Читать книгу Craving Lily - Nicole Jacquelyn - Страница 5

Prolog Lily

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Ich war früher blind. Das meine ich nicht metaphorisch. Ich war buchstäblich und legal sechs Jahre lang blind. Dafür gab es keine wirkliche Erklärung. Die Ärzte nannten es dissoziative Störung. Meine Eltern nannten es hysterische Blindheit. Ich weiß nur, dass ich eines Tages auf einer Familienfeier von meinen beiden Großmüttern zu Boden gerissen wurde und sie mich mit ihren Körpern bedeckten. Ihr Parfüm mischte sich mit dem Geruch des Grases unter mir, als sie mich vor einem Kugelhagel schützten. Ich kniff die Augen zu, als sie flüsterten, dass alles wieder gut werden würde, doch dann zuckten ihre Körper und wurden still.

Als es vorbei war und mein Vater ihre Leichen von mir herunterzog, öffnete ich die Augen und konnte ihn nicht sehen. Ich konnte nichts sehen.

Mit der Zeit wurden meine anderen Sinne schärfer, um das fehlende Augenlicht auszugleichen, und das Leben ging weiter. Natürlich war es anders. Lange Zeit hatte ich Angst, zu gehen, allein gelassen zu werden oder selbst zu essen. Was, wenn ein Insekt in meinem Essen war und ich keine Ahnung hatte? Was war, wenn ich stolperte und mein letztes bisschen Orientierungssinn verlor? Was war, wenn etwas passierte, wenn ich allein war und ich nicht darauf reagieren konnte, weil ich die Bedrohung nicht sah? Ich weigerte mich sogar zu schlafen, wenn ich meinen Dad den Flur hinunter nicht schnarchen hörte. Schließlich wurde es jedoch zu meiner neuen Normalität. Kinder sind robust, und das war bei mir nicht anders.

Meine Sehkraft kam in so kleinen Schritten zurück, dass sie kaum merkbar waren. In der Nacht, als meine Schwester ihre Sachen packte und mich bat, bis zum Morgen zu warten, ehe ich meinen Eltern sagte, dass sie weg war, fragte ich mich, warum sie nicht das Licht ausgeschaltet hatte, nachdem sie mich in ihrem Bett zugedeckt hatte und verschwunden war. Ich wusste, dass es im Schlafzimmer hell war, verstand es aber erst später, als meine Cousine Rose mich fragte, warum ich automatisch das Licht einschaltete, wenn ich in ein Zimmer kam.

Monatelang sah ich nur Licht und Schatten, als ob ich versuchen würde, durch ein weißes Laken zu sehen und dann plötzlich, als wäre sie nie weg gewesen, war meine Sehkraft wieder da. Einfach so.

Ich dachte über die Jahre ohne Augenlicht nach, während der Mann vor mir langsam auf und ab ging. Sein Haar war völlig zerzaust, weil er so oft mit den Fingern hindurchgefahren war. Er war gut gekleidet. Ein Russe. Jünger, als ich zunächst gedacht hatte, aber auch kräftiger. Sein Partner war weniger einschüchternd. Größer, aber wärmer. Die beiden hatten die letzten zwanzig Minuten etwas auf Russisch diskutiert, und ich hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatten. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung, wie sie auf das Grundstück gekommen waren. Cams und Trix’ Grundstück wurde bewacht, war eingezäunt und nur einen Steinwurf vom Motorradclub der Aces entfernt. Einst hatte das Haus meinen Großeltern gehört und war gebaut worden, um Angriffen standzuhalten. Mein Großvater war Präsident des Clubs gewesen, also hatte er einen Panikraum ins Büro einbauen lassen. Leider hatte ich nicht genug Zeit, um hineinzukommen, nachdem die Männer ins Haus eingedrungen waren. Ich hatte es jedoch geschafft, meinen Neffen Handzeichen zu geben, sodass sie sich jetzt außer Sichtweite befanden. Mein Gott, ich hoffte, sie verstanden, was sie tun sollten.

„Dein Name?“, fragte mich der jüngere Mann zum zehnten Mal.

Ich antwortete nicht. Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten, aber wenn sie Informationen über den Club hatten, zu dem alle Männer meiner Familie gehörten, würde das bestimmt meine Stirn zur Zielscheibe werden lassen.

„Wie heißt du denn?“, konterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich wurde frech, das wusste ich, konnte den Impuls aber nicht unterdrücken. Sie hatten mich auf einen Stuhl geschoben, nachdem sie sich ins Haus gedrängt hatten. Keiner der Männer hatte mich angerührt. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich aufhalten würden, wenn ich versuchen würde, abzuhauen, mir aber ansonsten keinen Schaden zufügen wollten. Ich musste nur dafür sorgen, dass ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet blieb, damit sie nicht das Haus durchsuchten.

Der kräftigere Kerl sah zur Haustür und murmelte etwas Unheilvolles, was den jüngeren noch nervöser machte. Sie warteten auf etwas, doch ich wusste nicht, auf was.

„Weißt du, du solltest hier besser abhauen“, sagte ich zu dem zappeligen Typen. „Wenn jemand bemerkt, dass du hier bist, bist du tot.“

„Halt die Klappe, Miststück“, sagte der Kräftige mit so starkem Akzent, dass ich eine Weile brauchte, um die Worte zu verstehen. „Halt einfach die Klappe.“

„Ich meine es ernst. Ihr beiden seid am Arsch“, fuhr ich fort und beobachtete den Jüngeren beim Hin- und Herlaufen. „Haut einfach ab, und ich muss niemandem sagen …“

Der Kräftige muss stinksauer gewesen sein, weil ich seine Warnung ignoriert hatte, denn eine große Faust knallte gegen die Seite meines Kopfes und alles wurde schwarz.

Als ich eine Weile später wieder aufwachte, dachte ich kurz, dass die Blindheit zurückgekommen wäre. Ich konnte nichts sehen, nicht eine einzige Form oder auch nur Licht. Erst als meine Augen zu brennen begannen, begriff ich, dass ich nicht blind war. Dann fing ich an zu husten, weil überall um mich herum Rauch war.

Craving Lily

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