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Ab in die Wildnis

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Atlin, Mitte Juni 2005.

„Das hat eine Heizung?“, fragte ich noch einmal nach.

Der hagere Rentner, dessen Jetboot wir probefuhren, nickte und zeigte auf die Lüftungen in der Armatur. Seine faltige Hand hob und senkte sich mit den leichten Wellen, über die das Boot hinwegflog. Kleine Flecken Sonnenlicht funkelte durch die Scheiben hinein und irrlichterten durch den Innenraum. „Hier. Man kann sie so einstellen, dass es die Scheibe anbläst oder auch nach hinten geht.“

„Damit ist für Nicole alles entschieden“, sagte Chris trocken.

„Heizung! Das ist doch genial – da müssten wir im Boot nie mehr mitten im Sommer Klamotten wie bei minus 30 Grad tragen!“

„Na komm, fahr mal.“ Chris trat breitbeinig vom Steuerrad weg, um die Balance zu halten. Die noch mit Schnee bedeckten Berge am Ufer wippten auf und nieder. „Das hier ist der Gashebel – wenn du den nach vorne drückst, gibst du mehr Gas. Und das Boot ist sehr wendig; die Dinger sind extra dafür gebaut, schwierige Flüsse zu befahren. Durch den Düsenantrieb hat es kaum Tiefgang.“

„Alles klar.“ Ich klappte die Heizungslüftung so, dass mich ein angenehmer Wärmestrahl umfächelte, griff nach dem Steuerrad und gab kräftig Gas. Wie von der Tarantel gestochen schoss das Boot voran, den Bug hoch aus dem Wasser gehoben. Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück, dann krachte es hinter mir. Jemand ächzte. Erschreckt drehte ich mich um: Den dürren Rentner hatte es von den Füßen gerissen. Er lag mit ausgestreckten Armen auf dem Boden und starrte mich großäugig an.


Aufstapeln der Baumstämme im vorigen Winter

„Oh je, sorry – haben Sie sich wehgetan, Chuck?“ Peinlich berührt wollte ich ihm aufhelfen und riss dabei das Steuerrad nach rechts, sodass er an den Bordrand geschleudert wurde.

Kreidebleich klammerte sich Chuck an die Lehne des Beifahrerstuhls. „Ist schon alles okay“, krächzte er.

„Sweetie!“ Chris griff nach dem Steuer und richtete das Boot auf einen geraden Kurs, verbiss sich aber jeglichen frauenspezifischen Kommentar über meine Fahrweise. „Geh's mal ganz langsam und sachte an.“


Chris zog die Stämme mit dem Schneemobil zum Bauplatz

„Kein Problem“, murmelte ich. Das war eine andere Welt als Autofahren oder die flaue Rubber Ducky zu steuern! Ungefähr 500 bis 600 Kilo Ladung konnte man mit diesem Boot transportieren, und es war ideal für den wilden Atlin River. Ich fuhr weiter auf den See hinaus und probierte, eine Kurve zu fahren. Diesmal ganz vorsichtig. Chuck blieb auf den Beinen: Meine Fahrkünste mussten sich bereits drastisch verbessert haben. „Du, das nehmen wir, oder?“, fragte ich Chris leise auf Deutsch.

„Ja, das ist perfekt für uns“, nickte er.

„Noch mehr Schwierigkeiten wird es wohl nicht geben.“ Nach einem Jahr voller Probleme mit den Behörden, die sich in einem fünfzehn Zentimeter dicken Stapel an Genehmigungen, Formularen und Korrespondenz mit der niedrigsten Schreibkraft bis hin zum Minister niederschlugen, Protesten gegen unser Vorhaben von Seiten eines Buschpiloten und Sitzungen mit diversen Bürokraten sowie Abgeordneten der Taku River Tlingit, war das Stück Land am Tagish Lake inzwischen vermessen und uns angeboten worden. Geld hatte die Konten gewechselt, und im Winter hatten wir bereits auf der uns bewilligten Bauholzkonzession Stämme zum Hausbau gefällt.

Was jetzt noch fehlte, war der Grundstücksbrief – und inzwischen hatte der kurze kanadische Sommer längst begonnen. Je später wir mit dem Bauen anfingen, desto schwieriger würde es werden, die Cabin noch vor dem Winter fertigzustellen. Nach den vielen Problemen wollten wir jedoch nichts am Grundstück verändern, bevor wir nicht alle Papiere in der Hand hielten.

„Okay, dann lass uns zurück zur Marina fahren und bezahlen“, sagte Chris. „Falls doch noch was dazwischenkommt, können wir das Boot ja schlimmstenfalls wieder verkaufen.“

„Und die beiden Schneemobile, Fenster, Ofen und Isolierwolle auch … “ Ich wäre dann heimatlos, denn ich hatte im Winter schweren Herzens mein Atliner Grundstück verkauft – für das Leben in der Wildnis alles aufs Spiel gesetzt und am Ende doch verloren?

Sehr viel länger dauerte der Zustand der Ungewissheit zum Glück nicht: Am Tag der Sommersonnenwende lag endlich die lang ersehnte Grundstücksurkunde im Postfach. Zum Feiern blieb uns allerdings kaum Zeit, denn wir hatten bereits wertvolle Wochen für das Bauen verloren und mussten nun sofort vom Kampf mit den Behörden auf den Kampf gegen den Winter umschalten. Immerhin hatten wir einen Bauhelfer zur Seite – Frank, ein Freund von Chris, reiste extra aus Deutschland an, um uns zu unterstützen.

„Du sägst auf der Seite eine Kerbe in den Stamm, in deren Richtung der Baum fallen soll. Also die Kettensäge hier unten ansetzen und dann auf etwa auf ein Drittel des Stammdurchmessers reinsägen.“ Chris trat zurück, während Frank am Anlasserseil der Säge zog. Der Motor heulte auf, verbreitete vertrauten Geruch nach Benzin und Öl in der moskitoschwangeren Sommerluft. Sägespäne sprühten an der Unterseite des Kettenschwerts heraus, und dann fiel ein kleiner Keil aus hellem Fichtenholz aus dem Stamm. Unser Umzug in die Wildnis war bisher nur von Zerstörung geprägt – Minikrater für Fundamente und ein Plumpsklo graben, Sträucher herausreißen und Bäume fällen. Das hatte ich schon beim Bauen in Atlin nicht gemocht, und entschuldigte mich nun auf unserem Wildnisgrundstück andauernd bei der geschändeten Natur.


Unser Baumaterial

Frank wischte sich mit dem Arbeitshandschuh über die mückengesprenkelte Stirn, während die Säge in seiner Hand weiterratterte. „Geht gut!“

Chris zeigte auf die Rückseite des Baumstamms und brüllte über den Lärm: „Hier auf der anderen Seite setzt du den Fallschnitt an – einfach gerade in den Stamm reinsägen, immer auf die Kerbe zu. Je näher du kommst, desto mehr musst du auf den Baum achten. Wenn der Wipfel zu zittern beginnt, hält den Baum nur noch das schmale Stück Holz zwischen Kerbe und deinem Fallschnitt. Ab da ist alles Millimeterarbeit, und du musst die Säge sofort rausziehen und Platz machen, sobald der Baum sich neigt. Okay?“

„Alles klar.“ Frank beugte sich runter und setzte Chris' alte Stihl an.

Ich machte mich aus dem Staub, ehe der Baum zu fallen begann. Nun mussten wir doch einige von den Pappeln auf unserem Grundstück dem Bauvorhaben opfern – der Stapel Stämme, den Chris und ich im Februar gefällt hatten, reichte nicht aus. Das Eis auf Tagish Lake und Atlin Lake, das die Verbindung zwischen unserem neuen Wildnisdomizil und dem Dorf herstellte, war nur 18 Zentimeter dick gewesen und durch tagelanges Tauen und Regenwetter immer dünner statt dicker geworden – dank Temperaturen, die eigentlich erst im April zu erwarten waren. So hatten wir unser Zeltlager nach knapp zehn Tagen Arbeit in unserer Holzschlagkonzession abgebrochen und waren halb verrichteter Dinge mit dem Schneemobil über das mürbe Eis zurück nach Atlin gefahren. Immerhin: In der Zeit hatten wir es geschafft, neunzig Baumstammsegmente von zweieinhalb bis acht Meter Länge aus dem Wald an unseren Bauplatz zu ziehen.

Ich nahm wieder das Schäleisen in die Hand und begann, einem der aufgestapelten Bäume die Rinde abzuziehen. Die beiden Männer kamen mit Nachschub auf den Schultern: Der eben von Frank gefällte Baum war bereits in knapp zweieinhalb Meter lange Stücke zersägt.

„Und – abladen!“

Mit einem Rumms fiel das schwere Holz zu Boden.

„Die Dinger sind wenigstens leicht zu schälen“, sagte ich. „Nicht wie die Fichten vom Winter!“

„Sind ja auch ganz frisch. Noch sechs Pappeln und wir haben genügend Holz für die Wände.“ Chris streckte seinen Rücken.

„Sonst organisieren wir einfach noch ein Fenster“, schlug ich vor. „Das spart Holz, geht schnell und gibt schön viel Licht.“

„Falls diese Baumethode doch nicht hinhaut, haben wir vielleicht nur Fenster.“ Chris und Frank rollten den Pappelstamm zu unserer Baumkollektion. „Das muss klappen. Wenn Chris Czajkowski auf diese Art mutterseelenallein ein ganzes Blockhaus bauen kann, werden wir drei das ja wohl auch noch schaffen!“

Die kanadische Autorin hatte sich innerhalb eines Sommers eine Wildniscabin fernab aller Straßen gebaut, indem sie zwischen zwei Meter lange, aufrecht stehende Stützpfeiler waagerechte Stämme in ähnlicher Kürze eingesetzt hatte. Eine andere Methode, mit handlich kurzen Stämmen zu arbeiten, ist, sie alle senkrecht aufzustellen. Aber rein optisch gefiel uns das nicht, sodass wir lieber in Chris Czajkowsiks Fußstapfen treten wollten – sie hatte ein Buch darüber geschrieben, das allerdings diverse Details der Bauart offen ließ.

„Morgen können wir anfangen, die untersten Stämme zu setzen. Die Fundamente müssen jetzt einfach genug ausgehärtet sein.“ Chris trat probehalber gegen einen der acht Zementsockel, die wir ins Erdreich eingelassen hatten.


Unsere Wiese ist bunt mit Wildblumen

„Seid ihr für heute fertig mit Fällen? Dann fang ich an, Abendessen zu machen. Mich treibt der Hunger.“

„Klingt gut, wir holen nur noch die restlichen drei Stammsegmente aus dem Wald!“

„Okay.“ Ich legte das harzverklebte Schälmesser unter die Leinwandplane, die nicht nur unser Werkzeug vor dem Wetter schützte, sondern auch das Baumaterial.

Koyah, mein Chinook, lag gemütlich auf einem Isolierballen zusammengerollt. Blizzard und Silas streckten sich und gähnten; ihnen war durch unsere ständige Beschäftigung mit den Baumstämmen der Sommer gründlich verdorben. Lange Spaziergänge gab es nicht, dafür fehlte ganz einfach die Zeit, wenn wir bis zum Oktober fertig werden wollten. Blütenduft hing über der Wildwiese, die mit unzähligen Heckenrosen sowie Arnika, Akelei und Indian Paintbrush übersät war. Sehnsüchtig blickte ich auf dem Weg ins Zeltlager in den Pappelwald. Unsere nähere Bekanntschaft mit der Wildnis und ihren Tieren, von denen sich bislang keins gezeigt hatte, ließ noch auf sich warten.

Flammen umzüngelten das Holz in der Lagerfeuerstelle vor dem alten Leinwandzelt, das uns als Schuppen, Küche und Aufenthaltsraum diente. Chris und ich schliefen mit den Hunden in einem anderen Zelt fünfzig Meter weiter, und Frank campierte am Seeufer. So musste sich niemand gezwungen fühlen, extra lange wach zu bleiben, weil das Walltent noch genutzt wurde, und jeder konnte auch einmal seine Ruhe haben. Um mit den Essenssachen keine Bären anzulocken, hatten wir einen Elektrozaun um das Lager gezogen.

Chris stellte den leeren Teller auf die Erde. „Danke, Sweetie! Das war gut.“

Ich nickte. Wir wechselten uns mit dem Kochen und Abwaschen ebenso ab wie bei allen Schäl-, Säge- und Hämmerarbeiten am Bau. „Wie machen wir denn weiter, wenn wir die untersten Stämme gesetzt haben? Wollen wir dann mit den Wänden anfangen oder dem Fußboden?“

„Dem Fußboden, würde ich sagen. Sonst stehen wir ja beim Bauen wegen der Hanglage total tief.“

Frank stieß mit dem Stiefel einen Holzklotz weiter ins Feuer. „Was mir bei der Baumethode aber nicht ganz klar ist … ihr wollt in die aufrechten Stämme zwei Fugen sägen, in die dann links und rechts die waagerechten Stämme per Nut an den Stammenden eingefügt werden?“


Mit der Alaskan Mill werden die Baumstämme zurechtgesägt


Nicole im Zeltlager

„Ja, wir sägen an den beiden Enden aller waagerechten Stämme so eine Art Zapfen heraus, der dann in die Rillen in den Stützpfeilern greift.“

„Aber da müssen wir ja jeden waagerechten Stamm erst ganz nach oben hieven und ihn von oben zwischen die Stützpfeiler treiben!“

„Hm.“ Ich sah Chris an. So weit hatten wir noch gar nicht gedacht. „Vielleicht können wir eine Art Kran konstruieren“, schlug er vor. „Bei der normalen Blockhausmethode werden die langen Stämme doch über eine Art Rampe hochgerollt“, sagte ich.

„Das wird dann aber für das obere Stockwerk schon etwas haarig, meint ihr nicht?“ Frank hob fragend die Thermoskanne und schenkte uns allen Tee ein.

„Die Chris Czajkowski hat das irgendwie anders gemacht“, grübelte ich. „So detailliert hat sie das alles nicht beschrieben, aber ich glaube, sie hat die waagerechten Stämme mit irgendwelche Latten an den senkrechten festgehalten.“

„Und das hält eine ganze Wand?“, fragte Frank. „Habt ihr diese Baumethode denn nicht mal irgendwo angewandt gesehen?“

„Nein, aber da fällt uns schon noch was ein! So kompliziert ist der Hausbau nicht“, sagte Chris. „Für mein Blockhaus in Atlin habe ich auch nur in ein altes Buch geguckt und mir ein paar Häuser im Ort als Muster angesehen.“

„Solange die Wände im Lot bleiben … Viel kann man eigentlich nicht verkehrt machen“, meinte ich und erhob mich, um die Essenssachen wegzuräumen.

Im Zelt stand auf dem zweiflammigen Campingkocher, der von einer Propangasflasche gespeist wurde, noch der Topf mit dem Rest Soße. Ich räumte ihn mäusesicher in eine der Essenskisten, die entlang der Wände neben Kartons und Plastikkisten voller Kleidung, Bücher, Werkzeug, Lebensmittel und Hundefutter gestapelt waren. Bewegen konnte man sich nur in einem schmalen Gang in der Mitte, aber wir veranstalteten ja keine Tanzpartys. Ich streckte meine schmerzenden Arme, spürte die harte Arbeit der letzten Tage in meinen Rückenmuskeln. Anfang Juli war es bereits, und alles, das wir bisher gebaut hatten, waren acht Zementsockel! Ich suchte im Zelt nach dem Buch von Chris Czajkowski, um die Stellen über den Hausbau noch einmal nachzulesen.

Schlimmstenfalls könnten wir auch noch in den Winter hinein im Walltent ausharren, falls der Hausbau länger als geplant dauerte; das Zelt war mit einem Holzofen bestückt, der Chris und mir bereits im Februar während des Bäumefällens gute Dienste geleistet hatte. Aber eine verlockende Aussicht war das nicht. Unruhig blätterte ich im Buch.


Unser Zeltlager

Ein Blockhaus in der Einsamkeit

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