Читать книгу Glaubenssätzen auf der Spur - Nicole Truchseß - Страница 6

Darf ich vorstellen: Das Hirngespenst! Was sind Glaubenssätze und wie wirken sie?

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Meine Mutter war eine selbstbewusste Frau. Sie zog drei Kinder groß, sie arbeitete, sie lernte mit 40 Jahren fließend Italienisch und sprach es verblüffend rasch nahezu akzentfrei. Nur den Führerschein machte sie nie. Sie versuchte es nicht einmal. Warum nur? Als Kind hörte ich mehr als einmal, wie mein Vater leichthin zu ihr sagte: „Vergiss es, Autofahren lernst du nie!“ Er, der meiner Mutter sonst mit Respekt und liebevoll begegnete, war zutiefst überzeugt, dass sie nicht ans Steuer (s)eines Autos gehörte. Sie glaubte ihm. Nüchtern betrachtet hat meine Mutter, ein Kriegskind der Dreißigerjahre, in ihrem Leben weitaus größere Herausforderungen bewältigt als den Führerschein, doch der Glaube, nicht Auto fahren zu können, hatte sich in eine unumstößliche Gewissheit verwandelt. Er war zu einem Glaubenssatz, zu einem „Hirngespenst“, geworden, den in unserer Familie niemand mehr in Zweifel zog.

Wenn schlechte Aufsätze „in der Familie liegen“

Diese Familiengeschichte kam mir wieder in den Sinn, als mein Sohn vor einiger Zeit mit einer schlechten Deutschnote nach Hause kam. Ich wollte ihn trösten und sagte: „Mach’ dir nichts draus, ich konnte auch nie Aufsätze schreiben.“ Kaum war das ausgesprochen, wurde mir blitzartig klar, was ich da anrichtete: Gerade hatte ich das Versagen in Deutsch quasi zur Familientradition erklärt. Wenn mein zwölfjähriger Sohn mir glaubte und ich das noch ein paar Mal wiederholte, mit wie viel Lust würde er dann noch am Deutschunterricht teilnehmen? Wozu sich noch anstrengen, wenn das Deutschproblem ohnehin in der Familie lag? Ich hatte gerade den Keim zu einem Glaubenssatz gelegt, der durch nichts bewiesen war, und ruderte eilig zurück. „Zeig mal dein Heft. Lass uns schauen, wie es das nächste Mal besser klappen könnte.“

Die wackelige Basis mancher Überzeugung

Glaubenssätze sind tief verwurzelte Überzeugungen, die häufig auf wackeligen Füßen stehen und die auf Einflüsterungen anderer oder auf der Verallgemeinerung eigener Erfahrungen basieren können. Manche Verallgemeinerungen mögen hilfreich und zutreffend sein. Andere Glaubenssätze jedoch schränken uns ein, setzen uns Grenzen, hemmen unsere Entwicklung. Wer schon als Kind lernt, „In unserer Familie sind wir eher unsportlich“, braucht vielleicht viele Jahre, bis er entdeckt, dass er der geborene Surfer ist. Oder, schlimmer noch, er traut sich erst gar nicht ins Wasser.

Hirngespenster sind überall

In unserem Alltag wimmelt es von Glaubenssätzen. Das lässt sich kaum vermeiden, denn wir können nicht immer und jederzeit alles kritisch hinterfragen und sorgfältig prüfen. Wir steuern mit Faustregeln durchs Leben und fahren oft gut damit. Bedenklich wird es, wenn diese Faustregeln sich von der Lebenswirklichkeit abkoppeln und Schabernack mit uns treiben. Solche Hirngespenster sind nicht ganz so verquer und schädlich wie ausgewachsene Hirngespinste, manchmal durchaus drollig, vielfach aber doch ein Ärgernis. Hirngespenster geistern nicht nur durch unser Privat- und Familienleben, sondern auch durch unseren Job. Wer wie ich viele Jahre im Vertrieb und in der Vertriebsberatung arbeitet, ist mit den Hirngespenstern zahlreicher Verkäufer sozusagen auf Du und Du: „Nur der Preis zählt“, „Mitbewerber sind günstiger“, „Montags sind Kunden schlecht gelaunt. Da macht Akquise keinen Sinn“, „Die wirklichen Entscheider werden sowieso von ihrem Vorzimmerdrachen abgeschirmt“, um nur einige zu nennen. Ich frage in solchen Situationen immer: „Woher wissen Sie das?“ Nach der ersten Verblüffung, dass hier eine vermeintlich eherne Gewissheit infrage gestellt wird, kommen häufig Ausflüchte – „Das ist eben so. Weiß doch jeder“ – oder der Hinweis auf die eigene „Erfahrung“. Dabei wird übersehen, dass Glaubenssätze unser Verhalten steuern und damit auch die Erfahrungen, die wir machen. Ein typisches Henne-Ei-Problem! Wenn ich eine Assistentin oder Sekretärin als „Vorzimmerdrachen“ sehe, beeinflusst das mein Verhalten unweigerlich: Je nach Naturell werde ich herrisch auftreten oder einschmeichelnd, als Bittsteller oder zu arrogant. Häufig ist es daher nicht überraschend, dass die Dame am anderen Ende der Telefonleitung abweisend oder schnippisch reagiert. Und schon fühlt sich das Vorzimmerdrachen-Hirngespenst bestätigt und nickt heftig mit dem Kopf: „Hab ich doch gleich gesagt. An den Entscheider kommst du nicht heran!“ Dabei hätte eine freundliche, offene Ansprache auf Augenhöhe vielleicht Wunder bewirkt und eine ganz andere Reaktion ausgelöst.

Wir sehen, was wir sehen wollen

Hirngespenster lieben solche selbsterfüllenden Prophezeiungen: Situationen, in denen wir erst durch unser Verhalten das bewirken, was wir uns zuvor eingeredet haben. Sie ernähren sich sozusagen davon. Auch die Lückenhaftigkeit (Selektivität) unserer Wahrnehmung liefert Hirngespenstern Futter. Unser Gehirn kann nur einen Bruchteil der auf uns einströmenden Sinnesreize bewusst verarbeiten. Dabei konzentriert es sich auf Reize, die unseren Interessen oder unseren Erwartungen entsprechen, und auf Signale, die für uns emotional besetzt sind. So kommt es, dass wir unseren Namen aus einem Gespräch heraushören, das wir sonst nur als Hintergrundrauschen wahrnehmen. Und so kommt es auch, dass Schwangere ab dem Zeitpunkt der freudigen Mitteilung plötzlich ständig auf andere Schwangere treffen oder dass Autokäufer, die sich einen Wagen der Marke XY kaufen wollen, plötzlich überall XY-Autos sehen. Die waren gestern auch schon da, man hat sie nur nicht bewusst wahrgenommen. Derselbe Mechanismus sorgt dafür, dass Ereignisse, die einen Glaubenssatz bestätigen, mit großer Akribie registriert werden, während man gegenteilige, die dem Hirngespenst widersprechen würden, großzügig übersieht oder relativiert. „Das war jetzt ’ne Ausnahme, da brauche ich schon mehr Beweise“, sagte einmal ein Verkäufer zu mir, der nach einem Telefoncoaching an einem Montag (!) erfolgreiche Akquisegespräche in Serie geführt hatte, ganz nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf!

Der natürliche Lebensraum der Hirngespenster

Damit zeichnet sich schon ab, in welchem Biotop sich Hirngespenster am allerwohlsten fühlen: in der Komfortzone des Gewohnten und Vertrauten. Hirngespenster fesseln uns an den Status quo. Sie flüstern uns zu, dass es keinen Sinn hat, etwas Neues auszuprobieren. Sie nehmen uns den Mut für Veränderungen. Sie reden uns ein, dass wir selbst schuld sind an einer Misere. Und sie sind umso widerstandsfähiger, je früher sie uns eingepflanzt wurden und je stärker wir ihren Urhebern vertrauen. So kommt es, dass manche Glaubenssätze aus unserer Kindheit immer noch Macht über uns haben, obwohl wir es längst besser wissen. Da flüstert dann beispielsweise ein kleines Gespenst genau zum falschen Zeitpunkt: „Sag lieber nichts und bleib bescheiden. Hochmut kommt vor dem Fall!“ – und die Beförderung geht an jemand anderen, der nicht unbedingt kompetenter ist, aber selbstbewusster auftritt.


Im folgenden Kapitel dieses Buches lernen Sie zunächst viele Bewohner des großen Reichs der Hirngespenster kennen: von den Mauerblümchen bis zu den Oberlehrern, von den strengen Antreibern bis zu den hilflosen Opfern, die gern die Ohren hängen lassen und sich nicht wehren. Über manche mit den Hirngespenstern verbundene Glaubenssätze werden Sie schmunzeln, bei einigen werden Sie sich vielleicht ertappt fühlen. Nutzen Sie dieses Kapitel, um auch Ihre eigenen Hirngespenster besser kennenzulernen. Danach gehen wir den Ursachen der Glaubenssätze auf den Grund, bevor Sie im letzten Teil des Buches erfahren, wie sich Hirngespenster zähmen und mit freundlicheren Glaubenssätzen füttern lassen.

Glaubenssätzen auf der Spur

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