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Kapitel 4 – alte und neue Klagen
ОглавлениеMara hinterfragte Ivoreks Anwesenheit in ihrem Bett nicht, wann und warum er zu ihr gekommen war, sie jetzt mit dem Kopf auf seiner Brust lag. Es war in Ordnung, mehr als das. Doch sie ärgerte sich über ihre Passivität, immer wieder nahm sie die Dinge hin, ließ sie schlicht geschehen. Das missfiel ihr, erinnerte sie viel zu sehr an ihr Leben – ihre Haltung – im Süden, auf Ogarcha. Welches sie doch längst hinter sich geglaubt hatte. Und vielleicht war dies die Ursache für ihr Unwohlsein in Bezug auf Ivorek, ihrer Beziehung zu ihm.
Nicht jetzt, jetzt freute sie sich schlicht über seine Anwesenheit, ließ bedächtig die Hand über seine behaarte Brust gleiten, höher, hinauf zu seinem Gesicht. Spürte, wie sich seine Lippen unter ihren Fingerspitzen zu einem Lächeln verzogen. „So könnte es bleiben, hm?“
„Was meinst du?“
„Uns.“ Mit gespreizten Fingern fuhr er durch ihr Haar. „Wir haben alle Zeit der Welt, die Sonne geht erst in gut ’ner Stunde auf, die Kinder sind noch nicht wach…“
„Welche Kinder?“
„Willst du nicht noch mehr Kinder haben, zwei, drei, vier?“
Ihre Tochter würde rotblonde Haare haben. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz kribbelig, fast ein wenig schwindelig. Ein bisschen wie fallen. „Dazu müsste ich erst einmal den richtigen Mann finden.“
Er lachte. „Wie viele musst du denn noch ausprobieren? Du hast den richtigen.“
„Ach, meinst du?“
„Sieht ganz danach aus. Oder wie würdest du das hier nennen?“
„Wir liegen zusammen im Bett.“
„Is’ ’ne gute Ausgangsposition.“
Aufgebracht richtete sie sich auf. „Du bist zu mir…“
„War kalt da unten. Soll ich gehen, Mara? Dann sag mir das.“
Und das wäre endgültig. Kein rotblondes kleines Mädchen mit goldenen Sommersprossen auf den Nasenflügeln, den Wangenknochen, windzerzauste Locken. Sie schluckte. „Setz mich nicht unter Druck, Ivorek, das ist…“
„Gerol meinte mal, unter Druck seist du am besten.“
„Du bist ein Scheusal!“
Gelassen zuckte er die Schultern. „Nur so erreiche ich mein Ziel.“
„Das da wäre?“
„Weißt du doch.“ Ivorek setzte sich gleichfalls auf, berührte sacht ihre Wange. „Rotblonde Locken? Ich würd’ mein Leben für die Kleine geben.“
„Woher …“ Entsetzt wollte sie zurückweichen. Doch Ivorek hielt sie fest, zog sie eng an sich, sein Mund nah an ihrem Ohr. „Wovor fürchtest du dich?“
„Geht es dir bloß darum, mir ein Kind zu machen? Sie würde nicht hier…“ Nicht in Samala Elis aufwachsen, nicht einmal in Mandura.
„Nein, verdammt, es geht mir um dich! Wovor hast du solche Angst, Mara? Du hattest doch bisher keine Schwierigkeiten, dich mit ‘nem Kerl…“
Sie schlug ihm hart ins Gesicht, was ihn aber nicht davon abhielt, sie leidenschaftlich zu küssen. „Verrat’ mir nur noch ein einziges Mal deine tiefsten Gedanken.“
„Einmal wird dir nicht reichen.“
„Stimmt.“ Suchend fuhren seine Hände unter das übergroße Hemd – Davians Hemd –, glitten liebkosend über ihren Leib. „Sag es mir.“
„Du bist mir…“ Viel zu nah, zu wichtig! „Ich will nicht wieder…“
Seine Küsse, Berührungen wurden zärtlicher, weniger drängend. „Mir passiert nichts, Waldkind.“
„Aber das weißt du nicht, du…“
„Die Sicherheit kann dir niemand geben, Mara, nicht mal Domallen. Eine solche Sicherheit gibt es nicht im Leben.“
„Glaubst du, das weiß ich nicht?!“ Hemmungslos gab sie sich seinen Liebkosungen hin, nur um nicht denken, sich nicht erinnern zu müssen. Wenigstens diese kostbaren Augenblicke.
* * *
Mara hatte Teewasser aufgestellt. Ivorek mochte ihren Tee und fragte nicht, was der außer weißer Minze noch enthielt. Es war nicht weiter wichtig und sie verbarg, verheimlichte auch so schon viel zu viel vor ihm.
Sie bewegte sich diesen Morgen hier unten in der Küche sehr viel gelöster als am Vorabend, nicht mehr so gehemmt und argwöhnisch, so als könne jeden Augenblick etwas Schlimmes passieren. Der Kater, ein geschmeidiges, schwarzes Untier, strich beständig um Maras Beine, buhlte um ihre Aufmerksamkeit und ignorierte ihn völlig. Offensichtlich war Mara auch seine Herrin und Angebetete. „Was ist nun mit diesem Kind, unserer Tochter?“
Kopfschüttelnd stellte Mara einen Becher vor ihn. „Ich bin nicht schwanger, Ivorek.“
Er grinste, der Gedanke gefiel ihm. „Jetzt vielleicht noch nicht, aber irgendwann wirst du es sein.“
„Irgendwann. Ich kenne die Zukunft nicht … hm, nicht so sicher. Nur manches, und … Möglichkeiten? Das Mädchen, es würde rotblonde Haare haben und goldene Sommersprossen, nur ein paar, so wie du. Hätte ich eine Tochter mit Ron“, ihr spöttisches Lächeln verblasste, wurde wehmütig. „wäre sie hellblond und sehr… zart.“
Sacht strich er über ihre Hand, sie zog sie nicht weg. „Ich frag‘ wohl besser nicht nach?“
„Es gibt auch nicht mehr viel zu sagen.“
„Tut mir leid.“
„Ist doch zu deinem Vorteil“, jeglicher Spott war aus ihrer Stimme gewichen, alle Härte, sie klang nur noch traurig.
„Weniger Konkurrenz?“ Er beugte sich vor, um sie behutsam zu küssen, zog sie seufzend an sich. Er liebte diese Frau und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Sehnsucht laut aufzustöhnen. Spürte, wie sie sich an ihn drängte, seinen Kuss ungleich leidenschaftlicher erwiderte. Seine Lust weckte.
„Den einen oder anderen wird es schon noch geben“, ihre Stimme klang nur ein wenig rau, atemlos, doch das genügte.
„Wir könnten... sollten vielleicht noch mal hoch ... gehen ...“, er küsste sie verlangend, war erregt.
„Ins Bett?“
„Auf dem Tisch besorg‘ ich ‘s dir jedenfalls nicht.“
Mara lachte, „Heute“, und für dies Lachen hätte er auf der Stelle über sie herfallen, sie mit Haut und Haare auffressen können. Oder eben doch gleich hier auf dem Tisch nehmen.
Zärtlich küsste Ivorek ihren erhitzten Nacken, glaubte ihr lustvolles Keuchen und Stöhnen noch im Ohr zu haben und drängte sich eng an Mara, sein Knie zwischen ihren verschwitzten Schenkeln. „Du wolltest eben... vorhin noch etwas anderes sagen.“
„Ja?“, Mara zögerte, schüttelte dann den Kopf. „Besser nicht. Erzähl mir lieber von deinen Söhnen.“
„Das weißt du alles schon, sie leben nicht bei mir. Aris, meinen ältesten, habe ich noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.“
„Du könntest nach Saligart reiten, so weit ist das doch nicht.“
„Nur will seine Mutter mich nicht sehen, sie verweigert jeglichen Kontakt.“
Ernst, ein bisschen kritisch musterte Mara ihn, fragte aber nicht nach, was er ihr denn angetan habe, Ivorek hätte es nicht erklären können. „Und die verheiratete Frau, Leons Mutter?“
„Wirst du wohl nicht kennen.“ Einen Moment war er darüber beinah erleichtert, Ivorek wollte nicht, dass Mara sich einmischte. Er hatte sich damit abgefunden, dass sein Leben ohne seine Söhne verlief; ein wenig enttäuscht, vielleicht auch feige, hatte er diese Hoffnung schon vor Jahren aufgegeben. „Sie ... Lia hat nicht so eng mit dem Palast zu tun.“
„Keine Domallen oder Sadurnim?“
„Sie ja ohnehin nicht“, er verzog das Gesicht, sein Lachen schmeckte bitter. „Ihr Mann.“
Mara drückte das Gesicht an seine Schulter. „Bisher hat mir jeder… fast jeder Mann, den ich danach gefragt habe, erzählt, er hätte keine Kinder. Oder er wüsste nichts von ihnen.“
„Dein Mann?“
„Der auch, nur diese Sache mit … Aber die war dann doch nicht schwanger. Und Davian hatte doch nun wirklich mit vielen Frauen… ähm, zu tun.“
Er lachte nicht über ihre bedachte Umschreibung, freute sich viel mehr, dass sie so offen mit ihm sprach. „Um es vorsichtig auszudrücken. Er war aber wohl nie lange mit ihnen zusammen. Soviel ich weiß. Er hat nicht mit diesen Frauen gelebt.“
„Du aber doch auch nicht, du sagtest, Lia sei verheiratet?“
„Na ja, die. Wir haben uns über anderthalb Jahre regelmäßig getroffen.“
Mara und er hatten sich dann bald angekleidet, nicht ohne Bedauern, doch es war schlicht zu kalt. Tranken den letzten, lauwarmen Rest Tee, der noch in der Kanne war. Ivorek verspürte keine Lust, nicht den Drang, Mara jetzt zu verlassen, hinaus in die Kälte zu gehen, und wäre am liebsten… Für den Rest seines Lebens? Wenn er ihr das jetzt sagte, würde er vermutlich genau das Gegenteil erreichen und sie vertreiben. Er verstand ihr Zögern, ihre Angst. Sie hatte gerade ihren Mann verloren, dem sie offenbar sehr viel näher gestanden, als er auch nur vermutet hatte.
Ivorek hatte nie viel mit Davian zu tun gehabt, abgesehen davon, dass sie beide in der Garde waren, und er hatte sich auch selten groß Gedanken über Davian gemacht. Davian, fähigster, härtester aller Gardehauptmänner. Jemand, vielleicht Gerol, hatte ihm mal erzählt, dass Davian damals, als es um den Posten eines neuen Hauptmanns für die Einheit ging, den dann Leikov erhielt, gegen Leikov und für ihn, Ivorek, gesprochen und gestimmt hätte. Nicht wenige hatten damals gemunkelt, Leikov hätte das Kommando vor allem deshalb erhalten, weil der, im Gegensatz zu ihm, der Familie Ligoban besonders nahe stand. Ivorek war der Sache damals nicht weiter nachgegangen, hatte auch Davian nie darauf angesprochen. Was hätte das gebracht? Seine Enttäuschung verlängert, seinen Ärger bloß noch vergrößert, und er war damals ziemlich ärgerlich gewesen. Es war Politik, ein Spiel, auf das er sich überhaupt nicht verstand.
Mara hingegen, und er kannte sie längst noch nicht gut genug, würde er wahrscheinlich auch nie, schien es zu lieben, sie lebte dafür. Sie wäre eine ausgezeichnete Wahl für ein Kommando. Er mochte sie gern, er konnte sich gut vorstellen… Doch er wollte nichts überstürzen, wollte nicht zu früh zu viel, weil… wenn nicht der Krieg … Aber es war Krieg und niemand konnte sagen, was morgen war. Ruhig betrachtete er sie. „Ich liebe dich.“
Überrascht lächelnd sah sie ihn an und stellte ihren Becher ab. „Das kommt dir jetzt gerade in den Sinn?“
„Nein, ich… Mir ist das schon länger klar, und jetzt wollte ich es auch aussprechen. Ich will gemeinsam mit dir leben, Mara.“
Sie könnte ruhig etwas sagen, ihn nicht nur stumm mustern.
„Und ich frage dich jetzt nicht, obwohl ich es gern täte, ob du mich heiraten willst.“
Darauf reagierte sie, natürlich. „Das ist auch besser, ich… Und dann wärst du …“
„Dessen bin ich mir bewusst. Es ist zu früh und du… Doch mir sitzt ein Krieg im Nacken, Schätzchen, und deshalb sage ich es dir halt.“
Mara nickte flüchtig und erhob sich wortlos. Sie wirkte mit einem Mal völlig verändert, abwesend, war bleich.
„Mara?“ Er bemerkte, dass ihre Hände zitterten. „Was ist denn, habe ich was Falsches…“
„Wir sollten in die Festung, sofort.“
„Aber…“ Hastig stand er auf, griff nach ihren eiskalten Händen. „Mara, rede mit mir!“
„Er…“ Mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen sah sie ihn an. „Er ist König. Marok hat sich zum Großkönig krönen lassen.“
Mara jagte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Stadt, er direkt hinter ihr, trieb ihr Pferd im Galopp den Burgberg hinauf zur Festung, rücksichtslos durch die alles andere als leeren Höfe. Vorm Eingangsportal des Palastes glitt sie aus dem Sattel und ließ ihr Pferd einfach zurück – irgendwer würd‘ sich darum kümmern. Vermutlich wäre es keine gute Idee gewesen, sich ihr in den Weg zu stellen, es war aber auch niemand so dumm.
Selbst auf den düsteren, hallenden Palastgängen minderte sie ihr Tempo nur unwesentlich, Ivorek hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten und nicht atemlos hinter ihr her zu hetzen. Erst in einem der offiziellen Räume des Königs verlangsamte Mara ihre Schritte und ging zielstrebig auf die Gruppe um Domallen zu. Die Leute, fast nur Männer, Kaufleute aus der Stadt, drehten sich verwundert nach ihr um, wichen tatsächlich sogar ein Stück zurück.
Maras Miene war kühl und reglos, als sie Domallen sehr formell nach Art der Garde grüßte, ein Knie gebeugt. „Mein König.“
„Gènaija, was…“ Fragend sah Domallen auf sie hinunter, streifte Ivorek mit einem unfreundlichen Blick. „Steht bitte auf, Gènaija. Worum geht es?“
Mara sah nicht auf die Umstehenden und schüttelte kaum merklich den Kopf, und Domallen griff nach ihrem Ellenbogen. „Kommt mit.“
Erneut dieser grimmige, unwillige Blick, war Domallen eifersüchtig? „Ihr auch, Hauptmann.“
Insgeheim war Ivorek erleichtert, er hätte sie in der Situation nur ungern allein gelassen, hätte beiden unaufgefordert aber auch schlecht folgen können. „Is’ wohl besser, Hoheit.“
Domallen führte Mara in einen kleineren Nebenraum, geleitete sie zu einem Sessel und nahm ihr gegenüber Platz; Ivorek blieb neben der Tür stehen. „Also, was ist so wichtig?“
„Marok ist König von Kalimatan. Er ist… er hat sich zum Großkönig krönen lassen.“
„Du sagtest doch…“ Domallen hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle, verzog kaum das Gesicht. „Wann ist Urlis Kaidan gestorben?“
„Vor drei Nächten.“
„Dann hatte er ’s ja mächtig eilig.“ Abrupt erhob sich der Winterkönig, trat zum Fenster und starrte einige Zeit schweigend hinaus. Seine Stimme klang flach und hart, als er wieder sprach. „Die Stadt?“
Mara nickte widerstrebend. „Vermutlich. Er braucht dringend Erfolge.“
Keiner von beiden schrie oder fluchte, es war beängstigend, zugleich aber auch faszinierend. Überhaupt schien sich der Großteil des Gesprächs in den Köpfen der beiden abzuspielen, sie verstanden sich ohne viele Worte. Der Winterkönig und seine persönliche Beraterin; alle diesbezüglichen Gerüchte entsprachen der Wahrheit.
Und er war so vermessen zu glauben, er wäre der Richtige für sie, so einfältig anzunehmen, sie würde mit ihm leben wollen. Die Sache war ja wohl mehr als nur eine Nummer zu groß für ihn.
Enttäuschung breitete sich in Ivorek aus, ein Gefühl, als hätte man ihn hintergangen, dabei konnte er Mara nicht einmal einen Vorwurf machen.
Er achtete kaum auf den weiteren Verlauf des Gespräches, die Planung der nächsten Schritte, immer noch in diesem sparsamen, reduzierten Ton; er würde schon früh genug erfahren, was passierte. Sadurnims Späher hatten aber wohl noch keine diesbezüglichen Bewegungen der Ostländer auf den Ebenen ausgemacht. Vermeldet.
Zum ersten Mal hörte er Domallen das Wort ‚Räumung’ in den Mund nehmen, ihn fröstelte unwillkürlich. „Hoheit, vielleicht wäre es sinnvoll, dabei frühzeitig mit kleinen, unauffälligen Gruppen anzufangen. Mir ist klar, das Wetter spricht zurzeit dagegen, doch gut vorbereitet sollte es durchaus machbar sein, auch bis beispielsweise Saligart zu kommen.“
Domallen wandte sich ihm aufmerksam zu. „An was für Gruppen dachtet Ihr da, Hauptmann Ivorek?“
„Nun …“ Er hatte nicht genauer darüber nachgedacht, hatte einfach geredet. „Mittlere bis größere Familienverbände, also etwa dreißig bis fünfzig Leute. Das wäre auch nicht allzu auffällig, wenn die plötzlich die Stadt verlassen. Falls Ihr darauf Wert legt, Hoheit.“
„Anfangs auf jeden Fall. Aber Ihr könnt keine dreißigtausend Menschen im Winter nach Saligart hinauf schicken.“
„Nein, natürlich nicht.“ Waren tatsächlich noch so viele Zivilisten in der Stadt? „Höchstens zwei-, gut ausgerüstet vielleicht auch dreitausend.“
Abschätzend verzog Domallen das Gesicht. „Das wären an die sechzig Gruppen, Hauptmann, das würde ganz sicher auffallen.“
„Dann halt die doppelte Anzahl an Leuten pro Wagenzug, es wär’ ja lediglich ein Anfang. Weitere Gruppen können sich nach Westen aufmachen, außerdem nach Osten, Richtung Kirjat.“
„Kirjat ist hoffnungslos überfüllt.“ Es schien Domallen ein gewisses Vergnügen zu bereiten, seine Vorschläge zurückzuweisen. „Und habt Ihr überdacht, wie viele Wagen Ihr für ein solches Vorhaben bräuchtet?“
„Ähm, noch nicht, ich … Wie viele Wagen hattet Ihr damals für die Flüchtlinge aus Dalgena, Mara?“
„Erst etwa ein Dutzend, zwei sind dann kaputt gegangen, Janek hat noch welche nachgeholt … Achtzehn.“
„Also achtzehn für… zweihundert Menschen?“
„Knapp hundertsechzig“, korrigierte sie ihn. „Die nur das allernötigste dabei hatten, so gut wie keine Vorräte, die Ostländer waren bereits in Dalgena. Euer Plan ist eine interessante Idee, ein erster Ansatz, aber so nicht durchführbar, Hauptmann Ivorek.“
„Eben, ein erster Ansatz.“ Er zuckte die Achseln. „Müssen denn überhaupt alle besagten dreißigtausend die Stadt verlassen?“
„Gute Frage, die Hälfte würd’ mir schon reichen.“ Sinnend musterte ihn Domallen, nickte vage. „Behaltet Euren Plan im Hinterkopf, Hauptmann, so schlecht ist der nicht, wenn auch nur eine Teillösung. Wir werden darüber noch im Kriegsrat diskutieren, in spätestens fünf Tagen. Gènaija.“ Domallen beugte sich über Maras Hand, küsste ihre Fingerspitzen. „Danke für die prompte Benachrichtigung.“
Ihm nickte er nicht einmal zu und verließ eilig den Raum.
„Ich habe es tatsächlich nicht gewusst. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht.“ Ivorek lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand, schaute auf Mara, die ruhig seinen Blick erwiderte, und fragte sich, ob er nicht ebenfalls gehen sollte. „Vielleicht hältst du mich jetzt für weltfremd und naiv, aber ich habe mich nie darum gekümmert, mit welcher Frau er was am Laufen hat. Diese ganzen Gerüchte und Geschichten haben mich schlichtweg nicht interessiert.“
Mara betrachtete ihn sinnend, den Kopf zur Seite geneigt. „Vielleicht solltest du ihm in nächster Zeit beim Training nicht über den Weg laufen.“
„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Himmel, der Mann, zufällig auch mein Hauptmann und mein Heerführer, irgendwann mal mein König, hasst mich, weil ich mit dir…“
„Das bezweifle ich.“
„Na, du kennst ihn sicherlich besser. Und was jetzt?“
„Wie meinst du das?“
„Schätzchen, er weiß es! Er weiß, dass wir beide es… dass wir miteinander intim waren.“
„Und? Das geht ihn nichts an, Ivorek.“
„Aber…“
„Wenn du es genau wissen willst, ich habe seit Monaten nicht mit ihm geschlafen. Die anderen ... Kerle ... Der einzige von Bedeutung seit Davians Tod warst du.“ Ihre Stimme klang kühl.
„Ich habe dich nicht danach gefragt, Mara.“
„Nein. Aber vielleicht solltest du das wissen.“
„Dann…“ Er gab seinen Platz an der Wand auf und ging zu ihr, hockte sich neben ihren Sessel. „Ich bin ein Trottel, in Ordnung. Aber müssen wir das hier bereden?“
„Nicht unbedingt, ich wollte in die Beraterunterkunft. Wenn du mitkommen möchtest?“
„Nur unter der Bedingung, dass du mir Tee kochst und ich mit deinem Sohn ’ne Weile spielen kann.“
Sie lächelte schwach. „Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass es jeder wissen und jeder darüber reden wird. Ich bin nicht irgendeine Frau, Ivorek.“
Er zog sie auf die Füße. „Wär ’n bisschen spät, jetzt noch wegzulaufen.“
* * *
Lucinda wanderte gelangweilt durch die Räume des Palastes. Sie hatte Sandar, auf dessen Wunsch hin, begleitet, nun nahm der allerdings einmal mehr an einer Sitzung teil und sie selbst wusste nicht so recht, was sie hier sollte. Bis sie unverhofft auf Tessa traf, die, abwesend an ihrem Daumen kauend, aus dem Fenster sah. „Tessa, wie schön, dich wieder einmal…“
Tessa fuhr regelrecht zusammen; sie musste in Gedanken sehr weit weg gewesen sein. Bei ihrem Verlobten, diesem Prinzen von den Inseln? „Ah … Lucinda. Ich habe dich gar nicht…“
„Du hast geträumt. Von deinem Zukünftigen?“, neckte Lucinda sie. Die Frage erübrigte sich fast, von wem sonst sollte die immer etwas schüchterne und so brave Tessa träumen. Und dass Tessas Verlegenheit nur noch zunahm, bestätigte ihre Vermutung nur.
„Ähm…“ Hektisch fuhr sich Tessa übers Gesicht, leckte sich nervös die Lippen. „Kann Sandar eigentlich gut küssen?“
„Denke schon, ja.“ Lucinda lachte auf, es klang in ihren Ohren etwas zu gewollt. „Allerdings habe ich noch nicht wirklich viele Männer geküsst, dass ich Vergleichsmöglichkeiten hätte, da müsstest du andere fragen. Wo wir beim Thema sind, weißt du, ob Mara sich hier irgendwo rumtreibt?“
Bei Lucindas frechen, respektlosen Worten runzelte Tessa tadelnd die Stirn und richtete sich im Sessel auf. „Nein. Sie nimmt an der Sitzung des Kriegsrates teil.“
Die konnten den ganzen Abend dauern, noch bis spät in die Nacht. „Ach so.“ Daran hätte sie auch selbst denken können.
„Was wolltest du denn von ihr?“
Leichthin zuckte Lucinda die Achseln. „Nichts weiter, ich wollt’ sie nur was fragen. Ist nicht so wichtig.“ Verglichen mit einer Sitzung des Kriegsrates war es das tatsächlich nicht. „Weißt du, worüber sie beraten? Genauer, meine ich?“
„Nein. Das Übliche halt, die nächsten Schritte, Planung des weiteren Vorgehens.“ Tessas Stimme klang spröde. „Es hört sich immer so… so selbstverständlich an, wenn Reik davon redet, so kalt und sachlich, dabei … Urlis Marok hat sich nach dem Tod Urlis Kaidans zum Großkönig krönen lassen.“
„Oh, das ist…“ Erschrocken biss sich Lucinda auf die Lippen. „Du meine Güte. Und er … dein Bruder redet mit dir über solche Themen?“ Mit der kleinen, unbedarften Tessa, ihrer Freundin aus Kindertagen?
„Längst nicht über alles, bestimmt nicht, aber… Na ja, über manche Dinge schon, seine Gedanken und Überlegungen. Allgemeiner Art.“
„Nicht über die Frau, die er mal heiraten und zur Königin machen wird?“
„Nein.“ Tessa schüttelte den Kopf. „Das ist für ihn kein Thema.“
„Aber irgendwann wird es eins sein, eher früher als später. Und er braucht einen Erben, einen männlichen Nachkommen, daran kommt auch er nicht vorbei.“
„Ist das bei euch, bei dir und Sandar, ein Thema?“
„Nei…“ Lucinda spürte, wie sie einen hochroten Kopf bekam; ganz so harmlos, wie sie glaubte, war Tessa wohl nicht. „Jedenfalls spricht Sandar nicht davon. Wir sind ja nicht verheiratet, und auch darüber sprechen wir nicht… mehr. Er redet überhaupt recht wenig mit mir, manchmal komme ich mir…“ Wieder biss Lucinda sich auf die Lippen, was beklagte sie sich, und dann auch noch bei Tessa, die eine nahe Verwandte Sandars war, die Sandar wie alle jungen Mädchen anhimmelte.
Ernst musterte Tessa sie. „Behandelt er dich schlecht?“
Hastig widersprach sie. „Nein, nein, das nicht. Er … ist oft schlecht gelaunt und niedergeschlagen, und seit sein Freund, dieser verdammte Davian, umgekommen ist, ist es noch schlimmer. Er trinkt ständig, ist jeden Abend betrunken, so dass ich… Ich habe Angst, dass er mir mal wirklich wehtun wird, dass er … Ich habe Angst vor ihm, vor Sandar!“ Schluchzend barg sie das Gesicht in den Händen, konnte Tessa nicht ansehen. „Und dabei liebe ich ihn doch.“
„Wolltest du deshalb mit Mara sprechen?“
„Ja, ich…“ Heftig schniefend nickte sie. „Weil es ja auch um ihren Mann geht. Ich weiß nicht, was ich falsch mache, Sandar ist manchmal so schrecklich … ablehnend, richtig feindselig. Aber ich bin doch nicht schuld, ich kann doch nichts dafür!“
„Davians Tod hat viele getroffen, nicht nur Sandar.“ Tröstend legte Tessa ihr die Hand auf die Schulter. „Macht er sich denn Vorwürfe? So viel ich von Reik weiß, war Sandar doch gar nicht dabei.“
„Aber von Sandars Leuten sollen die Hinweise über die Ostländer in dem Weiler gekommen sein. Die… falschen Hinweise, irgendetwas war da… ich weiß auch nicht genau, missverständlich oder unvollständig, zumindest hat er das neulich Nacht…“ Sandar war völlig betrunken gewesen, sie hatte sein Gelalle kaum verstanden. Und er hatte immer noch mehr getrunken und war schließlich nicht einmal mehr in der Lage gewesen, mit ihr… Es war scheußlich gewesen, ziemlich widerlich. Am nächsten Morgen hatte er sich an nichts mehr erinnert. „Ich kann nicht verstehen, dass das manchen Frauen Spaß macht.“
Erschrocken und voller Bestürzung schaute Tessa sie an. „Lucinda…“
„Ich weiß nicht, was daran schön sein soll, Tessa, wirklich nicht.“ Lucinda gefiel der bittere, resignierte Tonfall ihrer eigenen Stimme nicht. „Ja, die Küsserei und das Streicheln, all das… Aber das danach, wenn er stöhnend auf dir liegt und…“ Sie sollte das Tessa nicht sagen, nicht auch noch Details erzählen! „Ich mag es nicht, ich mag es nicht, Tessa!“
Verzweifelt sah sie ihrer Freundin ins Gesicht. „Was soll ich denn tun, ich hab’ ihn doch gern, und er… Ich fühle mich so dreckig, so…“
„Du musst mit ihm reden, Lucinda, er ist doch ein vernünftiger Mann.“
„Ich kann nicht mit ihm reden! Ich schäme mich, und… ich heul’ wegen so einer Sache rum wie ein kleines Mädchen, andere… Anderen Frauen geht es viel schlimmer, die…“
„Das kannst du doch nicht vergleichen!“, unterbrach Tessa sie aufgebracht. „Du sprichst von dem Mann, mit dem du dein Leben verbringen, mit dem du Kinder haben willst. Dann rede ich mit ihm, das geht doch nicht, ihr könnt nicht…“
„Nein, Tessa, das darfst du nicht, du darfst ihm nicht sagen, was ich dir erzählt habe! Bitte, Tessa, du bist meine Freundin!“
„Eben darum muss ich mit ihm reden, Lucinda.“ Tessa hatte ihre Hände gegriffen, drückte sie fest. „Ich kann nicht zulassen, dass er dich wie Dreck behandelt, das geht einfach nicht, das will ich nicht.“
„Nein, Tessa, versprich es mir!“ Hätte sie doch nicht davon angefangen. „Du darfst es ihm nicht verraten, niemandem!“
„Aber…“
„Versprich es mir!“ Sie schrie fast.
Tessa presste die Lippen zusammen, sichtlich erbost und wütend, nickte dann aber. „Gut. Wenn du darauf bestehst.“
* * *
Reik stand im Türrahmen und beobachtete wie verzaubert Gènaija. Sie trug Jurei durchs Zimmer, diesen großen, kahl anmutenden Wohnraum in der Beraterunterkunft, und sang ihm dabei leise etwas vor. Ein Anblick, der ihm schier das Herz zerriss, so unfassbar schön und friedvoll, dass er erst einmal schlucken musste. Trotzdem klang seine Stimme rau. „Was ist das für ein Lied?“
Sie sah nicht einmal richtig auf, drehte sich jedoch ein wenig in seine Richtung. „Das hat mir dein Zweiter mal vorgesungen. Und der kennt es von seiner Großmutter.“
Lächelnd senkte er den Kopf, nur um ihn gleich darauf wieder zu heben und sie weiter regungslos zu betrachten. „Es ist schön.“
„Aye. Du kannst gern reinkommen, Reik.“
„Ich wollte nur…“ Nicht stören, sie bloß sehen, hören, riechen, ihr nahe sein. „Sind die Kopfschmerzen noch schlimm?“
„Nein, nicht mehr allzu schlimm. Hier ist es ruhig, kühl und dunkel, das hilft.“
Es war sogar ziemlich kalt im Raum, vielleicht hatte sie die Fenster offen gehabt; sie trug offenbar nur diesen Morgenmantel, hatte ihren Sohn aber in eine bunte Decke gewickelt. „Du frierst hoffentlich nicht?“
„Ich habe dicke Socken an.“ Sie war nicht wesentlich näher gekommen, stand noch immer mitten im Zimmer; eine Menge Raum, Distanz, die er überwinden musste. „Möchtest du was Bestimmtes?“
„Nur…“ Er seufzte, fuhr sich über das Gesicht. „Keine Ahnung, bloß … War eine dumme Idee von mir zu kommen, entschuldige.“
Und sie sah ihn nur an, wortlos, abwartend, er konnte im spärlichen Licht nicht einmal ihren Gesichtsausdruck erkennen.
„Gènaija, bitte…“
„Was erwartest du von mir, Reik? Ich kann nicht und ich will auch nicht.“
„Ich weiß, ich…“
„Aber was erhoffst du dir, wenn du mitten in der Nacht hier auftauchst, stumm in der Tür stehst und mich nur ansiehst?“
„Hasst du mich?“
„Nein. Ich bin wütend, wenn auch jetzt gerade…“ Sie wandte sich ab, brachte ihren schlafenden Sohn ohne eine Erklärung ins Schlafzimmer. Kam zurück und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen neben eins der Fenster, vergrößerte die Distanz. „Manchmal könnte ich vor Wut alles zerschlagen, die ganze Zeit nur brüllen und schreien … Ziemlich sinnlos. Und dann wieder möchte ich nur weinen, endlos weinen, mich in Tränen auflösen, und das ist genauso sinnlos, das hilft nicht. Das hilft alles nicht.“
„Hilft denn ein Mann wie Ivorek?“
Die Temperatur im Raum schien noch weiter zu sinken, als hätte sie erneut die Fenster geöffnet. Dann lachte Gènaija rau auf. „Raffiniert von dir, du lieferst mir auch noch Gründe, dich zu hassen. Ja, ein bisschen. Er ist da.“
„Ablenkung?“
„Mehr als das, er… Vielleicht so etwas wie Zukunft.“
Reik war verblüfft von ihrer Offenheit, erschüttert, rasend eifersüchtig. „Das ist viel. Dann…“
„Ja.“
Es gab nichts mehr zu sagen, er machte sich lächerlich. Und doch konnte er sich nicht aufraffen und gehen, setzte sich stattdessen auf die Couch. Vielleicht in der Hoffnung, einen Grund zu finden, sie zu hassen. Absurd. „Setz dich wenigstens zu mir, Gènaija.“
„Was erhoffst du dir davon?“
„Das hast du bereits gefragt. Du frierst doch.“
„Stimmt.“ Sie setzte sich tatsächlich, wenn auch nicht wirklich nah. „Du hast mir nicht geantwortet.“
„Weil ich keine Antwort habe. Keine, die dir genügen würde.“ Grimmig legte er den Arm um sie und zog sie näher, hätte sie gern geküsst, auch gegen ihren Willen, hätte nur allzu gern… „Du schienst mit den Berichten von Sandars Kundschaftern unzufrieden zu sein.“
„Nicht unzufrieden, ich habe mich nur gefragt, ob die Berichte … ob das, was die Männer glaubten gesehen oder nicht gesehen zu haben, so stimmt. Satorian ist ein äußerst fähiger Zauberer, und nicht einmal der einzige bei den Ostländern. Illusionen sind für einen guten Zauberer kein allzu großes Problem, und Satorian hat das bereits mehrfach gemacht. Liz übrigens auch, ich ebenfalls.“
„Du meinst…“
„Ich meine gar nichts, aber ich traue ihnen nicht.“
Er nickte sinnend. „Wär’ vielleicht sinnvoll, wenn Meister Liz-Rasul oder dein Vater einmal mit den Spähern reitet.“
„Vielleicht besser Liz, meinen Vater beschäftigen momentan ganz andere … Gedanken.“
„Womöglich würde der aber eine derartige Ablenkung zu schätzen wissen? Es ist immer schön, zu einer wartenden Frau zurückzukehren.“
Gènaija ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. „Musst du ja wissen.“ Wandte ihm das Gesicht zu.
Er kam ihrer Einladung nach und küsste sie sacht, während seine Finger am Halsausschnitt des Morgenmantels entlang glitten. Irgendwann... Der Gedanke ließ ihn lächeln.
* * *
Ja, sicher, es war kein guter Zeitpunkt für eine große Feier, Nuri verstand das. Hiron hatte von einer möglichen Räumung der Hauptstadt gesprochen, dem Näherrücken der ostländischen Armee, anderen beunruhigenden Dingen. Den Ereignissen in und bei Birkenhain, einem kleinen Dorf, gar nicht allzu weit entfernt.
Trotzdem wollte Hiron sie heiraten, jetzt. Dann würde die Feier eben sehr klein ausfallen, ‚familiär‘ war sein Ausdruck. Gemeint war wohl ein Essen im kleinen Kreis, hier im Haus. Also nur er und sie und der kleine Mavi, seine Mutter – sein Vater sei verhindert – und seine Schwester Indira, womöglich seine andere Schwester. Vielleicht würden sogar noch zwei, drei Bekannte, Freunde, deren Namen ihr nichts sagten, vorbei schauen. Das ‚große‘ Fest, auch die Zeremonie im Tempel würden sie eben nachholen. Vielleicht im Sommer, dann konnten sie den Garten nutzen, vielleicht, wenn der Krieg endlich vorüber war, vielleicht ... vielleicht...
Nuri presste die Lippen zusammen, sie war... fühlte sich ... nervös. Noch nervöser, seitdem sie eindeutig die Stimmen anderer Menschen unten im Haus hörte, ab und an Gelächter. Doch sie sollte hier oben warten, in ihrem Zimmer. Wanderte unruhig im Raum herum und bemühte sich, nicht ihren Rock ganz knittrig zu machen, indem sie ständig die Hände hinein krampfte. Ein ums andere Mal an ihrem Haar, ihrer Frisur herum zupfte; Indira hatte ihr geholfen, es kunstvoll auf zu stecken, verziert mit schimmernden Perlenschnüren und einem kleinen Schleier, mehr Schmuck, als dass dies spitzenverzierte Stückchen Stoff irgendetwas verbarg. Gar ihr Gesicht verhüllte.
Sie war nervös, und als sie dann Schritte auf der Treppe hörte, auf dem Weg zu ihrem Zimmer, wäre Nuri am liebsten weggelaufen. Aber sie schrie nicht auf, als es an der Zimmertür klopfte – sie glaubte leises Lachen, Indiras Gekicher zu hören – und bat mit recht fester Stimme ein zu treten. Tatsächlich waren es Hirons Mutter und seine beiden Schwestern, die ältere, Ondra, kannte sie nur dem Namen nach, welche gut gelaunt mit freudigen Mienen herein kamen, sie umringten. Und nach unten baten, denn alle würden nur auf sie warten.
Wie auf Wolken, wie über üppiges, weiches Moos schreitend – das Gefühl hatte sich ihr auf ihrer Wanderung durch Mandura eingeprägt –, stieg Nuri die Treppe hinunter, seine Mutter gefällig plaudernd an ihrer Seite, Ondra und Indira hinter ihnen, einen Moment, einen langen Moment überglücklich, denn Hiron, den zappeligen, übers ganze Gesicht strahlenden Mavi neben sich, erwartete sie am Fuß der Treppe.
Und der Mann, in Bälde ihr Ehemann, ergriff behutsam ihre Hände. „Nuri, Liebste, ich freue mich.“
Nuri brachte kein Wort heraus, konnte ihn nur anstrahlen, anlächeln, und schüttelte überwältigt den Kopf. „So viele Leute, Hiron, ich... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ... Du, ihr alle“, sie sah in die Runde, den Kreis der fröhlichen, freundlichen Gesichter um sie. Selbst dieser ewig mies gelaunte Ron, abseits nahe der Eingangstür stehend, neben ihm erkannte Nuri zu ihrer großen Freude Mara, die ihren kleinen Sohn auf dem Arm trug, zog einmal ein freundlicheres Gesicht – was ihn zu einem überraschend attraktiven Mann machte. „... macht mich glücklich.“
„Dann hat sich der Aufwand ja gelohnt“, schmunzelte Hiron gutmütig, zog sie noch etwas näher und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. „Ich schlage vor, wir unterzeichnen jetzt gleich die Papiere, Zeugen sind wohl genügend zugegen, und dann feiern wir, vergessen für eine Weile Krieg und Traurigkeit und stoßen auf die Zukunft an.“
Übermütig, fast ein bisschen albern lachend, weil Hiron es geschafft hatte, mit seinen Worten die Schwere zu vertreiben, stimmte sie ihm zu. „Nur zu gern, Liebster.“
* * *
„So förmlich?“, Sandar nickte zu dem ansprechend gedeckten Tisch hin.
Lucinda mochte das, solch schöne Dinge gestalteten. Mittlerweile hatte sie sogar damit begonnen, selbst die Garderobe für ihre Tochter und sich zu schneidern. Wie sie erst kürzlich noch Ondra, deren Schwester und dieser hübschen, schwarzhaarigen Ostländerin berichtet hatte; sie hatte mit der Frau auf deren Hochzeit tatsächlich über Mode und Kleider geredet.
Sie nahm Sandar gegenüber Platz. „Na ja, wir müssen zum Reden ja nicht immer unten in der Küche sitzen.“
„Du willst reden?“, er klang spöttisch, ein bisschen misstrauisch.
„Ich glaube, wir sollten reden.“ Tessa würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen.
„Und worüber ... genau? Dich und mich?“
Lucinda nickte, presste die Lippen zusammen. „Ich habe den Eindruck, wir sind zurzeit beide nicht sehr glücklich. Mit uns, mit der Situation.“
„Darf ich?“, er deutete auf die bereitstehenden Speisen: Gebäck und süße Pasteten. „Meinst du den Krieg?“
„Es ist nicht allein der Krieg, sondern... Es geht um uns. Wir sind nicht glücklich, miteinander, der Art, wie wir...“ Sie seufzte, sah ihn bedrückt an. „Ich bin nicht glücklich und du bist es offensichtlich auch nicht...“ Unsicher fingerte sie an ihrer Teetasse herum, bevor sie endlich einen Schluck trank.
„Was meinst du, du bist nicht glücklich? Du wolltest doch nicht heiraten.“
Ablehnend schüttelte Lucinda den Kopf, nicht wieder dies alte, noch immer bittere Thema. „Wenn du so ... heftig bist, so grob, weil du getrunken hast, unglücklich und traurig ... Sandar, ich habe Angst vor dir!“ Sie biss sich auf die Lippen, kämpfte um eine feste Stimme und blickte ihm ins Gesicht. „Und das möchte ich nicht. Angst haben müssen vor dem Mann, den ich liebe, mit dem ich eine Familie, Kinder ...“
„Plötzlich willst du eine Familie, gar Kinder?“, fuhr er auf. „Schätzchen, darf ich dich daran erinnern, du hast Nein gesagt!“
„Aber davon rede ich nicht!“, stieß sie rau hervor.
„Ach nein? Wovon denn dann? Dass du Angst vor mir hast, wenn ich mal ein, zwei Gläser Branntwein...“, verächtlich schnaubte er. „Du behauptest doch, du würdest verstehen...“
„Sandar, du tust mir weh! Du bist nicht nur ein bisschen heftig, wenn du getrunken hast, du bist grob und rüde und...“, schluchzend fuhr sie sich übers Gesicht. „Und es ist widerlich, wenn du dann versuchst, mit mir... zu schlafen. Und am nächsten Tag erinnerst du dich nicht einmal mehr daran!“
„Das war einmal, Lu, ich hatte einfach zu viel...“
„Aber kannst du dir nicht vorstellen, wie, wie...“, es gab kein passendes Wort, sie wollte ihn nicht kränken. „Es ist nicht schön, Sandar, und ich möchte das nicht, nicht so. Weil ich dich gern habe, weil ich dich liebe und schätze! Aber wie soll ich dich noch schätzen, wenn du dich mir gegenüber so gehen lässt, wenn du... Verstehst du nicht, Sandar?“, weinend barg sie ihr Gesicht in den Händen, verzagt, weil sie nicht die richtigen Worte fand, Sandar nur aufbrachte.
Hörte ihn aufstehen und spürte ihn unvermittelt neben sich, seine Hand auf ihrer Schulter. „Und jetzt?“
„Ich weiß es doch auch nicht“, weinte sie verzweifelt, „aber ich kann und will so nicht leben, Sandar!“
„Also schmeißt du mich raus?“
„Nein, ich... Sandar!“, sie stieß den Stuhl zurück, wandte sich aufspringend um und schlang Sandar die Arme um den Hals. „Sandar, ich liebe dich.“
„Aber ich soll gehen, ja? Und so bald auch nicht wiederkommen.“
„Was soll ich denn sonst tun? Den Mund halten und das ... dich ertragen, bis ich dich irgendwann nur noch verabscheue?“
„Nein“, sein Lachen schmerzlich, als er ihr Gesicht umfasste, sie sanft auf die Stirn küsste. „Du hast ja Recht, ich muss was... Mich, mein Verhalten ändern. Es tut mir leid. Drücke und herze die Kleine von mir.“
* * *
Nuri hatte noch nach Mavi gesehen, war dann aber wieder zu Hiron ins Bett gekrabbelt und hatte sich an ihn gekuschelt. Und sie hatten sich ein zweites Mal geliebt, sehr sanft, sehr innig, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Unaufgeregt und doch alles andere als selbstverständlich.
Hiron zog Nuri enger an sich und hielt sie fürsorglich in seinen Armen, da sie so bitterlich weinte. Nicht das erste Mal in diesen Tagen. „Was ist denn los? Ich glaubte, du wärst glücklich, dabei ... Habe ich etwas falsch gemacht, dir etwa wehgetan?“
„Nein“, schluchzte Nuri, „gar nicht, und du machst alles richtig!“ Sie vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. „Das ist es nicht, nur... Ich bin glücklich, richtig glücklich, es stimmt alles, das musst du mir glauben! Ich weiß auch nicht, was mit mir ist, wie ich das... ob ich das erklären kann. Manchmal fühle ich mich so ... bald überwältigt, weil ich, weil es mir hier, bei dir, so gut geht, dass ich vor Freude weinen könnte, mir die Tränen in die Augen steigen. Aber dann muss ich daran denken, was ... wovon du neulich geredet hast und wie der Krieg verläuft. Ich sollte mich schämen, mich glücklich zu fühlen, ich sollte...“
„Nein, Nuri. Liebste, bestimmt nicht! Das ist doch Unsinn!“, er zog sie noch näher, strich liebkosend über ihr Gesicht. „Aber ich denke, ich verstehe, was du meinst. Es sind schwere Zeiten, die Situation... schwierig, äußerst unklar.“ Er küsste sie sacht. „Bist du schwanger?“
„Was?“ Hastig rückte sie von ihm weg, schien überrascht, fast ängstlich. „Wie...“
„Ich musste an etwas denken, was mir meine Schwester Ondra mal erzählt hatte, über ihre heftigen Stimmungsschwankungen zu Beginn ihrer Schwangerschaft.“ Er schmunzelte. „Gela hatte ja immer heftig wechselnde Stimmungen, nicht allein, als sie... Du hast mir nicht geantwortet, Liebste.“
„Ich...“ Nuri griff nach seiner Hand, zog sie an ihr Gesicht. „Ich weiß es nicht, nicht sicher ... Wäre das schlimm?“
„Es wäre herrlich!“, erklärte er fest und bemerkte, dass seine Stimme zitterte. Fuhr liebkosend über Nuris Wange und zog sie überschwänglich an sich, herzte und küsste sie. „Es wäre wunderschön. Und würde mich in meiner Absicht nur noch bestärken, dich und den Kleinen auf jeden Fall zu begleiten, wenn ihr mit den anderen die Stadt verlassen werdet.“
„Wir...“
„Dazu wird es kommen, glaub mir. Aber mach dir darüber jetzt keine Sorgen, du wirst nicht durch das halbe Land laufen müssen, oder auf einem lahmen Gaul reiten.“
Sie schmiegte sich an ihn, ließ seine Hand jedoch nicht los. „Es klingt bestimmt ... sehr dumm, doch ich fand es trotz allem aufregend. Und manchmal sogar schön.“
„Ja. Manchmal sogar das“, mit der Hand glitt er über Nuris Rücken, ihre Seite, platzierte sie behutsam auf ihrem Bauch. „Wir bekommen ein Kind?“
„Ich weiß es nicht sicher, aber... Ja, wahrscheinlich. Du freust dich?“
„Kein Mann könnte sich mehr freuen als ich, Liebste, du weißt... Lassen wir das.“ Er schüttelte den Kopf und küsste Nuri erneut innig. „Ich liebe dich.“
„Mhm, und ich dich“, mit geschlossenen Augen drängte Nuri sich seufzend an ihn und er hüllte fürsorglich die Decken um sie. „Erzähl mir doch noch ein bisschen über deine Familie, deine Schwestern kenne ich ja inzwischen. Hast du noch mehr Geschwister?“
„Einen älteren Bruder, Keram, er ist Kommandant der Stadtwache von Dalgena. Wir ... ich habe allerdings schon lange nichts mehr von ihm gehört. Mein jüngerer Bruder ist, vor etlichen Jahren bereits, gestorben.“
„Das ist schrecklich! Wieso, ich mein... ein Unfall, oder war er krank?“
„Er bekam wohl heftiges Fieber und hat sich davon nicht wieder erholt, wurde immer schwächer. Bis er dann verstarb, nicht einmal vierzehn Jahre alt. Ich war zu der Zeit gar nicht hier, sondern in Dalgena.“ Sinnend fuhr er durch Nuris Haar. „Hast du Geschwister?“
„Ja, einige, Brüder und Schwestern, die meisten älter als ich. Nur zwei, ein Mädchen und ein Junge, der ist aber kurz nach der Geburt gestorben, sind jünger. Ich weiß aber nicht, ob meine Mutter nicht noch mehr Kinder bekommen hat, nachdem ich von meiner Familie weg bin. Vermutlich. Viele Kinder und Enkelkinder... Nachkommen machen einen Kalimatan stolz.“
„Wie viele wart ihr denn?“, fragte Hiron nach.
„Oh, da muss ich ... also die Kleinen und ich, drei, dann vier oder fünf ältere Schwestern und drei ältere Brüder. Und dann hatte mein Vater noch weitere Kinder mit seiner ersten Frau, die... na ja, sie ist ihm weggelaufen. Zwei junge Burschen und eine Schwester lebten aber noch bei uns.“
„Ein volles Haus.“
„Sehr, bloß war das Haus eher ... ein Häuschen, eine Hütte, jedenfalls nicht zu vergleichen mit deinem wunderbaren großen Haus hier. Du bist reich, nicht wahr? Deine Familie?“
„Na ja, ich nicht so“, er verzog das Gesicht. „Meine Familie, viel mehr mein Vater, Simeon Ligoban, ist allerdings ziemlich reich, ein erfolgreicher und einflussreicher Kaufmann und Händler.“
„Und deine Mutter und deren Familie?“
„Oh, meine Mutter“, er stieß die Luft aus, schob sich den Arm bequem unter den Kopf. „Sadurnim, eine... nein, die älteste und angesehenste Familie Manduras.“
„Wie auch dieser sehr große, sehr kräftige Mann?“
„Sandar, genau. Mein Vetter... einer meiner Vetter, gibt ja noch andere.“
„Und... deine Tante ist die Königin?“ Nuri schien fassungslos.
„Ja, sie ist die jüngere Schwester meiner Mutter“, Hiron lachte leise. „Wusstest du das nicht?“
„Nein, ich... ich bin erschüttert“, klagte Nuri.
„Weil die Königin meine Tante ist?“
„Weil ich vor ein paar Tagen den Neffen der Königin geheiratet habe, ohne mir dessen auch nur bewusst zu sein. Du musst mich für schrecklich dumm halten?“
„Das mache ich nicht“, versicherte er ihr. „Ich bin ein Neffe der Königin, nicht der. Ich sagte ja gerade, ich hab‘ noch ‘nen Bruder.“
„Keram“, wiederholte Nuri. „Der Hauptmann der Stadtwache von Dalgena, richtig?“
„Richtig.“
* * *
„Sandar!“, rief Mara den großen, wuchtigen Gardehauptmann an, der ihr ein so guter Freund geworden war und in dem kleinen, noch winterlich kahlen Palastgarten entgegen kam. Sie rückte ihren Sohn bequemer auf der Hüfte zurecht.
„Gut, dass ich dich hier treffe“, lachte Sandar verblüfft und lief die letzten Schritte. „Ein erster Spaziergang, um die Sonne zu nutzen?“
„Ich spaziere“, erwiderte Mara leichthin. „Mein Sohn lässt sich weiterhin gerne tragen. Er kann noch nicht richtig laufen.“
„Mit der Betonung auf ‚noch‘“, Sandar streckte die Arme aus und nahm ihr Jurei ab. „Oder möchtest du höher hinaus, Kleiner? Dann setz ich dich auf meine Schultern.“ Sein Blick fragend, Mara nickte und wies Sandar nicht darauf hin, ihren Sohn auch ja gut fest zu halten. Jurei krähte und jauchzte vergnügt von seinem hohen Sitz aus.
„Worum geht es denn?“, fragte sie nach.
„Du verlierst keine Zeit, kommst immer direkt zur Sache.“
„Weißt du doch“, sie zwang sich zu einem Lächeln. „Übers Wetter wüsste ich auch nichts Bemerkenswertes mehr zu sagen, ich bin keiner deiner Pächter.“
„Mein Glück, hm? Zwei Dinge“, begann Sandar und reichte ihr hastig einige Papiere, mit goldenem und blauem Band umwickelt, die er in der Hand gehalten hatte. „Zum einen: eine Abschrift, eine bloße Kopie meines Berichts über die Ereignisse in… bei Birkenhain, ohne irgendwelche Ergänzungen speziell für dich.“
Mara nickte, die Lippen zusammengepresst, nahm die Papiere an sich.
„Ich meine, die… das solltest du haben. Wissen. Und wenn du unbedingt fragen…“ Er leckte sich die Lippen, sah sie nicht an.
„Ich frage nicht.“
„Gut.“ Er klang nicht erleichtert. „Die andere … Sache … wäre eher privater Natur, also … Wenn du darauf… ich könnt ’s verstehen.“
„Vielleicht sollten wir uns kurz auf die Bank setzen?“, schlug sie vor, um sein Gedruckse zu unterbrechen.
„Du bist schrecklich, Liebes, warum sagst du nicht einfach…“
„Wir sind Freunde, Sandar“, Mara nahm ihm ihren Sohn ab und auf der Bank, hart und kalt, Platz. „Und diese zweite Sache bedrückt… beschäftigt dich offenbar sehr.“
„Ja“, gab er zu und setzte sich dicht neben sie. Legte ihr locker den Arm um die Schultern, es war angenehm, da ein wenig wärmer, und griff nach ihrer freien Hand. „Du... Da du ja die Klarheit liebst: Sie ... Lu hat mich rausgeschmissen.“
Aufmerksam wandte sie ihm das Gesicht zu. „Ja?“
Er zuckte die Achseln. „Mich gebeten, sie in allernächster Zeit nicht mehr aufzusuchen, weil...“ Schüttelte den Kopf. „Ich… muss dir das, unsere Aussprache, wohl nicht in allen Einzelheiten schildern, jedenfalls hat sie mir einige unschöne Dinge sehr deutlich gesagt, ich wäre... ich täte ihr weh. Und sie hätte Angst vor mir.“ Sandar schwieg, sah sie nicht an.
„Und? Tust du ihr weh?“
„Ich... ich fürchte, ja. Scheiße, ich... Ich bin vermutlich nicht mehr sehr zartfühlend und rücksichtsvoll, wenn ich betrunken bin und... Das soll keine Entschuldigung sein“, erklärte er hastig.
„Das ist keine Entschuldigung, Sandar. Und auch deine Trauer ist keine Entschuldigung, dein Schmerz, nichts davon.“ Das gleiche könnte sie zu sich selbst sagen. „Sie hat dich wirklich sehr gern, hm?“
„Lu hat mir bestimmt dreimal gesagt, sie liebe mich, von Familie, von Kindern gesprochen, und trotzdem ... Ist vielleicht besser so.“ Seufzend stützte er den Kopf in die Hände. „Dreck, Mara, wir ... ich hatte alles! Und dann mache ich es kaputt, aus Schwäche, aus Selbstmitleid, weil ich ...“
„Hör auf“, unterbrach Mara ihn und strich über seinen gesenkten Kopf, fuhr mit den Fingern in sein dichtes Haar, als sie ihn aufschluchzen hörte, ihr bald selbst die Tränen kamen. „Hör auf damit, Sandar.“
* * *
Sichtlich aufgebracht lief Mikkie in Tessas Schlafzimmer auf und ab und schien sich dabei immer mehr in Rage zu reden. „Dein Bruder macht doch nicht ohne Grund einen solchen Druck, er hält es tatsächlich für sicherer, wenn ihr, du und deine Mutter, wie alle anderen Frauen und Kinder die Stadt verlasst.“
„Und du?“ Tessa sah ihn nicht an, hatte sehr offensichtlich das Gesicht abgewandt. „ Wie denkst du darüber?“
Er schüttelte den Kopf, erst langsam, dann immer heftiger. „Ich weiß es nicht. Dein Bruder hat mehr Erfahrung, sehr viel mehr Erfahrung im Kampf als ich, und…“
„Wir haben den richtigen Zeitpunkt verpasst.“ Sie sah ihn noch immer nicht an, sprach sehr leise, verhalten. „Wir hätten längst auf dem Weg nach Westen, in deine Heimat sein sollen, doch wir… Und jetzt sieht es so aus, als würden wir… als würde ich alle im Stich lassen. Weglaufen, wenn es zu schlimm wird.“
„Birkenhain war schlimm, richtig schlimm. Sagt Roderick, und er war dort.“
„Aber Samala Elis ist eine Stadt, eine große, befestigte Stadt, kein kleines Dorf. Wir haben eine Stadtmauer, zigtausende Soldaten, die Garde…“
„Tessa“, er hockte sich vor sie, umfasste sanft ihre Handgelenke. „Tessa, da kommt eine Armee! Dein Bruder und jeder, den du fragst, erwartet, dass sie die Stadt belagern werden, bis es… bevor es zum Kampf kommt. Und spätestens… allerspätestens dann ist jeder, der nicht kämpfen kann, in höchster Gefahr, dann steckst du hier in der Falle!“
„Was soll ich denn tun?! Was sollen wir denn dann tun, Mikkie? Ich will nicht… ich will dich nicht allein lassen und ich will nicht zusehen müssen, wie du kämpfst, wie irgendjemand kämpft und stirbt und verletzt wird und… Mikkie!“
Hastig schlang er die Arme um sie, und sei es nur, um sie am Schreien zu hindern. Aber Tessa schrie nicht, hatte sich überraschend schnell wieder in der Gewalt. „Ich laufe nicht weg, Mikkie. Und solange meine Mutter, solange die Königin bleibt, bleibe auch ich.“
Er schüttelte nur den Kopf, küsste sie leidenschaftlich. Sprach nicht aus, was er dachte.
(~705./707. Tag)