Читать книгу Die Legende der Eiswölfe - Nicole Seidel - Страница 4
Buch 1 DIE FORMEL FÜR KRAFT UND HERZLOSIGKEIT
Оглавление1
Unheilvolle schwarze Wolken bedeckten den Himmel seit vielen Tagen, aus denen grollender Donner alle Lebewesen in ihre Versteckte bannte. Weiße Blitze fuhren auf die überschwemmte Erde, entluden sich in den hochaufragenden Bäumen und spalteten sie. Doch der in Sintfluten herab prasselnde Regen verhinderte, dass so ein Blitzfeuer einen ganzen Wald oder eine der kleinen Holzhäuser-Siedlungen vernichtete.
Nun schon zehn Tage war die Sonne verschwunden und sonderbare Lichtphänomene durchbrachen an den unterschiedlichsten Stellen überall auf der ganzen Welt Landschaft und Himmel. Die Luft war erfüllt mit Magie und fremdartiger Energie. Ein magisch begabtes Wesen konnte diese aufgeladenen Bahnen fast schmerzvoll am eigenen Leib spüren. Etwas Gewaltiges hatte den Himmel und die Sphären dahinter erschüttern lassen.
Mit dem dunklen Tosen des Himmels paarten sich lichtgrelle Blitze und Portalringe, durch die manchmal aus fernen Dimensionen fremdartige Wesen oder Bewohner anderer Welten in diese gelangten. Selten wurde ihre Ankunft bemerkt, aber ihr Dasein nahm einen blutigen Verlauf. Die Nordlande Lahor schienen unter der Apokalypse langsam und schwermütig unterzugehen.
In den Pfaden der Wälder und Siedlungen zeigte sich eine neue Gefahr, die mit dem magischen Regen gekommen war: unzählige Ungeheuer ebenso, wie Menschen und Elfen. Verwirrt verirrend brachen sie durch die von fremder Magie geöffneten Tore und die Sphären hindurch. Übersprangen Dimensionen und wurden in unbekannte Reiche gerissen.
Auf dem schneebedeckten höchsten Gipfel des Kristallgebirges hatten sich vier Götter eingefunden, um über das Chaos in ihrer Welt zu debattieren. Sie standen unter einer glimmenden Kuppel, die sie vor dem Schneesturm um sie herum schützte. Zwei männliche und zwei weibliche Götter, denen jeder ein Element zu Eigen war.
Da war Pengaloth, der Gott des Feuers, dessen Haut in roter Lava loderte, jedoch ohne seine Umgebung zu verbrennen. Neben ihm stand Therein, dem die himmlische Luft unterstand, er hatte die Gestalt eines Mannes mit Adlerflügel und einem Adlerkopf. An seiner Seite war die Göttin des Wassers, Celornea - eine mit silbernen Fischschuppen bedeckte Frauengestalt. Und zuletzt stand dort auch Gaea, das Element Erde in der Statur einer goldbraunen Frau mit Haaren wie ein satter grüner Moosteppich.
"Die Lebewesen fürchten sich", erwiderte Celornea, "selbst die Elfen verstecken sich zitternd und wissen nicht wie ihnen geschieht."
"Wissen denn wir es?" mahnte die Lavagestalt Pengaloth.
"Es kommt aus dem Äther", entgegnete die erdgoldene Gaea und alle drei Götter blickten auf den Adler-Mann-Gott Therein.
"Ich habe eine Vermutung", krächzte Therein unheilvoll nach einer kurzen Weile. "In einer benachbarten Dimension muss ein sehr mächtiger Magier einen Zauber heraufbeschworen haben, der die Sphärenschlange weckt und dieses Chaos im Äther verursacht. Ihre Regungen sind nun in allen Welten spürbar. Sie ist erwacht und ihre Tentakel bilden Tore durch die Dimensionen, durch die Allesmögliche gerissen wird."
"Welcher Narr war so dumm?" wandte Pengaloth ein und Therein schüttelte unwissend den Adlerkopf.
"Wir müssen das Erwachen der Sphärenschlange aufhalten", mahnte Gaea.
"Nein", antworteten Therein und Celornea gleichzeitig. "Wir dürfen uns nicht einmischen", sprach die Wassergöttin den Gedanken zu Ende.
So harrten die vier mächtigsten Götter Lahors aus. Betrachteten kummervoll das Chaos, das sich in ihrer Welt ausbreitete und deren Antlitz veränderte.
Wochenlang prasselte der Regen und die schwarzen Wolken bedeckten die Sonne, als gäbe es sie nicht. Die magischen Lichtphänomene gebaren weiterhin neues Grauen oder zogen die Bewohner des Nordlands in andere Welten. Meist vereinzelt und unerwartet.
Aber mit den Monaten, in denen nichts mehr gedieh und alles der apokalyptischen Anarchie anheimzufallen schien und alles auszulöschen drohte was lebte und Vernunft besaß, gab es ein sorgenvolles Herz, das dem Ganzen Einheit gebieten wollte. Eine goldbraune Frauengestalt, deren moosgrünes Haar sich um den vollkommenen nackten Körper schlang, stand inmitten dieses nimmer enden wollenden Sturmes auf einem der Gipfel der Pamirberge und bat den Gott der Luft zu sich.
Therein landete mit nassen Adlerschwingen neben ihr, das Wasser rann ihm den nackten Körper hinab, sammelte sich an seinem Adlerschwanz im Steiß und tropfte unbeachtet auf den blanken Fels.
"Es ist fast ein Jahr vergangen und diese unsere Welt stirbt. Wir müssen es aufhalten", meinte Gaea, "du hast die Macht dazu, den Himmel zu schließen und das alles hier zu beenden."
"Wir dürfen uns nicht einmischen", entgegnete Therein ungehalten.
Die Göttin schüttelte entschieden den Kopf. "Willst du all dies aufgeben? Bitte hilf mir!"
Der Luftgott zögerte, überlegte lange Zeit und blickte dabei durch den Regen in die dunkle Ferne. Wieder eine Welt suchen, Neues schaffen und alles von vorne beginnen lassen? In all diesen Monaten der katastrophalen Finsternis, in denen sich die Lebewesen gegenseitig auffraßen, um irgendwie die Tage ohne Sonne zu überleben, hatten die vier unsterblichen Element-Götter nur zugesehen, während die allesumfassende Sphärenschlange immer weiter erwachte. Sie war so gewaltig und vielschichtig, dass ihr Erwachen Jahre dauern konnte. "Ich werde dir helfen, Gaea", sagte Therein schließlich, "aber ich fordere einen Preis von dir."
"Ich werde jeden Preis bezahlen, den du forderst", antwortete die Erdgöttin leise, "nur hilf mir es aufzuhalten. Du hast mein Wort!"
"Gut, dann sollten wir an die Arbeit gehen." Thereins Adlergefieder bauschte sich auf, als der Luftgott seine windgewaltige Magie entfaltete.
Gaea fasste Therein bei der Hand und sie aktivierte ihre Macht über die nackten Fußsohlen direkt aus der Erde. Sie weiteten ihre göttliche Kraft über die ganze Welt aus, suchten nach den aufgebrochenen Sphärenlöchern und versuchten sie wieder zu flicken, während sie die unsichtbaren Energietentakeln der allumfassenden Sphärenschlange zu beruhigen und zum Einschlummern brachten. Dieser kräftezehrende Prozess dauerte mehrere Tage, denn es gab viele Portale zu schließen und sie wollten kein Tor übersehen. Doch viel wichtiger war, dass sie das Toben und Erwachen der Allmacht aufhielten.
Schließlich gelang den beiden das Unfassbare und die magischen Tentakel zogen sich aus den Dimensionen zurück, erlahmten und die aberhunderte Welten kamen endlich wieder zur Ruhe. Und nach fast genau einem Jahr der Dunkelheit ging eines Morgens die Sonne glutweiß über dem östlichen Horizont der Nordlande auf und vertrieb die schwarzen Wolken. Der Regen hatte einige Tage davor nachgelassen und endlich zeigte sich hoffnungsvoll die lebensspendende Wärme der Sonnenstrahlen über dem überschwemmten, gebeutelten Land.
Erschöpft lagen die beiden Götter auf dem Gipfel und begrüßten den ersten Morgen seit langem. "Wir haben es geschafft", keuchte Gaea ermattet und genoss die Wärme der immer höher steigenden Sonne. Nie hatte es einen schöneren Augenblick als diesen gegeben.
Therein war der erste, der sich auf die Beine rappelte. Er blickte mit seinem starren Adlergesicht auf die wunderschöne Erdgöttin hinab und ihr Anblick ließ seinen Phallus anwachsen.
"Wie lautet der Preis für deine Hilfe?" fragte ihn Gaea und setzte sich auf. Ihr ebenmäßiges Gesicht war ohne jegliche ablesbare Emotion. Sie waren beide unsterbliche Götter und standen über all diesen Dingen.
"Ich will eines Tages mit dir, in deiner menschlichen Gestalt als Leandea, ein Kind zeugen", antwortete ihr der Adler-Mann.
Die Magie aus den anderen Dimensionen hatte die Kraft der Sonne verändert. Und das Jahr der Dunkelheit formte eine neue Fauna und Flora. Es brauchte fast einhundert Jahre, um die Nordlande Lahor wieder ins Gleichgewicht zu rücken und eine neue Ordnung herzustellen, in denen die vernunftbegabten Völker in ihren Alltag zurück gekehrt waren. Mit dem ersten wiedererwachten Sonnentag begann eine neue Zeitrechnung.
Im Jahr Null, als die Große Dunkelheit noch herrschte, suchte ein königliches Elfenpaar Trost beieinander und zeugten einen Elfenprinzen, der noch eintausend Jahre später als Dornenkönig der Waldelfen von sich reden machen würde. Einhundertdreißig Jahre später eroberte dieser Aensidhe-König eine einzigartige Stadt in den Kristallbergen und tötete alle Bewohner, die zum Echsenvolk der Vran gehörten.
In den Jahren 100 - 300 n. G. D. vermehrten sich die Menschenvölker immer weiter und weiteten sich in den fruchtbaren Nordlanden aus. Eine Siedlung nach der anderen erhob sich aus der Erde. Wie die Kaninchen vermehrten sich die kurzlebige Menschenrasse und benötigte immer mehr Raum für sich.
Um 490 n. G. D. begannen die Eroberungskriege gegen die Elfenstädte und die Zwerge wurden ebenfalls zurück gedrängt. Alles was anders war - spitzohrig, langlebig, kleinwüchsig, übernatürlich oder einfach nur fremdartig - wurde mit scharfer Klinge beäugt.
In den dichten Wäldern vermehrten sich zudem die Ungeheuer, die zuvorderst nach dem Blut und den Seelen der Menschen gierten. Und je mehr die Menschen die Oberhand gewannen, die Andersartigen aus ihren Städten verjagten, um so mehr Futter bekamen die übernatürlichen Wesen, die ihnen in die eroberten Städte folgten und sich im Unrat und in den Sümpfen darum ansiedelten. So wuchsen die Friedhöfe und mit ihnen das Unheil.
Um 500 - 600 n. G. D. als die großen Umwälzungen in Lahor begannen, verschwanden die Aensidhe aus ihren prächtigen Städte und kämpften fortan in den Wäldern um ihr Überleben. Eine neue Elfenrasse entstand aus ihnen, die weniger langlebig, ursprünglicher und weniger magisch war. Selbst die einst von den Vran erbaute Stadt Ban-Lâvael wurde wieder verlassen. Und es dauerte noch zwei Jahrhunderte, bis die Elfen ihren Stolz überwunden und bettelnd in die Städte der Menschen zurückkehrten. Wo sie in ärmliche Ghettos gesperrt, dahinvegetieren durften. Von den Menschen meist nur geduldet und ausgebeutet. Ebenso wie die Zwerge, die einige Jahrzehnte früher in die Gesellschaft zurück gefunden hatten.
In diesem Jahrhundert - im Jahre 541 n. G. D. - entstanden die vier großen Königreiche Lohars. In denen vier mit altem Königsblut versehene Familien gefunden und auf die Throne gesetzt wurden. Vier mächtige Reiche, die fortan die Geschicke der Menschen und Andersartigen lenken würden. Diese Königslande waren Doriath und Amrun im Süden und Valdavien und Lanndun im Norden.
Doch die Menschenvölker trugen nicht nur einen Kampf gegeneinander und gegen die Völker der alten Weltordnung aus, sondern wurden auch von den blutgierigen Ausgeburten der Großen Dunkelheit weiter heimgesucht. Doch sie waren oft zu schwach und degeneriert, um es mit den übernatürlichen Leichen- und Seelenfresser aufzunehmen. Es musste eine Waffe erschaffen werden, die sich um dieses Problem kümmerte. Doch wie musste diese Waffe beschaffen sein und wer vermochte sie zu schmieden?
2
Die Erdgöttin Gaea war nur ein Aspekt von Leandea der Weltenbeobachterin, die gerne in der Gestalt einer jungen goldblonden Frau auf der Welt wandelte. Sich unter die Menschen und Andersartigen begab, um an ihrem Leben teilzunehmen. Sie war auch eine Vala der Macht, verehrt von den spitzohrigen Völkern, ihr unterstanden das Leben und alles Überirdische. Bei den Zwergen hieß sie Lilithea. Und die Menschen beteten sie als Gaea-Lilith an, ihr wurde alles Leben und das Wachsende, die Geburt und die Himmelsrichtung Osten zugesprochen.
Sie konnte in die Träume und das Bewusstsein der Menschen eindringen und ihre Ideale und Gedanken soweit lenken und verändern, dass Leandea dadurch in den Lauf der Geschichte eingreifen konnte. Diesmal war sie in die Träume des mächtigen Zauberers Sarac eingedrungen, der am Hof des Königs Donal I. von Lanndun als Berater lebte. Durch diese sonderbaren Träume lockte sie den Mann mit einer kleinen Gruppe von Adepten und einem Regiment zum Schutz gegen die Unbilden der Wildnis in die Nebelburg, eine verlassene Zwergen-Festung an der Quelle des Erydan im Norden der Kristallberge.
Der schmale Weg hinauf zur Nebelburg war gut verborgen und für sorglose Wanderer, die sich dorthin verliefen, nicht sichtbar. Doch Leandea lenkte zielsicher ihre kleine Schimmelstute durch den lichten Wald, durch den der Erydan noch als schmales Flüsschen floss. Fand den Durchgang zwischen den Felsen hinauf zu der verborgenen Festung.
Sie trug schlichte Männerkleidung, hatte ihren Busen flach gebunden, das goldblonde Haar kurzgeschnitten und unter einer Lederkappe verborgen. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein junger Bursche aus der Stadt, etwas verweichlicht und auf lehrhafter Wanderschaft.
Am offenen Tor wurde sie von zwei Soldaten aufgehalten. Sie hatte mit ihnen eigentlich schon am unteren Durchgang gerechnet, was ihr zeigte, wie sorglos sich die Expedition fühlen musste. Nach einer kurzen Erklärung, dass sie Lean, ein Zaubereradept war und Sarac sie erwarten würde, ließen die Wächter sie passieren.
Den Zauberer fand Leandea in den Kellern der Festung, in der sich der magisch Begabte mehrere Laboratorien eingerichtet hatte. In den letzten zwei Jahren, in der er nun bereits in der Nebelburg weilte, hatte er allerhand an Kräutern, Giften, das Blut von Ungeheuern und sonstigen Ingredienzien zusammengetragen und mit ihnen experimentiert, um ein ultimatives Elixier herzustellen, die die Fähigkeiten eines Menschen übernatürlich verstärkten. Bisher hatte er wenig Erfolg verzeichnen können, weshalb Leandea nun ihm persönlich zur Seite stehen wollte, um die ultimative Waffe gegen die Ungeheuer, die die Nordlande verseuchten, zur Vollendung zu bringen.
Ihre wahre Natur wurde nicht bemerkt und sie konnte als Adept Lean, an der Seite Saracs dem Zauberer die Impulse in die Hand legen, die er benötigte, um endlich die Formel zu finden, die aus einem unscheinbaren Menschenjungen ein magisch verseuchter Mutant kreierte, der es mit jedem übernatürlichen Ungeheuer aufnehmen konnte.
Lean schuf mit Sarac ein Elixier aus veränderten Kräutern, Giften und dem Blut der Weißen Werwölfe, die den Organismus eines Jungen soweit veränderte, dass dieser an Schnelligkeit und Kraft gewann, gegen die meisten Gifte und Krankheiten immun wurde und zur ultimativen Kampfmaschine erzogen werden konnte. Doch die Formel veränderte auch das Gewissen, die Libido und das Aussehen dieser armen Kinder, die man geraubt und für die qualvollen Experimente missbrauchte. Ihre Haut bekam einen unnatürlichen, transparenten Teint, die Haare wurden ihrer Pigmentierung beraubt und weiß oder grau, wie das von uralten Menschen. Doch das sonderbarste Merkmal wurde ihr Markenzeichen: ihre fahlgelben Tieraugen, die sogar im Dunkeln sehen konnten. So wurde in der Nebelburg die Bruderschaft der Eiswölfe geboren.
Die erste Handvoll junger Mutanten wuchsen zu trainierten Exorzisten heran. Weißhaarige Muskelprotze mit transparenter Haut und gelben Tieraugen. Ausgebildet mit jeder erdenklichen Waffen umgehen zu können, ihr mutierter Körper selbst eine Waffe. Übernatürlich schnell und kraftvoll. Aber auch ohne jegliches Gewissen und skrupellos. Eisexorzisten, erschaffen um die Gesellschaft von den Ungeheuern zu befreien.
Die sogar Magie anwenden konnten. Ihre mächtigsten Zeichen waren das Héleg - eine Eiswelle, die sie ihren Gegnern entgegenwerfen konnten und diese in eine Eisstatue verwandeln - und das Gôrph - ein wuchtiger Energiestoß, der Barrieren zertrümmerte und Feinde von den Beinen riss. Mit dem magischen Faêr-Zeichen konnten sie Lebewesen manipulieren und beeinflussen. Das Thaán-Zeichen legte ein Schutzschild um die eigene Gestalt und das Pârth bannte den Gegner am Boden fest.
Bereits die ersten Eisexorzisten bewährten sich besonders gut gegen den untoten Abschaum, der im Unrat um Lannduns Hauptstadt Aedd-Aaglôs lebte. Als die Könige der anderen Reiche von diesen Eiswölfen erfuhren, wollten auch sie solche gewissenlose Kämpfer um sich wissen. Sie sandten dem Zauberer Sarac sogar eigens Dutzende von sechsjährigen Jungen, die er mit dem Elixier umwandeln sollte. Die Eiswolf-Bruderschaft boomte, sie bekamen ein Wolfsmedallion um den Hals - ein Wolf, der den Mond anheulte. Ihr magisches Insignium mit großem Wiedererkennungswert.
In den ersten Jahrhunderten wuchs die Bruderschaft dieser weißhäutigen Kampfmaschinen mit den fahlen Tieraugen zu mehreren Hundert Männern an. Doch sie durften nicht unterschätzt werden und waren schwer unter Kontrolle zu bringen. Die Formel des giftigen Elixiers wurde verbessert, forderte aber immer noch einen hohen Todeszoll von den unschuldigen Menschenjungen. Die Experimente an Elfen- und Zwergenjungen scheiterte jedoch jedes Mal, sie zeigten sich gänzlich als ungeeignet für diese mutantive Umwandlung.
Auch Leandea musste in der Gestalt des Magiers Lean ihre blutig-bittere Erfahrung machen, als nach fünfzehn Jahren erfolgreicher Züchtung, ihre wahre Natur offenbart wurde. Sarac war nicht sonderlich erfreut über ihre Täuschung gewesen und ließ sie von einem des ausgebildeten Eisexorzisten abstechen.
Es starb nur ihr menschlicher Körper und Leandea die Weltenbeobachterin kehrte in die Sphärenwelt der Götter zurück. Doch war sie zufrieden mit dem was sie erschaffen hatte und behielt die Bruderschaft der Eiswölfe stets im Auge.
Am Ende des 8. Jahrhundert n. G. D. kam eines Tages eine Delegation aus den Südlande Sileval in die Festung und forderte die Formel für das Mutanten-Elixier, aber die Bruderschaft der Eiswölfe wollte das Geheimnis nicht preisgeben. Etwa dreißig Jahre später drang ein mächtiger Zauberer und hochbegabte Assassinensöldner aus Sileval gewaltsam in die Nebelburg ein und raubten etliche Geheimnisse aus den Archiven und Laboratorien der Bruderschaft. Bei ihrer Verteidigung kamen etliche Eisexorzisten zu Tode und einiges an Wissen ging unwiederbringbar verloren.
3
Fast ein halbes Jahrtausend war vergangen, als Leandea wieder in Gestalt eines hübschen Mädchens auf der Welt wandelte und Therein eines Tages seinen Preis einforderte.
In den Marschlanden östlich der Valdavischen Hauptstadt Aedd-Tanelor war im Sommer 997 n. G. D. eine magisch begabte Heilerin aufgetaucht. Da zurzeit Frieden herrschte, hatte sie nur Wunden und Knochenbrüche zu heilen, die durch ungeschickte Unfälle im Wald oder beim Handwerkeln entstanden waren. So konnte Leandea ein beschauliches, eher ereignisloses Leben in einer kleinen Bauersiedlung führen.
Es war später Sommerabend, die Sonne untergegangen und zaghaft kehrte die erste Kühle der Nacht ein. Die hübsche Frau mit dem goldblonden Haar marschierte zu einer verlassenen Uferstelle am Jaivon, an dem sie gerne badete, zog sich ihr verschwitztes Leinenkleid aus und tauchte ins Wasser. Als sie auftauchte und zum Ufer sah, machte sie einen sonderbaren Schatten in der Dämmerung aus. Sie erkannte die Silhouette und stieg ohne Furcht dem Adler-Mann entgegen.
"Es ist endlich Zeit für die Bezahlung", krächzte Therein und betastete die Rundungen der Menschenfrau, die auch die Erdgöttin Gaea und die Weltenbeobachterin war.
Leandea ließ es geschehen, dass der Luftgott sie begrabschte, seine Federspitzen kratzten über ihre sonnengebräunte Haut und sein Phallus ragte steif in die Höhe. Er drehte sie herum und sie musste sich nach vorne beugen, während er hart in sie stieß. Seine Leisten schlugen gegen ihre Pobacken und sie hörte sein kehliges Keuchen. Ihr Schmerz ließ schnell nach und sie wartete geduldig ab bis er fertig war.
Doch an diesem Abend fruchtete die lieblose Begattung des Luftgottes noch nicht und sie verabredeten sich für die kommende Nacht erneut. Als sie auch beim dritten Abend noch immer nicht empfangen hatte, meinte Therein verärgert: "Genießt du unsere Treffen so sehr, dass du es hinauszögerst?"
Leandea, die sich leicht wundgeritten fühlte, antwortete emotionslos: "Mit dem Vala Daen würde ich es genießen, du bist einfach nur unfähig."
Thereins Faust landete in ihrem Gesicht und schlug sie zu Boden. Die nackte Frau unterdrückte einen Schmerzensschrei und hielt sich die Wange. Sie hatte seine Wut entfacht, der Adler-Mann stürzte sich auf sie und drang erneut in sie ein. Doch genau das hatte sie bezwecken wollen, denn sein Zorn aktivierte in seinem Samen endlich das erhoffte und diesmal empfing sie.
"Was hast du mit dem Kind vor?" wollte Leandea wissen, als der Luftgott endlich von ihr gelassen hatte. Sie blieb im Gras liegen, während er sich erhob.
Einige Herzschläge schwieg der Adlerkopf, dann krächzte es aus dem krummen Schnabel hervor: "Ich wollte dich damit nur demütigen, Gaea. Und ich hoffe, dass du eine lange und schwere Geburt mit ihm hast. Vielleicht gebierst du ein Mischwesen, so wie ich eines bin. Dann werde ich mir das Kind holen und zu einem Rächer erziehen, der die Nordlande mir zu Ehren geiseln wird." Er lachte laut auf und schwang sich mit rauschenden Schwingen in den Nachthimmel.
Aus Angst, es könnte die Luft-Göttlichkeit in dem Kind durchschlagen, pilgerte Leandea nach Erryander. Dort gab es ein großes Frauen-Kloster, die die Göttin Gaea-Lilith anbetete. Sie hoffte von der magisch-heiligen Quelle zu profitieren und betete täglich eine Stunde vor dem von Menschenhand erschaffenen Abbild ihrer wahren Natur.
Im späten Frühjahr 998 n. G. D. brachte sie dann einen ganz gewöhnlichen Knaben zur Welt. Die Nonnen waren begeistert von der leichten und schnellen Geburt und schrieben es dem Wohlwollen ihrer Göttin Gaea-Lilith zu. Auch Leandea war über den Ausgang mehr als erleichtert und blieb für zwei Jahre in Erryander. Sie arbeitete fleißig an den Niederschriften alter Bücher und zog ihren Sohn groß. Sie gab ihm den Namen Caladir.
Als der Junge laufen konnte und zu Sprechen begann zog sie mit ihm nach Aedd-Weihmar, der Hauptstadt Doriath. Dort blieb sie nur etwa drei Jahre und zog dann mit dem blonden, introvertierten Jungen zu dem er heranwuchs, auf der Straße nach Norden ein Stück durch Valdavien. Ihre Reise dauerte eine ganze Weile, sie überquerten den Pass durch die Grenzberge und gelangte nach Lanndun. Sie verdiente sich unterwegs ihr Brot als Heilerin und blieb einen Monat in der Hauptstadt Aedd-Aaglôs, bevor sie ihren Weg nach Norden fortsetzte. Ihr Ziel die Nebelburg an der Quelle des Erydan.
Caladir war zu einem verschlossenen Jungen herangewachsen, der seine Mutter mit seiner Verstocktheit strafte für die harte Wanderzeit, die sie ihm in so jungen Jahren bereits bescherte und ihm seine sorglose Kindheit vorenthielt.
Am Ufer des Erydan schlugen Mutter und Sohn ein Nachtlager auf. Caladir musste Feuerholz zusammensuchen, während Leandea sich um ihr Pferd kümmerte. Kurz darauf saßen die beiden eng am Feuer, denn von den schneebedeckten Kristallbergen am nahen Horizont kam ein eisig-kalter Wind herbei geweht und ließ sie frösteln. Sie hatten sich in ihre Decken gehüllt und kauten auf dem letzten Stück trockenen Brotes herum und schwiegen sich an.
Unerwartet brach ein Krieger in genieteter Rüstung und gezogenem Schwert aus dem Dickicht hervor und bedrohte die junge Mutter mit seiner Klinge. Leandea zeigte keine Angst vor dem großen Kerl mit den graumelierten Haaren und vielen Narben im Gesicht. Auch seine im Feuerschein lodernden Tieraugen schreckten sie nicht wirklich. Sie hatte damit gerechnet, jederzeit auf einen Eiswolf zu stoßen, je näher sie der Nebelburg kam.
"Ich grüße euch, Herr Eisexorzist", sprach sie den hellhäutigen Hünen an. "Ich bin auf dem Weg zur Nebelburg und bringe der Bruderschaft ein Geschenk." Sie deutete auf ihren Sohn, der vom sonderbaren Anblick des Eiswolfs erstarrt war.
Der Eisexorzist steckte sein schwarzklingiges Schwert fort und fragte mit kalter, kehliger Stimme: "Woher kennt ihr den Weg zur Nebelburg?"
"Das kann ich euch nicht sagen, nur der Erzmeister der Bruderschaft darf davon wissen. Bringt mich zu ihm." Um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, erhob sich Leandea und blickte dem Mann direkt in die gelblodernden Augen, sie war ganze zwei Kopflängen kleiner als er. "Ich bin Leandea, eine Heilerin und Archivarin aus Erryander und das ist mein Sohn Caladir."
"Ich bin Lucca", entgegnete der Eiswolf kühl. "Die Festung liegt noch einen viertel Tagesmarsch von hier entfernt. Ruht euch die Nacht über hier aus, ich bringe euch morgen dorthin."
"Danke."
Es war viele Jahrhunderte her, dass Leandea hier gewesen war, die Experimente für die ultimative Waffe vorangebracht hatte und schließlich von solch einem erschaffenen Mutanten getötet worden war. Der Zauberer Sarac lebte schon lange nicht mehr und die Bruderschaft von einst fast eintausend Eisexorzisten war auf fast dreihundert geschrumpft. Nach dem Überfall der Silevaler mussten einige Elixierformeln erneuert werden. Die Zeit und der Überfall hatten ihre Spuren an der Nebelburg hinterlassen.
Leandea war entsetzt, als sie am anderen Tag im Burghof stand und man ihr die Augenbinde abgenommen hatte, damit sie den wahren Weg hinauf nicht kannte. Sie fand sich in einer Ruine wieder. Die hohen Türme und mehrstöckigen trotzigen Gebäude waren zum größten Teil eingestürzt. Zwischen Trümmern und Unrat machte sie blanke Knochen von Getöteten aus, die niemand forträumte. Ein Schwarm schwarzer Krähen beäugte sie von den Zinnen und löchrigen Dächern herab. Und eine Handvoll zahmer echter Grauwölfe lief zwischen den trainierenden Eisexorzisten herum. Es lebten etwa neunzig meist noch in der Ausbildung befindliche junge Männer hier, viele hatten das ausgezerrte, qualvolle Aussehen deren, die die Kräuterprobe noch nicht beendet hatten und somit noch ihre menschliche Gestalt hatten.
Lucca führte Leandea und Caladir ins Innere des Haupthauses. Dort brannten Kohlebecken und Kaminfeuer und die Frau konnte mit Zittern aufhören. Der Junge klammerte sich ängstlich an ihrer Hand fest, für ihn waren die trotzige unheimliche Nebelburg und ihre sonderbaren Bewohner mehr als beängstigend. Trotz der Kälte, die von den umliegenden Bergen herab wehte, waren die Jungen und Männer nur einfach bekleidet; und die oft zusammengestückelten alten Rüstungen schützten die blassen Körper nur vor feindlichen Klingenwaffen und nicht vor der allherrschenden Kälte. Doch den Eiswölfen schien diese Kälte wenig auszumachen.
In einer weiten Halle kauerte ein uralter Mann in einem muffigen Sessel, den er nur noch sehr selten verlassen musste. Es handelte sich hierbei um den Erzmeister Clayton, einen Eisexorzist der bereits zweihundertdreiundsechzig Jahre alt war und bald das Zeitliche segnen würde. An seiner Seite saß ein muskeltrotzender, finster dreinblickender Hüne mit kahlgeschorenem Kopf, er schien auch schon etwas älter zu sein - Leandea schätzte ihn auf mindestens achtzig - und es musste sich um den Nachfolger handeln. Er hieß Leonés und hatte eine erstaunlich wohlklingende Stimme, zu seinem sonst mehr als einschüchternden Äußeren. Lucca stellte sie einander vor und wartete dann im Hintergrund.
"Es kommt heutzutage nicht mehr vor", krächzte der uralte Erzmeister Clayton, "das uns eine Mutter freiwillig ihren Sohn bringt."
Leonés erhob sich und trat näher an die Frau heran. Er war ein wahrer Riese, doch Leandea ließ sich von ihm nicht einschüchtern. Keine Regung zeigte sich auf dem kahlen, narbenfreien Gesicht, selbst die Augenbrauen hatte sich der Mann abrasiert. Die dunklen Blutadern unter seiner transparenten Haut malten ein markantes Muster und verliehen ihm mit den blaßgelben Tieraugen einen überirdischen Anblick. "Du bist anders", meinte Leonés und legte dem Jungen die breite Hand auf den Kopf.
Caladir wich zurück, doch Leandea hielt ihn auf. "Ich will, dass ihr aus meinem Sohn einen Eiswolf macht. Ich bin nicht nur Leandea eine magisch begabte Menschenfrau, in mir ruht auch die Essenz von Gaea-Lilith. Sein Vater ist Vala Therein. Gebt ihm das Elixier und er wird einer der außergewöhnlichsten Eiswölfe, die je erschaffen wurden. Er trägt Götterblut in sich. Gebt ihm ruhig die doppelte Menge an Gift."
Ein verachtendes Lächeln legte sich auf den breiten Mund des kahlköpfigen Hünen. "Ihr habt das Kind nicht freiwillig empfangen, sonst würdet ihr als seine Mutter nicht so leichtfertig mit seinem Tod spielen", entgegnete Leonés herablassend. "Der Junge ist aber wahrlich mehr als nur geeignet für uns. Ich spüre sein Potential."
"Dann ist ja alles gesagt und ich kann wieder gehen", erwiderte Leandea und wollte sich abwenden.
Der Glatzkopf griff nach ihrem Arm, um sie aufzuhalten. Kurz zauderte er bei der Berührung, fasste sich aber schnell wieder und fügte an: "Ihr braucht nicht sofort die Festung verlassen, Lady Leandea. Seit unser Gast für einige Tage."
"Bitte nur für eine Nacht", konterte die Frau ruhig, "ich will mich morgen auf den Weg zurück nach Erryander in Doriath machen."
Die letzte Nacht verbrachte Caladir bei seiner Mutter in einem kleinen Gästequartier. Er hatte wohl begriffen, dass ihn die eigene Mutter bei diesen wilden Männern lassen wollte, dass sie ihn zu einen der Ihren machten. Dafür hasste er sie und zeigte es ihr auch, indem er schmollend in einer dunklen Ecke neben dem Kamin kauerte und kein einziges Wort mit ihr sprach.
Leandea ließ ihn kommentarlos gewähren. Eigentlich war sie ganz froh, diese Last los zu werden. Einen besseren Ort, wie die Bruderschaft der Eiswölfe hätte es für so einen Jungen wie er es war, gar nicht geben können. Leandea redete sich ein, dass sie Caladir damit sogar einen Gefallen bereitet hatte. Und übersah, dass das ihre Art von Rache an Therein war.
Hätte Leandea gewusst, welche jahrelangen Schmerzen sie ihrem Sohn durch die Umwandlung zum Eiswolf bescherte, hätte sie ihn vielleicht doch eher in der Obhut seines Vaters Therein gelassen?
Caladir musste wegen seines göttlichen Blutes für mehr Experimente mit unterschiedlichen Elixieren herhalten, als alle Kinder vor ihm. Die Formel wurde immer wieder mit unterschiedlichen Giften und dem Blut von verschiedenen Ungeheuern verändert. Clayton genehmigte in seiner Senilheit alle Experimente, die Leonés sich erdachte. Der blonde Junge musste sie alle gnadenlos schlucken.
Die Schmerzen, die die Gifte in seinem Organismus anrichteten, während sie ihn veränderten und zu einem neuen außergewöhnlichen Eiswolf mutieren ließen, waren manchmal so schlimm, dass er tagelang in Fesseln gebunden und schreiend auf seinem Lager lag. Aber keines der Elixiere erlöste ihn mit dem Tod.
Schließlich gewöhnte sich der Körper an den starken Cocktail aus bewusstseinsveränderten Kräutern und umwandelnde Mutagene, so dass er mit neun Jahren mit dem mentalen und körperlichen Training anfangen konnte. Stundenlang musste er durch einen Kletterparcour eilen und beweglichen Pendeln ausweichen, um seine Reflexe zu trainieren. Hinzu kamen Kampfübungen mit meist stumpfen Waffen aller Art - darunter Schwert, Lanze, Axt, Streitkolben, Pfeil und Bogen und der bloße Faustkampf. Caladir musste lernen, seine innere Energie zu bündeln und in magischen Zauberzeichen auf seinen Feind anzuwenden. Das einzige, das dem Jungen durch sein göttlich durchzogenes Blut wirklich leicht fiel.
Schon als Kind lernte er auf der Jagd Tiere zu überwältigen und anschließend auszunehmen, die weitaus gefährlicher waren, als er selbst. Von den anderen achtzehn Jungen, mit denen er trainierte, überlebte zwei die erste Phase nicht und ein dritter Jüngling, kam bei der Endprüfung ums Leben.
Nur Caladir musste noch eine weitere Prüfung ablegen. Ihm wurde eine weitere Giftprobe verabreicht. Fast sah es so aus, als würde sein unerbittlicher Mentor Leonés damit einen Schritt zu weit gegangen sein, denn der nun sechszehnjährige Jüngling mit dem inzwischen ergrauten Haar und einer transparenten Haut, wie sie allen Eiswolfmutanten zu eigen war, fiel in einen totengleichen Schlaf, aus dem er erst drei Tage später völlig entkräftet und verändert erwachte. Seine geschlitzten Tieraugen hatten eine weiße Iris bekommen und das Haar fiel in dünnen, aschgrauen Strähnen über seine breiten Schultern.
Drei Jahre später schickte ihn, der inzwischen zum Erzmeister ausgerufene Leonés, auf Wanderschaft. Er sollte seine erlernten Fertigkeiten und übernatürlich angezüchtete Fähigkeiten im Kampf gegen die Ungeheuer, die weiterhin die Gesellschaft der Menschen bedrohte, unter Beweis stellen. Vielleicht nahm ihn sogar ein König in seine Dienste und bescherte ihm für einen Eisexorzisten ein ungewohnt annehmliches Leben.
So verließ eines Tages der Eiswolf Caladir die Nebelburg an der Quelle des Erydan und zog in den Süden. Auf der Suche nach Monstern, an denen er sein Kampfgeschick und seine Magie ausprobieren konnte. Abhängig von seinen Elixieren und seiner Bestimmung, durchwanderte er die Nordlande Lahors und ahnte nicht, dass ihn noch etwas anderes vorantrieb, das in seinem Blut verborgen war.
4
Der Koloss aus Lavastein und Herzlosigkeit stürmte dem aschhaarigen Kämpfer entgegen. Ein Donnerbrüllen grollte aus seinem zahnlosen Maul und Feuerzungen loderten von der Haut des Golems. Auch der Kämpfer rannte ohne Furcht vor dem Feuer dem Giganten entgegen und sein Silberschwert blitzte in der Nachmittagssonne auf. Doch er wählte eine völlig andere Waffe gegen das brennende Ungetüm, aus seiner Linken kam eine knisternde Eiswelle und fauchte gegen den Feuergolem. In kurzer Folge warf der Exorzist ihm drei weitere Eiswellen entgegen, die den Koloss einhüllten, den Feuerzungen endlich Einhalt geboten und aufhielten. Gegen das magische Eis kam der Lavagigant nicht an und zerbarst unter lautem Getöse in abertausende kleiner scharfkantiger Splitter. Der Kämpfer wurde von der ganzen Wucht der erkalteten Lavasteine und Eisscherben getroffen, ging mit ihnen zu Boden und wurde unter einem Berg von Gestein und Eis begraben.
Der Kampflärm erstarb und der aufgewirbelte Straßenstaub legte sich. Vorsichtig durchbrachen die ersten Vögel mit einem Lied die Stille und dann kam auch wieder Bewegung in den vor Angst erstarrten Kaufmann, den der Feuergolem zuvor bedroht hatte – bevor ihm glücklicherweise der herannahende Eisexorzist Caladir e'Yander zur Hilfe geeilt war.
Kaufmann Ayden Samhradh kroch hinter seinem vollgepackten Wagen hervor. Traurig blickte er auf das verbrannte Zugpferd und ging zum zweiten Tier, das zitternd im Geschirr stand und den heimtückischen Angriff des Golems überlebt hatte.
Der schlanke Mann in den gepflegten blauen Gewändern eines erfolgreichen Kaufmannes war ein hübscher Elf mit nackenlangem, braunem Haar und rehbraunen Augen. Er hatte die typischen spitzen Ohren, aber nicht den Kampfgeist seines kriegerischen Volkes geerbt – aber auch sonst hätte er wohl Hilfe von außerhalb benötigt, um es mit dem Lavasteinungetüm aufzunehmen. Ayden Samhradh war ein von der menschlichen Zivilisation verwöhnter Kaufmann, der regen Handel zwischen den Menschen und den Wesen der alten Welt trieb. So war er nur mit einem schlanken Stilett bewaffnet, das gegen dieses Ungeheuer mehr als nutzlos war. Sein schwerbewaffneter Begleitschutz Trölt Wolfschädel – ein vollbärtiger Zwerg – hatte die Flucht ergriffen, kaum dass der lodernde Koloss hinter einem Steinhaufen hervor gestampft war.
Vorsichtig näherte sich Ayden dem riesigen Steinhaufen auf der Straße. Er hob einen Ast auf und stocherte damit in den Überresten, um nach dem Kämpfer zu suchen. Ayden entdeckte ihn und begann sofort den Bewusstlosen aus dem Geröllberg heraus zu ziehen, was ihm nur unter aller Kraftanstrengung gelang. Felsbrocken kullerten kreuz und quer über die Straße.
Der Elf schleifte den Eisexorzisten aus der Gefahrenzone, drehte ihn auf den Rücken und untersuchte seine Wunden. Der ganze Leib des Retters war zerschnitten durch die scharfen Stücke, selbst die Rüstung hatte es zerfetzt und die Haut darunter war mit winzigen Splittern gespickt. Aus den tieferen Schnitten, wie im Gesicht und an den ungeschützteren Stellen floss bereits schwarzrotes Blut. Ayden zog vorsichtig einige der größeren scharfkantigen Steinchen aus dem markanten Gesicht. Als das Blut jedoch schlimmer floss, unter ließ der Kaufmann die aufreibende Prozedur.
Er begann das tote Pferd vom Wagen zu befreien, als reumütig sein Begleiter zurückkehrte. Der Zwerg steckte sein Schwert zurück in die Scheide, als er sah, dass keine Gefahr mehr drohte.
„Für was bezahle ich dich eigentlich, Trölt Wolfschädel, wenn du bei der ersten Gefahr davon läufst!“ Der Kaufmann versetzte dem Zwerg eine harmlose Backpfeife.
Kommentarlos half er seinem Boss Caladirs Braunen vor den Wagen einzuspannen und Platz auf der Ladefläche zu schaffen, wo der Verwundete gelagert werden konnte. Trölt hob auch das Silberschwert von der Straße auf und lenkte dann den schwerbeladenen Wagen zurück auf die Straße in Richtung Erryander, wo Ayden Samhradh lebte. Der Kaufmann selbst saß bei dem bewusstlosen Exorzisten und achtete darauf, dass die Fahrt ihn nicht zu sehr durchrüttelte.
Das Alpwesen witterte im Weltenäther nach einem neuen Opfer und er fand es. Ein sehr interessantes und geschwächtes Opfer.
Meistens suchte er frisch verliebte Frauen des Nächtens heim. Setzte sich auf deren bebende Brust und bescherte ihnen Horrorvisionen ihrer tiefsten Ängste. Aber diesmal fand er einen gestandenen Krieger, der durch die schweren Verletzungen für ihn angreifbar wurde.
Unbemerkt setzte sich der Alp auf die kräftige Brust des aschhaarigen Kriegers. Er labte etwas Wundessenz und infizierte mit seinem Speichel zusätzlich die tieferen Brand- und Schnittwunden.
Das unsichtbare Wesen hauchte Caladir e'Yander einen Kuss auf die bleichen Lippen und drang so in sein Innerstes vor. Er tauchte ein in die Erinnerungen und Gedanken des Eiswolfes. „Welch ein Fang!“ frohlockte der Alp, als er tiefer in den Geist des Kämpfers vorstieß. „Ich werde lange von dir zehren können, Exorzist!“
„Er hat viel Blut verloren. Die Wunden sind so zahlreich und voller winziger Splitter – ich kann nichts für ihn tun. Du musst ihn ins Kloster der Gaea-Lilith bringen", mahnte Kaufmannsfrau Telda Samhradh – eine schwarzhaarige Menschenfrau. An ihrer Seite stand ihr Mann, Ayden Samhradh.
„Er ist ein Eiswolf, müssten da seine Heilkräfte nicht besser funktionieren?“ meinte Ayden.
„Ja, eigentlich schon. Aber die Nonnen können ihn viel besser pflegen und die unzähligen Steinchen und Splitter aus seinem Körper ziehen“, kommentierte seine menschliche Frau. Sie schaute leicht verängstigt auf den schlafenden Hünen, den ihr Mann vor einer Stunde mit seinem Wagen gebracht hatte.
Caladirs zerschundener Körper lag weich gebettet auf einem Diwan. Ab und an stöhnte er auf und warf sich hin und her – dann musste man ihn halten, dass er sich nicht verletzte. Das zerfetzte Wams hatte man ihm ausgezogen, das kaputte Hemd klaffte auf, die ganze vordere Seite war von der Druckwelle der scharfkantigen Lavasteinchen und Eissplitter zerschnitten worden. Unzählige alte und frischere Narben zierten seinen gestählten Leib.
„Ich breche unverzüglich auf“, erwiderte Ayden. "Er hat mir das Leben gerettet. Er verdient die beste Pflege, die wir für ihn finden können.“ Ayden nahm seine schwarzhaarige Menschenfrau kurz in den Arm und küsste ihre Stirn. Dann sollten ihm seine Knechte dabei helfen, den Schwerverletzten auf den Wagen zu heben und er fuhr mit dem Zwerg Tölt zum Frauen-Kloster, das eine Wegstunde westlich von Erryander lag.
Um ihn war Dunkelheit und doch konnte er sehen. Ein heller Mond schien durch die Kronen mächtiger Bäume in einem alten Wald. Es war nach dem Winterschnee, aber kurz vor der Frühlingsblüte. Braun und dunkelgrün bedeckte dichtes Moos den Waldboden und schluckte jeden Laut – außer man zertrat einen dürren Zweig.
Ich kenne diesen Ort, diesen verfluchten Wald, dachte Caladir und folgte einem nicht vorgegebenen Weg. Dann trat er auf eine Lichtung. Innmitten der Bresche stand eine mächtige Eiche. Woher kannte er diesen Baum? Der Eisexorzist grübelte kurz. Es war lange her, sehr lange her, dass er unter dieser Eiche gestanden hatte. Und aus einer fernen Erinnerung heraus blickte er nach oben.
Ein graues, haariges Etwas saß auf einem Ast im Dunkeln über ihn. Caladir sah ein gelbes Augenpaar mit geschlitzten Pupillen aufblitzen. Ähnliche Augen wie seine. Tieraugen. Die Augen eines grauen Wolfes – erinnerte sich der Eiswolf.
„Hallo Caladir e'Yander!“ sprach ihn der graue haarige Schatten an.
„Hallo Ulf Varen!“ erwiderte Caladir – ein junger Eiswolfkrieger von gerade mal zwanzig Jahren, den eine blutige Spur zu dieser alten Eiche geführt hatte.
Der junge Caladir tastete nach seinen Schwertern, aber er trug keinerlei Waffen – nur einfache Bauernkleidung: eine Hose und ein Hemd aus braunem Leinen und dazu Wildlederstiefel. So war das damals aber nicht gewesen, dachte er.
Etwas wurde von oben auf ihn geworfen. Instinktiv wich er dem länglichen Gegenstand aus. Es war ein nackter abgerissener Arm eines bedauernswerten Mädchens. Er hörte ein kurzes Lachen, aber als er hinauf sah, war der graue Schatten mit Namen Ulf Varen verschwunden. Nur ein blutiger Fetzen Kleides hin über dem dicken Ast, auf dem er vor wenigen Lidschlägen noch gesessen hatte.
Er war damals an diesen Ort geschickt worden, um seinen allerersten Auftrag zu erfüllen. Ihm kam es einer Prüfung gleich, eine Umsetzung seiner gelernten Kampfkunst und Instinkte, seiner Bestimmung und seines Exorzistenkönnen.
Nach seiner Ausbildung und der Umwandlung zum Eiswolf wurde er allein in die Welt hinausgeschickt, mit der Aufgabe Ungeheuer zu töten. Mit neunzehn machte er sich auf seinen langen Weg, ausgestattet mit einem Pferd, einem Silber- und einem Schwert aus Sterneneisen, einer Schatulle mit wertvollen Elixieren und seinem immensen Wissen. Einem Wissen um Magie, Zauberzeichen, Zaubersprüchen und elementares Wissen um jedes Lebewesen dieser Welt ...und wie es zu töten war.
Seine Wanderschaft währte nur kurz, als er auf ein Dorf traf, das ein Werwolfproblem hatte. Im nördlichen Wald trieb ein Teufelswolf sein schändliches Unwesen, indem er unschuldige Mädchen zu sich lockte und sie dann auffraß. Bereits drei Mädchen seien in den letzten Wochen verschwunden und erst heute Morgen – so gestand der Dorfälteste – wurde ein viertes Mädchen vermisst. Man hatte Angst, sie sei ebenfalls in den Wald gelaufen und würde nun von diesem Wolf aufgefressen. Wenn er dieses Untier tötete – und das Mädchen finden sollte – stehe ihm natürlich eine Belohnung aus. Und so war der junge Caladir e'Yander in den nördlichen Wald gegangen und einer unübersehbaren Spur junger Mädchenfüße bis zu der Lichtung mit der Eiche gefolgt.
Doch was er dort vorgefunden hatte, hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. Um den Baum verteilt lagen die angenagten Überreste eines jungen Mädchens – noch recht frisch, es handelte sich wohl um das vierte vermisste Mädchen. Dort lag ein Arm. Anderswo ein angenagtes Bein. Wieder woanders eine abgerissene Hand. Die Bestie hatte das junge Ding – nur vier Jahre jünger als Caladir selbst – in ein Dutzend Stücke zerrissen.
Dem jungen Kämpfer hatte man die Angst abtrainiert und eigentlich hätte es ihm auch nicht übel werden sollen bei diesem grausigen Fund, aber der junge Eisexorzist hatte mit all dem arg zu kämpfen.
Caladir erinnerte sich, wie er vorsichtig den Baum umrundet hatte und seine aufkommende Angst mit der Sicherheit seines Silberschwertes niederkämpfte. Er suchte nach dem Werwolf, der vorerst verschwunden blieb...
Ein Eiswolf durfte keine Angst spüren! Ein Eisexorzist konnte sich jedem Ungeheuer stellen, dazu war er erschaffen worden! Ein Eiswolf war selbst ein Ungeheuer – ein verwandelter, gestählter, zauberkundiger Mutant mit überirdischen Fähigkeiten! Caladirs Nackenhärchen stellten sich auf. Warum war er an diesem Ort? Unbewaffnet? Er kickte den Arm zur Seite und blickte sich um: keine weiteren Leichenteile. Sein erster Auftrag! Ein Mädchen fressende Werwolf mit äußerst unappetitlichen Essmanieren. Aber er hatte ihn getötet, erinnerte sich Caladir, vor vielen Jahrzehnten!
„Ulf!“ brüllte der Exorzist in die Nacht hinein. „Varen!“
Stille. - „Ulf Varen!“ rief er erneut.
Hinter ihm knackte ein Ästlein entzwei. Caladir drehte sich um und ein junger Vagabund trat auf die mondhelle Lichtung und blieb vor ihm Angesicht zu Angesicht stehen.
Der etwas ungepflegte Kerl hatte ein Allerweltsgesicht, höchstens drei Jahre älter als Caladir selbst und trug das lange grauschwarze Haar am Oberkopf zusammen gebunden. Er war sehr schlank, fast ausgezerrt und auch seine bunt zusammengewürfelte Kleidung hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die hohen Stiefel starrten vor Schlamm und das zweifarbige Wanst in rot und gelb, war mit blauen Flicken gestopft worden. Hose und Mantel waren aus unscheinbaren Leder und über dem Rücken war eine achtseitige Harfe geschnallt.
Dieses Instrument holte der Vagabund hervor und spielte eine fröhliche Weise. Caladir in sich erstarrt, musste ihm zuhören und alles geschehen lassen. Zwar die Hauptperson in dieser Unwirklichkeit, aber doch dazu verdammt nur Beobachter sein zu können.
Der Musiker spielte sehr gut, er entlockte der kleinen Harfe eine Kaskade von scharfen, klaren Klängen hervor. Und aus einer fröhlichen Weise wurde ein Grablied, während er ein paar Mal um den jungen Eisexorzisten herumtanzte. Dieser folgte ihm mit hasssprühenden Blicken.
Schließlich blieb Ulf Varen stehen und schleuderte die Harfe weit von sich. „Erinnerst du dich an mich, Eiswolf?“ Der Vagabund stand ihm direkt gegenüber und seine rechte Hand wanderte in den Ausschnitt seines Hemdes. „Was für ein hübscher, kräftiger Kerl du bist! Makellos und gesund!“
Caladir spürte die liebkosende Hand auf seiner nackten Brust, aber er selbst konnte seine Arme nicht heben, um diese Hand fortzustoßen. Stattdessen begann ihn diese Berührung zu erregen.
„Ich hatte noch mein ganzes Leben vor mir. Und dann kamst du daher, “ sprach Ulf mit rauchiger Stimme seinen Monolog weiter. Seine grollend-raue Stimme passte zu dem wilden Tier in seinem Innern. „Muss nicht jedes Wesen essen um zu leben?“
Ulfs Hand ruhte inzwischen an Caladirs Hals und drückte mit dem Daumen sein Kinn in die Höhe. Weit beugte sich der Vagabund zu dem Eisexorzisten herüber und schaute ihm tief in die Augen. „Hast du dazu nichts zu sagen?“
„Ich diskutiere nicht mit jemanden, der seit Jahren tot ist“, gestand ihm Caladir e'Yander.
„So, tust du nicht. Sehr anmaßend, mein junger Freund.“ Ulf lachte knurrend auf. „Mich verurteilst du und setzt mich ohne Gnade und Wahl dem Tod aus – und selbst? Wer richtet über dich, Mutant?“ Seine Finger fuhren sanft um die Augen des Eisexorzisten – die schwarzen Pupillen bedeckten fast total die weißfahle Iris. „Die Menschen werden alle alten Wesen von dieser Welt tilgen und sich als Herrenwesen aufspielen. Sie sind machtgierig, degeneriert und gnadenlos. Sie sind Ungeheuer, wie du und ich. Du solltest beginnen, auch sie abzuschlachten, Eiswolf. Und wenn du alle Ungeheuer von dieser Welt getilgt hast dann bist du selbst dran! Dann bist du das letzte Monster auf dieser Welt, das vernichtet werden muss! Habe ich nicht recht?“
Ulf Varen trat von Caladir einen Schritt zurück. Der blieb gelassen und schwieg.
„Hab ich nicht recht, Exorzist?“ brüllte ihm der Vagabund entgegen.
Caladir lächelte nur etwas und schüttelte seinen Kopf.
Da fuhr Ulfs Hand erneut gegen Caladir, doch diesmal mit einer brutaleren Botschaft. Aus der Hand eines Mannes war die behaarte, klauenbesetzte Pranke eines Untiers geworden. Mit nur einer scharfen Klaue – die seines Zeigefingers – fuhr Ulf Varen über Caladirs Gesicht und fetzte es auf. Von der Stirn bis hinab zum Kinn klaffte eine tiefe Wunde.
Caladir taumelte zurück und hielt sich das blutende Gesicht. Mehr Gegenwehr war ihm nicht erlaubt. Er war in diesem Alptraum völlig der Spielfigur Ulf Varen ausgeliefert. Der hatte sich in einen aufrechtgehenden Werwolf verwandelt und drosch nun wütend auf ihn ein. Jeder Hieb mit den Pranken fand auf Caladirs ungedeckten Körper ein Ziel. In sich gefangen, konnte er nur zusehen, wie der Werwolf ihn zerfetzte.
Schließlich fiel er in schwarze Dunkelheit.
„Caladir!“
Der Eisexorzist hörte eine ihm sehr bekannte Stimme und schlug die Augen auf. Er lag auf dem Boden unter der großen alten Eiche inmitten der Lichtung. Neben ihm kniete eine wunderschöne Frau mit goldblonden Haaren, die fürsorglich sein verunstaltetes Gesicht streichelte.
„Cal!“ wiederholte sie.
„Mutter!“ antwortete er ihr.
„Ach, mein armer Junge“, hauchte sie und liebkoste sein narbiges Gesicht mit den warmen Fingern.
Da griff ein grauer Schatten die Frau an den Haaren und zerrte sie hoch. Ihre zarte Kehle war entblößt und das Untier schlug seine Zähne hinein. Viel Blut spritzte über den Exorzist, der auf die Beine taumelte.
„Nein!“ schrie Caladir.
Der Werwolf Ulf Varen schleuderte dem Eiswolf den Frauenkadaver entgegen, während er die herausgerissene Kehle hinunterschluckte.
Caladir e'Yander legte den toten Leib seiner Mutter zur Seite und stürzte sich auf den Werwolfmenschen. Voller Wut donnerte seine Faust gegen den blutigen Kiefer des Monsters. Ein kurzer Taumel, ein wildes Schütteln und ein lautes Knurren, dann sprang Ulf Varen den Eisexorzisten an. Sie rangen miteinander. Ein ausgeglichener Tanz zweier Mutantenmänner – einer graubehaart mit scharfen Krallen und Zähnen; der andere mit übersinnlichen Reflexen und ebenso stark. Sie schlugen und traten nach einander. Ulf Varen geiferte nach Caladirs Kehle, während dieser, diese hungrigen Zähne auf Distanz zu halten versuchte. Der Eisexorzist packte das Werwolfmaul und riss es schmerzhaft auseinander. Da warf sich der Teufelswolf nach hinten und fiel mit dem Exorzisten zusammen zu Boden. Caladir musste seinen Griff lockern, rollte sich geschickt ab und kam wieder auf die Beine.
Die Kontrahenten umkreisten sich. Der Eiswolf hatte weiterhin nur seine bloßen Hände als Waffe. Keinerlei Schutz, keine Aussicht zu gewinnen. Der Werwolf setzte ihm mit gefährlichen Hieben nach, drängte ihn zurück. Geschickt wich Caladir diesen Schlägen aus und stolperte plötzlich über den liegenden Körper Leandeas. Der doch nicht sie sein konnte.
Caladir fiel und rollte sich weiter aus der Gefahrenzone Teufelswolf. Halb aufgerichtet, lauernd wartete der Eisexorzist, denn das Untier machte sich erneut über den Frauenkadaver her.
Der verwandelte Ulf Varen wirkte gewaltig. Er hob den Körper auf und riss ihn wie eine Puppe in der Mitte entzwei.
Der Exorzist wartete geduckt auf ihn. Das war nicht meine Mutter, sagte er sich. Du bist hier in einem – ja was eigentlich?
Wieder wandte sich der Werwolf ihm zu. Der graue Schatten sprang durch die Luft. Ein hellerer, aschhaariger Schatten sprang ihm entgegen. Ihre massigen Körper prallten gegeneinander. Berserkerwut entfesselte sich auf beiden Seiten – und doch blieb die grausige Szenerie unheimlich still.
Caladir erinnerte sich an viele erduldete Schmerzen, sein Leib wurde regelrecht damit überflutet. Ihm schwand die Kraft, der Wille weiter zu kämpfen. Er erlahmte.
Ulf Varen umklammerte Caladirs Hals und hob ihn in die Höhe. Ein mächtiges Wolfsgeheul durchstieß die lautlose Kampfszene. Caladir klammerte sich an den Arm des Untiers, hatte aber keine Kraft mehr sich zu befreien. Sein zerschnittenes Gesicht war verzerrt, die Beine baumelten in der Luft, selbige drohte ihm auszugehen. Der Werwolf drückte zu und seine Klauen drangen tiefer in Caladirs Hals ein.
Dann war da wieder Dunkelheit.
Der Disput mit Ulf Varen dauerte Tage und Nächte an. Dabei war Zeit bedeutungslos geworden. Jedes hervorgerufene Gefühl von Angst, Verzweiflung und Niederlage nährte das Alpwesen.
Noch einige Male tötete der Werwolf eine Frau vor den Augen des Eisexorzisten. Einmal war es ein kleines Mädchen – deren Schutzbefohlener der Eiswolf einst kurze Zeit gewesen war. Ein anderes Mal war es eine Zauberin, mit der er für einige Jahre eine Liaison gehabt hatte, bevor sie ihm Grenzkampf um Ghedina fiel. Dann die mütterliche Agnes-Merle, eine Hohepriesterin der Göttin Gaea-Lilith, deren Heilkunst ihm in einem anderen Kampf, in dem er schwer verwundet worden war, geholfen hatte.
Dann kämpften Teufelswolf und Eiswolf verbissen miteinander. Ein anderes Mal verhöhnte ihn der Vagabund Ulf Varen, spielte ihm Klagelieder vor und demütigte ihn mit seiner Zärtlichkeit, der Caladir immer wehrlos-erstarrt ausgeliefert war. Doch jeder Disput mit Ulf ging zum Nachteil Caladirs aus.
Caladir stand, nun selbst die Eiche, inmitten der Lichtung. Wehrlos ohne seine Waffen. Schutzlos gekleidet in Stiefeln und Hose, die in Fetzen an seinem narbigen, zerschundenen Körper herabhingen. Aber sein eiserner Wille sich allem zu stellen, was auch auf ihn zukommen mag, war ungebrochen. Seine Pupillen der weißfahlen Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, die den finsteren Rand der Lichtung absuchten.
Er hörte sie erst, bevor er sie sah. Rasseln von Ketten, schaben von chitingepanzerten Beinen und den Donner schwerer Schritte. Er hörte die Wesen schmatzen, jaulen, fauchen und klagen. Hörte sie trommeln, geifern, knurren und fluchen. Und dann kamen sie aus dem finsteren Dickicht auf die arenarunde Waldlichtung. In den hellen Schein des Mondes hinein traten Hunderte schauriger Wesen: SEINE Bilanz des Todes der letzten Jahrzehnte!
Spinnenbeinige Kikimoras, groß wie Elefanten traten auf ihn zu, ebenso tumbe Zombies, klappernde Skelette und vollbusige Bruxas. Zähnefletschende gorillaartige Striegen und verfluchte Geisterkönige auf feuerspuckenden Rössern galoppierten auf ihn zu. Algenbehangene Wassermänner, schwabbelige Riesenwürmer und geifernde Ghule wälzten sich ihm entgegen. Werwölfe, Höllenhunde, riesige Mutanten in steinernen Rüstungen, Werkatzen und sogar einen geflügelten Dämon konnte er ausmachen. Haarige Trolle, brüllende Oger und zangenbewehrte Crawler stampften auf ihn zu. Über ihnen kreisten kreischende Harpyien, zwei Greife und sogar eine drachengleiche Wyverne. Stein- und Feuergolems und fratzenschneidende Gargoyle warteten auf den Befehl des Angriffs.
Dicht an dicht gedrängt umringten Hunderte Ungeheuer den Eisexorzist. Immer wieder drehte er sich im Kreis und behielt so die Monstermasse im Auge, die bis auf wenige Meter ihn umzingelt hatte.
Direkt vor ihm stand der Vagabund Ulf Varen. Er ging den Rand der lauernden Monster entlang und streichelte da mal einen Höllenhund oder eine kieferklappernde Kikimora. “Welch eine Ehre dir zuteilwird. Sie sind alle wegen dir gekommen, Caladir e'Yander – Eiswolf aus der Nebelburg!“
Unbemerkt musste Ulf Varen ein Zeichen gegeben haben, denn plötzlich sprangen eine Striege, eine Kikimora und ein Gargoyle in die Mitte auf Caladir zu.
Dem steinernen Fratzenwesen wich er aus und sprang der spinnengleichen Kikimora auf den Rücken und teilte unterwegs der rotmähnigen Striege mitten im Sprung einen Faustschlag ins Gesicht aus. Kaum gelandet verdrehte er der Kikimora den Kopf und brach dem Wesen das Genick. Schon sprang er dem Gargoyle entgegen, aber hatte die Striege in seinem Rücken nicht vergessen. Er nutzte den Schwung, trat den Gargoyle in die Monstermenge und flog schon der Striege entgegen, die seine Fäuste ein weiteres Mal zu spüren bekam.
Der Eiswolf dachte nicht mehr – er reagierte und agierte nur noch, so wie es ihm gelehrt worden war. Eine Kampfmaschine pure excellions.
Weitere Ungeheuer lösten sich aus dem Kreis und griffen den Exorzist an. Er schlug viele beim ersten Ansturm nieder. Fiel ein Untier, kamen zwei weitere dafür heran.
Dieser Kampf währte ewig – so schien es. Bis ein Dutzend Ungetüme auf einmal angriffen und sich auf den aschhaarigen Eisexorzisten warfen und ihn unter sich begruben.
Dies ist nicht möglich, dachte Caladir, dies alles hier ist total absurd! Die stinkenden Fleischberge auf ihm raubten ihm die Sicht, das Atmen, selbst die kleinste Bewegung war unter dieser wimmelnden, sich selbst behindernden Masse nicht mehr möglich.
Da drang ein ferner Ruf an sein inneres Ohr: „Caladir e'Yander, erkenne!“
Und er erkannte es endlich. Er steckte in einem irrwitzigen Albtraum fest! Nun nicht länger Spielfigur eines aus seiner tiefsten Vergangenheit heraufbeschworenen toten Wesens, stärkte ihn diese Erkenntnis zur absoluten Gegenwehr.
Aber es reichte nicht aus, einfach aufwachen zu wollen, er musste auch daraus erwachen. Und dazu musste er Herr über diese Situation werden.
Unerwartet stob der Ungeheuer-Fleischberg auseinander. Die einzelnen keifenden Monster flogen wie explodierte Teile durch die Luft und lösten sich ins Nichts auf.
„Es ist genug!“ brüllte Caladir und knurrte noch finsterer als die um ihn erstarrten Ungeheuer. „Genug! Ich hab keine Lust mehr auf dieses Spiel. Verschwindet!“ Und um sein letztes Wort zu unterstreichen, machte er dazu die passende Handbewegung unter der die Striegen, Kikimoras, Ungetüme, Höllenhunde und Ghule, unter der die Golems, Bruxas, Geister und verfluchte Könige sich in schwarzen Rauch auflösten. Sehr theatralisch, aber wirkungsvoll.
Nur eine ängstlich blickende Person blieb außer dem Eisexorzist auf der Lichtung zurück: der Vagabund Ulf Varen. Caladir packte ihn an der Gurgel.
Die alternde Hohepriesterin Agnes-Merle hatte sich sofort um die sonderbare Fracht des Kaufmannes Ayden gekümmert und nach der Heilerin Leandea schicken lassen, die in der Schreibstube an einer Abschrift arbeitete. Die goldblonde Frau war sofort zu dem Verwundeten geeilt, als sie erfuhr, dass es sich dabei um den Eiswolf Caladir e'Yander handelte. Sie hatte den Exorzisten mit ihrer Magie behandelt; alle Splitter aus den feinen Wunden entfernt und sie geschlossen. Nun lag er entkleidet und gesalbt in den sauberen Linnen eines Krankenbettes und schlief einen unruhigen Schlaf.
Leandea erkannte sofort, dass der Mann im Bann eines Alpwesens gefangen war, darum handelte sie schnell und effektiv. Indem sie die Wunden mit Magie weitgehend heilte und das aufkommende Fieber senkte. Schließlich drang sie in seinen Geist ein und schickte ihm eine kurze Botschaft – „Caladir e'Yander, erkenne!“ Dann wartete die Mutter geduldig am Bett ihres Sohnes.
„Was ist mit ihm, Leandea?“ fragte Agnes-Merle, als Caladir zwar von Schmerz und Fieber befreit, aber nicht erwachen wollte.
„Still!“ winkte Leandea ab. „Bitte wartet!“
Die Verbände war fort, die unzähligen Schnittwunden mit dickem Schorf verschlossen. Die kräftige, vernarbte Brust hob und senkte sich ruhig im flachen Rhythmus der Atmung. Sein aschfarbenes, langes Haar lag feucht-strähnig über das Daunenkissen gebreitet. Das markant-hübsche Gesicht blieb bewegungslos – die blassrote Narbe über der rechten Stirnseite zuckte leicht unter den rollenden Bewegungen der geschlossenen Augen. Caladir e'Yander war ein ansehnlicher Mann, der jedoch in seinem Leben schon viel erlitten hatte.
Caladirs rechte Hand fasste plötzlich in die Luft über seiner Brust, als griff er dort nach jemanden und er schlug die blassen Augen mit den geschlitzten Pupillen auf.
Erschrocken über die Plötzlichkeit wich die alternde Hohepriesterin zurück. Leandea blieb ungerührt neben dem Bett sitzen.
Dass was Caladir unsichtbar umgriffen hielt manifestierte sich langsam mit knisternden Funken. Das gnomhafte dunkelhäutige Wesen zappelte im eisernen Griff des Eisexorzisten und wimmerte erbärmlich. Der Alp war nicht viel größer als ein Kleinkind von vielleicht fünf Jahren. Ohne loszulassen, richtete sich Caladir im Bett auf und schaute sich das Wesen genau an.
„Was haben wir denn da?“ Ein wohlgenährtes Bäuchlein verunstaltete die asketischen Proportionen des schwarzhäutigen Alps.
„Gnade, edler Herr!“ wimmerte dieser und erlahmte zu einem Häuflein Elend. „Habt Erbarmen!“
„Du hast dir den falschen dazu ausgesucht“, knurrte Caladir.
Da legte Leandea ihre zarte Hand auf den kräftigen Arm ihres erwachsenen Sohnes. „Lass ihn gehen, Caladir. Es gibt nicht mehr viele seiner Art.“
„Er hat –“ stockte der Eisexorzist. „Er ist...“
„...eigentlich sehr harmlos und erbärmlich. Lass ihn gehen.“
Caladir sah in das sanft lächelnde Gesicht der jungen Frau. Ihre klaren Augen hatten die Farbe von saftigem Gras und ihre zarten Gesichtszüge waren von zeitloser Schönheit. Das prächtige goldblonde Haar wurde von einem beigen Lederband aus der makellosen Stirn gehalten. Ihre Berührung war wie der Flügelschlag eines Schmetterlings und ihre Bitte ein zärtlicher Befehl. Der Eisexorzist öffnete seinen Griff.
Kaum frei verschwand der Alp. Er löste sich einfach auf, kehrte in die Zwischenwelt – aus der er geboren war – zurück.
Verlegen blickte Caladir auf die hübsche Frau und suchte in seinen Erinnerungen nach ihr, denn ihr Antlitz kam ihm bekannt vor. Es war mehr als fünfzig Jahre her, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Konnte es sein? Müsste sie nicht viel, viel älter sein?
Leandea bemerkte seinen fragenden, erkennenden Blick und streichelte ihm zärtlich über das gesalbte Gesicht. Stumm drang sie in seinen Kopf ein und sagte: Ja, ich bin deine Mutter. Willkommen, mein Sohn Cal.
Doch der Ausdruck der silberweißen Tieraugen schlug von Verwunderung in verachtenden Hass um. Leandea schrak vom Stuhl auf und stürzte aus dem Zimmer. Verwundert blickte Agnes-Merle ihr nach. "Was hat sie auf einmal?" Als die Hohepriesterin zu dem verwundeten Krieger schaute, blickte der sie mit einem freundlichen Lächeln an.
"Ist das meine Freundin Agnes-Merle", meinte der Eiswolf mit seinem grollenden Bass, "du bist alt geworden Hohepriesterin."
"Und du bist voller Narben, Eiswolf", kommentierte die alternde Menschenfrau süffisant. "Es ist sicher zwanzig Jahre her, dass ich dich zuletzt auf meinem Krankenbett liegen hatte. Wie fühlst du dich?"
"Ich werde es überleben", antwortete Caladir und besah sich seine vielen Verletzungen auf der Brust und den Armen. Es würden unzählige feine Narben zurückbleiben, die - wie Falten bei einem alten Menschen - eine bizarre Maserung auf seiner transparenten Haut hinterlassen würden und ihn noch zu einer markanteren Person werden ließen.
"Warum ist Leandea so panisch aus dem Raum geflüchtet? Dein Eisexorzisten-Anblick hatte sie davor doch auch nicht verschreckt", wollte die vollschlanke Hohepriesterin wissen.
Doch der Kämpfer zuckte nur die breiten Schultern und blieb ihr die Wahrheit schuldig.
"Warum hasst du mich?" wollte Leandea von dem Mann wissen, der schweigend in der Nacht, von den anderen unbemerkt, in ihre Kammer getreten war. "Ich bin deine Mutter."
"Du darfst dich nicht Mutter nennen", antwortete ihr der Krieger emotionslos. "Du hast mich fortgegeben, um mein Leben vom ewigen Schmerz bestimmen zu lassen."
Sie entzündete neben ihrem Bett eine Kerze, um in sein Gesicht sehen zu können. Caladir trug seine Ersatzkleidung, die beim Habe seines Pferdes dabei gewesen war, die der Kaufmann Ayden ihn gebracht hatte. Er hatte nicht einmal auf seine Rüstung und seine Waffen verzichtet. Das verstärkte Leder knarrte, als er die Arme vor der Brust verschränkte und herablassend auf sie herab schaute. Er war groß, sehr kräftig und sein helles Aussehen gab ihm im flackernden Kerzenlicht einen noch unheimlicheren Anstrich. Die gelbe Flamme reflektierte in seinen schwarzen Augen, die geschlitzten Pupillen waren in der Dunkelheit zu schwarzen Seen geweitet.
"Bist du gekommen, um dich an mir zu rächen?" Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust, als er ihr nicht antwortete. "Du tötest doch alle Ungeheuer, die nicht auf diese Welt gehören."
"Glaubst du das von dir?" entgegnete er nach einer Weile. "Oder ist es dein Wunsch?"
Leandea schüttelte den Kopf. "Ich kann jeder Zeit in die Zwischenwelt, in der wir Götter leben, zurückkehren." Sie erhob sich vom Bett und ging zu einer Truhe. Nach kurzer Zeit fand sie das Gesuchte und überreichte ihrem Sohn ein Bündel Abschriften und Bücher. "Ich war bei der Bruderschaft der Feuerschlangen in der Roten Burg und fand einige der Bücher, die die Silevaler einst aus der Nebelburg raubten. Andere Formeln und wichtiges Gedankengut konnte ich abschreiben, bevor sie mich entdeckten und ich von dort fliehen musste. Nimm sie an dich, du bist ein Eiswolf und wirst sicher eines Tages als Erzmeister über deine Bruderschaft herrschen."
Zögernd nahm er das Bündel entgegen und murmelte ein knappes "Danke".
Sie sah zu ihrem erwachsenen Sohn hinauf, der um einiges reifer wirkte, als sie selbst. "Ich bin froh, dass du keinerlei Ähnlichkeit mit deinem Vater hast, Cal. Und ich bereue nicht, damals so entschieden zu haben."
"Verlass diese Welt", mahnte der Eiswolf, "diese Welt braucht deine Ränkespiele nicht."
Leandea machte einen Schritt auf ihren Sohn zu und streckte ihre Hand nach seiner narbigen Wange aus. Sie wollte ihn berühren, in den Arm nehmen und um Verzeihung bitten. Doch er fing ihre Hand ab, sein Griff um ihr Handgelenk war schmerzvoll. Aber die Berührung reichte aus, um all sein erlebtes Leid und seine Kämpfe zu erfassen. Qualvoll wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, was sie ihm angetan, zu welch einem grausamen Schicksal sie ihn verdammt hatte. "Es tut mir leid, Cal."
"Es ist zu spät", knurrte der Eiswolf, ließ ihre Hand los und verließ den Raum.
1080 - 1084 n. G. D. eroberten die Südlande Sileval unter dem machthungrigen jungen Imperator Charon Syr-na-Say das Königreich Ascalanza und der große Strom Arun wurde zur neuen Grenze. Doch die Übergriffe gingen noch zwei Jahre weiter und ein blutiger Krieg entfesselte sich um die Provinz Ghedina, im Süden des Königreichs Doriath. Dieser konnte durch eine Armee von zwölf Zauberern und einhundert Eisexorzisten niedergezwungen werden. Die Nordlande gewannen, zwangen den Feind zurück über den Arun, aber sie bezahlten für diesen Sieg einen hohen Preis: alle zwölf Zauberinnen und Zauberer und die meisten der Eiswölfe, die in vorderster Front wie Berserker gekämpft hatten, fielen. Die Bruderschaft der Eiswölfe schrumpfte auf unter zweihundert. Und der Frieden zwischen Lahor und Sileval war mehr als schwach und trügerisch.