Ihr müsst Euch nicht umkleiden, das Treffen ist... eher informell.“ Und sie roch zumindest nicht zu sehr nach Taverne.

„Verstehe. Wer wird noch anwesend sein?“

„Hauptmann Sandar, ein, zwei seiner Leute. Nicht dieser Frick, der ist unterwegs. Männer der Reiterei vom Nordtor beobachten das Lager ja bereits geraume Zeit.“ Höflich geleitete er Gènaija zum Besprechungsraum, trat aber noch nicht ein, sondern wandte sich ihr zu. „Du siehst müde aus.“

„Ihr nicht minder, Hoheit. Ich schlafe nicht gut.“

„Wenn ich...“ Doch ihre Reaktion, ihre mangelnde Reaktion und ihre Miene waren eindeutig, und so küsste er sie nicht. Ließ nur die Hand noch einen Moment auf ihrer Schulter ruhen. „Seine Majestät lässt anfragen, ob Ihr eine Partie Schach mit... gegen ihn spielen würdet, wenn der Schnee in der Mitte des Palasthofes eine Handbreit mehr als Kniehoch liegt?“

Verdutzt blickte sie ihm ins Gesicht, überrascht. „Ernsthaft?“

„Ernsthaft.“ Er verzog keine Miene, öffnete die Tür. „Und keine Bange, es werden höchstens ein paar ältere Herren zuschauen, vielleicht auch Meister Dibistin, wenn der sich kräftig genug fühlt.“

* * *

Sie war... Nein, eigentlich war Karista nicht überrascht, als diese Frau an der Seite seiner Hoheit den vornehmen Besprechungsraum – ein gewaltiger Tisch, um den sich gepolsterte Lehnstühle gruppierten, vor dem großen Kamin bequeme, einladend aussehende üppige Sessel – betrat. Er, ein hoch gewachsener, ungemein attraktiver Mann, nicht viel älter als Karista selbst, trug Uniform, die Frau hingegen ein schmuddeliges, zerrissenes Hemd unter einer alten Jacke aus Lammfell, eine löchrige, dunkel fleckige Hose. Sie ... war die Witwe eines Gardehauptmanns, Magierin, junge Mutter, und ein jeder sprach hinter vorgehaltener Hand über sie; Karista wusste, sie war ungerecht, sie sollte die jüngere Frau bedauern, sie jedenfalls nicht beneiden. Und nicht eifersüchtig sein, auf was denn?

Seine königliche Hoheit, Hauptmann Reik Domallen, forderte sie, Claris und die beiden Frauen auf, am Tisch Platz zu nehmen. Dort saßen bereits drei weitere Uniformierte, der eine, ein großer, wuchtiger Kerl, kam ihr bekannt vor. „Ich danke Euch für Euer Kommen und möchte nochmals betonen, dass dieses Treffen dem Sammeln von Informationen dient, Informationen, auf die ich, wir, dringend angewiesen sind.“ Er sah jeden von ihnen ruhig an. „Was könnt Ihr...“, unterbrach sich und begann anders: „Könnt Ihr abschätzen, wie viele Ostländer sich dort aufhalten, und wisst Ihr, ungefähr, wo sich dieses Lager befindet?“

Unsicher schaute Karista auf die anderen. „Das... also, der zweite Teil ist einfach zu beantworten. Ich war zuvor mal in diesem wirklich kleinen Dorf, nur eine Ansammlung von einigen Höfen, diverse Nebengebäude, das sie ... Maroks Leute jetzt nutzen. Und ihr Heerlager ... die haben schlicht diese ganzen Zelte und alles drum herum in die Landschaft gepflanzt, wirkt reichlich ... provisorisch.“

Zustimmend lächelnd deutete seine Hoheit auf die Karte, die auf dem Tisch ausgebreitet war. „Hat dies Dörfchen auch einen Namen?“

„Ickebach“, murmelte Karista, der Name klang lächerlich, wie ein Witz, doch Isidore und Thais nickten eifrig. Sie suchte nervös auf der Karte herum und deutete dann auf einen Punkt. „Hier, etwa, so ganz genau...“

Er, Domallen, sowie der wuchtige Soldat beugten sich ebenfalls neugierig über die Karte. „Ist schwierig, ich weiß. Und der erste Teil?“

Karista wusste nicht, ob sie sich so einfach wieder setzen durfte, und blieb über den Tisch gelehnt stehen, starrte vor sich. „Wir, also ich, sind ja selten ... draußen gewesen, immer...“ ... in jenem stinkenden Loch von Baracke, eingepfercht mit den anderen. „Und eine so große Zahl von Menschen, Soldaten zu überblicken...“ Sie presste die Lippen zusammen, atmete hörbar aus. „Muss man können.“

Wieder nickte seine Hoheit und sah dann Thais, die auf ihrem Stuhl herumrutschte, auffordernd an. „Ja?“

Die bekam einen hochroten Kopf, rang hektisch die Hände. „Ich bin... weiß ja nicht, ob das... Aber er, also der Unmensch Marok, sagte mal zu dem dürren Kerl, General... äh, komischer Name, Salim oder so, er würde sich freuen, wenn es tatsächlich fünfundzwanzigtausend wären.“ Thais rieb sich das Kinn. „Also haben sie wohl weniger.“

„Wann war das“, fragte der große, wuchtige Mann nach.

Thais zuckte die Achseln, runzelte die Stirn. „Oh, das... schon ‘n bisschen her, im ... Herbst?“

Karista bemerkte den langen Blick, mit dem die Frau Thais bedachte, dann zu Domallen sah. Keinen von ihnen direkt ansprach, als sie mit kühler, sachlicher Stimme fragte: „Und wie viele Frauen, junge Mädchen und Burschen sind... waren in dem Lager, am Anfang, waren es am Tag Eurer Flucht?“

Isidore schlug die Hand vor den Mund, wandte sich mit einem gequälten Laut ab, und Thais schlang eilig die Arme um ihre Freundin. Claris aber legte bedacht die Hände auf den Tisch, begegnete dem Blick der Frau, ein seltsames ... verstörendes Lächeln auf den Lippen. „Ich danke Euch, dass Ihr die Frage stellt, Herrin.“

„Endlich stellt?“

Claris nickte kaum merklich und sah die Frau fest an. „Zu Anfang, kurz nach Dalgena, waren dort mehr als dreißig Frauen und junge Mädchen. Fast alle erheblich jünger als Thais und Isidore, die Gründe ... könnt Ihr Euch vermutlich denken, königliche Hoheit. Fünf, glaube ich, sind sehr schnell ... verstorben. Im Sommer waren es für kurze Zeit sogar mehr als vierzig, doch dieser Kerl, Barreck hat einige... sechs, sieben weggebracht. Angeblich nach Dessum, vielleicht auch bloß nach Kuramai. Als wir gingen, flohen, blieben siebenundzwanzig Frauen und Mädchen zurück, sechs Jungen, davon einer in meinem Alter, die anderen jünger.“ Er ballte die Fäuste, da seine Hände zu zittern begonnen hatten. „Wir... waren mal elf, mit mir.“

* * *

„Wie geht ‘s dir jetzt?“ Karista trödelte gemächlich neben ihm in die Stadt zurück, den schneebedeckten steilen Burgberg hinunter.

„Geht schon“, Claris zuckte die Achseln, fast selbst erstaunt. Doch er ahnte, dass er die nächste Nacht, die nächsten Nächte wieder Alpträume haben würde. Hoffentlich war Elias dann da. Das Gespräch... die Befragung durch Domallen hatte Erinnerungen geweckt, die mühsam verdrängten Bilder wieder aufleben lassen. „Und dir?“

Karista zuckte gleich ihm die Achseln, berührte zaghaft seine Schulter. „Ich kann mir sagen, ich habe etwas getan, wenn’s auch... Aber letztendlich habe ich gehandelt. Das hilft. Ein bisschen.“

Sie gingen einige Schritte schweigend, bis Karista sich mit gerunzelter Stirn zu ihm umwandte. „Was ist das zwischen dir und dieser ... der Magierin? Du hast an ihren Lippen gehangen, als hätt‘ sie dir goldenen Wein und süßen Honig aus dem Feenreich versprochen?“

„Was?“, ungewollt musste er lachen. „Das... kann ich, glaub ich, nicht erklären. Ich würde sofort und ohne zu zögern für sie sterben.“

„Aber sie hat doch nichts, überhaupt nichts...“

„Doch, das hat sie! Außer, gnadenlos unsere Feinde zu töten“, unterbrach er sie sanft. „Sie hat mir etwas gegeben, Karista, etwas... was mich weiterleben lässt. Sie hat mir ein... mein Leben geschenkt. Ich kann... ich darf weiter machen.“

Karista schüttelte den Kopf. „Du hast Recht, ich verstehe es nicht.“

* * *

„Mara!“, seine Majestät kam ihr durch den angenehm warmen, behaglichen und gar nicht kleinen Salon entgegen und ergriff ihre Hände, beugte sich wie zum Kuss darüber. „Mein Kind, wir alle sind zutiefst entsetzt. Hauptmann Davians Tod ist ein schreckliches Unglück, das uns alle bis ins Mark getroffen hat. Er war ein ganz besonderer Mann, Mensch. Und wenn Ihr... Ihr könnt jederzeit zu mir kommen, das wisst Ihr hoffentlich, und ich werde Euch von Herzen gern helfen.“

„Ich weiß es, Majestät, und ich danke Euch.“ Ihre Stimme klang hohl, fast teilnahmslos, als sie ihm antwortete.

Locker ihre Hand haltend führte der König sie tiefer in den Raum, hin zu einer Sitzgruppe nahe dem Kamin. „Ich gehe davon aus, die anwesenden Herren sind Euch bekannt?“

„Das sind sie.“ Mara nickte jedem der Anwesenden grüßend zu: Jon, Turam, Meister Dibistin, der von Roderick begleitet wurde, und hob lediglich die Augenbrauen, als ihr Blick an Ron hängen blieb. „Eine interessante Runde.“

„Meint Ihr?“, schmunzelte der König. „Nehmt Platz. Wein, Branntwein, Punsch, eine Tasse Tee, was darf ich Euch anbieten?“

Sie setzte sich in den Sessel, der dem Kamin mit dem munter prasselnden Feuer am nächsten war, nur zufällig Rons Platz schräg gegenüber stand, zwang sich zu einigen Worten. „Ich habe lange nicht gespielt, also wäre eine Tasse Rotbuschtee angeraten. Wenn ich dann die Revanche ebenso verloren habe, nehme ich allerdings gern ein Glas Wein.“

„Nur dann?“ Der König nickte einem Bediensteten zu und setzte sich gleichfalls. Neben sie, nicht gegenüber, wie sie erwartet hätte; vielleicht war es ihm mit der Partie Schach nicht so eilig. „Ich muss gestehen, ich habe Eure Gesellschaft ein wenig vermisst, meine Liebe. Ich hörte, Euer kleiner Junge kann sogar schon laufen?“

Beinah hätte sie ärgerlich den Mund verzogen, antwortete jedoch. „Nur ein paar wacklige, unsichere Schritte an meiner oder Renkas Hand, meist versucht Jurei zu krabbeln und zu... auf dem Bauch zu rutschen.“ Stumm nahm sie den Tee entgegen, wartete, bis der König zu seinem Glas griff, bevor sie einen Schluck trank.

„Das junge Mädchen, das sich um Euren Sohn kümmert, wenn Ihr verhindert ... oder anderweitig beschäftigt seid?“

„Aye.“

„Soll ich die Herren wegschicken?“, eindringlich blickte der König sie an.

„Majestät...“, sie schluckte, senkte hastig den Blick. „Ich, ich fürchte, ich verstehe nicht...“

„Ihr müsstet Euch nicht so angestrengt bemühen, höflich oder gar nett zu sein. Wir wären ganz allein, Mara, trinken zwei, drei Gläser, oder auch nicht, vielleicht spielen wir sogar eine Partie Schach. Oder lassen es. Und wenn Ihr das wollt, reden wir, nur wir zwei, über Euren Mann. Den Gardehauptmann Davian von Scheat.“

„Verzeiht“, Mara wäre fast aufgesprungen, biss sich auf die Lippen. „Es tut mir Leid, Euer Majestät, ich...“

Doch seine Majestät hatte sich weit vorgebeugt, die Hand schwer auf ihren Unterarm gelegt. „Nein, Mara, mir tut es sehr, sehr leid, und meine Worte eingangs klangen vielleicht allzu... beliebig. Zu wenig persönlich. Doch ich fühle mit Euch, mein Kind, und ich kann gar nicht sagen ... Ich bin traurig und erschüttert und sein... Davians Tod ist eine Katastrophe.“ Er streichelte gutmütig ihre Hand, verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „War eine ein wenig unbedachte Idee von mir, das mit der Schachpartie?“

Sie erwiderte sein Lächeln. „Das würde ich gar nicht... Also, ich würde gern spielen. Allerdings habe ich tatsächlich schon lange nicht mehr. Gespielt.“

Der König drückte ihre Hand an seine Lippen. „Das erhöht dann immerhin meine Chancen.“

Ron hatte offenbar auf dem Flur unweit des königlichen Wohnsalons auf sie gewartet und trat Mara zögernd entgegen. „Darf ich Euch... dich noch begleiten?“

„Ist ja nur ein kurzer Weg.“

„Passt doch. Dann wird das peinliche, unangenehme Schweigen nicht so lang. Unerträglich.“

„Wenn du nicht reden willst ... Ich habe nichts dagegen zu schweigen.“

Ein sprödes Lächeln huschte über Rons Züge, bevor er locker den Arm um ihre Schultern legte. „Ich könnt‘ mich ja nur wiederholen“, murmelte er. „Dir all die leeren, hohlen Sätze sagen, die du schon viel zu oft gehört hast. Und schlimmer, ich bin... war dein Liebhaber, doch jetzt ... Ich höre geradezu, was sie denken, und möchte ihnen nur ins Gesicht springen, immer und immer wieder zuschlagen.“

„Ron...“

„Ich bin nicht der Gewinner, ich profitiere nicht von der Situation. Und du ... Wie soll ich dich denn trösten? Was könnte ich denn tun?! Vor dir auf die Knie fallen, dir einen protzigen Ring mit Familienwappen an den Finger stecken und dich bitten, meine Frau zu werden? Das ist doch lächerlich!“, brüllte er und blickte sie verzweifelt an. „Das ist doch stinkender Dreck, ekelhaft, das ist so vollkommen...“

„Ron“, unterbrach sie ihn erneut, lauter. „Ich würd‘ ohnehin ablehnen.“

„Ich weiß“, er schluchzte rau auf, zog sie dann wild an sich und schlang die Arme um sie, küsste sie fahrig. „Ich will dich auch gar nicht heiraten, ich würde mich immer wie die zweite Wahl fühlen.“

„Ja.“

„Aber würdest du... kommst du... irgendwann, wie viel Zeit auch immer du brauchst, wieder mal zu mir?“

Sie nickte wortlos und hatte das Gefühl, ihr Herz bräche, drückte seine Hände. Konnte ihm nicht in die Augen sehen, doch da hatte Ron ihr schon die Hände entrissen, diese sacht um ihr Gesicht gelegt. „Ich liebe dich, Mara. Und ich werde dich immer lieben, was auch... Immer.“

Schwerttraining mit Reik, wenn auch unter Jons Anleitung, das war schwer, anstrengend und eine einzige Herausforderung. Aber auch sehr, sehr gut.

Hinterher tat Mara alles weh, dabei hatte Reik sie gar nicht oft getroffen, doch sie bekam die Arme kaum noch hoch. Er hockte sich neben sie auf die Bank, lächelte ihr zu. „Du warst ziemlich gut, ich musste mich wirklich anstrengen.“

„Sagst du.“

„Jon wird dir das jederzeit bestätigen. Kann ich dir helfen?“

Irritiert runzelte sie die Stirn. „Inwiefern?“

„Mit der Schutzkleidung.“

„Oh...“ Sie zögerte, nur kurz, aber Reik bemerkte es natürlich und wirkte mit einem Mal angespannt. „Ich wäre dir sehr verbunden.“

Stumm, mit zusammengebissenen Zähnen löste er die Schnallen der Schutzweste, zog sie ihr rasch über den Kopf. Er sah ihr nicht ins Gesicht, als er die Beinschienen, die Armschützer losmachte. „Das Kettenhemd auch?“

„Ja. Wenn du…“

Aber er öffnete bereits die seitlichen Gurte, lockerte die Schulterriegel und nahm ihr das Kettenhemd ab, stand dicht vor ihr. Sah ihr in die Augen. „Es gibt nichts, was ich noch sagen kann, oder? Nichts, was irgendetwas ändern würde.“

„Nein, nichts.“

Er nickte nur, berührte vorsichtig ihre Wange und strich ihr achtsam eine verschwitzte Haarsträhne zurück. Beugte den Kopf zu ihr, so dass seine Wange fast ihre Schläfe berührte. „Oh Gènaija, manchmal… manchmal graut mir vor dem, was ich getan habe, was ich noch tun werde. Manchmal schrecke ich vor mir selbst zurück.“

„Ja. Ich weiß.“ Sie wagte nicht, sich zu rühren, ahnte die Nähe des Jägers.

„Ja, du weißt. Du kennst das Gefühl, du kennst mich.“ Seine Hand, seine Hände legten sich auf ihre Schultern, und er zog sie ein kleines Stück näher. „Wenn ich versuchte, dich zu küssen, rammst du mir wahrscheinlich ein Messer zwischen die Rippen.“

„Ich komme nicht an mein Messer heran.“

Heiser lachte er, leise, und verursachte ihr eine Gänsehaut. Dann drückte er das Gesicht in ihr Haar, es fühlte sich gut an, wohlbekannt, und zögernd legte sie die Arme um ihn, lehnte sich an ihn, ganz leicht nur. Für den Augenblick war das genug.

Mara sah Hauptmann Ivorek herankommen, gerade als sie, auf dem Weg hinunter in die Stadt, das Tor und den Durchgang in der zweiten, inneren Festungsmauer erreichte.

„Was dagegen, wenn ich Euch begleite?“

Verhalten schüttelte sie den Kopf, musterte ihn. Er saß auf dem Pferd, einer fuchsroten, kräftigen Stute, nicht viel älter als der Wallach, als gehöre er da hin. „Ihr wisst doch gar nicht, wohin …“

Er zuckte bloß die Achseln, seine übliche Reaktion auf fast alles, und erwiderte ruhig ihren Blick. Also trieb sie den Wallach an, den Burgberg hinunter, dann Richtung Markt. Das Wetter war kalt und feucht, der unangenehme, böige Wind jagte dicke Wolken über den Himmel, und so waren die Straßen recht leer. Auf dem weiten Marktplatz drängten sich die Verkaufsstände und Buden der Händler und Bauern zusammen, als suchten sie einander zu wärmen. Nur wenige interessierte Besucher und Käufer, dabei war es noch gar nicht so spät, dafür aber auffallend viele Bettler, in der Mehrzahl Kinder, einige Alte in verdreckten, löchrigen Lumpen.

Eine Gruppe mürrisch dreinblickender Halbwüchsiger, unter ihnen auch ein paar Mädchen, lungerte am Rande des Platzes herum. Ivorek verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Mara lenkte ihr Pferd in eine windgeschützte Ecke direkt neben dem großen, verwinkelten Gebäude der Stadtwache. Sie wunderte sich, ob Janek oder sein Freund Josch gerade Dienst taten, saß ab und holte einen alten Beutel aus der Satteltasche. „Wollt Ihr…“

„Ich warte hier.“ Ivorek saß gleichfalls ab. Er sagte nicht, dass er auf die Pferde aufpassen würde, doch der Blick, mit dem er die Halbwüchsigen bedacht hatte, war beredt genug.

„Wie Ihr wollt. Es dauert nicht lange, ich will nur ein paar Sachen besorgen.“

„Habt Ihr genug Geld dabei? Nahrungsmittel sind teuer geworden.“

„Es wird reichen, ich…“

Er griff zu seinem Gürtel, an dem eine kleine Tasche befestigt war. „Hier, nehmt.“

Abwehrend schüttelte sie den Kopf. „Das wird nicht nötig sein, ich sagte doch, ich habe genügend Geld.“

„Wirklich?“ Unwirsch stopfte er die Geldbörse zurück. „Müsst Ihr ja wissen.“

„Danke für das Angebot.“ Sie erwog kurz, ihn auf die Wange zu küssen, ließ es aber. Zwei leidlich hübsche Mädchen und ein verschlagen aussehender Bursche aus der Gruppe schlenderten zielstrebig näher. Auf Ivorek zu.

Er hatte Recht, Lebensmittel waren teuer geworden. Für ein Brot, ein Bund Möhren, ein Dutzend Pastinaken, ein kleines Säckchen Hafer und einige schrumpelige Äpfel – als Dreingabe zu dem wirklich schlappen, kraftlosen Mangold – musste sie beinah anderthalb Silberstücke zahlen. Das unwirtliche Wetter, der Wind war deutlich stärker geworden, das mäßige Angebot und vor allem der Anblick der bettelnden Kinder hatten Mara die Freude am Handeln schnell genommen.

Ein kleiner Junge von vielleicht sieben, acht Jahren, ein noch kleineres, höchstens fünfjähriges Mädchen immer dicht hinter ihm, der ihr beharrlich von Stand zu Stand gefolgt war, zupfte höflich an ihrem Jackenärmel. „Schönste holde Dame, brauchst du Hilfe beim Tragen? Ich bin stark.“

Verwundert wandte sie sich zu dem Jungen um. „Und dann haut ihr zwei mit meinem Beutel ab?“

Empört über diese beleidigende Unterstellung trat der Junge schniefend einen Schritt zurück, fast auf die Füße der Kleinen. „Aber niemals würde ich so etwas tun, eine so schöne Dame berauben. Und dein Beutel interessiert uns gar nich.“

„Nur der Inhalt, ich versteh’ schon. Wie viel verlangst du für deine Kraft?“

„Gar nichts. Ein Mann lässt sich nicht dafür bezahlen, einer schönen Dame zu helfen.“

„Sagt das auch deine Begleiterin… Schwester?“

„Jessi ist ein bescheidenes Mädchen.“

„Natürlich ist sie das. Und was möchte ein so bescheidenes Mädchen?“ Mara hockte sich vor die Kleine, die ihr prompt die offene Hand hinhielt. Der Junge ergriff diese hastig, blickte Mara entschuldigend an. „Sie weiß es nicht besser. Nur eine ganz kleine Kleinigkeit.“

„Deine Schwester hat Hunger. Mögt ihr einen Apfel?“ Sie holte zwei Äpfel aus dem Beutel.

Erstaunt schaute der Junge sie an. „Du bezahlst schon vorher?“

„Nein, hinterher.“ Mara händigte ihm Apfel und Beutel aus und nahm stattdessen das Mädchen an die Hand, das heißhungrig in den Apfel biss. „Du weißt doch sicher, wo ich hier noch gutes Fleisch bekomme?“

„Klar weiß ich das, das allerbeste Fleisch sogar. Is’ gar nich weit.“

Er stapfte voraus, den Beutel über der Schulter, und sah sich immer wieder um, ob Mara und Jessi ihm auch zum südwestlichen Rand des Marktplatzes folgten. „Hier, gleich das dritte Haus in der Straße. Unsere Großmutter hat immer gesagt, der Mann verkauft nur erstklassige Waren zu anständigen Preisen. Du gehst aber besser allein rein, der Mann hat nich’ gern Streuner und Herumtreiber in seinem Laden.“

„Nun, das ist sein Problem.“ Kurzerhand hob sie Jessi auf den Arm und hielt für den Jungen unbekannten Namens die niedrige Ladentür auf.

Und richtig, der ältere Mann, der aus dem Hinterzimmer geschlurft kam, musterte die Kinder und sie überaus griesgrämig. „Was wollt ’n ihr? Gebettelt wird hier nich’, ich hab’ nix zu verschenken!“

„Ich dachte auch eher daran zu kaufen. Euch ebenfalls einen guten Tag.“ Kühl betrachtete Mara den Mann, seine schmuddelige Schürze. „Ich hörte, Ihr verkauft erstklassiges Fleisch?“

„Du hast Geld?“

„Hängt davon ab, ob Ihr die richtige Ware habt. Einen mittelgroßen Schinken, möglichst mit dem Knochen, und einige gut gewürzte Dauerwürste.“

Die bis eben noch trüb blickenden Augen des Mannes blitzten gierig. „Das kostet dich aber ’ne Stange Geld.“

„Dessen bin ich mir vollauf bewusst.“

„Gut, dann… Ich will dein Geld sehen.“

Mara lachte rau auf. Was sollte das Theater, sie wollte bloß Fleisch kaufen, legte die Hand auf den kleinen Beutel an ihrem Gürtel. „Ich will deine Ware sehen.“

Der Alte rief einige unverständliche, grunzende Worte Richtung Hinterzimmer. Jessi begann zu wimmern, klammerte sich an Mara, und auch der Junge wirkte nicht mehr so selbstsicher, kam einen Schritt näher. Nach einer Weile erklang ein Schnaufen und Ächzen, und ein älterer Junge, massige, gedrungene Gestalt, mit speckigem Gesicht, trat grinsend in den Raum. Unter einem Arm trug er einen in Leintuch gewickelten recht großen Schinken, auf dem anderen ein Dutzend Dauerwürste. Der Junge legte alles auf den Verkaufstisch. „Bitte sehr, die Dame. Ihr möchtet den Schinken probieren?“

„Ansehen genügt, riechen tut er jedenfalls gut.“

Nach einem raschen, versichernden Blick auf den Alten schlug der Bursche das Tuch zurück, schob den Schinken sogar noch näher, damit Mara ihn von allen Seiten begutachten konnte.

„Danke, das reicht. Wie viel?“

„Für den Schinken?“

„Den Schinken und ein halbes Dutzend Würste.“

Wieder sah der Bursche zu dem älteren Mann. „Fünf Silbermünzen.“

Ein lächerlich hoher Preis, sie verzog keine Miene. „Davon träumst du vielleicht nachts. Einen schönen Tag noch.“

Doch bevor sie sich auch nur hatte umdrehen können, trat der Alte schmierig lächelnd vor. „Oh, nicht doch, nicht doch, meinem Neffen ist da ein kleiner Irrtum unterlaufen. Ihr sagtet, den Schinken und ein halbes Dutzend Würste, nicht wahr? Er, manchmal ist seine Zunge zu schnell für sein Hirn, hat den Preis für das ganze Dutzend Würste, unsere Spezialität, und den Schinken genannt. Es sind, für Euch, natürlich nur drei Silbermünzen, verehrte Dame.“

Abwägend legte Mara den Kopf zur Seite, schüttelte ihn dann aber verneinend. „Nein, obwohl die Würste ja wirklich verlockend duften. Doch mehr als zwei Silbermünzen bin ich leider nicht bereit zu zahlen.“

Der kleine Junge schaute sie angespannt an, dann zu dem Alten, der die Hände umeinander rang, seine Miene betrübt. „Ach, das ist Jammerschade. Aber vielleicht, wenn Ihr von der Wurst einmal probiert, dann…“

„Ich mach’ mir nicht so viel aus Würsten, danke.“

Jetzt schien der Alte ernstlich enttäuscht, sah sein erhofftes Geschäft schwinden. „Dann vielleicht der Junge? Möchtest du einmal die Wurst probieren, oder das kleine Mädchen?“

Fragend, voller Hoffnung blickte der Junge Mara an. „Ja?“

„Wenn du magst. Gib aber Jessi ein Stück ab.“

Eifrig griff er zu dem Wurstzipfel, den ihm der Alte abgeschnitten hatte. Jessi bekam ein Stück ganz für sich allein. Das Kind strahlte und lehnte den Kopf an Maras Schulter, lutschte an ihrem Wurststück.

„Und? Das ist gut, nicht wahr? Nach dem Rezept meiner Urgroßmutter, mit ein paar geheimen Kräutern, allerlei Gewürzen. Und grünem Pfeffer, aus dem Süden, aber mehr verrat’ ich nicht. Unverschämt teuer, das Zeug, da berechnet sich der Preis nach ’nem Fingerhut voll. Nun, den Kindern schmeckt ’s jedenfalls.“

Die Kinder waren hungrige, verwahrloste Straßenkinder, die praktisch alles aßen, solange es ihnen nur irgendwie die knurrenden Mägen füllte.

„Und, meine Dame, habt Ihr es Euch überlegt? Zweieinhalb für den Schinken und ein halbes Dutzend Dauerwürste? Mein letztes Angebot, tiefer gehe ich nicht. Wir haben Krieg, alles ist teurer geworden und mein Schwager hat Schwierigkeiten, seine Schweine groß zu kriegen, da in den Wäldern ständig gekämpft wird. Wurde. Sogar das Schrot ist langsam knapp. So einen schönen Schinken bekommt Ihr so bald nicht wieder.“

„Also gut, zweieinhalb Silbermünzen für den Schinken, ein halbes Dutzend Dauerwürste und die bereits angeschnittene Wurst für die Kinder. Mein letztes Wort.“

Unglücklich seufzend willigte der Alte schließlich ein, er wusste, mehr bekam er nicht; die Geschäfte liefen tatsächlich schlecht. „Abgemacht. Braucht Ihr…“

„Nein, danke.“ Sie zählte die Münzen auf den Tisch. „Den Schinken nehme ich in dem Tuch und die Würste kommen in den Beutel, den der Junge trägt.“

„Auch die angeschnittene?“

„Wickelt sie ihm ein bisschen ein, er nimmt sie sicher gern so.“

Verwirrt sah sie der Alte an und verabschiedete sie höflich.

Der Junge grinste übers ganze Gesicht, als sie wieder auf die Straße traten, Jessi trippelte neben ihm her. „Du kannst aber gut handeln, schöne Dame. Wärst du wirklich einfach weggegangen?“

„Der Alte hat es geglaubt, darauf kommt es an. Er hatte heute noch nicht viele Kunden.“

„Er hat auch geglaubt, wir gehören zu dir.“ Der Gedanke schien ihn zugleich fröhlich und traurig zu stimmen.

„Dort in dem Laden habt ihr das.“

Eilig schritt Mara am Rande des Marktplatzes entlang, am Gebäude der Stadtwache vorbei; die Wolken hingen inzwischen sehr tief. „Wenn ich wieder einmal deinen Rat und deine Hilfe brauche, sollte ich aber wenigstens deinen Namen kennen, Junge.“

„Kennst du den denn nicht, holde Dame?“ Er lachte sie offen an. „Ich bin Lester, und Jessi ist… na ja, eigentlich is’ sie nich’ meine Schwester, aber fast.“

„Hm, ich verstehe. Dann pass auch weiterhin gut auf sie auf, Lester, passt gut aufeinander auf.“ Mara nahm Lester ihren Beutel ab und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. „Macht ’s gut, ihr zwei, es hat mich sehr gefreut, euch kennen zu lernen.“

„Uns auch, und…“ Überrascht sah Lester auf seine Hand. „He, das ist zu viel…“

„Stimmt schon.“

Einmal mehr schaute sie zu den Wolken empor, schaute zu Ivorek, der ihr abwartend entgegen sah. Die beiden viel zu dünn gekleideten Mädchen von vorhin drückten sich noch immer in seiner unmittelbaren Nähe herum, suchten seine Aufmerksamkeit, sein Interesse zu wecken. Hofften auf ein schnelles Geschäft – oder eine schnelle Nummer, wie Les es ausdrücken würde –, Mara verzog das Gesicht, nickte ihm zu. „Und, habt Ihr Euch gut unterhalten?“

„Ging so. Alles bekommen, was Ihr wolltet?“

„Aye. Aber die Lebensmittel sind sehr teuer geworden, gerade solche Dinge wie Mehl und Brot. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, wie manche Menschen zurechtkommen müssen.“

Er grinste verhalten, nickte zu den Satteltaschen, in denen sie ihre Einkäufe verstaut hatte. „Dann habt Ihr all Euer Geld ausgegeben?“

„Nein. Ich kann ganz gut handeln.“ Sie schwang sich in den Sattel. „Können wir?“

„Jederzeit, Ihr kennt den Weg.“ Womit er gleichfalls aufsaß, die zwei Mädchen waren sichtlich enttäuscht, und Mara die Führung überließ.

Interessant, dass er nicht nachfragte, wohin, es war für ihn wohl offensichtlich, ein bisschen ärgerte sich Mara darüber.

Sie trieb grimmig ihr Pferd an, heftiger als notwendig, und ließ Ivorek ein ganzes Stück hinter sich zurück.

Erst auf der breiten Straße holte er sie ein, kurz bevor sie in Richtung des kleinen Platzes abbog, lenkte die Stute dicht neben den Wallach. „Hast du ’s eilig oder schlechte Laune?“

„Beides, und ich… Ah, es wird gleich ziemlich heftigen Niederschlag geben, Schnee oder Regen, vielleicht auch Hagel.“

Der Wind war eisig und schien, zumal auf dem kleinen Platz, aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen, zerrte und riss mit Macht an den kahlen Ästen und Zweigen der Bäume am westlichen Rand, hinter dem Brunnenhaus.

„Sieht ganz danach aus. Die zweite Hälfte der Erklärung?“

„Wie? Oh, das würde länger… Wir sollten schleunigst aus dem Wetter heraus.“

„Ist es noch weit?“

„Nein.“

In der engen Gasse war der Wind mit einem Mal ganz verschwunden. Mara sprang ab und öffnete eilig das Hoftor, der Wallach trottete unaufgefordert hinein. „Oder möchtest du lieber draußen bleiben?“

„Ungern.“ Ivorek führte seine Stute auf den Hinterhof, schaute sich aufmerksam um. „Ich hab’ mich immer gefragt, wer hier lebt.“

„Nun weißt du es.“ Doch sie wusste beim besten Willen nicht, warum sie jetzt befangen war, gar verlegen den Kopf senkte und wie ein gescholtenes Kind vor ihm stand.

„Jup. Ich geh’ mal davon aus, dein Pferd weiß… He, Mara.“ Unvermittelt hatte seine Stimme einen gänzlich anderen Tonfall bekommen, als er die Hand unter ihr Kinn legte, es sacht anhob. „Du weinst ja. Wenn du nicht möchtest…“

„Doch, ich möchte ja! Ich möchte, dass du hier bist, und … Aber…“ Schluchzend brach sie in Tränen aus, fast zeitgleich mit den ersten fallenden Regentropfen, die jedoch sehr schnell von erstaunlich großen Hagelkörnern abgelöst wurden. Fluchend drängte Ivorek sie zum Schuppen, führte sein Pferd hinein, neben den Wallach, löste bei beiden Pferden den Sattelgurt und zog Mara dann neben sich auf die Futterkiste. Wartete schweigend, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. „Hält das Dach dicht?“

Einen Moment lauschte sie dem lauten Trommeln der Hagelkörner über ihnen und musste plötzlich unter Tränen lachen. „Ich weiß nicht, ja.“

Behutsam, nur mit den Fingerspitzen streichelte Ivorek ihren Handrücken, sah sie nicht an, saß ihr nicht einmal besonders nah. „Warum weinst du?“

„Ich habe das nicht… Ich wollte hier bloß nach dem Rechten sehen, ein paar Vorräte herbringen, was weiß ich, womöglich sogar etwas Feuerholz hacken, aber…“ Sie fuhr sich übers Gesicht, presste die Lippen zusammen. „Ich war so lange nicht... schon gar nicht mit ihm. Dabei habe ich es geliebt, dieses Haus, die Zeit hier mit ihm, unsere Gespräche ... in der Küche. Wir waren ganz für uns, und Davian war hier... viel gelöster. Sehr er selbst. Als er das letzte Mal aus Kalimatan zurückkehrte, waren wir ja nur noch in den Beraterunterkünften. Und er... er wirkte, war manchmal so...“, Mara schüttelte den Kopf. „Er hat viel Zeit mit Reik verbracht. Und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, zwischen ihnen zu stehen. Mich entscheiden zu müssen, immer auf der Kippe, schwankend. Ich wollte das nicht. Mich entscheiden, und, und...“ Sie presste die Faust vor den Mund und biss zu, um nicht völlig die Beherrschung zu verlieren. „Und ich wusste, dass es... er ... und er auch...“ Wimmernd wiegte sie sich vor und zurück, hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, zu ersticken.

Ivorek drehte sie hastig zu sich herum, legte die Hände fest um ihr Gesicht. „Schau mich an! Schau mich an, Mara!“

Konnte nicht mal sprechen, nur noch...

„Mara! Sag mir...“

„Wie sagst du jemandem, dass er sterben wird?! Wie sagst du das dem Menschen, der dir...“, keuchend holte sie Luft, es tat so weh! „Du kannst ihn nicht oft genug küssen, nicht fest genug halten, kannst nicht... Ihn nur immer wieder ansehen, damit du nie...“ Sie schloss die Augen, spürte Tränen über ihre Wangen laufen, einen kurzen Moment warm in der eisigen Luft.

Hagel bedeckte in einer dicken Schicht den Boden, auf die sich der Schnee legte. Das Licht war, so spät am Tag, trüb, beinah bläulich, und der Wind fegte heulend und fauchend um die Häuser und Gebäude. Fröstelnd zog Mara die Schultern hoch, die dicke Jacke enger um sich, und sah blinzelnd zu, wie die Böen den Schnee wie Staub über den Hof trieben, sogar noch weit in den Schuppen hinein.

Ivorek war wortlos aufgestanden, hatte ihr seinen Reitmantel umgehängt und begann, die Pferde abzusatteln und zu versorgen. „Hast du…“

„Ja, warte.“ Eilig erhob sie sich, holte drei, vier Äpfel von den Einkäufen aus dem Beutel, einige Möhren.

„Das meinte ich zwar nicht, aber…“ Er nahm ihr die Sachen aus der Hand, verfütterte sie an die Pferde. „Wasser? Muss ich zum Platz…“

„Ich mach’ schon.“

Durch den schneidenden, tobenden Wind über den Hof, es war noch kälter geworden, und doch zögerte sie, den Schlüssel in der einen, den Eimer in der anderen Hand, bevor sie die Hintertür öffnete und eintrat.

Die Dunkelheit des Vorraums hieß sie willkommen, die Stille flüsterte ihr mit jedem Herzschlag, jedem Atemzug seinen Namen zu. Sein Haus, hierher hatte sie sich geflüchtet, zu ihm, hier war sie auf-, angenommen worden. Glücklich gewesen. Schnell wandte Mara sich um, füllte den Eimer mit Wasser, auch den zweiten, den sie im Vorraum fand, und kämpfte sich gegen den Wind zum Schuppen zurück.

Ivorek grinste unterdrückt, als er sie kommen sah, und nahm ihr die vollen Eimer ab. „Der Mantel ist dir viel zu groß.“

„Du bist ja auch ein ziemlich großer Mann.“

„Scheußlich, was?“

„Nein. Ich mag…“ Große Männer, ihn? Sie sprach es nicht aus, zu viele müßige Worte, Geplapper, bloß bewegte, geformte Luft. „Kommst du mit rein?“

Wortlos nickte Ivorek und folgte ihr über den Hof, durch den Wind, der zum Sturm geworden war.

Mara blies vorsichtig über den Tee, noch viel zu heiß zum Trinken. Sie hatte die Hände locker um den Becher gelegt und fühlte Ivoreks Blick über sich gleiten. Er starrte sie nicht an, nein, blickte nur hin und wieder zu ihr, ihr gegenüber am Tisch sitzend, einen Becher mit dampfendem Tee vor sich und nicht wirklich entspannt, aufmerksam. Als würde er auf etwas lauschen, horchen, und nicht nur auf das Knacken und Knistern der Holzscheite im Herd. „Was du mir eben erzählt hast, da draußen im Schuppen ... und glaub mir, ich habe dir gut zugehört ...“ Einen Moment schien er seinen Worten nach zu sinnen, räusperte sich dann. „War aber nicht der Anlass, oder der Grund, für deine schlechte... miese Laune?“

Fast erstaunt, seine Stimme zu hören, sah sie auf und schüttelte sacht den Kopf. „Nein.“

Er lächelte, vielleicht bildete sie sich auch nur ein, dass Ivorek lächelte, vielleicht verzog er lediglich das Gesicht. Vielleicht wünschte sie es sich bloß; sie hätte es nicht sagen können. „Also, ich hätte Zeit. Wenn du reden magst?“

„Das…“ Mara fuhr sich seufzend über das Gesicht. „Ist nicht so einfach zu erklären, oder vielleicht doch, keine Ahnung, es… Ich mag dich, ich mag dich sogar sehr, viel zu sehr, obwohl du mir ständig drohst und mich anschreist und … und …“ Hastig trank sie einen Schluck Tee, schüttelte den Kopf. „Aber…“

Und jetzt lächelte er tatsächlich, sie hörte es an seiner Stimme. „Natürlich. Aber?“

Irritiert sah sie ihn an. „Wie bitte?“

„Natürlich sagst du ‚aber’, das sagst du ständig. Und?“

„Ich … Verdammt, ich weiß es nicht, und das macht mich wütend. Ich weiß nicht, was das mit uns, zwischen uns, ist oder wird und … Ich weiß noch nicht einmal, ob ich will, dass es etwas wird, mehr als das rein körperliche, meine ich. Und du, du redest davon, dass du mir ein Freund sein willst, das ‚lediglich’ sprichst du nicht aus, aber jedes Mal, wenn wir allein … Nun, bisher jedenfalls, heute trinken wir tatsächlich bloß Tee. Und es gefällt mir, es ist völlig verrückt und wüst, aber es gefällt mir, doch gleichzeitig fühle ich mich, als hätte ich jede Kontrolle verloren, bin völlig überfordert, und das…“

„Ja.“

Misstrauisch runzelte sie die Stirn. „Ja?“

Ivorek zuckte die Achseln. „Geht mir doch genauso. Und weißt du, was noch?“

„Was denn noch?“

„Vorhin, als du plötzlich gelacht hast. Ich hab’ dich vorher nie richtig lachen gehört, und… Wär’ ich ’s nich längst, ich würd’ mich rettungslos in dich verlieben.“

„Oh. Weil ich gelacht…“

„Wie du gelacht hast, in der Situation. Und gleich danach lässt du mich an deinem übergroßen Schmerz teilhaben, das … das macht mich einfach sprachlos. Du machst mich sprachlos, verdammt hilflos.“

„Das war nicht meine Absicht.“

„Nein, ich weiß. Du bist einfach so. Zeigst du mir noch das… euer Haus?“

Ihr erster Impuls war, Nein zu sagen, und so sagte Mara erst einmal gar nichts, trank langsam und nachdenklich ihren Tee aus. Euer Haus. Sandar hatte ihr die Papiere, die Urkunde, gestern Abend gebracht. „Es ist mein Haus, er hat es mir nach unserer Heirat, hm, überschrieben … Heißt das so?“

Ivorek nickte nur und streckte ihr die Hand entgegen. „Na komm.“

Es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte, nicht ganz, vielleicht, weil sie nicht allein war, vielleicht, weil Davian – Mara nahm nicht an, dass noch jemand hier gewesen war – das Haus in einem ordentlichen Zustand zurückgelassen hatte. Vielleicht aber auch, weil nach mehr als anderthalb Monaten sein Tod etwas wirklicher, Teil ihres Lebens geworden war. Ein Gedanke, vor dem sie zurückschreckte.

„Warum willst du dir das Haus eigentlich ansehen?“ Sie setzte sich auf eine der unteren Treppenstufen und beobachte Ivorek, der sich interessiert umsah.

„Ich wollte es mal kau…“

„Ich werde nicht verkaufen.“

„Nein, natürlich nicht. Das hätte mich jetzt auch sehr gewundert. Aber ernsthaft, ich hatte tatsächlich mal vor, es zu kaufen. Doch der damalige Besitzer wollte nicht verkaufen, und ich habe ihm einen guten Preis geboten, besser, als so manch anderer. Der Mann meinte nur stur, er wolle es dereinst seinem Neffen vermachen.“

„Ja.“

Ivorek runzelte die Stirn. „Wieso ja?“

„Hat er. Es seinem Neffen vermacht.“

„Mara, das kann nicht… Der Kerl war Ostländer, ein Gewürzhändler oder so.“

„Ja, ich weiß. Und?“

„Aber … Nee. Das ist nicht wahr, Davian war kein…“

Einen Moment lang war Mara versucht zu lachen. „Du wusstest das nicht? Seine Mutter war eine Kalimatan.“

Ivorek ließ sich bedächtig neben ihr nieder. „Ich glaube, du solltest mir irgendwann mal von diesem Mann erzählen, mit dem du verheiratet warst, denn offenbar kenn’ ich ihn überhaupt nicht.“ Er rieb sich die Stirn. „Es gab mal, is’ schon Jahre her, solche Gerüchte, doch die sind sehr schnell wieder verstummt. Niemand legte sich gern mit Davian an.“

„Aber es ist die Wahrheit.“

„Die mir ein dahergelaufenes Mädchen aus der Provinz erzählen muss?“

„Welcher Provinz? Ich komme aus dem Süden, noch jenseits der Tameran-Kette, aus dem Wildewald.“

„Eben …“ Er lächelte weich. „Provinz, wildes Land, ein Mädchen aus den Wäldern, ein Waldmädchen.“

„Ich bin kein Waldmädchen.“ War nur fasziniert von seiner Stimme, dem Auf und Ab seiner Stimme, seinem eindringlichen Blick, dem Lächeln in seinen Augen.

„Was bist du dann?“

Sie wusste es nicht, hier, jetzt? Nur Begehren, Verlangen, Sehnsucht, sie hätte es nicht sagen können, schlang die Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Und er küsste sie.

Mehr passierte nicht. Sie küssten sich, fast schon zurückhaltend, und der Wind – tatsächlich ein heftiger Wintersturm – tobte ums Haus, dass dieses ächzte und schauderte. Ivorek ließ sie sacht los. „Ich nehme an, da oben ist nur ein Bett?“

„Hm, und womöglich liegt der Kater drauf.“

„Auch noch.“ Er grinste unterdrückt. „Dann werd' ich wohl die Couch nebenan nehmen. Oder wirfst du mich raus?“

Sie zögerte. Nicht, weil sie auch nur einen Moment erwog, ihn weg zu schicken, sondern weil sie sein Vorschlag, unten zu schlafen, erstaunte. „Bei dem Sturm? Ganz sicher nicht.“

* * *

Patrouille in den Straßen der Hauptstadt: lästige Routine oder liebgewordene Pflicht, oder umgekehrt. Claris lachte leise in sich hinein und schloss die Riegel und Schnallen der schweren Weste, auch das inzwischen bald zu vertraut. Er nickte Karista zu, bevor sie das Gebäude verließen. Der alte Pedro schloss sich ihnen mit mürrischer Miene an: das am wenigsten beeindruckende, unwahrscheinlichste Trio, das die Stadtwache aufzubieten hatte.

„Was grinst du so?“, fuhr ihn Karista schlechtgelaunt an. „Stelldichein mit deiner kleinen Freundin?“

„Nee, nichts“, erwiderte Claris ungerührt. Er hatte keine Freundin, und falls, hieß sie nicht Toni, auf die Karista anspielte, hatte keinen tieferen Grund für seine gehobene Stimmung; er fühlte sich schlicht … gut. Nicht nur am Leben, sondern lebendig. Vielleicht lag es am Wetter, der wie aufgewühlt wirkenden Luft; ein Sturm zog auf, fauchte und hieb ihnen mit Gewalt entgegen, als sie über den Marktplatz marschierten. Claris Schritte knirschten auf der rutschigen Schicht aus Hagel und Schnee, die das Kopfsteinpflaster bedeckte.

Die letzten Händler räumten geschwind ihre Buden und Stände zusammen, nur raus aus dem Wind, der Kälte, sammelten die unverkauften Waren ein; verdorbenes blieb einfach liegen. Zur Freude der Bettler, die sich gierig darauf stürzten. Heute gab es, wohl auch ob des widrigen Wetters, keine wüsten Streitereien um die Reste, gar Prügeleien, die er auch schon erlebt hatte, die Wache musste nicht eingreifen. Jeder wollte nur schnell ins Warme, in eine geschützte, leidlich trockene Unterkunft; er sehnte sich jetzt schon danach, in sein Bett in der engen, kleinen Kammer krabbeln zu können. Später, erstmal mussten sie die ‚kleine Abendrunde‘ abgehen.

Der Wind wurde immer heftiger, pfiff und jaulte um die Ecken, zerrte und riss an allem, was nicht ordentlich befestigt war und peitschte auch auf die verfrorenen Wächter ein; Claris spürte seine Finger kaum mehr, die Ohren und die Haut seiner Wangen waren ganz taub.

„Es bringt nichts“, sprach endlich der alte Pedro die erlösenden Worte. „Das wird nur noch schlimmer. Wir sollten Schluss machen.“

Sie scharrten sich mit einem halben Dutzend anderer im Schutz eines Windfangs, der Hagel trommelte über ihren Köpfen aufs Dach. Zufällig der Eingang zum ‚Stiefel‘, einer bei den Wächtern recht beliebten, da billigen Taverne.

„Kommst du mit?“, forderte Karista ihn mit einem Kopfnicken auf. Sie bibberte vor Kälte, Wasser rann ihr aus dem Haar, über das Gesicht.

„Ich…“ Claris sah ein bekanntes Gesicht im Gedränge, ein Mund, der sich zu einem schüchternen Lächeln verzog, als das Mädchen seinen Blick bemerkte. Gleich ihm war Toni vorm Krieg geflohen, die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen, und Elias, den er direkt an der Eingangstür bemerkte, war angeblich häufiger im ‚Stiefel‘; er selbst, Claris, war die Verbindung, das Band. Er zog unwillkürlich den Kopf ein, als das Dach vernehmlich knackte, und drängte sich zu Toni durch, legte ihr auffordernd den Arm um die Schultern. „Klar, wir kommen.“

Elias hatte sie… ihn ebenfalls bemerkt und hielt ihm breit grinsend einen Sitzplatz an einem Tisch in der übervollen Schankstube frei. „Mein liebster Mit-Wächter … trinkt deine kleine Freundin Bier oder lieber einen schönen, heißen Punsch?“

„Bin ich deine Freundin?“, fragte Toni stirnrunzelnd nach und setzte sich.

„Scheint so.“ Claris lachte ihr zu und zwängte sich dicht neben Elias auf die Bank. „Also? Ich lad‘ dich ein.“ Dafür würde sein Geld noch reichen, und zur Not konnte er sich ja was von Elias leihen. Der hatte erstaunlicherweise immer Geld in der Tasche und war, jedenfalls ihm gegenüber, ziemlich großzügig, obwohl er auch nur ein einfacher Wächter war.

Claris wusste wenig über den Mann, angeblich schon seit Jahren bei der Stadtwache, seinen Hintergrund, er wusste noch nicht einmal, ob Elias Familie, eine Ehefrau, gar Kinder hatte; er konnte es sich schwer vorstellen.

Er mochte... nein, korrigierte sich Claris in Gedanken, er schätzte die Dunkelheit in der engen Schlafkammer, die Stille, es war wie eine kleine, abgeschlossene Welt. Draußen, da waren das Getöse, die Hektik und das Durcheinander der Stadt, jetzt noch viel mehr, das Wüten und Brüllen des Sturms. Hier nur der Mann, Elias, und er, ihrer beider Atem, das leise Knarzen, wenn der andere sich auf der kargen Bettstatt bewegte.

Claris gab seinen Platz an der Tür auf, trat weiter ins Zimmer, näher ... in die schützende Düsternis. Er ahnte, Elias hatte sich aufgesetzt, blickte vermutlich... vielleicht in seine Richtung.

„Deine kleine... das junge Mädchen, Toni, nicht wahr? Hat auch schon so einiges erlebt, durchgemacht?“

„Aye“, erwiderte er krächzend, schluckte. „Ich nehm es an.“

„Du... Ihr habt nicht darüber geredet?“

„Darüber ...“ Seine Stimme war rau, hastig machte er einen weiteren Schritt, wusste, der andere saß direkt vor ihm. „... über solche Dinge redest du nicht.“

„Mit Menschen, die diese Dinge nicht erlebt...“

„Die anderen wissen ‘s... müssen nicht reden.“

Elias legte die Hände an seine Hüften. „Dann verzeih, dass ich so dumm und unwissend...“

„Gibt nichts zu verzeihen“, seufzte Claris, als der ältere ihn an sich zog, das Gesicht gegen seinen Bauch drückte, und umfasste mit den Händen ganz leicht Elias Kopf. „Ich mag das, das hier... was du tust. Ich mag es, nichts sehen zu müssen.“

„Mich?“

„Nein...“ Er biss sich auf die Lippen, wollte nicht stöhnen, als Elias ihm das Hemd höher schob, seinen nackten Bauch küsste. „Deine Reaktion auf das wenige, was ich... andeute.“

„Dann“ Elias nestelte Claris Hose auf, streifte sie ihm eilig von den Hüften und presste ihn keuchend an sich. „... schließ die Augen, Kleiner, und genieße... die Dunkelheit.“

(695. Tag, Beginn 2. Wintermonat)

Ein Ende des Krieges

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