Читать книгу Ein Blockhaus in der Einsamkeit - Nicole Lischewski - Страница 17

Allein

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Sechs Jahre später. Tagish Lake, 25. Oktober: 1 Grad, Schneefall.

Unruhig kauerte ich im Loft neben dem Funkgerät. Draußen fiel unablässig Schnee in den Gletschersee und wurde hungrig vom graublauen Wasser verschlungen, das ihn mitnahm auf seine lange Reise in die Beringsee. Bleierne Wolken hatten die Berge vollkommen ausgelöscht. Einsam kam es mir vor, wie jeden Spätherbst, wenn Chris für dreieinhalb Monate auf Reisen ging. Obwohl ich mich jedes Mal auf das Alleinsein freute, war die Umstellung von intensiver Zweisamkeit auf intensive Einsamkeit nie ganz einfach – trotz der inzwischen vier Hunde, die mir gute Gesellschaft waren.


Ein letztes Funkgespräch mit Chris

Ich drehte am Lautsprecherknopf. Schon nach drei Uhr; bis zu seinem Abflug nach Südamerika war Chris in Atlin und wollte sich noch einmal melden. Aber bisher herrschte Funkstille. Endlich tönte seine Stimme durch das Loft: „Raven Hill, Raven Hill. Como Lake.“

„Hey, wie geht’s?“, fragte ich. Jegliche Gefühle von Einsamkeit waren plötzlich verflogen.

„Prima.“ Ich hörte das Lächeln in Chris' Stimme. „Und bei dir, alles in Ordnung?“

„Ja. Es hat gerade angefangen, zu schneien. Warst du –“ Meine Worte gingen plötzlich in erbostem Gebell unter. „Du, warte, da ist was, ich muss schnell die Hunde rufen!“

Ich warf das Mikrofon hin und kletterte schnell die steile Treppe in unsere Wohnküche hinunter. Gellend pfeifend lief ich an Koyah und Blizzard, die auf ihren Decken lagen, vorbei zur Tür. Alt und schwerhörig waren die beiden inzwischen geworden, aber draußen kläfften Silas und unser junger Jagdhund Moldy ohne Unterlass.

„Silas! Moldy, komm!“, rief ich und steckte den Kopf gerade rechtzeitig hinaus, um eine Elchkuh mit zwei Kälbern unter lautem Ästeknacken aus dem Wald hervorbrechen zu sehen. Schnee- und Erdklumpen, von Elchhufen aufgeschleudert, prasselten auf die wild hinterherjagenden Hunde herab. Verdammt noch mal, seid ihr taub?

Wütend pfiff ich mit der Hundepfeife. Endlich machte Moldy kehrt und kam eilig zurückgelaufen, beflügelt von seinen im Takt wippenden Schlappohren. Wie ein einziges Tier drehten die Elche ab, den Hügel hoch, ein verwischter Fleck von braun-schwarzem Fell und einer verwirrenden Vielzahl hellsockiger, langer Beine. Hochbeinig rennend, mit steil gereckten Hälsen, erreichten sie die Anhöhe. Die kurzen Mähnenhaare des Muttertieres waren drohend gesträubt. „Si-las! Komm!“, brüllte ich, und nach einem letzten aufgebrachten Blick zu den Eindringlingen bequemte er sich, umzukehren. Die kleine Truppe Elche machte am Wiesenrand halt. Langohrig sah die Kuh zu uns hinab.


Elchkuh mit Zwillingen

Während ich die beiden Elchjäger in die Cabin scheuchte, zog ich mir aufgeregt meine Jacke an. „Los, flott, flott. So ist brav, rein jetzt.“ Blizzard und Koyah, die den Grund für den Lärm verpasst hatten, drängelten sich interessiert an meine Beine. „Nein, ihr bleibt alle drinnen.“

Sollte ich Chris am Funk schnell Bescheid sagen? Ach was. Nur kurz nachsehen, bevor die Tiere verschwanden. Zwillingskälber! Dort oben stand er noch, mein Elchbesuch.

Vorsichtig stapfte ich den Pfad hoch. Die Elchkuh behielt mich genau im Visier, eines der Kälber an ihrer Seite, während sich das andere hinter ihr versteckt hielt. Die Kälber waren jetzt, im Alter von fünf, sechs Monaten, bereits so groß wie ein mittleres Pony. Im Gegensatz zu den bei Begegnungen mit Menschen und Hunden meist recht stoischen Elchkühen waren die Kälber nervös; verständlich, liefen sie doch ein weitaus größeres Risiko, von Bären und Wölfen gerissen zu werden.

Gute hundert Meter vor den Tieren blieb ich stehen. Große Schneeflocken schwebten träumerisch herab. Die Elchkuh wandte ihren ungeschlachten Kopf nach links, zupfte an einer Weide und brach mit einem kurzen Kopfnicken den Endtrieb eines dünnen, kahlen Zweiges ab. Kauend schaute sie mich an.

„Tut mir leid wegen der Hunde. Die hatten sich wohl auch erschreckt. Zwei Babys hast du! Bist aber eine tolle Mama. Und so eine Schöne!“ Die langen Ohren, deren cremefarbenes Innenfell nach außen hin mit einer feinen Linie schwarzer Haare abgegrenzt war, spitzten sich. Erleichtert nahm ich die damit ausgedrückte Wachsamkeit und Interesse wahr – bei angelegten Ohren und einem vorgestreckten, gesenkten Kopf machte man sich besser davon. Ihr Mähnenfell legte sich langsam wieder flach, getüpfelt mit darin verfangenen Schneeflocken. Anscheinend hatte ihr die Hundebegegnung nicht nachhaltig die Laune verdorben. Eines der Kälber versuchte sich hinter ihr unsichtbar zu machen, indem es sich näher an sie drängte, während das andere mich skeptisch beäugte.


Elchkuh und Kalb

„Na, ihr? Ganz schön groß seid ihr schon. Ist alles okay.“ Fröstelnd verschränkte ich meine Arme vor der Brust und trat auf der Stelle. Schade, ich hätte gerne gewusst, welchen Geschlechts die beiden Kälber waren, aber konnte es von hier aus nicht erkennen. Doch ich wollte sie nicht weiter bedrängen – mit etwas Glück würden sie noch eine Weile in der Gegend bleiben. Chris fragte sich inzwischen sicher schon, was geschehen war, fiel mir ein.

„Dann fresst erst mal was auf den Schreck hin. Ich geh jetzt auch wieder.“ Ich wandte mich um und hastete an unserem mannshohen Stapel Feuerholz vorbei zur Cabin zurück.

Die Kanalanzeige des Funkgeräts glühte mir zwischen den Essensvorräten entgegen. „Chris? Bist du noch dran?“

„Ja, was war denn los? Du warst so lange weg.“

„Drei Elche! Eine Kuh mit Zwillingen, direkt bei der Cabin“, sagte ich atemlos und warf meine Jacke aufs Bett. „Ich nehme mal an, dass die Hunde gehört haben, wie sie vom See hochgekommen sind. Mensch, hier ist was los!“ Ich blies mir eine Haarsträhne von der Stirn und lehnte mich gegen einen Sack Reis. Schneewasser lief von meinen Stiefelsohlen langsam auf die Spargeldosen zu. Ich zog die Gummistiefel aus und schob sie zum Treppenaufgang hin. „Da siehst du mal, was du alles verpasst!“

„Ja, ja, das brauchst du mir gar nicht extra zu sagen!“ Chris seufzte. „Irgendwie habe ich gerade sowieso kaum Lust wegzufahren. Ist es wirklich okay, dass du wieder so lange allein bist?“

Bekam er nun plötzlich Gewissensbisse? Unwahrscheinlich – denn weswegen? Mir gefiel es doch gut, das Alleinsein. Ich rückte näher ans Funkgerät. „Ah ja, klar. Du weißt doch, es ist so ein Abtauchen in eine ganz andere Welt. Hast du die nächsten Tage in Atlin noch ein volles Programm?“

Chris stöhnte. „Ja, ganz schön. Ich muss gleich sehen, dass ich ein paar Sperrholzplatten organisiere, um das Jetboot schneesicher einzupacken. Wenigstens hat's gut geklappt, es aus dem Wasser zu ziehen – da fing es gerade erst an, zu schneien. Heute Abend bin ich bei Wayne und Cindy zum Essen eingeladen, morgen bei Ann – und Montag geht ja schon der Flug. Und wie sieht deine Planung aus?“

Darauf, dass er unsere Freunde sah, war ich doch etwas neidisch. Seit Chris gestern über die Seen nach Atlin gefahren war, hatte er nicht nur mit einer ganzen Handvoll Menschen gesprochen, sondern sogar welche gesehen! Ich dagegen war das letzte Mal vor zwei Monaten im Dorf gewesen und plante auch nicht, vor dem Sommer wieder hinzufahren. Meine Ausflüge in die Zivilisation waren auf zwei kurze Exkursionen pro Jahr geschrumpft; ich war dem Wildnisleben inzwischen mit Haut und Haaren verfallen. Klein kam mir meine Welt vor.

„Och … Ich denke, ich gehe noch mal raus, vielleicht sind die Elche ja noch da.“


Die Berge sind bereits verschneit

„Gut, ich mach mich jetzt besser auf, das Sperrholz zu besorgen, bevor es dunkel wird – sollen wir morgen nochmals funken?“

„Okay. Gleiche Zeit?“

„Ja, das sollte gehen. Dann pass auf dich auf und grüß mir die Elche, ja? Ich liebe dich, Sweetie!“

Sagt der das doch tatsächlich über den öffentlichen Funk! Na, wieso eigentlich auch nicht?

„Bis morgen dann. Ich lieb dich auch. Raven Hill clear.“

„Como Lake out.“

Ich stellte das Funkgerät ab und stieg glücklich und beschwingt durch das Gespräch die Stiege hinunter. Da zog er hin, mein Freund, sich unter die Menschen zu mischen und seine sozialen Kontakte zu pflegen. Sollte er doch! Nein, hinaus in die Menschenwelt zog mich inzwischen kaum noch etwas. Fremd, irgendwie unverständlich waren mir die Menschen geworden, deren Leben ungleich facettenreicher als das meine war; die täglich Dutzende, sogar Hunderte anderer Menschen sahen, sich mit ihnen arrangieren mussten; die Arbeitskollegen, Kinder und Chefs hatten, Freunde, die sie mal eben so sehen konnten. Über was konnte ich mit ihnen noch groß reden? Im Laufe der sechs Jahre, die seit dem Bau der Cabin vergangen waren, hatten sich Elche, Schnee, Bären, Bäume und Eis zu meinen Themen entwickelt.

„Wollt ihr mit rauskommen?“

Eine rhetorische Frage. Die vier Hunde waren sofort auf den Beinen und schwänzelten aufgeregt um mich herum. Ich legte Silas und Moldy ihre Teletakthalsbänder an, die uns unter den Elchen, Stachelschweinen, Wölfen und Bären viele Sorgen und potenzielle Tierarztkosten ersparten: Falls der Jagdinstinkt ihr Hirn einmal ausschaltete, kamen unsere auf den fein regulierbaren Elektroimpuls trainierten Hunde sofort.


Moldy

Mir dagegen schnallte ich das Bärenspray um, dazu kamen noch der übliche Tagesrucksack mit dem Notpeilsender und den Erste-Hilfe-Sachen, sodass ich für alles von problematischen Tierbegegnungen bis zu Unfällen abseits der Blockhütte gut gerüstet war. Fliegender Händler, die Wildnisversion – so kam ich mir mit den ganzen Sachen vor. Ich sah auf die von den Schneeflocken verschleierten Zitterpappeln und den wintergrauen See hinaus. Schneller und dichter fiel der Schnee, verwischte das Tageslicht zu einer verfrühten Dämmerung, zog meine Welt noch enger zusammen, als sie sowieso schon war. Bevor ich die Hunde hinausließ, ging ich allein den Pfad hoch und schaute nach den Elchen – aber sie waren nirgendwo mehr zu sehen. Ihre Spuren führten von unserem Grundstück fort.

„Silas, bei Fuß! Moldy!“ Enttäuscht lotste ich die nach der Elchfamilie schnuppernden Hunde in den Pappelwald hinein. Für das nächste Vierteljahr würde ich nicht mehr viele Lebewesen zu Gesicht bekommen, die größer als ein Hund waren. Tierbegegnungen waren mir unsagbar wertvoll geworden.

Ich bohrte meine Hände tiefer in die Jackentaschen. Nach dem Funkgespräch mit Chris, dem Hundegebell und der Aufregung mit den Elchen kam mir der Wald so still vor, als hielte er den Atem an. Eine leichte Brise trug den intensiven Nadelbaumgeruch einer Tannengruppe zu mir herüber. Nichts schien sich in dieser Einsamkeit zu bewegen, außer mir und den Hunden. Plötzlich schweiften alle vier vom Pfad ins Gebüsch ab, ließen kleine Wolken Neuschnee von den Weidensträuchern stieben.

Erregt bebten die Hundenasen über eine frische Spur im Schnee. Am Rande unseres Pfades fand ich einen unversehrten Abdruck, der allerdings von keinem Elch herrührte. Eine ovale Mulde in Handgröße war in den Schnee gepresst: Ein Bär! Ähnlich wie ein breit ausgetretener, menschlicher Fuß sah die Fährte aus, mit einem kleinen Gestirn von fünf Krallen gekrönt. Sogar die Falten der Fußsohle waren zart im Schnee abgezeichnet. Ich legte meine Hand in den Abdruck der nicht viel größeren Pranke. In weiten Schlenkern verlor sich die Spur im Wald. Nur das Hecheln der Hunde zerschnitt die Stille.


Bärenspur im Schnee

„Ein Schwarzbär“, sagte ich leise und fühlte mich beschenkt – es war doch nicht so einsam. Erst die Elche, und nun war ein Bär in der Nachbarschaft. „Na, dann lasst uns mal sehen, wo er hingelaufen ist. Bei Fuß. Fuß!“

Ich wischte meine schneefeuchte Hand an der Fleecehose ab und begann mit den Hunden der Bärenfährte zu folgen. Die knorrigen Äste der Fichten ließen immer wieder einen Teil ihrer kalten Ladung in meinen Jackenkragen fallen, als ich mich unter ihnen hindurchwand. Über umgestürzte Bäume war auch der Bär geklettert: Die Schleifspur seines Hinterteils zog sich zwischen den Tatzenabdrücken über ein paar besonders dicke, quer liegende Stämme. In dem zunehmend moorigen Gelände lehnten die verkümmerten Fichten trunken aneinander, die schwärzlichen Pfützen darunter waren mit hauchdünnem Eis versiegelt. Fahlgelbes Sumpfgras ragte elegant aus dem Schnee und strich gegen meine Beine.

Anders als die festgeklopften Pfade der Schneehasen folgte die Bärenspur keiner bestimmten Richtung. Vereinzelte Hagebutten leuchteten im Unterholz, unter ihnen feine Tupfen von Hermelinspuren, als hätte ein Kind alle fünfzehn Zentimeter zwei Finger in den Schnee gepresst. Das Gezwitscher eines kleinen Schwarms Meisen durchbrach die Stille des Waldes.

Mein Menschsein schien mir fehl am Platz zu sein, hatten doch alle andern Lebewesen um mich herum vier Beine oder Flügel. Bloß einen Einblick in das Leben des Bären wollte ich bekommen, erahnen, mit welchen Gedanken er sich durch den Wald bewegt hatte. Vielleicht folgte ich ihm auch einfach aus meinem Bedürfnis nach Kontakt und dem Wunsch zu wissen, was in meiner Nachbarschaft vor sich ging.

Die Gedanken des Bären – so weit war es mit mir schon gekommen. Für den Fall, dass der Bär noch in der Nähe war, rief ich ab und zu laut nach den Hunden, obwohl sie sich recht dicht bei mir hielten. Die Spuren interessierten mich, aber überraschen wollte ich das Tier nicht; auch wenn ein Bär normalerweise vor so vielen Hunden Reißaus nehmen würde.

Im offenen Pappelwald wanden sich die Spuren zwischen den Bäumen hin und her. Ich pflückte von den dürren Zweigen der Highbush-Cranberry-Sträucher ein paar hellrote, glasige Beeren, die mir sauer und leicht bitter auf der Zunge zergingen. Fast unkenntlich gemacht von den Hundepfoten führte die Bärenspur vor mir weg und hielt auf einmal inne. Tief waren die Tatzenabdrücke in die fünf Zentimeter Schnee gedrückt, hatten die Gräser darunter hervorgeschmolzen, an denen sich jetzt die neuen Schneeflocken verfingen.


Unser Blockhaus in der Dämmerung

Dort hatte er gestanden, der Bär, in den weiß-braunen Winterwald gestarrt und die Neuigkeiten gerochen, die der Wind ihm zutrug. Vielleicht den Rauch aus unserer Ofenröhre, das Nass des großen Gletschersees, die herben Beeren und alte Fährten von Chris, den Hunden und mir. Mit zögernden Schritten, so erzählte die gedrängte Zahl seiner Spuren, hatte der Bär sich wieder umgewandt und war zurückgegangen. Vielleicht dachte er schon an seine Höhle, in der er sich bald zusammenrollen und die kalt und dunkel gewordene Welt bis zum Frühling vergessen würde.

Dir geht es im Moment nicht viel anders als mir, Bär. Fühlst dich auch etwas seltsam in dieser Zeit der Umstellung, der Einkehr, wo es in der Wildnis so still wird. Zögernd kehrte ich um und kürzte zu einem unserer Trampelpfade in Richtung Blockhaus ab. Langsam brach die Dämmerung herein.

Es ist erst in der totalen Einsamkeit, wenn kein anderer Mensch mehr da ist, dass sich alle Sinne dem Land weit öffnen. Lebt man doch als Mensch im täglichen Dialog mit anderen, an denen man sich erkennt und definiert. Fällt das weg, dann greifen die Augen, Ohren, Nase und Hände in ihrem Bedürfnis nach Kontakt und Austausch nach den Bergen, der sterilen Winterluft, dem Ruf eines Raben. Die Handfläche liegt weich im Schnee, der noch vor Stunden die Pranke eines Bären hielt. Die Grenzen zwischen dem, was mich ausmacht, und dem wilden Land um mich herum fangen an, zu verwischen.

Ein Blockhaus in der Einsamkeit

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