Читать книгу Ungewisse Vergangenheit - Nicole Siecke - Страница 5

IRRLICHTER

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Er saß wie gelähmt in dem dichten Geäst. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er nicht zu handeln wusste. Hautnah an sich spürte er Lori und er bildete sich ein, ihr Zittern genau zu bemerken, ja sogar ihren beschleunigten Herzschlag zu hören, und er war der Überzeugung, dass sein Herz kaum langsamer schlug. Er blickte seiner Lehrerin nach. So sehr er sich auch bemühte oder so sehr er sich wünschte, in einem Traum gefangen zu sein, desto mehr wurde er sich der nüchternen Wahrheit bewusst, die ihn gefangen hielt. Er vermutete, dass Lori sich zu Tode fürchtete, aber er konnte ihr in dieser Situation keine rechte Hilfestellung geben, da er selbst einen Rat dringend nötig gehabt hätte.

Seine Beine brannten, da er in Hockstellung verharrte, deshalb ließ er sich vorsichtig leise nach hinten gleiten, um dem übermächtigen Kribbeln ein Ende setzen zu können. Diese Bewegung verleitete Lori zu einem ersten geflüsterten Denkanstoß.

„Was machen wir um Himmels Willen nun, Kiefer?“

Er gab keine Antwort, weil er keine auf Lager hatte.

„Meinst du, sie kommt wieder zurück?“

Er drehte sich zu ihr um und der Blick, welchen sie ihm zuwarf, änderte in Sekundenschnelle seine innere Abwehrhaltung. Es würde nichts helfen, wenn er ihre gemeinsame Unruhe noch steigerte, indem er ihr unpassende Antworten zuwarf, die sie nicht hören wollte.

„Ich hoffe es, ernsthaft, Lori!“

Er rieb sich seine Handflächen. Die Gelenke taten ihm weh, seit sie hier angekommen waren, überhaupt schien ihm jeder einzelne Knochen zu schmerzen. Er war froh, dass die Übelkeit verflogen war, die ihn urplötzlich überkommen hatte.

„Verdammt! Eigentlich wollte ich heute gar nicht zur Lesung gehen. Ich hätte einen wichtigen Arzttermin gehabt.“ Lori murmelte unentwegt vor sich hin, während er die weiterwandernde Gruppe von unbekannten Menschen aus den Augen bereits verloren hatte.

„Du bist aber gegangen, Lori, und nun sitzt du genauso ahnungslos hier, wie Miss Clerence und ich. Du willst dir doch wohl jetzt keine Gedanken über deine frühmorgendlichen, eigentlich beabsichtigten Vorhaben machen, oder?“

Er brach ab und beobachtete stattdessen stumm, wie sie auf Knien schleppend aus dem Gebüsch kroch. Allem Anschein nach hatte sie ähnliche Schmerzen in den Gelenken wie er selbst. Ihr Haar stand wirr in alle Richtungen und behinderte ihr Sehfeld enorm. Immer wieder strich sie sich mit der Hand einzelne Strähnen fort und bemerkte gar nicht, wie sehr sie damit ihr Gesicht verschmutzte. Als sie stand, sah sie sich irritiert um.

„Professor Vibelle, sind Sie da?“

Ihre Stimme war dünn, unsicher, bis sie schließlich lauter und mutiger wurde.

„Professor? So sagen Sie doch etwas! Hören Sie auf mit diesem Versteckspiel. Das ist nicht mehr lustig, hören Sie?“

Mittlerweile bewegte sie sich auf unsicheren Beinen und taumelte mehr, als dass sie lief.

„Professor? Wo sind Sie denn, verdammt. Sie sind doch mit uns gekommen! Weshalb verstecken Sie sich?“

Kiefer wusste nicht, ob sie ihn in diesem Moment wahrnahm, da sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Er konnte ihr schreckliches Schauspiel nicht länger ertragen und da das Kribbeln in seinen Beinen langsam nachließ, erhob er sich und schnellte auf sie zu.

„Hör auf damit, Lori! Er ist nicht da, verstehst du das nicht? Er ist fort, wo auch immer. Er hat uns allein gelassen. Kein Mensch weiß, ob wir ihn jemals wiederfinden!“

Sie starrte ihn böse an, dann brach es aus ihr heraus:

„Du bist wahnsinnig, Kiefer! Bist du dir darüber im Klaren, dass wir eben alle noch in einer Unterrichtsstunde in einer Bostoner Universität gesessen haben?!“

Unverändert fassungslos schrie weiter:

„Da! Da stand das Pult!“ Sie wies hektisch in die Luft vor sich.

„Und dort, dort war die Tafel. Da draußen war das Footballfeld, wo...“

Sie selbst brach ab und er vollendete ihren Satz.

„... wo angeblich der Tote gelegen hat, der vor dreißig Jahren an einem Herztod verstorben ist, Lori. Du hast es selbst gesagt!“

„Das kann nicht sein, Kiefer! Man kann nicht zeitreisen, hörst du? Das geht nicht!“ Sie schrie ihn an und gestikulierte wild in der Luft herum. Dann begann sie, nach ihm zu schlagen und traf ihn hart im Gesicht.

Kiefer taumelte einen Schritt von ihr fort und rieb sich die Wange. Er hatte sie offensichtlich unterschätzt und er hoffte, ihre Hysterie in den Griff zu bekommen.

„Dein Schlagen ändert auch nichts an der Tatsache, dass wir immer noch hier festsitzen und nicht wissen, wie es weiter gehen soll, Lori, kannst du das verstehen?“

Wie gelähmt blickte sie ihn an.

„Kiefer, ich ... es tut mir leid. Bitte entschuldige. Oh Gott, was mache ich nur?“

Ihre Blicke kreuzten sich intensiv.

„Du bist außer dir, Lori. Wir können beide nicht verstehen, was mit uns geschehen ist. Wir ... wir sollten versuchen, das Beste aus dieser Sache zu machen. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen, Lori. Vibelle ist fort. Wo auch immer er sein mag, wir werden es nicht ändern können. Aber wir wissen auch, dass Miss Clerence diejenige ist, die auf unserer Seite steht, und ich spüre, dass sie zurückkehren wird.“

Eigentlich hatte er gar nicht so viel sagen wollen, aber er sah, wie sehr sie sich unter seinem Monolog zu beruhigen begann. Er wurde unschlüssig und fragte sich, ob sie ihrer Lehrerin heimlich folgen sollten. Oder war es kompletter Wahnsinn, dies zu tun, weil er nicht wusste, wo sie landen würden und ob man sie am Leben ließe, wenn sie dann wussten, in welcher Zeit sie sich befanden. Er verfluchte sein mangelhaftes Wissen in Geschichte. Er war immer sehr physikalisch orientiert gewesen und das Thema der Relativitätstheorie hatte ihn schon immer fasziniert, aber ernüchternd stellte er plötzlich fest, dass ihm all seine Fähigkeiten in diesem Fach nun wenig nutzen würden.

Lori schien sein Gegenpart zu sein, da sie geschichtlich alle überragte. All diese Dinge gingen ihm in Sekunden durch den Kopf und er hatte gar nicht bemerkt, wie sie ihn stumm musterte.

„Folgen wir ihnen, Kiefer?“

Er wusste sofort, auf wen sie ansprach.

„Nein, wir wissen nicht, wie weit sie gehen werden oder wohin sie sie bringen. Nicht auszudenken, wenn sie uns auch noch erwischen. Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen und ich werde mich dann allein auf die Suche machen.“

Er war selbst nicht sonderlich überzeugt von seiner Rede, aber er wusste momentan keinen anderen Rat.

Lori schien ihn als eine Art Anführer zu akzeptieren, aber er wusste nicht, ob sie es aus reiner Unschlüssigkeit ihrer selbst tat.

Sie standen sich gegenüber, überwältigt von der Situation, die über sie hereingebrochen war. Wenigstens die Jahreszeit war ihnen geblieben. Das Grün der Bäume war satt, der Wald um sie herum ließ wenig Licht bis zu ihnen auf den Boden dringen. Er musste nur wenige Schritte gehen, um zu wissen, dass der Wald nach Süden hin immer lichter wurde und in fette Wiesen überging, Wiesen, die in sanfte Hügel zerschmolzen und ihnen die Sicht verbargen, was hinter der nächsten Erhebung verborgen lag. Nördlich hinter ihnen empfing sie Dunkelheit, dichtes Geäst, tiefster Wald.

Kieferbäume ragten meterhoch in den Himmel und bildeten ein dichtes Dach. Moos bedeckte stellenweise den Boden und er erkannte tatsächlich einzelne Beerensträucher, die ihre Frucht noch nicht verraten hatten. Kurz waren seine Gedanken zu Tieren übergegangen, die diese Gefilde vermutlich bewohnten und er hoffte, nicht unvermutet auf Schwarzbären stoßen zu müssen.

Nein, kein Mensch konnte sich hier sicher fühlen, außer vielleicht Eingeborene, und er überlegte siedend heiß, ob es Indianervölker gab, die hier beheimatet waren.

Sollte Vibelle tatsächlich mitgereist sein, so konnte er sich eigentlich nur über die offene Fläche von ihnen entfernt haben, die vermutlich ein ansässiges Dorf vermuten ließ, oder vielleicht sogar eine Stadt mit zivilisierten Menschen, die ihr Jahrhundert teilten?

Kiefer wusste nicht, wie oft er selbst hier bereits im Kreis gelaufen war. Nachdem er sich vom Überleben der beiden Frauen überzeugt hatte, war er in jede Richtung gelaufen, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Viel zu schnell war er zu dem Entschluss gekommen, dass ihr aller Überleben nur von der Beantwortung einer einzigen Frage abhing, nämlich der, in welcher Zeit sie sich befanden.

„Und wenn sie uns dann nicht findet? Sie wird vermutlich hier an diesen Ort zurückkehren, Kiefer. Sie wird uns dann suchen und...“

Loris plötzliche Worte ließen ihn aufhorchen. Er wusste, dass sie Recht hatte, aber er war der Meinung, erst einen Unterschlupf unweit von hier zu finden, damit sie wenigstens vor wilden Tieren eine Möglichkeit des Schutzes hatten.

„Wir hätten uns nicht trennen sollen. Wir hätten zusammen...“

Wieder lauschte er.

„Lori, hör auf damit. Dazu ist es nun zu spät. Du kannst uns allen doch keine Vorwürfe in dieser“, er suchte nach den richtigen Worten, „Situation machen. Wir mussten handeln, schnell handeln.“

Er blickte sie belehrend an, und sie wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.

„Wir werden uns hier umsehen und dann entscheiden, wie weit wir uns von hier entfernen werden, in Ordnung?“

Sie nickte lahm.

Ihr „OK“ war kaum zu vernehmen.

Sie standen voreinander. Kiefer rieb sich verlegen den Kopf und holte tief Luft.

„Komm“, sagte er dann und zog sie am Ärmel hinter sich her. Bleib neben mir, ich ...“

Er brach den Satz ab, weil seiner Meinung nach genug gesprochen war. Sein Blick schweifte über den Waldboden, weil er sich versichern wollte, dass sie nichts vergaßen. Leider wusste er, dass sie nichts bei sich hatten, außer dem, was sie am Leibe trugen; dies machte ihm unbewusst Angst. Er spürte Miss Clerence beschädigte Uhr in seiner Hosentasche und hoffte, sie bald seiner Besitzerin wieder geben zu können.

Sie waren bereits eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen, als Lori ihn von der Seite ansah.

„Glaubst du, es gibt hier wilde Tiere?“

„Lori, hör auf, ich weiß es nicht. Mach dich nicht verrückt. Wir suchen jetzt einen Unterschlupf!“

Sie schien seine Gedanken zu teilen. Zu wissen, dass sie weder Schutz noch Nahrung hatten, ließ sie ähnlich unruhig werden, wie ihn.

„Was meinst du, in welcher Zeit wir sind?“

Kiefer hielt an und betrachtete sie. Fast wäre sie in ihn gelaufen, weil er so abrupt stehen geblieben war.

„Ich weiß nicht, hundert Jahre vielleicht der Kleidung nach zu urteilen, die diese Menschen eben am Leibe trugen?!“

„Oh, Gott! Hundert Jahre. Ich versuche gerade, die Erfindungen einer Zeit zuzuordnen!“

Kiefer sah sie an und wusste nichts zu erwidern, deshalb sprach Lori weiter:

„Sie hatten ein Pferdefuhrwerk. Die Sitzbank war grob und nicht mit Leder bezogen ... Sie sind nicht sonderlich reich und bewohnen vermutlich einen Hof unweit von hier. Sie waren bestimmt auf dem Markt, weil sie einiges an Nahrung bei sich hatten und zwar Fässer und Säcke, die bestimmt so etwas wie Zucker und Mehl enthielten. Sie bauen bestimmt Mais oder Kartoffeln selbst an und bringen ihr Getreide zum Mahlen in die Stadt. Sie reisten bewaffnet, das könnte auf Feinde hinweisen. Von der Gegend her könnte es sich um Indianer handeln, aber ich denke, die würden sich nicht so nah an eine Stadt wagen, es sei denn, sie arbeiten hier oder verkaufen Felle und Naturalien, um sich im Tausch Waffen oder Alkohol zu besorgen.“

Sie redete ohne Unterlass vor sich hin, während Kiefer sie erschrocken betrachtete.

„Hast du auch die Hühner auf dem Fuhrwerk gesehen, Kiefer? Vielleicht hat die Bäuerin alle alten geschlachtet und kauft nun neue, um ...“

Er unterbrach sie.

„Lori!“

Überrascht sah sie ihn an.

„Was?“

„Das alles willst du dir ernsthaft zusammenreimen? Du hörst dich an wie Sherlock Holmes!“

„Ich sagte doch, dass ich eine Zeit auszumachen versuche. Und ich stelle mir die Frage, weshalb Vibelle uns ausgerechnet in diese Zeit katapultiert hat ... mais merci pure le complimentes.“

Sie vernahmen den Ruf eines ihnen unbekannten Waldvogels und erschraken unwillkürlich. Ihr französischer Einwand, der scherzhaft gemeint sein sollte, verflog in Sekundenschnelle.

„Bist du der Meinung, dass dies vielleicht Töne aus einer indianischen Menschenkehle sind?“

Er sah sie fragend an, während sie hastig einen Schritt näher an ihn herantrat.

„Nein, aber ich bin davon überzeugt, dass du den Vogel auch mit Namen kennst, vielleicht sogar auf Französisch?“

Kiefer sah sie böse an.

„Es ist nicht die Zeit, um Scherze zu machen.“

Sie sah ihm die Panik ins Gesicht geschrieben und gab ihre Ironie augenblicklich auf. Ihr scherzhafter Ton war eigentlich nur eine Art Eigenschutz gewesen, die sie etwas ruhiger hatte werden lassen. Er jedoch stellte sich die Frage, weshalb Lori mit einem Male so orientiert und nüchtern bei der Sache war, aber er schluckte seine Frage herunter. Abermals zog er sie am Ärmel. Er mochte nicht mehr reden. Sie machte ihm Angst, weil sie seiner Meinung nach erstaunlich logische Sachen in ihre Gesamtsituation einbrachte. Sie hatte sich allem Anschein nach mit der misslichen Lage abgefunden und adaptiert. Sie liefen weiter und erreichten ein kleines Maisfeld, auf welchem tatsächlich schwer tragende Grünstängel bald ihr Wachstum abgeschlossen hatten. Die Pflanzen waren fast höher als sie selbst und boten kompletten Sichtschutz. Am Rande dieses Feldes sahen sie einen Holzverschlag ohne Fenster, der offensichtlich leer zu stehen schien. Sie beobachteten die Hütte eine Weile, bevor sie sich entschlossen, sie von der Nähe zu betrachten. Kiefer tastete sich vor. Allem Anschein nach handelte es sich hierbei um eine Art Geräteschuppen, der ausschließlich für die Landwirtschaft benutzt wurde. Sie erkannten mehrere Harken, einen Pflug, neben Seilen und grobem Handwerkszeug, duftendes Heu beherrschte die komplette linke Seite. Es lag auf einem Holzboden gelagert, während der Rest der Hütte aus Lehmboden bestand. Man hatte fast den Eindruck, als habe man hier vor längerer Zeit einmal Tiere gehalten, da eine Art doppelte Pferdebox mit großen Eisenringen an deren Ende zum Fixieren der Tiere einen Platz behauptete. Lori ging schnurstracks darauf zu und fuchtelte Heu zusammen, um eine Art Haufen zum Sitzen bilden zu können.

Die offene Türe hinter ihnen ließ ausreichend Tageslicht herein und während Lori das Heu bettete, formten lange Sonnenstrahlen schnurgerade Staublinien in dem Holzgebäude ihre Bahn. Kiefer hustete unwillkürlich.

„Feuer könnten wir hier keines machen.“

Er sagte dies eigentlich nur vor sich hin, aber Lori fühlte sich zu einem Kommentar verpflichtet.

„Wofür Feuer? Wir hätten sowieso nichts zu Essen und zu kalt wird es zu dieser Jahreszeit Gott sei Dank noch nicht. Außerdem würden wir uns durch den Rauch verraten.“

Kiefer nickte lahm. Er musste zugeben, dass sie zu logisch dachte. Er hatte sie an der Bostoner Universität immer nur als graue Maus wahrgenommen, die niemals einen Kommentar in Lesungen losgelassen hätte, wenn man sie nicht ausdrücklich dazu aufgefordert hätte. Insgeheim war er froh, seit Miss Clerence verschwunden war, dass sie sein Dasein teilte. Er beobachtete sie, wie sie geschickt den Heuhaufen zu einer Art Sitzbank geformt hatte und darauf Platz nahm. Sie sah trotzdem erschöpft aus. Ihr langes schwarzes Haar glänzte im hereinströmenden Sonnenlicht und fiel ihr ungehindert ins Gesicht. Genervt zog sie sich einen ihrer Schnürsenkel aus den Turnschuhen und band ihr Haar im Nacken zusammen. Die Frisur ließ sie älter aussehen, aber auch sehr viel magerer.

„Wir müssen die Turnschuhe irgendwo verstecken. Sollte man uns hier finden, könnten wir ein Problem bekommen“, wieder redete sie leise.

„Ok! Ich könnte draußen mal nachsehen, ob ich ein geeignetes Versteck finde. Hier drinnen wird man sie vermutlich eher finden, oder?“

Lori antwortete nicht. Kiefer wandte sich ab und ging die wenigen Schritte bis vor das große Schiebetor. Draußen angekommen, sah er an sich herab. Wenn sie schon ihre Turnschuhe opferte, musste er überprüfen, was ihn nicht zeitgemäß erscheinen ließ. Nach einigen Minuten stellte er fest, dass er Jeans und ein Hemd trug, die, vermutlich ohne große Fragen gestellt zu bekommen, akzeptiert werden würden. Selbst seine Schuhe glichen sich an. Er trug alte abgetragene Boots, und er war froh, dass er sie noch nicht durch neue ersetzt hatte. Er begann, sich selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen, aber selbst das Lederbändchen, welches er eng an den Hals geschnürt trug, würden vermutlich viele ähnlich tragen. Das Einzige, was ihm Sorgen bereitete, war seine dünne Metallbrille, die er spontan absetzte, um zu testen, wie sehfähig er ohne sie war. Er trug sie seit Jahren und sie war zu seiner zweiten Natur geworden. Gott sei Dank konnte er behaupten, auch ohne sie durchs Leben zu schreiten, wenn auch mit einer gewissen Unsicherheit, die er jedoch gerne bereit zu geben war, bis er wusste, welche Zeit sie gerade durchschritten. Mechanisch wollte er sie in seine Hemdtasche gleiten lassen, als ihm ein Kugelschreiber aus Metall auffiel, der dort bereits seit Beginn der letzten Physikstunde verweilte. Er hatte ihn erst vor wenigen Tagen gekauft und ein nettes Sümmchen dafür im Fachhandel lassen müssen, aber ab und zu erfüllte er sich solche Wünsche, deshalb beschloss er, ihn zu behalten und tief in der hinteren Hosentasche zu verstecken. Während er noch unschlüssig seine Brille in der Hand hielt, erschien Lori plötzlich neben ihm. Auch sie hatte an ihrem Äußeren gearbeitet und er staunte nicht schlecht über ihre Variationskünste. Bis auf die Tatsache, dass sie barfuß neben ihm stand, kam sie ihm wie eine Cowboy Lady vor. Ihre riesengroßen Goldkreolen, wie sie zurzeit Mode in Boston waren, hatte sie aus ihren Ohrlöchern entnommen und um ihr Handgelenk gezogen. Dort sahen sie aus wie Armreifen und sie klimperten überlaut, wenn sie durch Bewegung zusammenstießen. Um den Hals schmückte sie eine Kette mit Kreuzanhänger, der jedoch unglaublich groß erschien. Er mochte dem Aussehen nach mindestens achtzig Jahre zählen und vielleicht sogar ebenfalls in diese Zeit passen. Auch sie trug Bluejeans, die sie nun sittsam bis auf den Boden umgekrempelt hatte, um ihre nackten Füße zu verstecken.

Sie musterten einander und er lächelte plötzlich ohne Grund. Eigentlich war ihm nicht nach Lachen zumute, aber er wusste, dass Verzweiflung auch zu keiner Problemlösung geholfen hätte.

Er beobachtete, wie sie langsam nahe der Hütte in das Feld schritt und ihre Turnschuhe unter einem kleinen Holzhaufen versteckte. Sein Blick schweifte über den endlosen Horizont und er atmete tief ein. Die frische Luft war warm und tat gut. Sie roch tatsächlich nach Mais und ein ungewollter Speichelfluss setzte in seinem Mund ein.

„Wir könnten uns ein paar Maiskolben stehlen.“

Es war das Erste, was Lori seit langer Zeit von sich gab.

„Kann man sie denn roh essen?“

„Willst du mich auf den Arm nehmen? Das ist besser, als zu verhungern!“

Wieder hatte sie Recht. Ohne seine Antwort abzuwarten, schlängelte sie sich vorsichtig durch das Maisfeld und achtete streng darauf, nicht allzu viele Pflanzen zu knicken, damit man als Fremder ihre gewählte Strecke nicht ablaufen konnte. Plötzlich rief sie: “Kiefer! Sieh nur, dort hinten!“

Er folgte ihrem Blick und sah, was sie gemeint hatte. In etwa zwei Meilen Entfernung konnte man eine Farm erkennen. Es war ein weiß getünchtes Haus mit weitem Vorplatz. Man konnte nicht erkennen, ob sie bewohnt war. Kiefer hielt die Luft an.

„Sieh mal, dort steigt Rauch aus dem Schornstein auf. Ob Miss Clerence dort ist?“

Er hatte den Rauch ohne Brille nicht erkennen können.

„Ich hoffe es. Wenigstens ist keine Stadt in der Nähe, so dass wir es nicht gleich mit einer ganzen Armee zu tun haben.“

Sie lauschte seinen Worten.

„Weiter hinten scheint noch ein Gebäude zu sein, aber es ist kein Wohnhaus. Vielleicht eine Scheune oder ein Stall. Ist das da eine Viehtränke?“

Kiefer überlegte. „Ich weiß es nicht, Lori!“

„Sollen wir in unserem Versteck bleiben?“

„Das wäre ratsam, lass uns noch etwas warten. Vielleicht bis zum Einbruch der Dunkelheit oder noch später.“

Sie kam zurück zu ihm und war dabei, einen noch nicht ausgereiften Maiskolben zu pellen. Es knackte und die langen Fäden verwickelten sich um ihre Hände. Fassungslos sah er ihr dabei zu, wie sie hineinbiss und ohne irgendeine Gesichtsmimik kaute.

„Man kann sie nicht roh essen, Lori!“

„Ich würde auch einen Fisch roh herunterschlucken, wenn du mir einen im Bach fangen würdest.“

„So kenne ich dich gar nicht, Lori. Du warst immer sehr still.“

Er sah sie verwundert an.

„Du weißt gar nichts von mir, Kiefer.“ Sie kaute unbeirrt weiter.

„Wenn wir in dieser Zeit überleben möchten, müssen wir uns umstellen.“

„Du meinst ... vielleicht wachen wir ja auch morgen auf und alles war nur ein böser Traum?“ Kiefer konnte seine Ironie kaum noch unterdrücken.

„Der Traum muss nicht böse sein, wir müssen nur das Beste daraus machen. Ich weiß, was du von mir denkst, Kiefer. Vielleicht hört mein Wagemut ja auch abrupt auf, wenn all mein Adrenalin verbraucht ist. Ich habe keine Ahnung.“

„Ich werde heute Nacht hinübergehen, Lori, vielleicht habe ich ja Glück und stoße ganz von allein auf Miss Clerence.“

Dieser Satz klang ihm noch in den Ohren, als er sich in absoluter Dunkelheit auf den Weg zu dem vermeintlichen Hof machte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, Lori davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Er hatte sie mehr oder weniger dazu gezwungen, in der Holzhütte zu bleiben. Zu seinem Glück war sie auch noch erschöpft eingeschlafen, und er hatte die Gelegenheit genutzt, sich heimlich davon zu schleichen. Es war bereits dunkel geworden, als er sich zielsicher Richtung Farm bewegte. Er vermisste das Licht einer Straßenlaterne und bemerkte erst jetzt, wie sehr all diese Dinge für Menschen wie sie als selbstverständlich hingenommen wurden. So stolperte er erst durch das Maisfeld und erschrak bei jedem Geräusch, welches vermutlich die Natur verursachte. Der Mond schien hell, seine halbe Sichel brachte immerhin genug Licht, als er endlich das Feld hinter sich lassen konnte. Ein kurzes Waldstück, eigentlich nur der Saum einer Baumreihe, und er kam an ein Gatter, welches vermutlich für Tiere errichtet worden war. Wieder umfing ihn die gleiche rabenschwarze Nacht wie in dem Maisfeld, und er fluchte leise vor sich hin.

Sein Feuerzeug!

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Es verbarg sich in seiner Hosentasche, wo es Platz für seine Brille gemacht hatte, die er jetzt wieder auf der Nase trug. Wenn er schon so gut wie nichts sehen konnte, so durfte er jetzt nicht auch noch auf seine Brille verzichten!

Irgendein Geräusch ließ ihn plötzlich zusammenfahren und dann nahm er eine Bewegung viel weiter unten am Zaun wahr, die nicht von Miss Clerence stammte. Er konnte es an seiner Silhouette sehen. Es handelte sich unmissverständlich um einen Mann und zwar um einen großen Mann, der in Warteposition an einer Art Tor stand. Er verhielt sich stumm wie ein Fisch und schien genau zu wissen, was als Nächstes geschehen würde. Kiefer duckte sich lautlos und hielt den Atem an. Wenige Sekunden später erkannte er seine Lehrerin. Sie war es, die sich aus der Dunkelheit löste und ohne Vorahnung in die Arme dieses Mannes laufen würde.

Ungewisse Vergangenheit

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