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Kapitel 2 Lily Vier Jahre später

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„Was ist mit Molly und Wills Haus?“, fragte Rose. Sie rannte im Zimmer herum und stopfte Sachen in einen Rucksack.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Charlie ist da und spielt mit Reb. Sie würden sich in unseren Kram einmischen. Außerdem ist Will wahrscheinlich zu Hause. Ich dachte, das Ziel ist, dass unsere Verabredungen uns irgendwo abholen, wo man sie nicht zu Tode erschreckt.“

„Gutes Argument. Tatsächlich hätte ich in der Highschool gerne Dates, und du weißt, dass Jayden es rumerzählen würde, wenn einer der Kerle ihm eine Heidenangst einjagt.“

„Warum hast du überhaupt Ja zu ihm gesagt?“, fragte ich und ließ mich rückwärts auf ihr Bett fallen.

„Niemand anders hat mich gefragt“, antwortete sie pragmatisch. „Und ich wollte nicht allein zum Abschlussball gehen.“

„Ja“, murmelte ich. „Ging mir genauso.“

„Du hast davon geträumt, mit Leo hinzugehen, was? Allerdings hast du mit Brent irgendwie den Jackpot geknackt“, erwiderte sie und warf sich neben mich aufs Bett.

„Wirklich? Er scheint nett zu sein. Schöne Hände.“ Ich ignorierte ihren Kommentar über Leo. Das war ein Gespräch, das ich nicht schon wieder führen wollte.

„Himmel.“ Rose lachte. „Brent sieht wie ein Model aus. Ich mache ein Foto von euch. Wenn deine Sehkraft nicht zurückkommt, bevor er alt und fett ist, kannst du sehen, wie er jetzt aussieht. Der absolute Jackpot.“

„Ein Model?“ Ich versuchte, mir vorzustellen, was das bedeutete, hatte damit aber keinen Erfolg. Die Männer, die ich kannte, waren raubeinig. Ich erinnerte mich eigentlich nur klar daran, wie die Männer in meiner Familie aussahen. Sie ähnelten eher Verbrecherfotos als Models.

„Ja, er ist hübsch“, antwortete Rose und zog dabei das letzte Wort in die Länge.

Ich überdachte das eine Minute und lächelte dann. „Dann ist es wahrscheinlich gut, dass unsere Dads ihn nicht sehen werden. Kannst du dir vorstellen, was sie sonst veranstalten würden?“

„Warum glaubst du habe ich darauf bestanden, dass sie uns nicht von zu Hause abholen, sondern anderswo?“, witzelte sie. „Das war ganz sicher nicht wegen meines Dates. Jayden mag zwar ein Weichei sein, aber er ist wie ein Panzer gebaut und hat das Gesicht einer Bulldogge.“

Mein Kichern steigerte sich zu einem Lachen, bei dem ich mir den Bauch hielt. „Wir sind so verdammt erbärmlich“, keuchte ich.

„Stimmt. Also wo zur Hölle sollen wir uns fertig machen?“

„Bei Trix und Cam?“

Beep! Falsch.“

„Bei Poet und Amy?“

„Das soll ein Witz sein, oder?“

„Wie wäre es bei Tommy? Ist er heute Abend nicht mit Leo unterwegs?“, fragte ich und rollte mich auf die Seite. „Hawk fände das cool.“

„Du behältst Leo immer im Auge, was?“

„Meine Schwester hat vorhin am Telefon darüber gesprochen.“

Ich stand auf und fasste nach unten, um mich im Zimmer zu orientieren. Ich war genau zwischen der linken Seite von Roses Kommode und der Wand, was bedeutete, dass ich zwei mittelgroße Schritte vom Ende des Betts entfernt war.

„Du bist so eine Lauscherin“, erwiderte Rose und stieg vom Bett.

„Es ist irgendwie schwierig, sie zu ignorieren, wenn sie im selben Zimmer ist“, konterte ich.

„Da hast du recht“, stimmte sie zu. „Ich rufe Hawk an und sehe, was sich machen lässt.“


Eine Stunde später schleppten wir unsere Kleider und Rucksäcke voller Schönheitsartikel in das Haus von Tommy und Hawk. Ich musste vorsichtig sein. Sie gestalteten das Haus seit einigen Jahren um, und da sich die Dinge nie zwei Mal am selben Platz befanden und überall Werkzeug herumlag, war es für mich nie sicher, mich dort aufzuhalten. Ich kam ohne mein Augenlicht ziemlich gut zurecht, aber Tommys Haus war für mich eine verdammte Feuerprobe.

„Oh, dein Kleid ist fantastisch, Lil“, sagte Hawk und nahm es mir aus der Hand. „Nicht mein Stil, aber an dir wird es höllisch heiß aussehen. Ich hänge es auf, damit es nicht total zerknittert, okay?“

„Danke, Hawk.“ Ich lächelte ungefähr in ihre Richtung und versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Ich mochte es, in Tommys und Hawks Haus zu gehen. Es roch immer gut, und Hawk war toll. Aber nachdem ich einmal so hart auf einen Nagel getreten war, dass er meinen Fuß durchbohrte, konnte ich mich dort nie mehr entspannen. Ich dachte schon, dass Tommy zu weinen beginnen würde, als es passierte. Er hatte sich so sehr bemüht, dafür zu sorgen, dass nichts mehr da war, woran ich mich verletzen könnte.

„Was ist mit meinem Kleid?“, fragte Rose. Sie nahm meine Hand, legte sie sich auf die Schulter und ging los. Ich folgte ihr ganz entspannt, denn ich vertraute darauf, dass sie mich nicht in etwas hineinlaufen lassen würde. Ich folgte meiner Cousine jetzt seit fünf Jahren, ließ sie meine Augen sein, wenn ich sie brauchte, und sie hatte mich nie im Stich gelassen. Nicht ein einziges Mal.

„Deins habe ich schon gesehen“, erinnerte Hawk sie. „Ihr könnt euch im Gästezimmer im Erdgeschoss fertig machen. Wir haben es eingerichtet für den Fall, dass jemand hier strandet und zu betrunken ist, um die Treppen nach oben zu gehen. Und es passt gut zu dem anschließenden Badezimmer.“

„Danke“, sagte Rose und verlangsamte ihre Schritte. „Wir gehen durch eine Tür, Lil.“

Ich streckte den Arm aus und strich mit der Hand über den Türrahmen, als wir ins Zimmer gingen.

„Soll ich dir bei deinem Make-up helfen?“, fragte Hawk und setzte sich aufs Bett, das quietschte.

Meine Augen weiteten sich vor Schreck und Rose antwortete mit mühsam unterdrücktem Lachen.

„Goth ist nicht so wirklich unser Stil.“

„Hey“, erwiderte Hawk. „Ich habe es schon reduziert!“

„Nicht genug“, sagte Rose und tätschelte meine Hand. „Hier drin steht keine Kommode, Lil. Direkt gegenüber und links von dir sind Wände. Es gibt ein Doppelbett, ungefähr drei Schritte geradeaus und einen Schritt zu deiner Rechten. Die Badezimmertür ist ungefähr eineinhalb Meter rechts von der Tür, durch die wir gerade hereingekommen sind. Keine Lampen, und das Bett hat kein Kopf- und Fußteil. Mist, dieses Zimmer ist deprimierend.“

„Es beherbergt betrunkene Männer. Es muss nicht fröhlich sein“, mischte Hawk sich ein.

„Oh, und die Tagesdecke auf dem Bett hat den reizenden Farbton Kotzgrün, falls du dich das gefragt hast.“

„Ich habe es mich nicht gefragt“, sagte ich trocken. „Aber danke für die Info.“

Ich bewegte mich behutsam durchs Zimmer und folgte Roses Anweisungen, bis ich das Bettende erreichte und meine Tasche darauf abstellte. Ich hatte nicht besonders viele Schönheitsartikel, aber ich hatte ungefähr eine Tonne von Roses Sachen hergeschleppt. Sie machte mein Make-up, wann immer es einen Anlass dazu gab, aber meistens ging ich einfach ohne. Die meiste Zeit über war meine Haut klar, und ich war wegen meines Äußeren nie eitel gewesen. Es hatte wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass ich mein eigenes Spiegelbild seit Jahren nicht gesehen hatte. Ich war schlank und stark, und auch wenn ich keine großen Möpse oder einen Hintern wie Rose hatte – ja, als sich ihre Hüften gerundet hatten, hatte sie sie mich fühlen lassen, und jedes Mal, wenn sie dachte, dass ihr Hintern größer geworden war, hatte sie mich um eine Überprüfung gebeten, weil ich mich immer an die Größe erinnerte – aber ich war glücklich mit dem, was ich hatte. Meine Eltern waren nie besonders üppig gewesen, also hatte ich nicht damit gerechnet, dass es bei mir anders sein würde.

„Sollen wir uns zuerst anziehen oder …“

„Nein“, antwortete Rose schnell. „Wir müssen uns zuerst um Make-up und Haare kümmern. Wenn wir dann etwas fallen lassen, kommt es nicht auf unsere Kleider.“

„Ich helfe euch“, sagte Hawk entschlossen und ließ sich aufs Bett plumpsen. „Ich war nie der Typ für Abschlussbälle, aber ihr beiden seid umwerfend und ich will dabei sein.“

„Aber nicht beim Make-up“, sagte ich und meine Lippen zuckten. Ich hatte Hawks Gesicht seit Jahren nicht gesehen, aber ich erinnerte mich an den Irokesenschnitt und den dicken, schwarzen Eyeliner, den sie getragen hatte, als sie mit Roses Bruder Mick abgehangen hatte. Er war ihr bester Freund gewesen, bis Mick an dem Tag starb, an dem ich mein Augenlicht verlor. Sie war ein paar Jahre später wieder aufgetaucht und kam mit Roses anderem Bruder Tommy zusammen. Und seitdem waren sie ein Paar.

„Ich kann die Frisuren machen“, erwiderte Hawk. „Was habt ihr euch da vorgestellt?“

„Ich möchte meins in einem lockeren französischen Zopf tragen“, sagte ich schnell, bevor Rose eine ihrer Tiraden loslassen konnte.

„Das ist so langweilig. Warum steckst du es nicht hoch?“, fragte Rose.

„Weil ich französische Zöpfe mag. Sie sind klassisch. Außerdem muss ich mir keine Sorgen machen, dass mein Haar herunterfällt und ich es nicht wieder hochstecken kann.“

„Es ist ja nicht so, dass ich dich mit kaputter Frisur herumlaufen lassen würde“, brummte Rose.

„Ich will nicht, dass du den ganzen Abend für mich den Babysitter spielst.“

„Was glaubst du denn? Wenn du denkst, dass ich dich mit Brent allein lasse, hast du den Verstand verloren.“

„Was wird dein Date davon halten?“

„Ich bin ziemlich sicher, dass er dachte, er kriegt zwei zum Preis von einer, als er mich fragte, ob ich mit ihm zum Ball gehe!“, rief Rose frustriert.

Wir schwiegen beide eine Weile und brachen dann in schallendes Gelächter aus.

„Oh nein“, widersprach ich.

„Oh doch. Er fragte, ob du uns begleitest. Ich dachte, er würde dir ein Anstecksträußchen oder so einen Scheiß besorgen“, schnaubte Rose.

„Das wäre bei deinen Brüdern gut angekommen“, sagte Hawk.

„Es ist wahrscheinlich gut, dass ich mein eigenes Date habe“, antwortete ich.

„Und er ist hübsch“, fügte Rose hinzu.

„Wirklich? Wie hübsch?“, fragte Hawk.

„Wie ein Model aus einer dieser Einkaufspassagen, die wie eine zerbrochene Eau de Cologne Flasche riechen.“

„Nicht mein Typ“, sagte Hawk. „Ich mag es etwas männlicher.“

„Wie auch immer“, sagte Rose. „Du bist mit Tommy zusammen. Also bist du bestimmt nicht sehr wählerisch.“

Wir stellten Musik an, über die Hawk sich beschwerte und verbrachten die nächsten beiden Stunden mit Quatschen, während wir uns auf den Tanzabend vorbereiteten. Mein Kleid war eigentlich zweiteilig. Der Rock war schwarz und saß hoch auf meiner Taille, war nur leicht ausgestellt und reichte bis zum Boden, um die flachen Schuhe zu verbergen, die ich anziehen wollte. High Heels kamen für mich einfach nicht in Frage, außer ich wollte mich auf die Nase legen. Das kurze Oberteil war weiß und spitzenbesetzt, hochgeschlossen und ließ die Schultern frei. Ich hatte viele Kleider anprobiert, aber es war schwierig, weil ich die Farben nicht sah. Ich war froh, dass ich mich für Schwarz und Weiß entschieden hatte. Die Farben waren klassisch und die Teile waren so einfach geschnitten, dass ich sie mir vorstellen konnte.

Rose trug gerade meinen Lippenstift auf, als es an der Haustür klopfte.

„Oh, Scheiße“, sagte Hawk überrascht. „Um wie viel Uhr sollten die Jungs euch abholen?“

„Ich habe Jayden gesagt um sieben“, murmelte Rose. „Verdammt.“

„Das habe ich Brent auch geschrieben. Er hat allerdings nicht geantwortet“, sagte ich.

„Ich gehe nachsehen, welcher es ist. Seid ihr beiden fertig?“

„Bin ich“, antwortete Rose. „Du bist auch soweit, Lil. Bleib genauso, ich mache ein Bild von uns, solange wir so heiß aussehen.“

„Cheese“, rief ich frech, als Rose ihr Gesicht an meins drückte.

„Du bist so eine Nervensäge“, beschwerte sie sich und küsste mich auf die Wange. „Aber ich liebe dich trotzdem.“

„Ich dich auch.“

„Rose, Jayden ist hier!“, rief Hawk aus dem Wohnzimmer.

Ich folgte Rose aus unserem Schönheitssalon und lächelte breit, als ich hörte, wie Jayden scharf den Atem einsog, als er uns sah.

„Heilige Scheiße. Du siehst umwerfend aus, Rose“, sagte er leise.

„Danke, Mann“, sagte Rose, was Hawk zum Kichern brachte.

„Du auch, Lily“, sagte Jayden.

„Danke!“ Ich spielte nervös mit den Armbändern an meinem Handgelenk. Ich hasste es, wenn ich wusste, dass irgendjemand mich ansah. Das war wahrscheinlich ziemlich normal, aber die meiste Zeit über konnte ich es nicht mit Sicherheit wissen. Es war viel härter zu wissen, dass jemand einen musterte und man seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

„Zurück zu mir“, sagte Rose und sorgte so wieder dafür, dass sie seine Aufmerksamkeit bekam. „Hast du mir ein Anstecksträußchen gekauft?“

Ich versuchte mühsam, ein Lachen zu unterdrücken. Sie hatte sich total darauf versteift.

„Ja. Ich war nicht sicher, was für ein Lila du tragen würdest, also meinte meine Mom, dass ich einfach weiße Rosen besorgen sollte“, plapperte Jayden nervös.

„Ich glaube, er macht sich gleich in die Hose“, flüsterte Hawk so leise, dass nur ich es hören konnte. „Und er hat ihr Rosen mitgebracht?“

„Das ist doch süß.“

„Ja, wenn man einen Typen am Gängelband führt. Das hält niemals. Rose wird ihn herumkommandieren.“ Sie zögerte und sagte dann noch leiser: „Außerdem sieht er wie eine Bulldogge aus.“

Ich hustete, um mein Lachen zu verbergen. Ich wünschte, ich könnte ihn sehen.

„Wo zum Teufel ist Brent?“, fragte Rose ein paar Minuten später. „Er kommt zu spät.“

„Nur ungefähr fünfzehn Minuten“, erwiderte ich.

„Eher fünfundzwanzig“, sagte Jayden freundlich. „Ich war zehn Minuten zu spät.“

„Oh.“ Ich lachte verlegen und griff nach meinem Telefon. „Vielleicht sollte ich ihn anrufen?“

„Ich schreibe ihm eine Nachricht“, sagte Rose und nahm mir das Handy aus der Hand.

„Sei nicht gemein. Vielleicht hat er sich verfahren.“

„Dann hätte er anrufen sollen“, sagte sie gereizt.

Zehn Minuten später war Brent immer noch nicht aufgetaucht.

Zwanzig Minuten später spürte ich, wie mir die Röte den Hals heraufstieg. Zum Glück hatte ich den Eindruck, dass niemand es sehen konnte. Rose war in dieser Situation allerdings keine Hilfe. Sie schimpfte vor sich hin und lief hin und her. Ich hörte ihre High Heels bei jeder Runde auf dem Parkett klicken.

„Ihr solltet losfahren“, sagte ich schließlich und unterbrach damit ihre Tirade.

„Oh, halt die Klappe“, erwiderte sie. „Ich gehe nicht ohne dich.“

Sie blieb vor mir stehen, griff nach meiner Hand und legte sie sich auf die Schulter. „Wir gehen zusammen.“

„Rose“, sagte ich sanft und drückte ihre Schulter. „Das ist peinlich. Jayden wartet schon seit fast einer Stunde. Geht einfach.“

„Nein.“

„Bitte“, flüsterte ich fast unhörbar. „Geh. Mach es nicht noch schlimmer für mich.“

„Auf keinen Fall.“

„Rose“, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Ich liebte ihre Loyalität, verfluchte aber ihre Sturheit. „Wenn du nicht mit deinem verdammten Date gehst, damit ich dieses verfluchte Kleid ausziehen kann, muss ich dich umbringen.“

Sie schwieg sehr lange, doch sie musste etwas in meiner Miene gesehen haben, denn sie murmelte schließlich: „Ich wusste, dass ich Jayden hätte sagen sollen, dass er zwei Anstecksträußchen mitbringt. Ich werde Brent in die Eier treten, wenn ich ihn sehe.“

„Gut. Ich bin nicht ganz sicher, wie groß er ist, also würde ich sie wahrscheinlich verfehlen, wenn ich es versuchen würde.“

„Bist du sicher?“, fragte sie und legte ihre Hand auf meine.

„Ich bin sicher.“ Ich schluckte hart. „Geh.“

Zehn Minuten später stand ich immer noch auf derselben Stelle. Mein Herz hämmerte wie wild, als Tommy und Leo lärmend durch die Haustür kamen.

„Mann, du musst an diesem verfluchten Auspuff arbeiten“, sagte Leo. „Der klingt echt scheiße.“

„Fick dich …“ Tommy brach ab. „Hey, Lily, ich dachte, ihr wärt schon weg.“

Ich lachte trocken und spielte mit meinen Armbändern, drehte sie immer wieder. „Nur ich bin noch hier. Rose ist schon gegangen.“

„Wolltet ihr nicht vor einer Stunde gehen? Ist dein Typ verloren gegangen?“, witzelte Tommy.

„Tommy“, schnappte Hawk, die aus der Küche kam, wohin sie gegangen war, um mir etwas Privatsphäre zu geben. „Halt die Klappe.“

„Was denn?“, fragte er verwirrt. „Was habe ich denn gesagt?“

„Er ist nicht aufgetaucht?“, fragte Leo sanft.

„Vielleicht ist er in ein Erdloch gefallen?“, antwortete ich an dem Kloß in meiner Kehle vorbei.

„Dieser Dreckskerl“, knurrte Tommy. „Wie heißt er?“

„In welcher Welt trägst du meine Kämpfe aus, Thomas Hawthorne?“, fragte ich gereizt.

„In dieser“, schnappte er.

„Falsch.“

„Okay, dann frage ich Rose.“

„Sie wird dir nichts sagen, und das weißt du.“

„Sie sollte es besser tun!“

„Hört auf, ihr beiden“, mischte Hawk sich ein. „Tommy, lass sie in Ruhe.“

Mein Cousin sagte kein Wort mehr, stupste mich aber in die Seite, als er und Hawk an mir vorbeigingen. Seine Freundin musste ihn weggezogen haben. Sonst hätte er es nicht auf sich beruhen lassen.

„Du bist wunderschön“, sagte Leo, nachdem die beiden weg waren. „Lass mich alles ansehen.“

Lächelnd hob ich die Arme an und drehte mich langsam um mich selbst.

„Du kannst froh sein, dass dein Dad dich nicht in diesem Kleid gesehen hat, Löwenzahn“, sagte Leo und pfiff. „Er hätte dich nie aus dem Haus gelassen.“

„Was ebenso gut gewesen wäre, weil mein Date erst gar nicht aufgetaucht ist“, antwortete ich und ließ die Arme an die Seiten sinken.

„Da hat er etwas verpasst, Süße.“

„Ja. Ich ziehe mich wohl besser um. Ich muss anrufen, um zu sehen, ob meine Mom mich abholen kommt.“

„Soll ich dich fahren?“ Seine Schritte hallten auf dem Boden, bis seine Stimme viel näher war als zuvor.

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber wieder. Als Kind liebte ich es, auf dem Sozius des Bikes meines Vaters mitzufahren. Samstagmorgens weckte er mich vor meinen Geschwistern auf und wir schlichen uns aus dem Haus, um eine lange Fahrt zu machen, bevor die anderen aufwachten. Es war etwas, das wir beide für uns allein hatten. Nachdem ich blind wurde, änderte sich das allerdings. Ich fühlte mich desorientiert, wenn ich auf einem Bike saß. Den Wind empfand ich als stärker und ich hatte den Eindruck, das Gleichgewicht zu verlieren. Es war egal, wie sehr ich mich an der Taille meines Dads festklammerte, es fühlte sich nie wieder wie vorher an. Wie Fliegen. Wie Freiheit.

„Ich weiß nicht“, sagte ich leise und versuchte, Mut aufzubringen. Vor Jahren war ich auch bei meinem Onkel und Bruder mitgefahren, aber seit ich mein Augenlicht verloren hatte, traute ich mich nur noch, bei meinem Dad aufzusteigen. Ich konnte es einfach nicht über mich bringen, mit jemand anderem zu fahren.

Aber ich wollte wirklich auf dem Sozius von Leos Bike sitzen. Mehr als ich sollte, wenn man seine On-off-Beziehung mit meiner älteren Schwester in Betracht zog, auch wenn sie in letzter Zeit eher off gewesen war.

„Ich fahre langsam“, sagte er und lachte. „Hol deine Sachen und zieh dir etwas anderes als diesen Rock an.“

„Ich …“, stotterte ich. Dann räusperte ich mich unbehaglich. „Ich weiß nicht, wo das Schlafzimmer ist.“

„Oh, Scheiße. Stimmt ja.“ Leo schlang einen Arm um meine Taille, legte die Hand an meine Seite und drehte mich in die richtige Richtung. „Manchmal vergesse ich das einfach“, murmelte er neben meinem Ohr.

„Wie?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist einfach eins der Dinge, die mir an dir nicht auffallen.“

„Äh, wie kannst du das Fehlen des Blickkontakts nicht bemerken?“

„Gewöhnlich starre ich auf deine Titten“, scherzte er und grunzte, als ich ihm den Ellbogen in den Magen stieß.

„Das war ein Witz. Jedenfalls meistens.“

Wir schlurften ins Schlafzimmer und Leo ging, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich wusste, wo alles ist. Er gab mir sogar die Jeans, die ich vorher getragen hatte, als ob ich sie nicht gefunden hätte, obwohl sie säuberlich gefaltet auf meinem Rucksack lag. Ich weiß nicht, wie er zwischen meiner und Roses Hose unterscheiden konnte, aber er hatte es geschafft.

Ich schüttelte den Kopf, legte meinen Rock aufs Bettende und schlüpfte in meine Jeans. Bei allem, was hätte passieren können, hätte ich als Letztes damit gerechnet, dass mein Date mich im Stich lassen könnte. Es war ja nicht so, dass ich ihn gefragt hätte. Er war zu mir gekommen. Es war seine verdammte Idee gewesen.

Ich hoffte, dass Rose Spaß hatte, aber ich war ziemlich sicher, dass sie den ganzen Abend über schmollen und jedem in der Schule erzählen würde, dass sie Brent in die Eier treten würde. Es käme ihr nicht einmal in den Sinn, für sich zu behalten, dass ich sitzen gelassen worden war. Solche Dinge machten sie nicht verlegen und sie ging davon aus, dass es bei mir genauso war.

Ich war allerdings verlegen. Ich war so verlegen, dass ich mich bereits vor der Schule am Montag fürchtete. Alle würden es wissen. Selbst wenn Rose nichts gesagt hätte, hätten die Leute es gewusst. Unsere Schule war nicht groß, und wenn das blinde Mädchen und das Model vorhatten, zusammen zum Abschlussball zu gehen und dann nicht auftauchten, bemerkten das alle. Das war für die Highschool ganz normal.

Nachdem mein Mantel und mein Rucksack sicher auf meinem Rücken verstaut waren, bewegte ich mich vorwärts, bis ich die Tür fand und sie langsam öffnete. Ich hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer und war ziemlich sicher, dass ich meinen Weg dorthin ohne Zwischenfälle finden würde, zögerte aber dennoch in der offenen Tür.

Leo … er war einfach alles. Er war der Mann, der dafür sorgte, dass es im Vorhof des Clubhauses nichts gab, worüber ich stolpern konnte. Er kümmerte sich darum, dass alle ihre Stühle an den Tisch schoben, sodass ich nicht hineinlief. Er schaute sich mit mir Titanic an, obwohl ich den Film nicht sehen konnte, spulte aber die heißen Liebesszenen vor, als wäre er verlegen. Ich war ziemlich sicher, dass er das erste Nicht-Familienmitglied war, das mich jemals schön genannt hatte. Der Einzige, der nicht zur Familie gehörte, bei dem ich jemals Dampf abgelassen hatte.

Mein erster und einziger Schwarm.

Sobald ich in ein Zimmer kam, hörte er auf, mit meiner Schwester zu streiten, zögerte aber nie, in meiner Gegenwart zu fluchen, wenn er wegen irgendetwas stinksauer war. Er tadelte mich, wenn ich Schimpfwörter benutzte, aber immer mit einem Lächeln in der Stimme. Er behandelte mich, als wäre ich von Bedeutung. Als ob ich etwas erreichen könnte und er das auch absolut von mir erwartete. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein anderer Mann ihm jemals das Wasser würde reichen können.

„Ist alles in Ordnung?“ Leo erschreckte mich mit seinem Ruf den Flur hinunter. Ich war so mit meinen Tagträumereien beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal seine Schritte bemerkt hatte.

„Ja, ich orientiere mich nur noch“, antwortete ich, streckte den Arm aus und strich mit der Hand die Wand entlang, während ich voranging. „Jetzt, wo sie mit dem Erdgeschoss fertig sind, muss ich öfter hierher kommen.“

„Ja, aber Tommy ist verflucht schlampig, also sei vorsichtig, auch wenn du glaubst, dass du weißt, wo alles ist“, warnte er mich. Er legte seine Hand über meine an der Wand, als ich ihn erreichte. „Komm, Löwenzahn, lass uns fahren.“

„Wollt ihr los?“, fragte Tommy, als wir zur Haustür gingen.

„Ja, ich fahre sie nach Hause“, antwortete Leo.

„Bring sie besser direkt nach Hause“, murmelte Tommy, gefolgt von einem hörbaren Klatschen.

„Halt den Mund, Thomas“, schalt Hawk.

„Danke, dass du uns beim Vorbereiten geholfen hast“, rief ich zu Hawk zurück, als Leo die Haustür öffnete. „Tschüss, Quatschkopf!“

„Es hat Spaß gemacht, du siehst toll aus!“, antwortete Hawk und gleichzeitig schrie Tommy: „Raus hier, du Göre!“

Leo half mir die Verandastufen hinunter und blieb in der Auffahrt stehen. Er setzte mir seinen Helm auf, und ich senkte die Lider.

„Ich muss mir einen besseren Helm besorgen“, sagte Leo.

„Ich weiß, dass ihr Kerle solche Sachen mögt“, antwortete ich und schob seine Hände von den Riemen, sodass ich sie selbst unter meinem Kinn schließen konnte. „Aber diese Art von Helm schützt deine Rübe überhaupt nicht.“

„Ja, ja.“

„Und die Käfer. So viele Käfer, die dir ins Gesicht knallen.“

„So schlimm ist es nicht.“ Leo lachte.

„Quatsch. Es ist grässlich. Ich habe das Zeug gesehen, dass sich in euren Bärten verfängt.“

„Nicht in meinem“, widersprach er und half mir auf sein Bike. „Damals war ich zu jung für einen Bart.“

„Stimmt.“ Ich setzte mich zurecht und wartete, dass er vor mir aufstieg. „Bei Poet ist es am schlimmsten. So viel Bart. So viele Insekten.“

Leo lachte, stieg aufs Bike, griff nach hinten, zog mich näher zu sich heran und legte meine Arme um seine Taille. Ein paar Sekunden später dröhnte das Bike unter uns und zum ersten Mal seit Langem fühlte ich einen Anflug des vertrauten Adrenalinschubs.

Ich war zu klein, um mein Kinn auf seine Schulter zu legen. Wir fuhren aus der Auffahrt und ich schob mich weiter nach vorn, bis meine Stirn an seinem Rücken lag. Er roch nach Leder und Rasierwasser. Sein T-Shirt war dünn, und seine Brust- und Bauchmuskeln fühlten sich unter meinen Händen fest an. Ich hätte für immer so dasitzen können, während der Wind mir das Haar ins Gesicht trieb und seine Hand ab und zu meine tätschelte.

Leider war unsere Stadt nicht besonders groß und nur ein paar Minuten später verlangsamte er das Tempo und bog in meine Auffahrt. Wie hielten an, aber keiner von uns rührte sich, während die Nacht um uns herum still wurde.

„Sieht aus, als wäre niemand zu Hause“, sagte er schließlich und unterbrach damit das Schweigen.

„Das ist schon in Ordnung. Ich habe meinen Schlüssel.“ Ich löste die Arme von seiner Taille und wartete darauf, dass er vom Bike stieg und mir herunter half.

„Ich lasse dich hier nicht allein“, sagte er stur.

„Ich bin sechzehn“, erinnerte ich ihn. Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, wie jung das für ihn klingen musste. „Ich bin dauernd allein zu Hause.“

„Nein“. Er zögerte. „Nicht hier. Ich kann dich hier nicht allein lassen.“

„Willst du mit reinkommen?“, fragte ich und beugte mich ein bisschen vor.

„Nein“, antwortete er sofort.

Ich lachte. „Nun, dann weiß ich nicht, was du willst.“

„Lass uns etwas rumfahren, okay?“

Mein Lächeln verblasste und ich lehnte mich zurück. „Okay.“

Ich wartete, bis er den Motor wieder anließ und schlang die Arme um ihn. Er schob das Bike etwas zurück und wendete. Dann waren wir wieder unterwegs und rasten durch Nebenstraßen. Er musste vergessen haben, dass er langsam fahren wollte, denn wir glitten schnell um Ecken und das Bike röhrte laut. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren oder auch nur, welche Richtung wir eingeschlagen hatten, aber ich hielt mich einfach nur an ihm fest und sagte nichts. Leo würde nie zulassen, dass mir etwas passierte.

Schließlich blieben wir stehen, und ich war ziemlich sicher, dass wir in der Nähe eines Flusses waren.

„Wo sind wir?“, fragte ich, nachdem er das Bike abgestellt hatte.

„Am Fluss“, antwortete er, was mir nicht wirklich etwas sagte. Er stieg vom Bike und half mir herunter.

„Ja, das höre ich. Warum?“ Ich nahm den Helm ab und glättete mein Haar so gut es ging.

„Mir gefällt dieser Ort“, antwortete er und schlang den Arm um meine Taille, um mich über den unebenen Boden zu führen. Ich bewegte mich mit vorsichtigen Schritten voran, auf das rauschende Wasser zu und stieß mir die Zehen an Wurzeln, die aus dem Boden ragten. „Hier“, sagte er, nahm meine Hand und legte sie auf eine raue Tischoberfläche. „Ein Picknicktisch. Standard. Die Bank ist ungefähr zweieinhalb Zentimeter unter deinem Knie.“

Ich nickte und beugte mich vor, um die Bank zu finden und machte einen kleinen Schritt zur Seite, um mich setzen zu können.

„Ist bei dir alles in Ordnung? Ich muss mal pinkeln.“

„Reizend“, sagte ich belustigt. „Ja, alles in Ordnung. Geh nur.“

Es ging mir gut, als er ging, aber sobald ich ihn nicht mehr hören konnte, geriet ich in Panik. Ich wusste tief in meinem Inneren, dass er mich nie zurücklassen würde. Das stand außer Frage. Aber der Gedanke, dass ich mich mitten im Nirgendwo befand, in der Nähe eines großen Gewässers, ganz allein, ließ meine Haut sofort eiskalt werden.

„Leo!“, schrie ich, was mich verlegen machte, aber nicht genug, um still zu sein. „Leo!“

„Was?“, rief er zurück, und ich hörte krachende Geräusche. „Löwenzahn?“

In weniger als dreißig Sekunden war er neben mir, berührte mein Gesicht und meine Hände. „Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?“

„Ich konnte dich nicht hören“, sagte ich und schüttelte den Kopf. Meine Zähne begannen zu klappern. „Das war blöd.“

„Verflucht, Mädchen. Das hat mich gerade ein Jahr meines Lebens gekostet.“

„Tut mir leid.“ Meine Zähne klapperten noch heftiger, und mir traten Tränen in die Augen.

Ich hasste es, mich schwach zu fühlen. Denn das war ich nicht. Ich war stark. Unabhängig. Ich stand für mich ein und ließ mir nichts gefallen.

„Ach, Süße. Das muss es nicht.“ Er setzte sich neben mich, legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich an seine Brust. „Das war nicht gerade meine beste Idee, was?“

„Es war eine gute Idee“, murmelte ich und griff nach dem T-Shirt, das er unter der Lederweste trug. „Ich bin einfach eine Idiotin.“

„Ich bin ziemlich sicher, dass ich der Idiot bin“, sagte er an meiner Stirn. „Ich habe mich vollgepisst, als du geschrien hast.“

Ich lachte erstickt, und er kicherte.

„Ich habe mich wie eine Frau benommen, die sicher sein will, dass sie weit genug weg ist, dass niemand sie pissen hören kann. Ich hätte nicht so weit weggehen sollen.“

„Dir ist klar, dass ich dich furzen gehört habe?“, fragte ich und schnaubte.

„Nein, hast du nicht!“ Er klang entsetzt.

„Oh, doch, habe ich!“

„Blödsinn.“

„Mein Gehör ist wirklich gut“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

„Zur Hölle“, murmelte er, und ich kicherte.

Er rutschte auf der Bank hin und her und ich beugte mich weg, aber er legte den Arm fester um meine Schultern, bis er mich fest an seine Seite drückte.

„Der Blödmann bedauert wahrscheinlich, dich heute Abend nicht abgeholt zu haben“, sagte er und lehnte sich gegen den Tisch.

„Ja, nicht?“, antwortete ich und nickte. „Was für ein Dreckskerl.“

„Es ist besser, dass du jetzt weißt, wie dieser Kerl ist, bevor du den ganzen Abend allein mit ihm verbracht hättest.“

„Allein und umgeben von allen Junior und Senior Klassen?“, scherzte ich.

„Es gibt viel, was man zuwege bringen kann, wenn man von Leuten umgeben ist, die einen nicht beachten“, erwiderte er.

„Stimmt.“ Ich seufzte. „Ich wollte nur den Abschlussball mit Rose genießen.“

„Du hast noch nächstes Jahr, Kleine.“

„Ja, und nächstes Jahr werde ich zu keinem Kerl, der mich fragt, Ja sagen. Hey, bist du nicht mit Ceecee zum Abschlussball gegangen?“

Leo spannte sich etwas an. „Ja. Zum Abschlussball im Junior-Jahr. Wir sind allerdings nicht lange geblieben. Wir sind früh abgehauen und zu einer Party gegangen.“

„Das klingt nach Ceecee.“

„Deine Schwester ist … wild. Anders kann man sie nicht beschreiben. Sie will, was sie will in der Minute, in der sie es will und zur Hölle mit jedem, der ihr im Weg steht. So ist sie schon immer gewesen.“

„Verwöhnt, meinst du.“

„Nein“, sagte er, und sein Knie begann ein bisschen zu hüpfen, kaum merkbar. „Deine Eltern haben alle ihre Kinder gleich erzogen, oder? Dich, Cam, Cecilia und jetzt Charlie. Ceecee ist die einzige, die egozentrisch ist. Das ist nicht der Grund dafür, dass sie verwöhnt ist.“

„Seid ihr noch zusammen? Ich kann es nicht beurteilen.“ Ich hasste, dass ich meine Schwester zum Thema gemacht hatte. Ich hasste, dass er versuchte, nett zu sein, obwohl wir beide wussten, dass sie ihn wie Dreck behandelte. Ich hasste, dass sein Arm um meine Schultern lag, und dass wir uns nie näher sein würden, weil sie ihn zuerst gesehen hatte. Sie waren im selben Alter. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte, von der ich kein Teil war, weil ich zu jung war.

„Meinst du das ernst? Wir sind seit Ewigkeiten nicht mehr zusammen, Löwenzahn“, antwortete er und riss dabei überrascht den Kopf herum. „Seit Jahren.“

„Oh.“ Ich wusste, dass sich mein Gesicht vor Überraschung verzog, aber diese Eröffnung war neu für mich. Meine Schwester redete die ganze verdammte Zeit über Leo. Soweit ich wusste, hingen sie noch regelmäßig zusammen ab. Ich war ziemlich sicher, dass selbst meine Eltern glaubten, dass sie noch zusammen wären. „Aber seid ihr beiden nicht ständig zusammen?“

„Klar, mit mehreren anderen“, sagte er. „Wir hängen alle zusammen ab. Meine Schwester und Cam, die Hawthorne Jungs und ihre Frauen, Rocky und Mel, Ceecee.“

„Das war nicht der Eindruck, den ich hatte“, murmelte ich.

Was für ein Spielchen trieb Cecilia bloß? Mindestens einmal in der Woche kam sie spät nach Hause und erzählte, dass sie mit Leo aus gewesen sei. Es war immer Leo – nie die Clique. Meinen Eltern war es inzwischen egal, wann sie nach Hause kam, solange sie jemandem sagte, dass es spät werden würde. Niemandem in unserer Familie gefiel es, mitten in der Nacht die Haustür aufgehen zu hören.

Ich hatte Ceecee lange Zeit nicht mehr nach Leo gefragt. Als ich jünger war, hatte ich mich nach Neuigkeiten über ihn und das, was sie unternahmen, gesehnt. Irgendwann begriff ich allerdings, dass die Kommentare meiner Schwester immer gemeiner wurden, bis ich ihn schließlich überhaupt nicht mehr erwähnte. Es schien fast, als wäre sie eifersüchtig, was gar keinen Sinn ergab, weil ich so viel jünger als die beiden war. Wir hingen nie mit denselben Leuten ab. Mick war der einzige von uns gewesen, der zwischen der Gruppe der älteren und der Gruppe der jüngeren Kids hin und her wechseln konnte, weil er genau in der Mitte war.

„Schikaniert sie dich immer noch dauernd?“, fragte Leo, nahm den Arm von meinen Schultern und suchte in seiner Tasche nach etwas. Ein paar Sekunden später hörte ich das Klicken eines Feuerzeugs und roch eine angezündete Zigarette.

„Nicht wirklich“, antwortete ich, lehnte mich zurück und überkreuzte die Füße. „Normalerweise kommen wir ganz gut miteinander aus. Allerdings gehe ich ihr auch die meiste Zeit aus dem Weg.“

„Was wahrscheinlich klug ist.“ Er stupste mit seinem Knie meins an.

„Sie ist einfach …“ Ich dachte ein paar Sekunden darüber nach, wie ich meine Schwester beschreiben sollte. „Ruhelos. Es ist, als wüsste sie nicht, was sie will, und wenn sie es weiß, hat sie keine Ahnung, wie sie es kriegen kann.“

„Ceecee kurz zusammengefasst“, scherzte Leo.

„Sie liebt mich. Das weiß ich. Sie würde für mich durchs Feuer gehen.“

„Stimmt.“

„Aber ich glaube nicht, dass sie mich besonders mag.“

„Sie ist eifersüchtig“, sagte Leo ernsthaft. „Sie hat, seit sie vierzehn ist, die Brücken hinter sich abgebrochen. Sie hat Freundschaften und Beziehungen hinter sich gelassen, als würde sie über Steine in einem Bach springen. Inzwischen gibt es hier nicht mehr viel für sie, und das weiß sie.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Löwenzahn, fällt dir jemand ein, der dich nicht mag? Ein einziger? Ich bezweifle es. Du hast eine Persönlichkeit, die Menschen anziehend finden. Das können sie nicht verhindern. Ceecee hat denselben Zug an sich, aber sie kann auch jemanden mit ein paar Worten fertig machen, als wäre das nichts. Die Menschen fühlen sich von euch beiden angezogen, aber sie bleiben bei dir.“

„Trotzdem hängen wir nie miteinander ab“, sagte ich befangen.

„Ja, weil du sechzehn bist und nicht mit Männern rumhängen solltest, die sechs Jahre älter sind als du.“

Er strich mir über den Kopf, als wäre ich fünf Jahre alt. „Dein Dad würde mich an den Eiern aufhängen.“

„Nein, würde er nicht.“

„Zur Hölle, das würde er.“ Leo lachte. „Ich würde dasselbe tun, wenn ich er wäre.“

„Er kennt dich.“

„Eben.“

„Du bist ein guter Kerl“, widersprach ich.

„Ein guter Kerl zu sein, hat nichts damit zu tun, Löwenzahn. Ein guter Kerl zu sein ändert nichts daran, dass ein Mann nicht mit einer Teenagerin abhängen sollte. Selbst, wenn sie nichts weiter tun als abhängen.“

„Meinetwegen“, schnaufte ich. „Aber das ist dumm.“

„Wir reden noch mal darüber, wenn du eigene Kinder hast und du sagst mir, wie du dann darüber denkst.“

„Cam ist noch viel älter als Trix“, betonte ich.

„Trix war aber älter als du, als sie zusammenkamen.“ Er brach ab und zog an seiner Zigarette. „Sie war auf dem College. Das ändert die Sache.“

„Ich denke immer noch, dass es lächerlich ist.“

„Natürlich tust du das“, neckte er mich. „Du willst so schnell wie möglich erwachsen werden.“

„Ach, halt doch die Klappe. Du bist nicht so viel älter als ich.“

„Weißt du, was der Unterschied zwischen dir mit sechzehn und mir mit sechzehn ist? Gewaltig.“

Ich wurde gereizt, wusste aber nicht genau, warum. War es, weil er sich benahm, als wäre ich ein Kind, oder lag es daran, dass mir mit einem bedrückenden Gefühl klar wurde, dass das seine supernette Art war, mir zu sagen, dass meine anhaltende Schwärmerei für ihn nie zu etwas führen würde?

Gott, er war so freundlich zu mir. Das war er immer schon gewesen. Selbst wenn er sich allen anderen gegenüber unmöglich benahm, gab er sich doch Mühe, nett zu mir zu sein. Das ging mir nicht in den Kopf.

„Ich sollte jetzt nach Hause“, murmelte ich schließlich und stand auf.

„Was ist? Schmollst du etwa?“, fragte er und stand ebenfalls auf.

„Ich schmolle nicht“, brachte ich hervor. Es frustrierte mich, dass ich nicht einmal von ihm weggehen konnte, ohne auf die Nase zu fallen. „Aber du hast recht, mein Dad würde ausflippen, wenn ich bis spät in die Nacht mit dir unterwegs bin.“

Leo schnaufte verärgert, führte mich aber trotzdem behutsam zu seinem Bike zurück, gab mir seinen Helm und half mir beim Aufsteigen. Er war immer freundlich, immer hilfsbereit, selbst wenn ich mich danebenbenahm.

Er musste auf dem Weg zum Fluss ein paar Umwege gefahren sein, denn die Fahrt nach Hause ging schneller. Sie dauerte jedoch lange genug, dass ich mir, als wir in der Auffahrt hielten und er den Motor abstellte, wie eine komplette Idiotin vorkam. Er war so cool gewesen und hatte mich davon abgelenkt, dass ich sitzen gelassen worden war, was er bestimmt auch beabsichtigt hatte.

„Sieht aus, als wären deine Eltern jetzt zu Hause“, sagte er und stieg vom Bike.

„Tut mir leid“, sagte ich, sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Ich nahm den Helm ab. „Ich habe mich total blöd aufgeführt.“

„Nein, alles in Ordnung“, sagte er unbekümmert. „Es war ein scheiß Abend für dich. Das verstehe ich.“

„Ja, und du hast ihn hundert Mal besser gemacht. Danke für die Fahrt.“

Gerade als ich ihm den Helm gab, rief mein Dad mich von der vorderen Terrasse, und ich zuckte befangen zusammen.

„Was zur Hölle? Du bist bei ihm mitgefahren?“

„Auf seinem Motorrad!“, schrie ich mit glühendem Gesicht zurück.

„Himmel“, murmelte Leo leise. „Jetzt hast du es ihm aber gegeben.“

Ich schnaubte und fing an zu lachen. „Ja, glaube ich auch.“

„Kopf hoch, Löwenzahn“, sagte Leo, als die Schritte meines Vaters sich näherten. „Der Typ hat keine Ahnung, was er verpasst hat.“

„Warum bist du nicht beim Tanzabend?“, fragte mein Dad. „Und was zum Teufel machst du auf dem Bike von diesem Idioten?“

„Mein Date hat mich nicht abgeholt“, erwiderte ich mit einem Schulterzucken, als der vertraute Geruch meines Dads mich umgab.

„Der kleine Dreckskerl.“

„Ich habe sie von Tommy nach Hause gebracht“, sagte Leo. „Als wir hier ankamen, war niemand zu Hause, und ich wollte sie nicht allein lassen. Also sind wir ein bisschen rumgefahren.“

„Sie ist sechzehn“, erwiderte mein Dad trocken.

„Das ist mir bewusst.“

„Danke, Leo“, sagte ich und brach damit das Gespräch ab, das plötzlich angespannt wurde. „Komm, Dad, ich will reingehen.“

Ich hörte Leos Bike dröhnen, als wir zur Terrasse gingen. Ich lächelte ein bisschen und wappnete mich. Meine Mutter würde durchdrehen, sobald sie erfuhr, was passiert war.

„Warum bist du schon zu Hause?“, fragte meine Mom, als wir in die Küche kamen. „Wo ist Rose?“

„Ihr verdammtes Date ist nicht aufgetaucht, und sie hat den ganzen Abend mit Leo verbracht“, knurrte mein Dad.

„Was?“

„Es war nicht der ganze Abend! Und, ja, mein Date ist nicht aufgetaucht“, antwortete ich und setzte mich auf einen der Hocker am Tresen. „Er hat mir nicht mal eine Nachricht geschrieben, um mir zu sagen, dass er nicht kommt.“

„Was für ein Scheißkerl!“

„Stimmt. Ich musste Rose zwingen, ohne mich zu gehen.“

„Ich kann nicht glauben, dass sie tatsächlich gegangen ist“, sagte mein Dad. „Willst du eine Limo?“

„Klar.“ Ich wartete, bis er die Dose vor mir abgestellt hatte und sprach dann weiter. „Ich musste ihr drohen, dass ich sie umbringen würde.“

„Natürlich“, sagte meine Mom.

„Es war so schrecklich peinlich. Ihr Date wartete etwa eine Stunde lang darauf, dass Brent endlich auftauchen würde.“

„Wahrscheinlich hat ihn das einen Dreck interessiert“, sagte mein Dad ruhig. „Ein Junge, der auf ein Mädchen wartet, das sich für ihn herausgeputzt hat? Den interessiert nichts anderes.“

„Jedenfalls waren sie gerade ein paar Minuten weg, da kamen Tommy und Leo, und Leo bot mir an, mich nach Hause zu bringen.“

„Siehst du? Du hättest dich hier fertig machen sollen“, sagte meine Mom zum tausendsten Mal. „Ich hätte dir bei deinen Haaren helfen können.“

„Ich wollte mein Haar so, wie es ist.“

„Wahrscheinlich nicht so, wie es jetzt ist, denn es steht in alle Richtungen ab. Ich nehme an, dass du einen Helm getragen hast?“

„Natürlich.“

„Natürlich“, schnaubte mein Dad und ging aus dem Zimmer. „Ist auch besser so, dass du einen Helm getragen hast.“

„In Ordnung“, sagte meine Mom leise. „Jetzt ist er weg, und du kannst mir den Rest erzählen.“

„Es gibt nicht viel zu erzählen“, erwiderte ich und stützte mein Kinn auf der Hand ab. „Wir machten uns fertig, und Brent tauchte nicht auf. Jayden kam allerdings pünktlich. Er hat Rose ein Sträußchen mitgebracht.“

„Ich kann mir vorstellen, dass ihr das gefallen hat.“

„Oh, ja. Er war praktisch sprachlos, als er sie gesehen hat. Das war süß.“

„Sprachlos? Er wird nicht lange durchhalten, wenn er nicht mit Rosie mithalten kann.“

„Genau dasselbe hat Hawk gesagt.“

„Armer Junge“, sagte meine Mom und lachte leise. „Und was ist mit Leo?“

„Nichts.“

„Lüg mich nicht an, Kleine. Ich kenne jeden einzelnen deiner Gesichtsausdrücke und im Moment ist es Leo-hat-etwas-Nettes-für-mich-getan.“

Sie setzte sich neben mich und schob die Zehen unter meinen Oberschenkel. Ich schwöre, dass die Füße meiner Mutter immer kalt sind und sie ständig versucht, sie aufzuwärmen. Ich erinnere mich, dass sie wollte, dass ich mich auf ihre Füße lege, als ich sechs war.

„Er sagte, er würde mich nach Hause bringen, aber als wir hier ankamen, war niemand da, also sind wir zum Fluss gefahren.“

„An den Fluss, hm?“

„Oh Mann“, murmelte ich. „Er hat mir gesagt, dass ich toll bin, wir aber niemals miteinander abhängen würden, weil er zu alt für mich ist und Dad ihn umbringen würde.“

„Abhängen oder abhängen?“

„Wir sind nur Freunde, Mom. Himmel.“

„Na ja, ich brauche schon Kontext.“

„Er war cool, genau wie immer. Und mehr war da nicht.“

„Das versteht sich von selbst. Aber du solltest deiner Schwester nichts davon erzählen“, sagte meine Mom und seufzte. „Ich wünschte, es wäre anders mit ihr, aber ich habe keine Ahnung, was ich dagegen tun soll.“

„Wusstest du, dass sie schon lange nicht mehr zusammen sind?“, fragte ich. „Schon seit Jahren, Mom.“

„Was? Das kann nicht stimmen.“

„Ich glaube nicht, dass Leo mich anlügen würde. Er sagte, dass sie mit der Clique rumhängen, aber schon ewig lange nicht mehr zusammen sind.“

„Das ist merkwürdig. Ich frage mich, ob dein Dad das weiß.“

Sie hatte gerade ausgesprochen, da krachte es laut vor dem Haus und bevor ich wusste, wie mir geschah, lag ich auf dem Boden und wurde unter den Küchentisch geschoben.

„Beweg dich bloß nicht, Lily“, zischte meine Mom, bevor sie das Zimmer verließ.

Ich zitterte am ganzen Körper, zog die Knie an die Brust und presste die Augen fest zu. Wenn sie geschlossen waren, konnte ich so tun, als hätte ich mich dafür entschieden, nicht mitzubekommen, was um mich herum vor sich ging.

Ich hatte kaum eine Minute zu einem Ball zusammengerollt dagelegen, als ich meinen Dad im Eingangsbereich brüllen hörte. Seine Stimme klang wütender, als ich sie eine lange Zeit gehört hatte. „Verarschst du mich, Cecilia?“

Ich konnte die Antwort meiner Schwester nicht hören, kroch aber trotzdem unter dem Tisch hervor. Es handelte sich ganz klar nicht um einen Notfall, sonst wäre der Ton meines Dads ganz anders gewesen. Ich hatte seine Stimme gehört, wenn die Kacke am Dampfen war – und heute Abend war es nicht so.

„Deine kleine Schwester schläft, also halt verflucht noch mal die Klappe“, fauchte meine Mutter, während ich zum Eingangsbereich ging.

„Meinetwegen“, lallte Cecilia, wobei sie ihre Lautstärke kein bisschen dämpfte. So wie es klang, war meine Schwester sturzbetrunken. Sie musste in etwas hineingelaufen sein, als sie ins Haus kam, aber ich hatte keine Ahnung, wie viel Schaden sie angerichtet hatte.

„Wie zum Teufel bist du nach Hause gekommen? Wo warst du?“, fragte mein Dad rundheraus.

„Ich war mit Leo aus.“

„Blödsinn“, erwiderte mein Dad. „Leo hat sich heute Abend um deine Schwester gekümmert.“

„Charlie?“, fragte Ceecee verwirrt. „Wann hat Leo mit Babysitten angefangen?“

„Nein, Lily“, schnappte mein Dad.

„Natürlich“, sagte Ceecee spöttisch. „Natürlich hat er das getan.“

„Mein Date für den Abschlussball hat mich sitzen lassen“, mischte ich mich in das Gespräch ein. „Leo hat mich nur von Tommy nach Hause gebracht.“

„Und Tommy konnte dich nicht fahren?“

„Er hat es nicht angeboten“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht, was sie von mir wollte.

„Ich habe es satt, Cecilia“, sagte meine Mom müde. „Ich habe das so verdammt satt. Dein Dad und ich verlangen nicht viel. Räum deinen Mist weg, benimm dich nicht wie ein Arschloch, und du kannst hier mietfrei wohnen.“

„Ich bin einundzwanzig Jahre alt“, erwiderte Ceecee.

„Eben“, schnappte Mom.

„Ladybug, sag nichts, was du nicht zurücknehmen kannst, Baby“, warnte mein Dad sie sanft.

„Das ist doch absolut lächerlich“, fuhr meine Mom fort. „Ich putze die ganze Zeit hinter dir her, du kommst ständig spät nach Hause, was nicht schlimm wäre, vergisst aber jedes zweite Mal deinen Schlüssel, sodass einer von uns dich reinlassen muss, bevor du alle aufweckst. Und hier ganz etwas Neues, Cecilia, wenn du spät nachts ins Haus kommst, sind dein Dad und ich ohnehin wach, denn bei dem Krach kann man einfach nicht schlafen. Du machst, was immer du willst und es interessiert dich einen Scheiß, wem du damit Unannehmlichkeiten machst, oder dass dein Dad um zwei Uhr nachts aufwacht, wenn du reinkommst, um dann vier Stunden später aufzustehen und zur Werkstatt zu fahren!“

„Himmel, das nächste Mal denke ich an den Schlüssel! Und so spät ist es doch gar nicht!“

„Heilige Scheiße“, murmelte meine Mom. „Sie versteht kein einziges Wort, das ich sage.“

„Du willst also, dass ich gehe?“, erwiderte Ceecee fies. „Dann gehe ich.“

Sie stampfte davon und ich hörte ihre schweren Schritte auf den mit Teppich ausgelegten Stufen.

„Wo zum Teufel will sie hin?“, fragte meine Mom meinen Dad und schnaufte. „Deine Schwester wird sie ganz sicher nicht bei sich einziehen lassen.“

„Zu Leo?“, fragte mein Dad.

„Nicht sehr wahrscheinlich“, sagte meine Mom und lachte.

Sie sprachen nicht mit mir, also ging ich leise zur Treppe und direkt zum Zimmer meiner Schwester. Ihre Tür war nicht geschlossen, wahrscheinlich weil sie eine große Show daraus machen wollte, wie sie ihre Sachen packte. So war Cecilia. Sie würde gehen, aber nicht leise.

„Kann ich reinkommen?“, fragte ich und betrat das Zimmer, bevor sie antworten konnte.

„Meinetwegen“, schnappte sie. Dann änderte sich ihre Stimme ein bisschen. „Auf dem Boden liegt Wäsche. Heb die Füße an, damit du nicht stolperst.“

Ich nickte und tat, was sie gesagt hatte, bis ich es zu ihrem Bett schaffte. Ich setzte mich, streckte den Arm aus und fand ihren geöffneten Koffer neben mir.

„Wohin gehst du?“, fragte ich, während sie durchs Zimmer lief.

„Irgendwohin“, murmelte sie. „Wahrscheinlich Kalifornien.“

„Kalifornien?“, fragte ich überrascht. Mir blieb der Mund offenstehen. „Was zum Teufel willst du denn da?“

„Ich bin zur Kosmetikschule gegangen“, antwortete sie. „Ich kann einen Job bei einem Friseur kriegen.“

„Aber du kennst da unten niemanden.“

„Eben.“

„Komm schon, Ceecee. Wie zum Teufel willst du überhaupt dahin kommen?“

„Fahren“, antwortete sie. „Ich habe viel Geld gespart. Ich komme schon zurecht.“

„Komm schon, Schwesterchen“, sagte ich sanft. „Überleg es dir noch mal.“

„Das habe ich“, sagte sie und überraschte mich mit einem Kuss auf meine Stirn. „Ich habe hier keine Freunde, Lil. Mom und Dad haben meine Scheiße satt. Zur Hölle, ich habe meine Scheiße satt. Ich brauche einen neuen Anfang.“

„Du wirst immer noch du selbst sein“, betonte ich, als sie den Reißverschluss ihres Koffers zuzog. „Es ist egal, wohin du gehst.“

„Vielleicht nicht“, sagte sie. „Vielleicht kann ich mich da unten zusammenreißen.“

Ceecee setzte sich neben mich aufs Bett und zog mich dann herunter, sodass wir nebeneinander lagen.

„Erinnerst du dich, wie du früher jede Nacht zu mir ins Bett gekrochen bist?“

„Ja. Du hast jedes Mal einen Aufstand gemacht, bis Mom mich wieder in mein eigenes Bett brachte.“

„Und dann hast du einfach gewartet, bis ich eingeschlafen war und bist wieder reingekrochen“, sagte sie und lachte leise.

„Du hast es immer erst am nächsten Morgen gemerkt“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

„Ich werde dich vermissen.“

„Dann geh nicht“, sagte ich. Meine Kehle verengte sich bei dem Gedanken, dass sie ganz allein nach Kalifornien ziehen würde. Meine Schwester war eine furchtbare Nervensäge, aber sie war immer noch meine Schwester.

„Das werde ich auch noch nicht“, erwiderte sie. „Im Moment kann ich sowieso nicht fahren. Zu viel Jose.“

„Ih, Tequila? Du wirst dich morgen schrecklich fühlen.“

„Stimmt.“ Sie rutschte herum und ich spürte, wie sie die Laken unter mir hervorzog. „Komm, kuschel dich ein.“

Ich streifte die Schuhe ab und kroch neben sie unter die Laken. Die Ereignisse des Tages holten mich ein. Es war alles so seltsam gewesen. Erst die Vorbereitung für den Abschlussball, dann sitzen gelassen werden, dann Leo, und jetzt erzählte Ceecee mir, dass sie den Staat verlassen würde. Einfach so.

Ich war ziemlich sicher, dass ihre Entscheidung nicht neu war. Cecilia war vielleicht dickköpfig und egozentrisch, aber sie war nicht spontan. Wenn sie nach einem Streit mit unseren Eltern nach Kalifornien abhaute, dann hatte sie das schon eine Weile geplant. Der Streit war nur der Auslöser gewesen.

„Dein Date hat dich sitzen lassen?“, fragte sie, als wir beide unter den Laken lagen.

„Ja. Er hat nicht mal eine Nachricht mit einer lahmen Entschuldigung geschickt.“

„Ich glaube, das ist besser als eine mögliche Alternative. Er hätte dich abholen und dann Schweineblut über deinen Kopf gießen können, was dein scharfes Outfit ruiniert hätte.“

„Da hast du recht“, antwortete ich ernsthaft.

„Mir hat es gefallen, dass du dich für den Zweiteiler entschieden hast“, sagte sie und rollte sich zu mir herum. „Das Top sieht auch zu Jeans gut aus, also kannst du es tragen, wann immer du willst. Alle meine Abendkleider von der Highschool nehmen jetzt nur Platz im Schrank weg. Es ist ja nicht so, dass man sie in einer Bar anziehen kann.“

„Aber überleg doch mal“, sagte ich und lächelte. „In zwanzig Jahren sind sie Vintage, und du kannst sie für viel Geld verkaufen.“

„Und damit anfangen, für die Rente zu sparen.“

„Für Botox bezahlen.“

„Mir die Möpse machen lassen.“

„Eine Zahnspange für Timmy.“

„Viagra für den Ehemann.“

„Igitt!“, sagte ich und machte Würgegeräusche. „Ich hoffe, dass ich nie mit einem Mann schlafe, der so alt ist, dass er Viagra braucht.“

„Das wirst du“, sagte sie und lachte leise. „Aber dann bist du auch alt und es ist dir egal.“

„Glaubst du, dass Poet Viagra braucht?“, fragte ich mit erschaudernder Faszination.

„Der alte Ziegenbock?“ Meine Schwester schnaubte. „Auf gar keinen Fall.“

Wir lachten so sehr, dass wir kaum einen Laut hervorbrachten und keuchten, um wieder zu Atem zu kommen.

„Eines Tages wirst du verheiratet sein und einen Stall voll Kinder haben und ich werde mich fragen, wo zur Hölle meine kleine Schwester mit der Zahnlücke geblieben ist“, sagte Cecilia sanft und strich mir übers Haar. „Und du hast die tolle Haut von Dad, also werde ich auch sehr eifersüchtig sein, weil du zwanzig Jahre jünger als ich aussiehst, obwohl wir nur fünf Jahre auseinander sind.“

„Allerdings wird mein Haar vor deinem grau werden“, antwortete ich und gähnte, während sie weiter über mein Haar strich.

„Haare kann man färben“, sagte sie leise. „Ich mache das für dich.“

„Ich überlege, mir einen Pony schneiden zu lassen“, murmelte ich und schloss die Augen.

„Oh, verflucht, nein“, antwortete sie und riss sacht an meinem Haar. „Lass dir keinen Pony machen. Du hast hier vorn einen Wirbel, sodass es lächerlich aussehen wird. Außerdem, wie willst du ihn frisieren, wenn du ihn nicht sehen kannst? Nein. Keinen Pony. Du würdest ihn hassen, und es dauert Ewigkeiten, bis das Haar nachgewachsen ist.“

„Wenn du bleibst, könntest du ihn für mich frisieren.“

„Ich bleibe nicht, um dich zu frisieren, ganz egal wie sehr ich dich liebe“, sagte sie und fuhr wieder mit den Fingern durch mein Haar. „Aber vielleicht könntest du mich irgendwann besuchen kommen? Wir könnten zum Strand gehen und so.“

„Was glaubst du, wo du landen wirst?“

„Wahrscheinlich in San Diego“, sagte sie und seufzte. „Ich glaube, das ist ein guter Ort, um neu anzufangen.“

Ich nickte, aber ihre Finger in meinem Haar wiegten mich in den Schlaf. Ich liebte meine Schwester. Auch wenn ich sie manchmal nicht ausstehen konnte, liebte ich sie. Ich glaube, so ist das nun mal bei Geschwistern. Selbst wenn man sie für Arschlöcher hielt, erinnerte man sich doch daran, wie es war, ein Bett mit ihnen zu teilen, als man klein war. Und darum liebte man es, wenn sie einem mit den Fingern durchs Haar fuhren. Und man wusste, dass sie einen mit derselben Leidenschaft liebten, auch wenn sie es die meiste Zeit über nicht zeigten.

„Ich liebe dich, Hummelchen“, murmelte ich und legte die Hand auf die schmale Taille meiner Schwester.

„Ich liebe dich auch, Lilybug.“

Ich schlief innerhalb von Sekunden ein und wachte erst Stunden später wieder auf, als meine Schwester aus dem Bett stieg.

„Was machst du?“, fragte ich mit kratziger Stimme.

„Ich haue ab“, flüsterte Ceecee. „Ich rufe dich später an und sage dir, wo ich bin.“

„Willst du dich nicht von allen verabschieden?“, fragte ich und stützte mich auf einen Ellbogen. Ich wusste nicht, wo im Zimmer sie war, hatte keine Ahnung, wie viel sie gepackt hatte oder wie lange ich noch hatte, bis sie durch die Tür verschwand.

„Nein“, antwortete sie. „Ich rufe Mom später an, aber ich will früh losfahren.“

„Wie spät ist es?“

„Vier Uhr“, sagte sie, beugte sich über das Bett und küsste mich schmatzend auf die Stirn. „Ich gehe. Weck die Alten nicht auf, okay? Ich rufe sie in ein paar Stunden an, versprochen.“

„Ich …“ Ich unterbrach mich und überlegte, was ich sagen könnte. Wenn ich meinen Eltern nicht erzählte, dass meine Schwester ging, würden sie wütend sein. Wenn ich es ihnen erzählte, würde sie stur genug sein, trotzdem zu gehen, und wir würden monatelang nichts von ihr hören. „Okay“, sagte ich schließlich. „Ich gebe dir ein paar Stunden. Aber wenn du sie noch nicht angerufen hast, wenn Frühstückszeit ist, haue ich dir eine rein.“

„Danke“, sagte sie. Ich hörte es rascheln, als sie ihren Mantel anzog und ihre Tasche nahm. Innerhalb von Sekunden war sie zum Gehen bereit.

„Ich liebe dich, Schwesterchen“, sagte sie, und ich hörte die Aufregung in ihrer Stimme.

„Ich liebe dich auch“, antwortete ich und ließ mich wieder aufs Kissen sinken. „Fahr vorsichtig, okay?“

„Immer.“ Sie zögerte ein paar Sekunden und dann – so war meine Schwester eben – ließ sie zum Abschied eine Bombe platzen. „Ich kann ihn an dir riechen, weißt du? Sein Rasierwasser. Du hast vielleicht Mom und Dad getäuscht, aber du könntest niemals so riechen, wenn du dich nicht auf dem Bike an ihn gedrückt hättest.“

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, hörte aber das Schließen der Tür, bevor ich ein Wort sagen konnte. Das war genau ihr Stil. Eine Anschuldigung machen, ganz egal wie unbegründet, und dann abhauen, bevor man sich verteidigen konnte. Sie tat das, seit sie alt genug war, um Menschen zu manipulieren. Ich schüttelte den Kopf, rutschte tiefer unter die Laken und zog sie mir über den Kopf.

Ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf.

„Wohin geht sie?“, fragte meine Mom leise. Ihre Stimme klang zögernd.

Wir hätten wissen müssen, dass meine Eltern es merken würden, wenn sie ging. Wenn sie jedes Mal aufwachten, wenn sie nach Hause kam, sollte man vermuten, dass sie auch aufwachten, wenn sie ging.

„Kalifornien“, sagte ich und zog die Laken von meinem Kopf. „Sie sagte, dass sie nach San Diego gehen will.“

„Warum?“

„Ich habe keine Ahnung“, sagte ich aufrichtig. „Sie sagte, dass sie ein neues Leben will.“

„Himmel. Sie wird zurückkommen“, murmelte meine Mom. „Schlaf noch etwas, Kleine.“

Ich hörte, wie sie von der Tür zurücktrat.

„Hey, Mom“, rief ich. „Kannst du das Licht ausmachen?“

„Was?“, fragte sie überrascht.

„Das Licht“, murmelte ich und drückte mein Gesicht ins Kissen. „Kannst du es ausmachen?“

Sobald das Licht nicht mehr in meinen Augen brannte, rollte ich mich auf den Rücken und lag lange Zeit einfach nur da. In meinem Kopf spielten sich die letzten zwölf Stunden wieder und wieder ab.

Craving Lily

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