Читать книгу Ungewisse Vergangenheit - Nicole Siecke - Страница 6

DAS HAUS UND SEINE BEWOHNER

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Gerne wäre ich bereits nach wenigen Minuten auf den Wagen, den sie bei sich führten, geklettert, denn ich war plötzlich sehr erschöpft und sehnte mich nach Ruhe. Es war jedoch nicht möglich, da er voll beladen mit Jutesäcken, Holzfässern und Ledertaschen war. Ich vermutete, dass sie von einem größeren Markt heimgekehrt waren. Die Fässer, die man der Achse am nächsten gelagert hatte, nahmen den größten Raum ein. Außerdem waren da noch ein paar gackernde Hühner, deren Federkleid von keiner guten Pflege sprach. Sie waren weiß, hinterließen aber eher den Eindruck eines schmutzigen Schneehaufens bei mir. Ich nahm nicht an, dass diese Tiere jemals in der Lage sein würden, Eier zu legen, und diese Annahme erinnerte mich daran, dass ich lange nichts mehr gegessen hatte.

Mit knurrendem Magen und beinah einer Ohnmacht nahe, kamen wir wenig später bei einem weiß getünchten und weiß umzäunten Holzhaus mit großen gesprossten weißen Fenstern an. Die kleine Veranda war überdacht und wenige Treppenstufen wiesen den Weg ins Innere. Auf dem spitzen Satteldach befand sich ein landesüblicher Feuerturm, der zu meiner Zeit nur noch als besonderes Schmuckstück angesehen wurde. Die Bauweise hätte mir Aufschluss über diese Zeit geben können, mir stand jedoch im Moment der Sinn nicht nach geschichtlichen Spekulationen. Der Vorplatz war groß und ungepflastert. Eine Scheune auf der linken Seite unweit gab Aufschluss darüber, dass es sich um eine kleine landwirtschaftlich betriebene Farm handelte. Kleine dichte Büsche umrandeten ihren Sockel und bestimmt handelte es sich um Brombeersträucher, die bald Früchte tragen würden. Ein Mischwald umgab die Farm und eigentlich war es ein sehr hübsches Fleckchen Erde, trotzdem fühlte ich mich schlecht und hatte Angst vor dem nächstkommenden.

Mein Blick wanderte wenig später an dem einzigen dort gewachsenen riesigen Ahornbaum zur rechten Seite des Hauses empor, dessen grünes Blätterdach einzigartig war und im Herbst ein Traum darstellen musste. Jeder Fotograf meiner Zeit hätte hier ein traumhaftes Kalenderbild heraus gezaubert.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir gelaufen waren, aber ich schätzte die zurückgelegte Strecke auf etwa drei Meilen. Wie ein Adler aus der Luft hatte ich versucht, mir die Gegend einzuprägen, aber ich dachte mit Schrecken an meinen Rückweg heute Nacht. Ich hoffte, meine Flucht mit anderer Kleidung, Brot und ein paar Decken im Gepäck zu späterer Stunde heimlich einplanen zu können.

Ungeduldig wartete ich das Ritual der Willkommenszeremonie vor diesem mir noch unbekannten Haus und seinen Bewohnern ab. Eine Mittfünfzigerin war hinzugekommen, die einen sehr interessierten Gesichtsausdruck aufgelegt hatte. Besuch war vermutlich in dieser Einöde eher selten der Fall. Bevor ich sie genauer inspizieren konnte, schweifte mein Blick wieder zu Adam. Er versorgte die zwei Pferde, die sich ihre Ruhe wirklich verdient hatten. Sie waren schweißnass. Ihre Leiber zuckten vor Erschöpfung. Die beiden jungen Frauen waren bereits dabei, die Hühner neben den Ledertaschen abzuladen und Murray widmete sich voller Inbrunst einem der ersten Fässer.

„Wir haben dir eine Küchenhilfe mitgebracht, Amber! Sie scheint auf den Kopf gefallen zu sein. Sie macht einen eher dummen Eindruck auf mich. Sie ist hinter uns her gestolpert, als sei sie betrunken und sprechen kann sie auch nicht richtig. Ihr fehlt jede Erinnerung!“

Ich traute meinen Ohren kaum. Es kostete mich einiges an unterdrücktem Eitel, um nicht hochzugehen wie eine Rakete. Er lachte laut in meine Richtung, so dass ich abermals Einblick in seinen grauenhaften Mund hatte. So wie er unsere erste Begegnung beschrieb, konnte ich wohl froh sein, dass er mich nicht hatte in Ketten legen lassen.

Die Frau, die sich Amber nannte, sah freundlich in meine Richtung.

„Ihr seht in der Tat schlecht aus. Wo kommt Ihr denn bloß her? Ich hoffe, man hat Euch nichts angetan?“

Sie musterte mich besorgt und strich mir freundlich über das Haar. Anscheinend ahnte sie, dass ich ihr eine Antwort schuldig bleibe würde, deshalb sprach sie weiter:

„Macht Euch nichts aus dem dummen Gerede meines Bruders. Man muss ihn erst besser kennen lernen, um festzustellen, dass er eine gute Seele hat!“

Sicherlich hatte sie Recht, aber es stand mir nicht zu, ihr beizubringen, dass ich nicht das geringste Interesse hatte, ihrem gut gemeinten Vorschlag nachzukommen. Ich nickte ihr verstohlen freundlich zu, weil ich nichts zu erwidern wusste. Sie hatte ähnlich schwarzes Haar wie auch der Jüngere, namens Adam. Die bunte Schürze, die ihren dünnen Leib umschlang, bildete einen interessanten Farbkontrast zu ihrem schlichten Kleid. Sie war braungebrannt und für ihr Alter sehr attraktiv.

„Diana, Betty, kümmert euch bitte zuerst um die Hühner im Stall! Na, gesund sehen die nicht gerade aus, aber das bekommen wir schon hin!“

Sie sprach die beiden Mädchen an, die mit auf dem Weg gewesen waren. Mir machte sie dann Zeichen, ihr ins Innere des Hauses zu folgen. Ich ging ihr nach und die saubere Einfachheit in der Küche beeindruckte mich sehr. Ich hielt Ausschau nach Wandkalendern oder Schriftblättern, die mir etwas über diese Zeit verrieten. Meine Hoffnung wurde schnell erstickt, Zeitung gab es wohl schon, aber man hatte sie offensichtlich zum Zünden zweckentfremdet. Es waren nur noch verkohlte hauchdünne zittrige Fetzen im Kamin zu erkennen und ich nahm nicht an, dass hier täglich ein Zeitungsbote den Hof aufsuchte. Mein Mut sank. Ob ich jemals an ein Datum würde herankommen können? Amber machte sich an einem Herd zu schaffen, der sicherlich seine hundert Jahre zu meiner Zeit auf dem Buckel haben würde, um dem herunter gebrannten Feuer ordentlich Zunder nachzugeben. Die Mahlzeit dort dampfte noch ein wenig und kleine Nebelschwaden stiegen aus dem Topf auf.

Ich sah ihr bei dieser Verrichtung zu und hoffte, dass das Feuer mich schnell wärmte. Ich fror immer noch erbärmlich und machte diese außergewöhnliche Situation dafür verantwortlich. Amber schien dies zu bemerken.

„Ich bringe Euch gleich noch eine Decke, am besten wird es sein, wenn Ihr hier vor dem Feuer lagert, um die Füße warm zu bekommen.“

Ich war ihr unendlich dankbar für ihr Verständnis und so kam ich ihrer Aufforderung gerne nach. Ihr Kopftuch war streng nach hinten gebunden, und die Haarmassen, die darunter verborgen waren, zeichneten sich widerspenstig ab.

„Könnt Ihr Euch wirklich an nichts mehr erinnern,Kind? Auch nicht an Euren Namen?“

Röte schoss mir ins Gesicht, die sie, wie ich hoffte, hier in der halbdunklen Küche nicht bemerken würde.

„Ich schätze nicht “, verlegen räusperte ich mich.

Die schwere Holztüre wurde geöffnet und Adam trat herein. Er schleppte einen der vielen mitgebrachten Säcke auf dem Rücken. In Sekundenschnelle rechnete ich an dem Gewicht seiner Last, welches ihm überhaupt nichts auszumachen schien. Sicherlich gehörte das Schleppen von solchen Säcken zu seiner täglichen Arbeit.

„Stell ihn in die Kammer, aber bitte nicht wieder auf die Wollreste, sonst könnt ihr alle demnächst auf eure Kleidung verzichten!“

Ich beobachtete, wie er in einem Nebenraum der Küche verschwand. Ein dumpfes Krachen verriet, dass er den Sack abgeladen hatte.

„Also, wie sollen wir Euch in Zukunft nennen?! Schon eine Idee?“

Ambers plötzliche Frage erinnerte mich nicht nur an meine entsetzliche Gegenwart, sondern auch an die Tatsache, dass man hier wohl mit einem längeren Aufenthalt meinerseits rechnete.

„Würde Euch Rose gefallen?“

Die Stimme kam aus der Kammer nebenan. Verblüfft sah ich in ihre Richtung, als plötzlich Adam wieder auftauchte.

Er sah mich herausfordernd an. Der schwere Jutesack hatte doch Spuren in Form von Schweißperlen bei ihm hinterlassen.

„Gebührt mir ein solcher Name denn?“ Ich hörte zwar meine eigenen Worte, konnte jedoch nicht fassen, dass sie aus meinem Munde kamen. Hatte ich nichts Besseres zu tun, als zu flirten?

„Ich denke schon!“

Unsere Blicke kreuzten sich unverwandt. Ich musste zugeben, dass er sehr attraktiv war. Ich war davon überzeugt, dass er sich um zukünftige Ehefrauen keine Gedanken machen musste, wenn er nicht sogar schon eine hatte?

„Rose? - Das ist gut, es passt zu ihr, du hast Recht, Adam!“

Sichtlich zufrieden rührte sie in der Suppe, die inzwischen brodelte. Der Geruch, den sie verströmte, löste großes Verlangen nach Nahrung in mir aus. Am liebsten hätte ich ihr den gesamten Topf mit Inhalt von der Feuerstelle gerissen, ohne zu fragen, ob es sich um Schlangensuppe oder ausgekochte Schweinefüße handelte. Ich schluckte das Wasser, welches mir unablässig im Munde zusammenlief, hart herunter und konnte kaum noch an meinen Verstand appellieren.

Amber klirrte mit Geschirr, was bedeutete, dass gleich serviert würde, und ich war froh, diesem Psychoterror der Hungersnot nicht länger ausgesetzt sein zu müssen.

„Na dann, Rose“, bitten wir die anderen zu Tisch!“

Adam lächelte verschmitzt in meine Richtung und machte sich auf den Weg nach draußen. Es dauerte nicht lange, bis alle um den Tisch versammelt waren. Es war klar, dass ich heute bei dieser Mahlzeit den Mittelpunkt bildete und so war es nicht verwunderlich, dass alle mir beim Essen zusahen. Ich störte mich nicht daran, weil mein Hungergefühl einfach zu groß war. Als meine Nahrungsaufnahme schließlich beendet war, bekamen auch so die anderen die Gelegenheit, ihre inzwischen erkaltete Suppe zu sich zu nehmen. Betty bot mir Brot an, welches ich schließlich auch noch vertilgte, und ich dachte mit Schuldgefühlen an Lori und Kiefer zurück, die wahrscheinlich inzwischen zu Grasessern geworden sein mussten.

Plötzlich hatte ich eine Idee. Wenn ich angeblich unter einer vorübergehenden Amnesie litt, war es vermutlich nur normal, wenn mir auch mein Zeitgedächtnis entfallen war. Niemand würde Verdacht schöpfen können und wenn ich mich mit meiner Sprache und Grammatik zusammenriss, würde ich als eine von ihnen gelten!

Ich räusperte mich leise, was natürlich sofort alle Aufmerksamkeit wieder auf mich zog.

„Es ist mir unangenehm, darüber zu sprechen, aber ich weiß nicht mal mehr, welches Datum wir schreiben.“ Ich wusste, dass ich aufgrund meiner Lüge errötete, aber es war mir egal. Sie kannten schließlich ja nicht den wahren Grund meiner Frage und Amber reagierte als Erste.

“Der zehnte Mai, Rose. Wir schreiben den zehnten Mai!“

Ich nickte verständig und versuchte dennoch meine Ungeduld zu unterdrücken. Dass es Mai war, entzückte mich ja, aber etwas anderes war mir wichtiger!

„Und ... und das Jahr?“

Murray lies abrupt seinen Löffel fallen.

„Das Jahr des Herrn habt Ihr auch vergessen?“

Wieder nickte ich, mein Herz raste, als er endlich antwortete.

„Wir schreiben das Jahr des Herrn, 1872. Guter Gott, Ihr müsst einen entsetzlichen Schlag abbekommen haben!“

Der Krug, der mit Wein gefüllt war, drohte mir aus den Händen zu gleiten, und wenn Adam ihn nicht reaktionsschnell im Fall gehalten hätte, wäre er in Hunderte von Scherben zerbrochen. Ich hatte mit vielem gerechnet, nicht aber mit einem solchen Zeitsprung. Es lagen genau 140 Jahre zwischen ihrem und meinem Leben und dennoch konnten wir hier an einem Tisch sitzen. Gleisende Blitze machten ihre Runden in meinem Kopf, in meinen Ohren begann es zu rauschen. Mein Zustand kam selbst mir besorgniserregend vor, da ich den Boden unter den Füßen zu verlieren spürte. Übelkeit stieg in mir auf. Ich hatte Mühe, das eben Gegessene zurückzuhalten. Meine Hand war krampfhaft gegen meinen Mund gepresst, die Augen brannten in den Höhlen. Ich starrte in die Runde und begegnete jedem einzelnen bohrenden Blick. Nie im Leben hatte ich mich so allein gelassen gefühlt.

Geschichtliche Ereignisse, Kriege und Namen rauschten an mir vorüber, ich war nicht in der Lage, irgendetwas irgendwem zuordnen zu können. Zumindest nicht jetzt.

„Ihr solltet Euch ausruhen, Rose, oder welchen Namen Ihr auch immer tragt. Vielleicht klärt sich Eure Identität schneller, als Ihr denkt!“

Es war gut gemeint von Amber, mir Mut zuzusprechen, aber es half mir nicht im Geringsten weiter.

„Vielleicht seid Ihr von Indianern überfallen worden? Sie waren sehr unruhig in den letzten Monaten. Es kommt immer mal wieder vor, dass …“

Murray sah mich skeptisch von der Seite an.

„So ein Unsinn, du weißt genau, dass wir hier nie Probleme mit ihnen gehabt haben. Schluss damit!“

Amber ärgerte sich offensichtlich sehr über die Gedanken ihres Bruders.

Sie sah mitleidig zu mir herüber und komplementierte mich in einen Nebenraum, der sich als Schlafkammer entpuppte. Ich war froh, dass sie mich führte, weil ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ich fühlte mich ausgelaugt und um 140 Jahre betrogen. Gerne hätte ich meinen Kummer mit jemandem geteilt, aber ich wusste, dass dies nicht möglich war. So wie es aussah, wohl niemals.

Der Raum enthielt zwei Betten, die mit Strohmatratzen und federgefüllten Bettdecken belegt waren. Es war mir vollkommen egal, mit wem ich diesen Raum teilen musste. Es würde an meiner Situation wahrhaftig nicht mehr viel ändern.

Amber half mir aus den Kleidern, um mich schließlich fürsorglich zuzudecken. Erneut musterte sie mich mitleidig.

„Seid Ihr verletzt? Ich meine, ich hoffe, es hat Euch niemand ein Leid zugefügt?“

Ich starrte sie an und verneinte vehement.

Sie nickte und überlegte kurz.

„Ich bringe Euch gleich noch einen warmen Stein, damit Ihr nicht friert! Einen habe ich immer im Ofen liegen für den Fall, dass mal jemand erkrankt!“

Ich hörte ihr Gesagtes, erwiderte jedoch nichts mehr. Sie assoziierte mein Zittern mit Kälte, nicht mit der Angst, die mich immer noch gefangen hielt! Ich war nur noch damit beschäftigt, meine Verzweiflung zu unterdrücken. Ich dachte an Lori und Kiefer und daran, dass ich sie irgendwie aufspüren musste, und zwar noch in dieser Nacht. Ich konnte schon froh sein, dass ich Menschen in die Hände gefallen war, die mir wohl gesonnen waren. Nicht auszudenken, wenn das Gegenteil eingetroffen wäre!

Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich erwachte, vernahm ich regelmäßige Atemzüge im Bett neben mir. Da meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war es mir möglich, die Personen zu identifizieren. Es handelte sich um Betty und Diana. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Natürlich lag ich in einem ihrer Betten und sie kamen wohl nicht umhin, sich das letzte übrig gebliebene aufgrund meiner Anwesenheit zu teilen. Alles war mucksmäuschenstill, die Nacht schien hereingebrochen zu sein und das Haus und seine Bewohner zu schlafen.

Zeit für mich, zu neuem Leben zu erwecken, und wenn ich noch so müde war. Unendlich langsam pellte ich mich aus den vielen Decken, die man über mich gebreitet hatte. Das war Glück, denn somit würde ich vielleicht ein oder zwei dieser klassischen Exemplare mitnehmen können. Es fehlte also nur noch Nahrung, die ich sicherlich in der Kammer neben der Küche finden würde. Dort, wo Adam den schweren Sack hingebracht hatte. Ich stahl mich auf nackten Sohlen aus dem Raum. Das Knarren, welches die Türe beim Öffnen und Schließen verursachte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, aber niemand anderer außer mir schien es zu hören.

Die Luft immer noch anhaltend, balancierte ich durch die Rabenschwärze, die mich im nächsten Raum umfing. Ich wusste nicht, wo sich die anderen Zimmer befanden und musste deshalb auf der Hut sein. Der Gedanke, dass ich diesem Murray eventuell in die Arme lief, löste äußerstes Unbehagen in mir aus.

Lebensmittel fand ich tatsächlich in Hülle und Fülle in der Speisekammer vor. Ich musste nur dem Geruch von Schinken und frischem Brot nachgehen und war froh, dass alles so glatt lief, wie ich es mir wünschte, deshalb dachte ich nicht auch noch an Kleidungsstücke, die unsere Herkunft verbargen. Als ich endlich unter dem endlosen Sternenhimmel vor dem Haus stand, fühlte ich mich sehr erleichtert. Unsicher blickte ich noch einmal hinter mich, ob mir auch niemand folgte. Den Schinken und die zwei Laibe Brot hatte ich fest in die Decken gewickelt und trug sie eingeklemmt unterm Arm bei mir. Eine angenehme Last, denn ich wusste, dass sie uns vorerst weiterhelfen würde. Ich beschleunigte meinen Schritt. Ich konnte nicht behaupten, dass mir die Dunkelheit und das unbekannte Land, auf dem ich mich befand, keine Angst einflößten.

Ich war gut circa eine Meile weit in die Dunkelheit gegangen und passierte gerade eine Art Zaungatter, als ich mit Erstarren eine an einen der Pfähle gelehnte Gestalt erkannte. Der Mond schien hell und mächtig über mir, lies eine genauere Betrachtungsweise des Unbekannten jedoch nicht zu.

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Es konnte unmöglich Kiefer sein, der dort stand. Bestimmt hätte er sich zu erkennen gegeben! Und wo wäre dann Lori gewesen?

Unwillkürlich war ich stehen geblieben, nicht bereit, meinem offensichtlichen Verfolger auch noch in die Arme zu laufen.

Die große Gestalt schien meinen langsamen Rücktritt bemerkt zu haben und bewegte sich. Bevor mir ein Schrei widerfahren konnte, hörte ich die Worte des Unbekannten.

„Ihr seid also doch eine Diebin? Ganz, wie mein Onkel es vorausgesagt hat!“

Es war Adam, der dort am Zaun stand. Wusste der Himmel, wie er mich unbemerkt überholt hatte, aber war dies wirklich eine Kunst, wenn ich mich in dieser Gegend auskannte?

Unfähig, ihm eine Antwort zu geben, starrte ich ihn an. Was hatte er vor? Was würde er jetzt mit mir tun?

„Sagt mir die Wahrheit Rose, ich hasse nichts mehr, als verlogene Frauenzimmer!“

Mein Herzschlag normalisierte sich wieder, trotzdem hielt ich diese Situation für gefährlich, da ich sein Vorhaben nicht erraten konnte.

„Ich bin keine Diebin!“ rechtfertigte ich mich naiv. „Ich stecke in Schwierigkeiten!“ Das war noch nicht mal gelogen, und ich hoffte, er würde mir Glauben schenken.

Er war mir bis auf wenige Schritte nahegekommen, so dass mir ein heuartiger Geruch in die Nase steigen konnte. Gerade als er den Arm nach mir ausstrecken wollte, huschte ein blitzschneller Schatten auf ihn zu. Ich erschrak so heftig, dass ich mechanisch zur Seite sprang, um mich selbst zu schützen. Ein kurzer Kampf war zu hören und dann schallte ein dumpfer Schlag zu mir herüber, der von einem schrecklichen Stöhnen unterbrochen wurde.

Ich wusste instinktiv, dass Adam dicht neben mir auf dem Boden lag und Sekunden später erkannte ich den Grund dafür.

„Kiefer! Wo um Himmels Willen kommst du her?“

Schlagartig wurde mir bewusst, dass er Adam getötet haben musste.

„Du hast ihn umgebracht!“ schrie ich ihn an.

„Ich habe Ihnen nur das Leben gerettet, Miss Clerence!“

„Heiliger Himmel, Kiefer. Wir müssen etwas tun!“

Er sah mich fragend an.

„Wir sind Ihnen nachgegangen in der Angst, Ihnen sei etwas zugestoßen. Ein ziemlich dummer Plan war das! Und jetzt, wo man Sie fast umbringen wollte, beschweren Sie sich auch noch, dass man Ihnen in letzter Sekunde das Leben rettet!“

Aus seiner Betrachtungsweise mochte er sicher Recht damit haben, aber er musste auch meine verstehen.

„Er muss mir gefolgt sein, Kiefer. Sein Name ist Adam. Ich glaube nicht, dass er mir etwas angetan hätte, schließlich hat er mich auch bei sich aufgenommen!“

Ich war in die Knie gegangen und tastete panisch auf seinem Körper herum. Irgendeine Verletzung musste doch zu finden sein!? Endlich bekam ich seinen Puls am Hals zu fassen. Er war schwach, aber regelmäßig.

„Adam, können Sie mich hören?“

Ich strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und packte in ein feuchtes Gerinnsel. Es war warm und klebte in Sekundenschnelle an meiner Hand. Nach genauerer Untersuchung fand ich die Quelle des blutenden Ursprungs, eine lange Platzwunde hinter dem linken Ohr. Er rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, der mir die Panik genommen hätte, ihn lebensgefährlich verletzt zu haben. Dann vernahm ich plötzlich den wohl vertrauten Klang eines schnippenden Feuerzeugs und eine kleine Flamme half mir bei einer genaueren Untersuchung. Ich sah kurz Adams Gesicht, welches wachsbleich in meinem Schoß lag.

“Kiefer, du musst mir helfen. Wir können ihn hier nicht liegen lassen. Ich ...“

Er unterbrach mich.

“Woher sollte ich wissen, dass Sie ihm bekannt sind?“

„Du hast ja Recht. Wir alle haben Recht. Alle Beteiligten waren mehr als misstrauisch, aber das hilft uns nun auch nicht weiter. Wo ist Lori?“

Ich versuchte die Verzweiflung, die erneut in mir aufgelodert war, zu unterdrücken. Wenn Adam durch uns, die wir eigentlich gar nicht hier sein dürften, sterben sollte, würde ich mir das nie verzeihen können!

Kiefer erklärte mir in kurzen Sätzen, dass Lori ganz in der Nähe in einem verlassenen Scheunengebäude war, den sie als Unterschlupf gefunden hatten. Wir sprachen nicht über andere Ereignisse, die gewesen waren, dazu war ich nicht in der Lage. Es war auch meiner Meinung nach unwichtig. Meine Informationssammlung, die ich herausbekommen hatte, konnte ich genauso gut auch später erzählen. Viel schlimmer war es, einem unschuldigen Menschen durch eine Dummheit eventuell das Leben genommen zu haben, ganz neben der Tatsache, dass wir einen Mord am Halse hätten haben können und das in einer Zeit wie dieser!

Wir wickelten Adam gekonnt in meine mitgebrachten Decken ein und trugen ihn zu zweit durch die Nacht. Ich hoffte inständig, dass es nicht mehr weit bis zur Hütte war, denn ich war am Limit meiner Kräfte angelangt. Adams Körper war doppelt so schwer in bewusstlosem Zustand, als es normal der Fall gewesen wäre. Immer wieder betete ich, dass er durchhalten würde, während mir der Schweiß in Strömen den Rücken herunterlief.

Endlich am Ziel angelangt, stieß Kiefer mit einem heftigen Tritt die Türe auf, so dass Lori ein erschrecktes Schluchzen entfuhr. Sie hatte wohl kaum mit einer solchen Ankunft gerechnet.

„Kiefer, du ... ich ... ich hasse dich, wieso hast du mich allein gelassen?!“

Als sie sah, wen er mit in seiner Begleitung hatte, veränderte sich ihre Stimme.

„Miss Clerence, Gott sei Dank, Sie leben!“ Eine Last schien augenblicklich von ihr abzufallen. Sie war schnellstens bemüht, uns bei unserer mitgebrachten Last behilflich zu sein.

Wir legten Adam auf ein provisorisches Strohlager. Natürlich gab es auch hier keinen elektrischen Strom, es blieb uns also nichts anderes übrig, als uns weiterhin mit der Dunkelheit abzufinden!

„Kiefer, ich habe Brot und Schinken für euch. Es liegt an der Unfallstelle, würdest ...“

Er ließ mich nicht aussprechen, da der Gedanke an Nahrung wohl so verlockend war, dass er auch zehn Meilen für einen Bissen Brot zurückgelaufen wäre.

„Natürlich, ich bin gleich wieder da. Schließt die Türe hinter mir.“

Lori ging ihm bis dorthin nach, dann wandte sie sich um.

„Was ist geschehen? Wer ist dieser Mann?“

Ich erklärte ihr in kurzen Sätzen mein Erlebtes in dem weiß getünchten Haus unweit von hier. Ich kauerte neben Adam auf dem Boden und machte regelmäßige Pulskontrolle. Ab und zu entfuhr ihm ein unterdrücktes Stöhnen, was mein Gewissen auch nicht ruhiger werden ließ. Außerdem zuckte er manchmal, gelegentlich wurde er von einem Schütteln erfasst. Sorgsam deckte ich Adam zu, in der Hoffnung ihm wenigstens Wärme geben zu können. Ich war froh, als Kiefer wenig später mit meiner Beute endlich zurückkehrte. Ich hörte die Schmatzgeräusche in der Dunkelheit neben mir. Sicher würden sie gleich, wenn der Magen ein wenig gefüllt war, bereit für die Wahrheit sein?

Als hätte Lori meine Gedanken gelesen, sprach sie mich direkt darauf an.

„Haben Sie irgendetwas herausbekommen können? Ich meine ...“ Sie zögerte leicht.

„Ich weiß, was du meinst und hör endlich mit dem blöden „Sie“ auf!“. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, da ich noch von mir selbst wusste, wie ich auf all das reagiert hatte.

„1872, es ist der zehnte Mai 1872!“

Ich konnte nur erahnen, was meine Worte in ihnen auslösen mussten, aber schließlich war auch ich nicht davon verschont geblieben!

„Mein Gott!“ Kiefers Stimme klang fremd in der Dunkelheit.

„Wie ... wie haben Sie, wie hast du das angestellt, ohne damit aufzufallen?“

„Ich habe eine Amnesie vorgetäuscht, ich hielt es für das Beste!“

„140 Jahre, das ... das ist unglaublich. Wir sitzen ganz schön im Schlamassel!“

Stroh knisterte vorwurfsvoll unter Kiefers Gewicht. Ich sah seine Umrisse und konnte durch das hereindringende Mondlicht erkennen, dass er mit dem Kopf schüttelte.

„Ob nun 140 oder 240, es ändert nichts an unserer Situation. Gebt mir Zeit, ich hatte Geschichte Leistung. Bis Morgen habe ich die wichtigsten Geschehnisse im Kopf, das könnte uns vermutlich bei unserem Verhalten weiterhelfen.“

Lori sprach unverhofft und sie schien sich besser mit dieser Situation auseinander zu setzen als Kiefer und ich es taten. Sie machte kurz Pause.

„Ich weiß, dass Boston um 1630 durch englische Emigranten gegründet worden ist, aber es hingen natürlich auch noch indianische Ureinwohner mit drin und was sagtest du? Wir leben 1872? Das erinnert mich an eine Geschichte, die ebenso Boston betrifft, weil genau in diesem Jahr fast die ganze Stadt durch einen Brand zerstört worden ist. Das heißt, ich habe den Monat vergessen, vielleicht geschieht dies auch erst noch? Infolge dessen werden dann die Tee-, Rum-, Fisch- und Tabakpreise steigen oder eine Welle von Auswanderern wird die umliegenden Kleinstädte fluten– Kiefer, wir haben nur die zwei Decken. Darf ich zu dir hinüberkommen?“

Ich war davon überzeugt, dass Kiefers Mund genauso offenstand wie mein eigener, nachdem wir Loris Monolog vernommen hatten. Sie schien tatsächlich ihren Leistungsschwerpunkt in Geschichte zu haben. Allem Anschein nach hatte sie auch ihre Angst nun fest im Griff; wenn ich an unsere „Landung“ hier zurückdachte.

„Natürlich, so muss niemand von uns frieren.“

Kiefers tonlose Stimme drang unterdrückt beeindruckt bis zu mir herüber.

Das bedeutete für mich, diese Nacht mit Adam unter der anderen Decke zu verbringen und ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei.

Als Lori zu ihm hinübergekrochen war, durchbrach Kiefers Stimme erneut die Stille um uns herum.

„Wie geht es deinem Patienten, Miss Clerence?“

Vermutlich wollte er bewusst vom Thema ablenken, weil er immer noch zu beschämt von Loris Wissen war.

Ich musste ein Lächeln über seine gewählten Worte und den raschen Themawechsel unterdrücken.

„Ich habe den Eindruck, dass er in einen ruhigen Schlaf gefallen ist. Seine Atemzüge sind regelmäßig und ich schätze, dass ich meine Hand heute Nacht von seinem Halspuls nicht so schnell ablassen werde.“

Abermals knisterte Stroh.

„Und Kiefer, man gab mir hier den Namen Rose. Es war Adams Vorschlag! Ich meine, der meines Patienten hier.“

Ich konnte mir sein schmunzelndes Gesicht vorstellen, obwohl uns immer noch Nacht umfing. Natürlich war an Schlaf nicht zu denken, zumindest von meiner Seite aus nicht. Ich war viel zu besorgt um Adam, den ich Gott sei Dank warm an mir spürte. Ich glaube, ich atmete im gleichen Rhythmus wie er, wahrscheinlich der festen Überzeugung, ihm damit helfen zu können, dass er es nicht urplötzlich vergaß. Ich tastete unzählige Male nach der Halsschlagader und mit dem Geruch erkalteten Blutes dicht an meiner Nase schlief ich dann doch ein. Gott sei Dank war mein kurzes Einnicken von keinen Alpträumen begleitet, obwohl ich wie gerädert nach Stunden wiedererwachte. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo ich war und wen der Mann unter meiner Decke darstellte. Traurigkeit beschlich mich, da ich gehofft hatte, wieder in einer anderen Zeit wach zu werden.

Es war inzwischen hell, jedoch noch empfindlich kühl, und ich war dankbar, dass ich eine Wärmequelle direkt neben mir hatte. Ich konnte Adams Gesicht nicht sehen, aber das, was ich sehen konnte, sagte mir, dass er lebte. Ich sah in Richtung Kiefer und Lori, die zusammen verstrickt dalagen wie ein verheddertes Wollknäuel. Ich lächelte unterdrückt, bis ich mich schließlich unendlich langsam und unwillig aus meiner warmen Höhle pellte. Ich schaffte es, niemanden aufzuwecken. Der Versuch, meine Rockfalten glätten zu wollen, war überflüssig. Vorsichtig kroch ich unter der Decke hervor und schlich mich nach draußen. Die Hütte war wirklich nur ein Verschlag, aber immer noch besser, als unter freiem Himmel nächtigen zu müssen. Sie stand mitten auf einem Kornfeld. Das Getreide war natürlich noch nicht zur Ernte bereit und es war nur eine Frage der Zeit, wann wir hier entdeckt werden würden. Einen sicheren Platz bot dies hier nicht!

Kiefer war mir wenig später schweigend gefolgt. In seinem Gesicht hatte die Nacht ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Er sah um Jahre gealtert aus, aber ich nahm an, dass dies eher mit unserer außergewöhnlichen Situation zu tun hatte.

„Wie soll es nun weiter gehen?“

Meine Frage brachte ihn zum Nachdenken.

Er wartete einen Moment, bevor er antwortete.

„Das hängt ganz von deinem Adam ab.“

„Er ist nicht mein Adam, du warst es, der ihn ...“ Ich brach ab. Keine Zeit, um sich jetzt gegenseitige Vorwürfe machen zu wollen!

Er schien meine plötzliche Wandlung zu bemerken, denn er nahm das Gespräch wieder auf.

„Wir werden hier nicht lange bleiben können. Ich denke, wir sollten erst mal den Rest an Schinken und Brot vertilgen und dann gemeinsam Überlegungen anstellen. Wie weit war es bis zu dem Hof, wo Adam zu Hause ist?“

„Etwa anderthalb Meilen. Sie vermissen ihn bestimmt schon.“

„Nicht nur ihn.“

Sein Gesagtes wurde mir innerhalb von Sekunden bewusst. Ich war als Diebin davongeschlichen, obwohl man mich gastfreundlich aufgenommen hatte. Mir graute davor, diesem Murray jemals wieder unter die Augen zu treten. Wahrscheinlich würde er mich am nächsten Baum hängen.

Kiefer klopfte plötzlich kameradschaftlich auf meine Schulter.

„Mach dir nicht zu viele Sorgen. Die Lage, in der wir uns befinden, kann kaum noch schlimmer werden.“

Es sollte als Trost gelten, half mir aber in keiner Weise weiter. Ich lächelte ihn traurig an. Was hätte ich sonst noch tun können?

Als wir ins Innere der Hütte zurückkehrten, schliefen die anderen beiden immer noch. Erst das Geräusch, welches ich beim Schreiten auf dem Erdboden zu Adam verursachte, holte Lori zu uns zurück. Sie rieb sich die Augen und zog die Decke enger um sich.

„Ich nehme nicht an, dass wir uns in Professor Vibelles Unterrichtsstunde befinden und alles nur ein böser Traum war?“

Leider konnte niemand von uns ihr widersprechen.

„Das hatte ich angenommen. Nun, ich habe mir noch ergänzende geschichtliche Gedanken gemacht. Ich glaube ...“

Adams plötzliches Stöhnen ließ uns alle zusammenfahren. Er regte sich und machte den kläglichen Versuch, sich erheben zu wollen. Die Verletzung an seinem Kopf hatte ihn jedoch wohl schnell eines Besseren belehrt.

Er stöhnte wieder, diesmal lauter. Seine Hand wanderte nach oben, um nach der Ursache zu suchen. Noch hatte er keinen von uns erblickt und zog verdattert die Decke von sich.

Kiefers, Loris und mein Blick kreuzten sich. Es war wie eine Telepathie, in der wir uns absprachen, uns auf keinen Fall zu erkennen zu geben und alles beim Alten zu lassen. Natürlich hatte Adam Loris Aufklärung unterbrochen, die unweigerlich in Schweigen verfiel, um unsere Position in diesem Spiel nicht zu verraten.

Ich war mir sicher, dass sie uns noch wichtige Informationen zuteilwerden lassen wollte, aber was brachte es uns jetzt, wo Adam mit anwesend war?

Ich näherte mich ihm vorsichtig, zu jeder Zeit bereit, einem Abwehrschlag aus dem Wege gehen zu können.

„Wie fühlt Ihr Euch, Adam?“

Er sah mich an und brauchte Sekunden der Orientierung.

„Ihr habt den Mut, mich das zu fragen?“

Er schien also nichts vergessen zu haben; schade, dabei wäre ihm eine Amnesie gerade Recht gekommen, dachte ich erschüttert. Jetzt war er uns ausgeliefert. Ich erinnerte mich daran, dass es vor wenigen Stunden noch umgekehrt gewesen war.

„Oh ja, das habe ich!“

Ich wollte mir auf keinen Fall irgendeine Unsicherheit anmerken lassen. Männer wie er hatten für schwache Frauen nichts übrig, das wusste ich mittlerweile, und ich musste ihn nun mal bei Laune halten, weil ich früher oder später mit seinen suchenden Verwandten rechnete. Ein gutes Wort von ihm für uns würde uns sicherlich das Leben retten.

Zielsicher landete meine Hand an seiner lädierten linken Schläfe. Er zuckte unwillkürlich zurück, tolerierte jedoch erstaunlicherweise meine kurze Berührung.

„Wie konnte ich wissen, was Ihr mit mir vorhattet dort am Zaun in einer mondhellen Nacht!“

Er hatte es inzwischen geschafft, sich aufzusetzen.

„Bestimmt hätte ich Euch nicht so behandelt, wie Ihr mich! Außerdem sagtet Ihr, Ihr wäret in Schwierigkeiten.“

Ich war überrascht, über welchen Scharfsinn er noch nach einem solchen Schlag verfügte. Er rieb sich hinter dem Ohr und stöhnte plötzlich wieder.

„Wie komme ich hier her? Wer hat mich niedergestreckt, könnt Ihr Euch erinnern?“

Kiefer erhob sich und diese Bewegung ließ Adam den Kopf langsam drehen.

„Das war ich. Es tut mir leid, aber ich glaube, Sie, Ihr hättet nicht anders reagiert, wenn man Eure Begleitung derart rüpelhaft angesprochen hätte?“

Ich bewunderte Kiefers Mut und hielt die Luft an.

„Ihr könnt froh sein, dass ich wohl kaum momentan in der Lage bin, mich zu wehren.“

Dann wandte er seinen Blick angewidert von Kiefer ab, um den meinen zu suchen.

„Also habt Ihr Eure Begleitung wiedergefunden, wie ich annehmen darf?“

Ich war überrumpelt.

„Ich … äh, ja, ich habe ihn …“

Er unterbrach mein wirres Gestotter.

„Ich sollte mich bei Eurem Begleiter für seinen überaus netten Willkommensgruß bedanken!“

Verachtung spiegelte sich in seinem Gesicht.

„Zum Duellieren ist immer noch Zeit genug. Jetzt esst erst einmal was von dem Schinken hier. Der wird sicher alle auf andere Gedanken bringen“

Lori war hinzugekommen. Sie trug die Decke geschickt um sich gewickelt, um ihre Kleidung zu verbergen.

Alle Anwesenden waren sprachlos. Eine solch brisante Situation auf diese Weise zu entschärfen, war brillant.

Adam jedoch schob ihre hin gehaltene Hand zur Seite.

„Noch eine im Bunde?“ Er dachte angestrengt nach.

„Ihr habt das Haus meines Gevatters bestohlen, Ihr wart Gast dort. Ist das der Dank?“

Zornig erhob er sich, man sah ihm an, dass er Schmerzen haben musste. Die Decke, die ihn umschlungen hatte, warf er beim Aufstehen achtlos hinter sich.

„Nein, der Dank ist, dass Rose Euch die ganze Nacht behütet hat, wie ein kleines Kind und um Euer Leben gebangt hat. Ich hätte Euch da draußen liegen lassen. Sie ist es, derer Ihr zu Dank verpflichtet seid!“

Kiefers Stimme hallte in meinen Ohren.

Adam war sichtlich verwirrt. Sein Daumen und der Zeigefinger drückten sich behutsam in die Augenhöhlen, um die gewünschte Konzentration wieder zu erlangen. Er torkelte leicht. Ich hatte die Befürchtung, dass er gleich zu Boden gehen würde, wie eine alte Eiche.

„Wer seid Ihr?“

Seine Frage war kaum hörbar, aber wir alle waren so angespannt, dass es jeder wie ein Paukenschlag vernahm.

„Sagen wir, wir sind Reisende. Reisende, die in Schwierigkeiten geraten sind, ganz wie Rose es behauptet hat. Das muss Euch reichen, Adam!“

Ich bewunderte Kiefers Redekünste, die keinen Widerspruch duldeten, und er schien auch seinen Ansprechpartner davon zu überzeugen.

Adam lachte ironisch auf.

„Das ist wenig an Information, findet Ihr nicht?

Und dann war es soweit. Er sackte wie ein drahtiger Bulle nach einer Narkoseinjektion zusammen. Ich erschrak so heftig, konnte mich jedoch im letzten Moment unter ihn werfen, um seinen lädierten Kopf nicht wieder brachialer Gewalt aussetzen zu müssen.

Kiefer und Lori halfen mir bei der erneuten Lagerung und dieses Mal schien er noch schwerer geworden. Anschließend saßen wir stumm um Adam herum. Wir sprachen eine ganze Weile kein Wort, vermutlich weil sich jeder von uns mit der eben vorgefallenen Szene auseinandersetzen musste, bis sich Kiefer als erster erhob.

„Verdammt, ich brauche frische Luft. Ich muss mir ein Konzept überlegen, sonst sind wir verloren!“

Er marschierte geradewegs hinaus, die Türe ließ er achtlos offenstehen. Loris und mein Blick kreuzten sich.

„Ich gehe ihm nach. Ich habe Angst, dass er Dummheiten macht. Wir sollten uns nicht mehr trennen! Warte hier! “

Ich nickte ihr stumm zu. Sie hatte Recht. Was die letzte Trennung bewirkt hatte, hatten wir noch jetzt auszubrüten. Ich sah ihr nach und blieb mit Adam allein zurück. Während ich meinen Gedanken nachhing, starrte ich ihn an. Seine linke Gesichtshälfte machte wirklich einen erbärmlichen Eindruck. Das verklebt getrocknete Blut hatte sich seine Bahnen bis in den Nacken gefressen. Er war blass unter seiner Bräune. Seine Lippen waren schmal, eher im Schlaf schmerzverzerrt. Ich hatte wenig Ahnung von Medizin, aber er war bestimmt bettpflichtig. Nach einer leichten Gehirnerschütterung wurde man nicht so einfach wieder ohnmächtig!

Ich wurde unruhig und wandte den Blick von ihm ab aus dem einzigen Fenster hinaus, was die Hütte enthielt. Eben noch hatte ich Kiefer und Lori in sicherer Entfernung stehen sehen, jetzt waren sie verschwunden. Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können. Nein! Ich wollte mir nicht auch noch Sorgen um ihr Verschwinden machen müssen. Sicher waren sie ein Stück weit gegangen, um reden zu können, ohne dass mein Patient zuhörte.

„Ich habe starke Schmerzen, Rose!“

Adams plötzliche Stimme erschrak mich. Er sah mich an, sein Blick war vorwurfsvoll, seine Kiefer pressten sich hart aufeinander.

„Ich weiß, ich kann es mir denken. Es tut mir wirklich leid. Kiefer, fühlte sich verpflichtet, mir zu helfen.“

Er schloss die Augen wieder und wandte den Kopf behutsam stärker in meine Richtung.

„Wer seid Ihr wirklich?“

Ich holte tief Luft.

„Ich ... Ich kann nicht darüber sprechen!“, plötzlich wurden wir unterbrochen:

„Adam? - Adam!“

Ich war wie gelähmt, als ich Murrays Stimme plötzlich wiedererkannte.

„Bist du da drin, Adam Connor?“

Sofort wollte ich mich erheben und auf die Türe zugehen, als er mich plötzlich an der Hand zurückhielt.

„Wenn du gegeißelt bist,“ rief Murray weiter, „so hätte ich noch zwei zum Tausch hier stehen!“

Wir hörten seine Stimme laut in der Hütte. Kiefer und Lori, schoss es mir durch den Kopf. Er hat sie erwischt!

Auch Adam begriff diese Situation in Sekunden. Sein Onkel war alles andere, als zum Scherzen aufgelegt.

„Sagt ihm, er soll hereinkommen. Er wird Euch nichts tun, solange er mich nicht gesehen hat!“

Ich hoffte, dass Adam Recht behielt und als ich langsam nach draußen ging, fing ich nach wenigen Schritten direkt seinen Blick auf. Und ich sah noch mehr. Kiefer und Lori standen unweit von ihm mit vorgehaltenem Gewehr im Rücken. Mir war klar, dass Murray sich überfordert gefühlt haben musste, nachdem sein Neffe und auch noch ich, die damit wohl unmittelbar zusammenhing, verschwunden waren.

Ich richtete ihm Adams Worte aus, woraufhin er mich am Ellenbogen hart zu sich herumriss, um mich als neue Geisel zu nötigen. Er konnte unmöglich wissen, dass außer seinem Neffen keiner mehr in der Hütte war.

Innen angekommen, stieß er mich zur Seite, um augenblicklich nach Adam zu sehen. Natürlich bot er einen eher erbärmlichen Anblick, so verletzt auf dem Boden liegend.

„Was hat man mit dir gemacht?“

Seine Stimme dröhnte durch die kleine Hütte. Fast hasserfüllt sah er von ihm ab in meine Richtung.

„Ich hatte einen Unfall. Rose hat mir das Leben gerettet. Bis jetzt war ich noch nicht transportfähig!“

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Murray musste seinem Neffen glauben, es blieb ihm nichts anderes übrig.

Adam sah mich nicht an, obwohl ich seinen Blickkontakt suchte. Ich atmete tief ein, um die Kreise vor meinen Augen zu vertreiben. Er hatte uns mit diesem einen Satz das Leben gerettet.

Murray sah wieder zu mir.

„Ich weiß nicht, warum Euch mein Neffe schützt!“

Er war zwischen Adam und mir hin und her gerissen, aber sein Gesichtsausdruck schien entschlossen.

„Ihr würdet genauso wenig wie ich annehmen, dass er mit einer wie Euch durchbrennen wollte, oder?“

Murray war sehr scharfsinnig.

„Ich nehme eher an, dass er Euch beim Stehlen erwischt hat, denn er nimmt selten Decken und Vorräte nachts mit, um Spaziergänge zu machen!“

„Murray, hör auf. Es war ein Unfall, ein Missverständnis!“

Adam hatte Schweißperlen auf der Stirn stehen, als er erneut versuchte, gegen seinen Onkel anzugehen.

„Und wer sind die anderen beiden?!“ Sein Blick traf mich abweisend.

Langsam wurde es mir doch zu bunt. In Anbetracht der Tatsache, dass Adam schwer verletzt war, hatten wir keine Zeit mehr, um lange diskutieren zu wollen! Ich machte mir ernsthaft Sorgen um ihn, zumal ich wahrhaftig nicht ganz unschuldig an seiner Situation war.

„Verdammt, Ihr solltet an Euren Neffen denken und nicht die wertvolle Zeit mit Vermutungen vertun! Es geht ihm schlecht, meiner Meinung nach braucht er jetzt dringend ein Bett unterm Hintern und absolute Ruhe!“

Ich wollte noch etwas anhängen, mein Zorn war so groß, dass ich ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte.

Sein Gesichtsausdruck änderte sich ihn wenigen Sekunden. Er sah mir meinen unterdrückten Zorn an und lächelte plötzlich, eine Reaktion, auf die ich wahrhaftig nicht gefasst gewesen war!

„Ihr seid ein ziemlich herrisches Frauenzimmer. Könnt Ihr mir vielleicht auch sagen, wie ich Adam nach Hause bringen soll, wenn er so schwer verletzt ist, he?“

Meine Gedanken überschlugen sich.

„Ich biete gerne meine Hilfe an, schließlich habe ich ihn schon einmal getragen, außerdem wäre da noch mein männlicher Begleiter, den Ihr eben noch unter Beschuss gehalten habt!“

Er musterte mich wie ein listiges Wiesel, während Kiefer und Lori wenig später eher zögerlich in der Hütte erschienen und jede Menge Licht wegnahmen, als sie mitten im Türrahmen standen. Ich wusste, dass er seinen Posten da draußen eher unfreiwillig aufgegeben hatte, aber er konnte sich sicher sein, dass die beiden keinen Fluchtversuch unternehmen würden, da ich noch in der Hütte war.

Murray beachtete mich auch gar nicht mehr weiter. Er war viel zu sehr mit seinem Neffen beschäftigt.

„Wir bauen eine Trage, die wir hinter uns herziehen können.“

„Seid Ihr verrückt geworden?“

Kiefer und Lori waren ebenfalls nähergekommen.

Meine laute Stimme hatte ihn tatsächlich erschreckt.

„Er könnte ein Schädelhirntrauma haben... ich meine, die Kopfverletzung ist ziemlich stark, wir sollten ihn nicht über den Boden ziehen und somit den Unebenheiten des Untergrundes aussetzen!“

Murrays Blick kreuzte den meinen. Er wusste, dass es eine Sache war, die durchdacht sein musste. Ich sah ihm an, dass er damit Probleme hatte, einer Frau nach der Nase zu tanzen, deshalb redete ich sofort selbstbewusst weiter: „Hier“, ich griff nach der einen Decke, „damit müsste es gehen.“

Kiefer hatte schneller begriffen als er, denn er assistierte mir perfekt, ohne ein Wort dabei zu verlieren. Nach zwei Minuten hatten wir wie letzte Nacht schon eine provisorische Trage konstruiert, die ihres gleichen suchte. Murray konnte nicht wissen, dass wir über Erste Hilfe-Maßnahmen besser Bescheid wussten!

Vorsichtig luden wir Adam auf die Liege um und setzten uns augenblicklich in Gang. Es war wohl Kiefer genauso wie mir ein Bedürfnis, diesen weiten Gang zu machen.

Unser Patient bekam von all dem kaum etwas mit. Wir wechselten nach einem viertelstündigen Fußmarsch ab.

„Ich hätte Euch direkt an Ort und Stelle erschießen sollen mitsamt Euren Begleitern.“

Murrays Satz drang, obwohl er leise sprach, bis an mein Ohr.

„Weshalb habt Ihr es dann nicht getan?“

Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich sein Murren noch verstanden hatte und sah überrascht auf.

Ich konnte mich irren, aber war es tatsächlich Röte, die ihm ins Gesicht geschossen war? Natürlich blieb er mir eine Antwort schuldig und so liefen wir schweigend nebeneinander her. Bei unserem Fußmarsch bemerkte ich, dass Lori keine Schuhe mehr trug. Entsetzen darüber überkam mich, da ihre Fußsohlen ziemlich in Mitleidenschaft gezogen sein mussten. Sie hatte keinen Ton darüber verloren, wusste der Himmel, wo sie in der kurzen Zeit ihre Turnschuhe hatte verschwinden lassen, die wohl einiges über unser Dasein verraten hätten!

Ich musste irgendetwas tun. Wir konnten unmöglich wie bisher weiter machen. Wir waren nun mal von Menschen wie Murray abhängig, wir mussten um seine Gunst buhlen, ob es uns gefiel oder nicht.

Kurz bevor wir das Haus erreichten, sprach ich ihn deshalb an.

„Mir wäre sehr daran gelegen, wenn ich mich für all die Umstände erkenntlich zeigen könnte. Ich würde gerne Sitzwachen bei Adam übernehmen. Natürlich möchte ich Eure Gastfreundlichkeit nicht überstrapazieren. Uns wäre schon geholfen, wenn wir Eure Hütte als vorübergehende Unterbringung nutzen dürften.“

„Ich habe Euch schon beim ersten Mal nicht vertraut!“, blaffte er anstelle einer Antwort.

Ich schluckte den Kommentar, der mir auf der Zunge lag, herunter.

„Ich bitte Euch.“

Murray wandte sich ab. Auch an ihm hatte der schwere Fußmarsch Spuren hinterlassen. Obwohl er es gewohnt sein musste, schwere Säcke zu tragen, so bildete der bewusstlose Adam sicher eine Ausnahme.

Betty und Diana kamen plötzlich auf uns zu geeilt wie zwei aufgebrachte Hühner. Besorgnis machte sich in ihren Gesichtern breit, als sie unseren Patienten erkennen konnten. Fragen stellten sie jedoch nicht. Es sah ganz so aus, als ob Murray das Privileg des Erklärens vorbehalten war.

Amber folgte wenig später mit wehender Schürze. Noch bevor ihr Bruder mit ihr sprach, wandte sie sich an mich.

„Ihr hättet mit mir reden sollen. Es war mir bewusst, dass Ihr in Schwierigkeiten wart. Wir hätten uns all das hier sparen können!“

Ihre Sätze, die ja der absoluten Wahrheit entsprachen, ließen mich errötend ins Schweigen verfallen. Ich schämte mich und es kam mir plötzlich alles sehr weit weg und unrealistisch vor. Aber war es das nicht auch?

Kiefer und Lori standen hinter mir, als man Adam ins Haus trug. Völlig unentschlossen kreuzten sich unsere Blicke. Wie würde es nun weiter gehen?

Niemals hätte ich es dieser Familie übelgenommen, wenn sie uns des Hauses verwiesen hätten, es war ihr gutes Recht.

Niemand von uns sprach etwas, als warteten wir auf eine Nachricht, die vermutlich nicht mehr kommen würde.

Wir vernahmen ihre Stimmen im Inneren des Hauses, als Betty plötzlich auf der Türschwelle erschien und zu uns herüberkam.

„Mutter sagt, Ihr könnt drüben in der alten Scheune bleiben, bis ...“ Sie unterbrach sich kurz selbst, „bis sich Eure Lage wieder verbessert hat.“

Sie wies mit dem Finger südlich des Anwesens. Wenigstens sah das, was sich da als Scheune entpuppte, besser als die Hütte aus, in welcher wir alle die letzte Nacht verbracht hatten.

Ich nickte ihr freundlich dankend zu.

„Gebt Bescheid, wenn Ihr etwas braucht.“

„Wann kann ich Adam besuchen?“

Diese Frage war mir vorerst eigentlich die wichtigste.

„Mutter wird gleich herüberkommen. Im Moment kümmert sie sich um ihn. Sie weiß, was sie tut!“

Unschlüssig wandte sie sich ab und verließ uns schließlich.

Kiefer setzte sich als erster in Gang. Ich wollte ihm folgen, aber mein Blick auf Lori hielt mich davon ab. Ich hätte ihr nicht übelgenommen, wenn sie keinen Schritt mehr vor den anderen gesetzt hätte! Oberflächlich waren ihre Füße nur wenig zerkratzt, aber die Sohle war eine einzige verwundete Fläche aus Fleischfetzen. Mittlerweile hatte es zu bluten aufgehört, man sah ihr an, dass sie Schmerzen haben musste.

„Kiefer, komm sofort zurück und siehe dir das an!“

Mein Imperativ ließ keine andere Entscheidung gelten.

„Es ging doch nicht anders oder habt ihr schon mal Tennisschuhe im 19. Jahrhundert gesehen?“, jammerte sie. „Ich habe die Turnschuhe irgendwo in diesem verfluchten Getreidefeld liegen lassen! Wir müssen sie suchen und vernichten!“

„Aber nicht jetzt und nicht heute!“ Kiefer nahm sie nach diesen Worten geschickt vor sich auf den Arm.

„Du kannst von Glück sprechen, dass du einen Tetanus-Schutz hast.“

Leicht, als sei sie ein Federgewicht, trug er sie zur Scheune hinüber und sprach dabei seine Gedanken zum Infektionsschutz aus.

Ich folgte den beiden in das hohe Holzgebäude und schloss das Tor hinter uns. Sein Gesagtes brachte sich erst viel später in mein Gewissen ein. Wir mussten jede Verletzung vermeiden. Wir lebten in keiner Zeit mehr, in welcher es so etwas wie Antibiotika gab! Diese Tatsache wurde mir wieder neu bewusst und ich verfluchte unsere ganze Situation. Wann endlich würde all dies ein Ende haben?

Kiefer setzte sie auf einem Heuballen ab, während ich Ausschau nach Dingen hielt, aus denen man Bandagen machen konnte.

„Ich habe keinen Tetanus-Schutz!“

Loris tonlose Stimme ließen Kiefer genauso gut wie mich zusammenfahren.

„Wie bitte?!“

Er starrte sie entsetzt an.

„Du hast doch gehört, was ich gesagt habe, oder?“

Sie schrie es zurück. Sie war vermutlich selbst so erschrocken von dieser Tatsache, dass ihr momentan ein Weinen gar nicht möglich war.

Schnell war ich an sie herangetreten und legte meinen Arm um sie.

„Wir bekommen das wieder hin, in Ordnung? Bitte, mache dir nicht zu viele Gedanken!“

Sie nickte, obwohl sie genauso gut wie ich wusste, dass nur ein kleines Fünkchen Wahrheit in meinen Worten zu finden war.

Kiefer schlug die Hände über seinem Kopf zusammen.

„Herrgott, das hat doch jeder von uns. Vielleicht erinnerst du dich nur nicht daran, Lori!“

Sie sah ihn nicht an, sondern mich.

„Meine letzte Impfung war vor Jahren, weil ich in einen rostigen Nagel getreten war.“

„Das wird in Ordnung sein. Bestimmt ist dein Schutz immer noch ausreichend?!“

Ich drückte sie tröstlich und dieses Mal kamen mir meine Worte nicht wie eine Lüge vor.

„Wir müssen auf der Hut sein“, redete ich weiter. „Bestimmt weiß Amber ein altes Hausmittelchen. Immerhin stecken diese Leute in der gleichen Situation wie wir, oder?“

Kiefer stand nachdenklich mit der Hand vor dem Mund vor uns.

„Kann man es nicht ausbrennen?“

Seine Worte entsetzten mich. Allein der Gedanke daran war mir unvorstellbar. Gerade als ich antworten wollte, wurde die Türe von außen geöffnet und Amber trat herein.

Mit einem Blick bemerkte sie Loris hoch gelagerte Unterschenkel. Uns entging nicht jedoch ihr besorgter Blick dabei.

„Was ist mit Euren Füßen geschehen? Hab Ihr Eure Schuhe verloren?“

„Kennt Ihr etwas, was vermutlich helfen könnte?“ Kiefer war einen Schritt auf sie zu gegangen.

„Am besten werde ich es gleich versorgen. Bringt sie ins Haus!“

Niemand von uns traute sich, zu widersprechen. Sie war mit Sicherheit die einzige, die zu helfen wusste und dem mussten wir uns ergeben. Sorgenvoll folgten wir ihr zurück ins Haus. Lori tat mir schon jetzt leid, und als Kiefer sie in der Küche auf einen dargebotenen Stuhl absetzte, wurde mir fast übel.

Lori sprach kein Wort. Es sprach für sie, dass sie sich in einer Art Schock befinden musste. Verunsichert beobachteten wir, wie Amber einiges an Utensilien herbeiholte und mein Unbehagen wuchs. Sie brachte Lori ein gefaltetes Tuch und legte es entschlossen vor sie auf den blank geputzten Tisch.

„Hier nehmt das in den Mund. Es ist Euch klar, dass das hier wehtun wird?“

Ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, stellte sie eine Schüssel, die vermutlich mit purem Alkohol gefüllt war, zu ihren Füßen ab. Ich konnte mir dessen sicher sein, denn ich roch unwillkürlich den unverkennbaren Geruch der glasklaren Flüssigkeit, die die Schüssel in sich barg.

Lori dachte vermutlich ans Überleben. Ich hätte unmöglich so tapfer reagiert und trotzdem, als sie ihre Füße eintauchte, wurde ihr Gesicht innerhalb von Sekunden puterrot. Mir kam es so vor, als ob ihre Augäpfel leicht aus den Höhlen traten. Sie hatte das Tuch fest in ihren Mund gepresst und zu atmen aufgehört. Jetzt nahm sie es heraus, um den Schrei loszuwerden, der vermutlich zur Entlastung beipflichtete.

Ich würde diesen Schrei nie vergessen, der alle Hausbewohner, bis auf Adam natürlich, innerhalb von kürzester Zeit zusammentrieb.

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie in Ohnmacht fiel, aber sie tat es nicht. Dicke Tränen waren ihr in die Augen geschossen, denen sie freien Lauf ließ. Kiefer hatte sich mitleidig zu ihr gesetzt. Ich war vorerst zu gar nichts mehr in der Lage.

„Halleluja“, Murray, der dazugestoßen war, blickte erstaunt auf sie herab und ließ dann seine Augen auf mir ruhen.

„Ein gesunder Sopran. Ganz schön dumm, seine Schuhe auf einer Reise zu verlieren. Du solltest sie bei Betty und Diana unterbringen, Amber. Mit dem Untergestell kann sie unmöglich in der Scheune bleiben!“

Damit verließ er den Raum.

„Hier!“

Die Frau des Hauses hatte mich angesprochen.

„Verbindet ihre Füße bis zu den Waden herauf, nachdem ich diese Salbe aufgetragen habe.“

„Wird das genauso schmerzen?“

Kiefer sprach ganz in Loris Sinne, der immer noch das Atmen schwerfiel.

„Nein, sie enthält Kräuter, die den Schmutz herausziehen.“

Ich folgte ihren Anweisungen, nachdem sie ihre Paste aufgetragen hatte, ganz genau. Loris Unterschenkel zitterten leicht. Das Fleisch ihrer Fußsohlen schien lebendig geworden zu sein! Bei dem Anblick wurde mir unwillkürlich übel und somit auch bewusst, wie wenig ich mich für eine Krankenschwester geeignet hätte.

Betty und Diana schienen genauso wie Amber härter im Nehmen zu sein, denn sie waren zu der normalen Tagesordnung übergegangen.

„Bringt sie nun nach nebenan! Das Bett kennt Ihr ja bereits!“

Kiefer trug sie wieder vor sich her und folgte der Hausherrin in das Zimmer der beiden Mädchen. Lori ließ alles stillschweigend mit sich geschehen. Vermutlich war sie froh, nun ganz in Ruhe gelassen zu werden.

Ich stand unschlüssig im Raum, den Rest der Binden in der Hand und fühlte mich, wie man sich wahrscheinlich nach einer Hausgeburt fühlen musste. Ich hatte nicht die Gelegenheit, weitere Gedanken sammeln zu können, denn urplötzlich starrte ich Adam ins Gesicht. Er musste mich schon eine Weile stumm beobachtet haben, und gerade als ich ihm Protest über sein Aufstehen entgegenbringen wollte, hob auch er zum Sprechen an.

„Was war das für ein markerschütternder Schrei?“

„Man hat Lori, meine Begleiterin, versorgt. Sie... sie hat ihre Schuhe...“ Was sollte ich ihm antworten? Ich war viel zu perplex über sein Erscheinen und nicht in der Lage, seiner Frage gerecht zu werden. Die Vorwürfe, die ich ihm eigentlich nahebringen wollte, übernahm schließlich Amber, die mit Kiefer aus dem Zimmer zurückkehrte.

„Du solltest liegen! Wundere dich nicht, wenn dir der Schädel platzt!“

Tatsächlich führte er seine Hand Richtung Kopf. Er sah immer noch blass aus, aber nur noch halb so desorientiert. Er steuerte auf einen der Stühle zu, den ich im letzten Moment für ihn zurückziehen konnte.

„Herrgott, noch so ein Schlag und ich hätte es hinter mir.“

„So einfach machen wir es dir nicht, mein Sohn!“

Ambers Einwand klang härter, als er gemeint war. Dann blickte sie mich herausfordernd an.

„Da fast alle Beteiligten anwesend sind, würde ich gerne mal erfahren, was da draußen in der Nacht vorgefallen ist!“

Ich schluckte. Es war ihr Recht, es zu erfahren. Nur was? Was konnten wir ihr erzählen? Jeder von uns kannte nur einen Teil der Realität, jeder von uns würde etwas anderes erzählen können.

Noch bevor ich reagieren konnte, hörte ich Adams Variante zu.

„Rose ... Rose ging nach draußen, um …“, er sah mich an, „um frische Luft zu atmen, nehme ich an. Da ich immer sehr skeptisch Fremden gegenüber bin, lief ich ihr nach und stolperte über einen Stein. Es war dunkel, meine Erinnerung ist nicht mehr die Beste. Ich nehme an, sie hat zwei Decken geholt, um mich vor Kälte zu schützen, und als ich erwachte, war dieser ...“, er sah gespielt lässig in Kiefers Richtung, “dieser junge Herr bei ihr.“

Ich konnte nur erahnen, welche Überwindungskraft ihn diese Lüge kosten musste und dennoch wusste ich nicht, weshalb er dies bereit war zu tun.

„Weshalb habt Ihr nicht hier im Haus Bescheid gegeben, Rose?“

Amber hatte sich neben ihren Sohn gesetzt und ihm eine Tasse übelriechender Flüssigkeit zugeschoben.

„Weil wir befürchteten, man verdächtigte uns später des Diebstahls oder gar Schlimmerem!“

Kiefer hatte sich dazwischengedrängt und damit war es das Erste, was keiner Lüge entsprach. Er hielt es wohl für besser, wenigstens einen Teil der Wahrheit ans Licht zu bringen. Er stand hinter mir und legte mir die Hände auf die Schultern. Ich spürte diesen Druck, der auch noch etwas anderes auszusagen vermochte. Nämlich das, dass ich ihn reden lassen sollte, und ich war froh über seine verbal angebotene Hilfe und hoffte, dass niemand von den anderen beiden diese stumme Absprache bemerken würde.

Noch bevor Amber weitere Fragen stellen konnte, sprach er unaufgefordert weiter.

„Wir sind von Boston. (Was in der Tat nicht gelogen war). Wir waren unterwegs, um einen Gelehrten namens Vibelle zu suchen. Er hat uns in fast mittellose Umstände getrieben durch eine Dummheit seitens unserer. (Auch hier war er ziemlich treffend bei der Wahrheit geblieben!) Ich kann und möchte nicht weiter darüber sprechen, aber es ist unser dringlichster Wunsch, diesen Gelehrten so schnell wie möglich zu finden.“

Ich spürte, wie er seine Hände von meiner Schulter nahm, um anschließend in der Küche auf und ab zu gehen.

„Wir waren also unterwegs, als man uns aus dem Hinterhalt überfiel, wir nehmen an Vibelles Gefolgsleute. Sie raubten uns aus und schlugen Rose dabei nieder, deshalb auch ihre vorübergehende Amnesie. Lori und mich nahmen sie mit, um uns dann schließlich in irgendeinem tiefen Wald auszusetzen. Rose war durch den Schlag schon bewusstlos, sie wollten sich nicht die Mühe machen, sie auch noch zu transportieren. Sie hielten es für das Beste, uns zu trennen.“

Er stoppte plötzlich, wie mir schien eine Künstlerpause, dann, nachdem er neuen Atem geschöpft hatte, redete er weiter.

„Ich weiß nicht, ob wir ihn finden können, aber bis dahin sind wir absolut jedem hilflos ausgeliefert, den wir antreffen“.

Ich lehnte mich entspannter nach hinten an die Stuhllehne. Solch künstlerisches Talent hatte ich Kiefer wirklich nicht zugetraut. Ich war unendlich dankbar, da er mir beim Sprechen zuvorgekommen war und uns alle somit vor größerem Schaden bewahrt hatte.

Amber schien ihm diese Geschichte tatsächlich abzunehmen, was Adam anbetraf, konnte ich gar nichts sagen. Er saß stumm wie ein Fisch auf seinem Stuhl, den Kopf immer noch gestützt.

Ich war froh, dass er mich in diesem Moment nicht ansah, denn ich befürchtete, dass er meine Gesichtsröte sofort bemerken würde.

Amber rührte sich.

“Uns jedenfalls seid Ihr nicht ausgeliefert. Begreift das endlich. Sobald Eure Begleiterin wieder laufen kann, werden wir Euch weiterhelfen. Bis dahin seid Ihr unsere Gäste.“

Ihr Gesagtes stand und mir fiel ein Stein vom Herzen. Gedankenverloren biss ich mir auf meine Unterlippe. Unvermittelt schmeckte ich Blut. War ich tatsächlich doch so angespannt?

„Ich habe von diesem Vibelle gehört!“

Adams Satz traf uns beide wie ein Keulenschlag mitten ins Gesicht. Ich glaubte, mich nicht verhört zu haben, denn Kiefer starrte mich genauso dümmlich an wie ich ihn.

„Wo, wann habt Ihr von ihm gehört?“

Sein Tonfall klang heller als sonst, vielleicht vor bitterer Erregung.

Der Angesprochene lehnte sich schwerfällig nach hinten.

Er sah Kiefer genau an, bevor er ihm antwortete und ich meinte, den Grund dafür zu kennen. Er dachte immer noch an den Schlag, den Kiefer ihm versetzt hatte.

„Auf dem Markt, den wir besuchten, ist er gewesen. Er ist mir aufgefallen, weil er über Dinge sprach, die niemanden außer ihm zu interessieren schienen. Ketzerische Dinge. Es war im Saloon.“

Plötzlich hielt er inne. Sein und mein Blick fingen sich gegenseitig auf. In ihm schien eine Wandlung vorzugehen, die nur mir aufzufallen gedacht war.

Ich erhob mich voller Entschlossenheit.

„Kiefer, wir müssen ihn finden!“, meine Stimme überschlug sich.

Ich war nun nicht mehr auf Vertuschung bedacht. Mir war in diesem Moment leider alles egal, vermutlich brauchte ich so jemanden wie Kiefer, der mir immer wieder auf den richtigen Weg half.

Er war nur halb so erregt wie ich.

„Wir werden ihn finden, aber wir können Lori unmöglich zurücklassen, Rose!“

Natürlich hatte er Recht, mit dem was er sagte, aber die Realität, die Flucht von all dem hier, war so verlockend für mich, dass ich alle Konsequenzen um mich herum vergaß. Das konnte doch nicht wahr sein!? Vibelle hier? Hier bei uns in der Vergangenheit? Wir waren zeitgleich gegangen, wie war es ihm möglich, vor uns hier zu sein?

Ich war so überwältigt von diesem bitteren Fakt, dass es mich einiges an Überwindungskraft kostete, nicht in Tränen auszubrechen.

„Natürlich, du hast Recht!“

Ich konnte es kaum als Worte aus meinem Munde identifizieren, aber ich war es tatsächlich, die sprach. Wir waren zu dritt in diesem Alptraum gefangen, wir würden auch zu dritt wieder aufwachen!

Ich erhob mich verwirrt und zitterte leicht.

Amber hatte uns die ganze Zeit zugehört und blickte zwischen Kiefer und mir hin und her. Ihr Blick sagte mir, dass sie etwas sehr skeptisch stimmte. Es dauerte nicht lang und sie verfasste meine Beobachtung in scharfe Worte: „Ach, und Ihr heißt also tatsächlich Rose?! Ich meine, da Ihr sie die ganze Zeit über so nennt, scheint Adam ja gut geschätzt zu haben, was Euren Namen anbelangt.“

Ich verstand in Sekunden und schnappte nach Luft.

„Ich … ja … nein eigentlich habe ich einen Doppelnamen … Ich heiße Julie. Julie-Rose und meine Begleiter nennen mich auch bei meinem zweiten Vornamen, weil sie der Meinung sind, dass er besser zu mir passt, genau wie auch Adam.“

Ich hoffte inständig, dass sie mir Glauben schenkte, und weil mir langsam die geistigen Kraftreserven ausgingen, begann ich wieder zu sprechen:

„Darf ich mich zurückziehen? Ich habe einiges an Schlaf nachzuholen!“

Ich achtete nicht mehr auf die Worte, die schließlich schon hinter meinem Rücken fielen. Erst als Kiefer eine viertel Stunde später zu mir gelangte, erwachte ich aus meiner hoffnungslosen Trance.

Ich hatte apathisch auf einem der vielen Heuballen gesessen, als mich seine Berührung in unsere Realität zurückholte.

„Wir haben eine gute Chance, „Julie-Rose“. Es gibt keine Automobile und keine Flugzeuge, die ihn allzu weit weg von uns bringen könnten. Also sei vernünftig und vertraue mir!“

Ich lauschte seinen Worten und der Betonung, die auf meinem Namen lag. Es konnte unangenehm für uns werden. Bis jetzt hatten sie uns alles abgenommen, was unsere Erzählungen anbelangte. Aber die Sache mit dem Namen versetzte mich fast in Angst. Selbst wenn Amber oder Adam etwas bemerkt hatten, so hatten sie sich nichts anmerken lassen. Gab es einen Grund dafür oder nicht? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Ich wusste nur, dass er Recht hatte, und es mir dennoch schwerfiel, überhaupt zu reagieren.

Er nahm neben mir Platz und Heuduft stieg mir augenblicklich in die Nase. Unvermittelt legte er seine Hand auf die meine.

„Alles wird wieder so werden wie es war.“

Ich wollte glauben und das hielt mich schließlich in den folgenden Stunden von ungeahnten Dummheiten ab. Wir sahen uns kurz an und ließen den Blick weiter herum in dieser Scheune schweifen. Das also sollte unser vorläufiges Zuhause sein? Ein altes Holzgebäude, mit Rissen im Gebälk, durch die der Wind pfiff, Heuballen, landwirtschaftliches Gerät, zugestellte Holzboxen, die früher einmal Tieren als Unterstellung gedient hatten. Ich war froh, dass die Temperaturen ein Leben ohne Heizung hier zuließen, wenigstens mussten wir uns um Erfrierung keine Gedanken machen.

Betty hatte uns Decken gebracht. Wir hatten später noch mit dieser Familie gemeinsam am Tisch gesessen, um zu essen. Ganz offensichtlich hatte Amber ihrem Bruder von unserer Geschichte erzählt und er sah nicht mehr ganz so feindlich in meine Richtung. Vermutlich war er auch Vibelle begegnet und hielt uns für genauso verrückt. Ich wusste es nicht. Er war ein Mann, der mir bis auf weiteres geheimnisvoll blieb.

Sorgenvoll war ich zu Lori hinüber gegangen, um ihr unsere Variante heimlich beizubringen, damit sie nichts anderes als wir erzählen konnte, aber es stellte sich schließlich heraus, dass all die glänzenden Ideen von ihr gekommen waren und sie und Kiefer sie kurz vor ihrer Gefangennahme im Getreidefeld abgemacht hatten.

Ich schüttelte den Kopf über so viel Genialität, während sie mich aus ihrem Bett müde anblickte und lächelte.

Sie tat mir unendlich leid mit ihren verletzten Füßen und ich hoffte, dass sie bald wieder in der Lage war, laufen zu können, um Professor Vibelle endlich aufzuspüren, um ihn nach dem großen „Warum“ zu fragen.

Manitu Vibelle, der Name durchstreifte meine Gedanken wie eine unabschüttelbare Last. Wir waren später wieder in der Scheune, Kiefer und ich, um uns zur Nachtruhe zurück zu ziehen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er mich in die Dunkelheit hinein ansprach.

„Entschuldige, was hast du gerade gesagt?“

Er zögerte lang.

„Meinst du, Lori wird es schaffen?“

Ich wusste, was er damit meinte.

„Natürlich. Sie wird diesen Schutz noch haben, außerdem war Ambers Schocktherapie ja wohl eindeutig genau das Richtige gewesen! Sie wird dies mit Sicherheit nicht das erste Mal gemacht haben!“

„Und wenn nicht?“

Ich konnte seine Zweifel und Sorge um Lori verstehen. Mir selbst ging es nicht anders.

Wenn sie tatsächlich erkranken würde, blieb uns dann noch genug Zeit, um Vibelle aufzusuchen, damit er uns zurückbringen konnte, um ihr Leben zu retten?

Diesen Gedanken behielt ich jedoch für mich. Ich war mir sicher, dass Kiefer diese Variante auch schon gedanklich durchlaufen hatte.

„Hör zu, es wird alles gut. Wir dürfen nicht aufhören, daran zu glauben.“

Es kam mir vor, als ob er gar keinen dazugehörigen Kommentar mehr erwartet hatte, denn er stellte bereits eine andere Frage.

„Weshalb hat dieser Adam uns nicht ausgeliefert? Oder schlimmer noch. Warum hat diese Amber uns das mit deinen Namen abgenommen?“

Ich zog die Decke, die mich umschlang, noch enger.

„Ich weiß nicht. Ich kann es mir nicht erklären, Kiefer!“

„Und weshalb hat uns niemand nach unserer neumodischen Kleidung gefragt?“

Ich überlegte kurz. Durch eine undichte Stelle im Dach konnte ich einen Teil des Sternenhimmels erkennen. Es würde also wieder abkühlen wie letzte Nacht und dieses Mal lag niemand neben mir.

„Nun, Lori hatte die ganze Zeit eine der Decken um sich geschlungen, das einzige, was sie hätte verraten können, hat sie rechtzeitig verschwinden lassen.“

Ich machte eine kurze Pause.

„Deine und meine Kleidung fällt weniger auf. Was weiß ich, was die Menschen momentan in Boston tragen?“

“Wenn sie diese Nacht fieberfrei übersteht, haben wir es dann geschafft?“

Allem Anschein nach war er mit seinen Gedanken zu Lori zurückgekehrt. Sein schneller Themenwechsel verriet seine Unsicherheit.

„Sie wird kein Fieber bekommen!“

Heu rieb aneinander. Bei dem Geräusch kratzte ich mich unwillkürlich im Gesicht. Nach kurzer Zeit vernahm ich seine ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge und beneidete ihn um seinen Schlaf. Dies würde mit Sicherheit die zweite Nacht werden, in der ich kaum ein Auge zu tun würde.

Ungewisse Vergangenheit

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